Der Autor Barış Müstecaplıoğlu ist 1977 in Kocaeli geboren. Er studierte in Istanbul und war lange Zeit in als HR-Spezialist in einer der größten Banken der Türkei tätig. Seine Kurzgeschichten für Jugendliche wurden in renommierten Zeitschriften besprochen und erhielten mehrfach Auszeichnungen in der Türkei. »Die Legenden von Perg« sind die ersten Fantasy Romane, die in der Türkei veröffentlich wurden. Als Schriftsteller eines Landes, welches seit Jahrhunderten aufgrund seiner einzigartigen geografischen Lage zahlreichen Kulturen und unterschiedlichsten epochalen Einflüssen ausgesetzt ist, wie kaum ein anderes Land in Europa, erschafft er eine gelungene Synthese aus östlichen und westlichen Kulturen.
Barış Müstecaplıoğlu Merderans Geheimnis »Die Legenden von Perg« - Teil 2 Roman Das Buch Leofold, Guorin und Nume: Eine schreckliche Bestie, ein ängstlicher Dorfbewohner und ein ausgestoßener Prom. Der eine hat sich seinen größten Ängsten gestellt, der andere hat das Wertvollste in seinem Leben geopfert. Gemeinsam haben die ungleichen Freunde gegen Piraten gekämpft und sind sogar vor die Götter getreten, um dem Krieg in ihrer Heimat Perg ein Ende zu bereiten. Von den Jenseitswelten zurückgekehrt, beginnt in Begleitung einer geheimnisvollen Frau die Suche nach »Merderans Geheimnis«. Verfolgt von Jägern, die völlig ahnungslos sind, dass sie ihr Leben diesen drei seltsamen Kreaturen verdanken, stürzen sich unsere Helden in ein neues Abenteuer um Leben und Tod. Im zweiten Teil von »Die Legenden von Perg« lädt der Autor die Leser wieder gekonnt dazu ein, die Grenzen ihrer Vorstellungskraft zu erkunden und sich neben einem fantastischen Abenteuer auch einer Geschichte über Vorurteile, Intrigen, Opferbereitschaft, Liebe und Schmerz zu widmen.Die Details. Aus dem Türkischen von Monika Demirel Deutsche Erstausgabe 306 Seiten Hardcover Originaltitel: Merderan´ın Sırrı ISBN 978-3-943562-31-6 19,90 € [D]
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DIE LEGENDEN VON PERG Teil 2: Merderans Geheimnis Aus dem T羹rkischen von Monika Demirel
Wieder dankt die Übersetzerin Hulki Demirel für seine tatkräftige Unterstützung. Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Merderan’ın Sırrı © Barış Müstecaplıoğlu © Kalem Lit. Agency
Mit freundlicher Unterstützung durch das TEDA-Projekt des Kulturministeriums der Republik Türkei
Deutsche Erstausgabe © 2014 binooki OHG, Berlin www.binooki.com Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Lektorat: Erhard Waldner Satz: Erhard Waldner Umschlaggestaltung: Josephine Rank Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-943562-31-6
Ob jemand gut ist oder böse, erkennst du nicht an seinem Äußeren. Du musst in sein Herz sehen. Und wenn du den Rat eines alten Mannes hören willst … Glaube sogar nicht einmal gleich das, was du dort siehst! Ferm-ob Loun, Väter – Vers 7
PROLOG
Die Taube spannte ihre Flügel und glitt auf die Steinmauer zu. Müde von der langen Reise ließ sie sich nieder und hatte nur noch den Wunsch, sich auszuruhen. Mit kleinen, zögernden Schritten inspizierte sie den fremden Ort. Als sie sich in Sicherheit fühlte, nahm sie beruhigt Platz. Während eine leichte Brise durch ihre Federn strich, fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Erst spät war ihr aufgefallen, wie weit sie sich von ihrer Stadt entfernt hatte. Aus Angst, sich in dem Wald voller wilder Tiere niederzusetzen, war sie stundenlang ohne Ruhepause geflogen. Hier nun, auf diesen Mauern, die dem Platz ähnelten, wo sie ihr Nest hatte, hätte sie in einen friedlichen süßen Schlaf sinken können. Doch da tauchte ein alter Mann auf und ließ sie panisch hochflattern. Bernak sah eine Weile hinter dem Vogel her und seufzte, betrübt, weil er das arme Tier erschreckt hatte. Dann aber dachte er, dass die Taube mehr Glück hatte als er, weil ihr die nahende Apokalypse erspart bleiben würde. Er wandte den Kopf und betrachtete seine Stadt lange mit traurigen Augen. Sein Blick schweifte von den hohen Gebäuden, die den Palast einrahmten, zu den Armenvierteln hinter dem Marktplatz. Beinahe sechzig Jahre waren vergangen, seit er dort als schmächtiges Waisenkind ohne Zukunft herumgestreunt war. Wenn der Oberzauberer Farsaten nicht seine Begabung erkannt hätte, hätte Bernak seine Jugend kaum erlebt; wahrscheinlich wäre er entweder verhungert oder einem streitsüchtigen Strolch zum Opfer gefallen. Aber die Dinge entwickelten sich anders, als er oder die, die ihn kannten, erwartet hatten, denn plötzlich fand er sich unter der Obhut des Zaubererrats wieder. Farsaten hielt ihn für etwas ganz Besonderes. Er hatte Bernaks Gesicht im Traum gesehen, in den Straßen nach ihm gesucht und ihn schließlich gefunden. Alle Möglichkeiten sollte er haben und zum Beschützer der Stadt erzogen werden. Eines Tages würde Gefahr über Artek hereinbrechen, und Bernak würde die 9
Stadt retten. Von dieser Prophezeiung war Farsaten zutiefst überzeugt, wobei seine Prophezeiungen den Rat ohnehin noch nie getäuscht hatten. Nachdem die Zaubererlords überzeugt worden waren, hatte aus dem Volk niemand zu widersprechen gewagt. Ganz im Gegenteil – sie nahmen Bernak liebevoll und verzückt auf und bereiteten ihm ein Leben, von dem er nie zu träumen gewagt hätte. Der eine oder andere Adlige behauptete, dieser Straßenjunge sei die Frucht einer verbotenen Liebe Farsatens, und deswegen hätte der alte Zauberer ihn unter seine Fittiche genommen. Sicher störten sich diese taktlosen Lügner daran, die Pracht des Palastes mit einem aus dem Volk zu teilen. Wenn sie Bernak in den prunkvollen Fluren begegneten, tuschelten sie miteinander, und sie lachten laut auf, wenn er sich entfernte. Offensichtlich unterschätzten sie die Macht des Rats im Palast. Als manche von ihnen ihre Zungen der Klinge des Henkers darbieten mussten, hörte das Gerede mit einem Mal auf. Im Gegenzug erwartete man von Bernak nur, dass er fleißig studierte, um ein großer Zauberer zu werden. Dazu war er mehr als bereit. Er verbrachtete seine Zeit damit, neue Zauberformeln zu lernen und das Gelernte in seiner Stube auszuprobieren. Wann immer er Sturmwind erzeugte oder als Vögel ihm zum ersten Mal gehorchten, schallte sein freudiges Jubeln durch den Palast. Kein Zweifel, dass eine Kraft in ihm schlummerte. Und weil die Ratsmitglieder seine Erziehung intensiv verfolgten, wurde aus ihm in kurzer Zeit ein einmaliger Zauberer. Als Farsaten ihn auf Nimmerwiedersehen verließ, war Bernak so stark, dass er niemandes Obhut mehr bedurfte. In seiner Umgebung konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Mit jedem teuflischen Wesen und jeder Naturkatastrophe wurde er fertig. Er konnte Krankheiten heilen, Dürren beseitigen und dem kargen Boden Leben einhauchen. Dennoch war er nicht unbedingt glücklich. Seine reiche und mächtige Stadt hatte nämlich nur selten Bedarf an seinen Fähigkeiten. Seine magischen Kräfte dienten meist bloß dazu, dem Volk und den Palastangehörigen während Zeremonien spannende Augenblicke zu bescheren. Bis zu dem Moment, als über den Stadtmauern jener Mann auf seinem Riesenvogel auftauchte … 10
Niemand hatte ihn je zuvor gesehen. Niemand kannte seinen Namen. Er drehte einige Kurven über den Gebäuden, landete außerhalb der Mauern, ging zu Fuß ans Eisentor und verkündete, er sei gekommen, um die Herrschaft über die Stadt zu übernehmen. Die Wachposten waren zwar von dem Vogel beeindruckt gewesen, hatten aber angesichts dieses ungebührlichen Begehrens nur mit Spott reagieren können. Einige von ihnen meinten, dieser Verrückte würde einen prima Hofnarren für Ihre Lordschaft abgeben, und traten vor die Mauern, um ihn einzufangen. Selbstsicher gingen sie auf ihn zu und hielten es nicht einmal für nötig, ihre Schwerter zu ziehen. Als sie sich, bei dem Mann angekommen, jedoch in Steine verwandelten, verspürten die übrigen Wachposten zum ersten Mal reelle Angst. »Ich gebe euch eine Frist von drei Tagen«, hatte der Fremde gesagt. »Wenn die Sonne dreimal aufgegangen ist, kehre ich zurück, um mir die Schlüssel der Stadt zu holen. Ich bin gekommen, um euch auf ein faszinierendes Zeitalter vorzubereiten. Das ist euer Schicksal, genauso wie meines. Euch zu wehren bringt nur Leid.« Dann bestieg er den Vogel und flog davon. Die Ratsmitglieder hatten versucht, ihren Lord von der Belanglosigkeit dieses Ereignisses zu überzeugen. Menschen in Steine zu verwandeln war atemberaubendes Teufelswerk, aber Bernak war ausgebildet, weitaus grässlichere Gefahren abzuwenden. Falls dieser Fremde wie angekündigt zurückkehrte, würde ihn eine böse Überraschung erwarten. Am besten vertrauten sie auf die Prophezeiung. Farsaten hatte sich bislang noch nie geirrt. Natürlich war Lord Kurm nicht begeistert davon, seine Stadt einem Fremden zu überlassen. Seit vielen Jahrhunderten wurde Artek von Menschen seines Blutes regiert. Alle seine Vorfahren waren hier beerdigt. Allerdings würde ein in Stein verwandelter Lord seinem Volk nicht viel nützen. Schließlich entschied er, Bernak die Chance zu geben, den Fremden aufzuhalten. Sollte er scheitern, schien ihm nichts anderes übrigzubleiben, als dieser Satansbrut zu gehorchen. Denn dass er von seinen Nachbarn, die er fast jedes Jahr bekriegte und denen er bei jeder Gelegenheit eins auszuwischen versuchte, keine Hilfe erwarten konnte, wusste er nur allzu genau. 11
Und an diesem Tag war die Frist vorüber, die der Fremde ihnen gegeben hatte. Alle, auch Bernak, hielten den Atem an, als der Riesenvogel am Himmel auftauchte. Bernaks einzige Sorge war, nicht zu wissen, womit er es zu tun hatte. Selbst aus dieser Distanz hätte er dem geflügelten Reittier des Fremden tödliche Verletzungen zufügen können. Ein kleiner Blitz oder ein paar große Feuerwellen schienen dazu mehr als genügend. Zunächst aber wollte er sich gedulden, die Kräfte seines Gegners abschätzen und sich dann für die passende Strategie entscheiden. Die imposanten Flügel ausgebreitet, glitt der adlerähnliche Vogel heran und landete etwa fünfzehn Schritt von den Mauern entfernt auf dem Boden. Ruhig setzte er sich hin und zog die mächtigen Krallen unter den Körper. Bernak war zutiefst erstaunt, als er die Blicke aus seinen großen, strahlenden Augen sah, so ausdrucksvoll, als begriffe er das Geschehen. Der Fremde in dem dünnen roten Umhang rutschte an einem Flügel hinab auf die Erde. Er schien dem Vogel etwas zu sagen und ging dann in kleinen, selbstsicheren Schritten auf die Stadt zu. Um nicht das Schicksal ihrer versteinerten Kameraden zu erleiden, machten die Wachen keine Anstalten, den Fremden vor den Toren zu empfangen. Sie warteten, bis er nahe genug herangekommen war, und spannten dann ihre Bogen. Während Hunderte von Pfeilen auf den Fremden zuflogen, beobachtete Bernak gespannt das Geschehen. Mit magischen Gesten und Formeln konnte der Fremde eine Schutzaura um sich herum schaffen und so die tödlichen Pfeilspitzen aufhalten. Natürlich ginge das auch noch auf andere Weise, aber für einen wirklich guten Zauberer wäre dies die vernünftigste Art der Verteidigung. Eigentlich glaubte Bernak kaum, dass der Pfeilregen den Gegner aufhalten würde. Für jemanden, der Menschen in Steine verwandeln konnte, stellten von Menschenhand gefertigte Waffen keine ernste Gefahr dar. Bernak hatte sich mit diesem Vorgehen eher erhofft, die Kraft seines Gegners auszuloten. Was nun geschah, sollte ihm auf entsetzliche Weise vor Augen führen, dass der Fremde sehr viel stärker war, als er vermutet hatte. 12
Einige Fuß vor ihrem Ziel änderten die Pfeile plötzlich ihre Flugbahn. Sie öffneten sich wie ein Fächer, drehten um und flogen zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Zunächst waren die Wachposten irritiert und ratlos. Dann flohen sie panisch nach unten. Was keiner von ihnen erwartet hatte, war, dass die Pfeile wie vernunftgesteuerte Wesen die Stadtmauern überwanden und sich ihnen an die Fersen hefteten. Die meisten Männer waren nicht schnell genug und stürzten tödlich getroffen zu Boden. Jene Handvoll Soldaten, die eine gute Deckung gefunden hatten, verfügte nach diesem Wettlauf offensichtlich nicht mehr über den Mut, ihr Glück noch einmal zu versuchen. Bernak stand zitternd auf der Mauer. Das war die spektakulärste Magie, die er je gesehen hatte. Trotz seines profunden Wissens hatte er keine Ahnung, wie man diesen Zauber ausführte. Der bevorstehende Kampf würde sehr viel härter werden, als er angenommen hatte. Was ihn mehr als irritierte, war, dass sein Gegner keinerlei Handbewegung benötigt hatte. Er war nicht einmal, wenn auch nur kurz, stehengeblieben, um sich auf den Zauber zu konzentrieren. Das war einfach unbegreiflich. Die Stadtmauern dehnten sich, blähten sich auf wie Ballons und platzten. Überall regnete es menschenkopfgroße Steine, Ziegel und Eisenteile. Nur wenige Schritte von Bernak entfernt wurde ein Marktwagen von einem riesigen Felsbrocken zertrümmert. Hätte Bernak sich nicht in letzter Sekunde hinter einer Wand versteckt, wäre er den herumfliegenden Holzsplittern hilflos ausgeliefert gewesen. Als der todbringende Regen nachließ, hatte die Mauer einen Riss, der breit genug war für mehrere Pferde. Die Soldaten stoben wie Hühner auseinander und überließen den Kampf gegen diesen Satan dem Beschützer der Stadt. Der Fremde trat durch die Öffnung in der Mauer und traf auf den alten Zauberer, der sich allein vor ihm aufbaute. »Und so jung«, murmelte Bernak verblüfft. »In dem Alter schon einen Umhang zu besitzen ist erstaunlich. Er hatte höchstens ein paar Jahre, um seine Zauberkünste zu vertiefen. Aber woher nimmt er diese verfluchte Kraft?« 13
Der junge Mann machte ein paar Schritte auf ihn zu, blieb stehen und verneigte sich, als wollte er sich für die Vorkommnisse entschuldigen. »Das alles hätte nicht passieren müssen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber wenn es sein muss, schrecke ich nicht davor zurück, jeden, inklusive dich, in die Finsternis des Nichts zu schicken. Gegen mich könnt ihr nicht kämpfen. Mir könnt ihr euch nicht widersetzen. Im Namen der Mächte der Vorzeit: Übergebt mir eure Stadt, auf dass ich sie mit Tugend und Güte umarme.« Bernak zitterte am ganzen Leib. Dass dieser Fremde, wer immer er auch war, entspannt nach seiner geliebten Stadt verlangte wie nach einem Glas Wasser, war eine unerträgliche Dreistigkeit. Er, Bernak, war der Beschützer Arteks und seiner Bewohner. Auf diesen Moment hatte er sich sein Leben lang vorbereitet. Sollte er nicht bis zu seinem letzten Atemzug um die Stadt kämpfen, wären seine ganze Existenz, sein Streben, die Opfer, die die Menschen gebracht hatten, um ihm ein neues Leben zu schenken, so wertlos wie eine Handvoll Staub und Farsatens Prophezeiung nur mehr ein lächerliches Märchen. »Ich bin zu alt, um mich vor dem Tod zu fürchten, Junge«, meinte er spöttisch. »Selbst wenn ich mich in meine Ecke verkrieche, kann ich das Unausweichliche nicht vermeiden. Es macht mich nur traurig, dass ich jemand so jungen wie dich töten muss. Aber ich fürchte, du lässt mir keine andere Wahl.« Dann trat er einen Schritt zurück, legte die Hände aneinander und reckte sie gen Himmel. Nur wenige Augenblicke würden ihm genügen, um sich von Perg zu abstrahieren und alle die in ihm schlummernden Kräfte zu mobilisieren. Als die magischen Formeln aus seinem Mund zu fließen begannen, breitete er die Arme aus und brüllte aus voller Kehle. Flammen schienen aus seinen Augen zu lodern, sein Blick war irr. »Im Namen Derneols! Im Namen Hivers! Im Namen Yulgarmans! Hiermit gebe ich dir die letzte Möglichkeit, diesen Boden, den du mit deinem Fluch beschmutzt hast, friedlich zu verlassen!« Der Fremde zuckte nur kurz mit den Schultern. In seinem Gesicht stand aufrichtige Trauer. 14
»Ruf deine Götter nicht umsonst«, erwiderte er gelassen. »Sie können dich nicht hören. Selbst wenn sie dich hören könnten, würden sie dich nicht beachten. Und selbst wenn sie kämen, glaube ich nicht, dass ich mich vor ihnen fürchte.« Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Man musste diesen unverschämten Teufel, der es wagte, die Götter herauszufordern, in die Schranken verweisen. Bernak wusste, dass er nur eine einzige Chance zum Angriff hatte. Er musste die Sache erledigen und durfte den anderen nicht zum Zug kommen lassen. Er streckte die Arme nach vorne und sprach das letzte Wort aus. Seine ganze Kraft konkretisierte sich in seinen Fingerspitzen als gleißende Lichtsäule und richtete sich auf seinen Gegner. Der Zauber war stark genug, um damit ein kleines Heer auszurotten; er würde die Seele seines Opfers zum Schmelzen bringen und bloß noch einen leblosen Haufen aus Fleisch und Knochen zurücklassen. Kein Schild und keine Rüstung in ganz Perg konnten dieser Magie standhalten. Doch beim Blick durch die Lichtsäule sah Bernak, dass der Fremde sorglos dastand, als wehte eine sanfte Brise über ihn hinweg. Noch wütender geworden, steigerte Bernak die Intensität des Zaubers bis aufs höchste Maß. Die Prophezeiung musste sich erfüllen. Artek zu retten war sein Schicksal. Als Bernak erschöpft auf die Knie sank, liefen zwei dünne blutige Rinnsale vom Mund über sein Kinn. Der junge Mann stand bewegungslos vor ihm und musterte ihn mit einer Mischung aus Fürsorge und Mitleid. »Du hast dich zu sehr verausgabt, alter Mann«, sagte er beinahe betrübt. »Von nun an kann nicht einmal ich dich noch retten. Wenn ich dich dir selbst überlasse, wirst du noch mehr leiden. Ich möchte nur, dass du dir über eins ganz im Klaren bist: Deine Stadt wird in sichereren Händen sein, als sie es je zuvor war.« Bernak wusste, dass er den Kampf verloren hatte. Trotzdem war das nicht der Grund für seine jämmerliche Miene. Sein Leben lang hatte er geglaubt, die Zukunft Arteks würde von ihm abhängen. Aber nun, während er seinen letzten Atem aushauchte, wurde ihm klar, dass Farsatens Prophezeiung eine Lüge gewesen war. Nur ein15
mal hatte er um die Stadt gekämpft und diesen Kampf auch noch verloren. Vielleicht hatten diese geschwätzigen Adligen doch recht. Vielleicht war er ja wirklich die Frucht einer verbotenen Liebe. Inzwischen aber wollte er das gar nicht mehr wissen. Bevor seine Seele seinen Körper verließ, interessierte ihn nur noch, wer dieser Fremde war, der alle seine Überzeugungen zunichte gemacht hatte. »Wer bist du?«, stöhnte Bernak mit letzter Kraft. Seine Lippen zitterten vor Anstrengung. »Sag es mir, im Namen der Götter … Selbst wenn du nicht an die Götter glaubst, sag es mir als Preis für mein Leben und meine Stadt … Du bist kein Zauberer. Was du getan hast, war keine Magie. Es war etwas viel Größeres, viel Erhabeneres … Wer bist du?« Der junge Mann trat langsam heran. Mit seinem langen roten Umhang warf er einen Schatten über Bernak. Betrübt seufzte er auf. Mit einer Hand strich er dem greisen Zauberer freundlich über die schweißnasse Stirn. Bernak spürte, wie alle seine Schmerzen nachließen und dass er nie wieder Qualen erleiden würde, wenn die Finsternis seine Augen überzog. »Sollten wir uns in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen, bei denen wir Seite an Seite stehen, wieder begegnen, du mutiger Mann«, murmelte der Fremde, »wäre es mir eine Ehre, wenn du mich ›mein Freund Merderan‹ nennst.«
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Aus der Reihe bereits erschienen Der Feigling und die Bestie »Die Legenden von Perg« - Teil 1
Barış Müstecaplıoğli Der Feigling und die Bestie »Der Feigling und die Bestie« ist der Auftakt einer Tetralogie, in der die Helden Leofold, Guorin und Nume eine Reise durch die fantastischen Welten von Perg unternehmen, um das Buch Tshermons zu vernichten, der seinen Besitzer mit unersättlichem Streben nach Macht vergiftet. Von unseren Helden werden große Schlachten geschlagen, Ungeheuer besiegt und Ängste bezwungen, um ihre Heimat Perg vor zum Untergang zu bewahren und vor der Dunkelheit zu retten.
Aus dem Türkischen von Monika Demirel Deutsche Erstausgabe 300 Seiten Hardcover 19,90 € [D] ISBN 978-3-943562-24-8 Originaltitel: Korkak ve Canavar
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Klischees sind uns zu blöd, die über die Döner-Türken und die über die farblosen Deutschen auch. Wir haben binooki 2011 in Berlin gegründet, um türkische Gegenwartsliteratur auf Deutsch zu verlegen und damit die Kulturen unserer beiden Heimaten zu verbinden. Wir geben jungen türkischen Autoren eine deutsche Stimme, verlegen Belletristik und deutsche Erstübersetzungen türkischer Klassiker. Das hat bisher gefehlt. Also machen wir es einfach selbst. binooki sind wir, Inci Bürhaniye und Selma Wels, sich meist liebende Schwestern, in Deutschland geboren und aufgewachsen, anständige Kinder echter türkischer Eltern aus Aydın. Wir sind jung und entspannt, aber eine Regel muss sein: Wir veröffentlichen nur, was uns begeistert. binooki Bücher wollen zeigen, wie vielfältig türkische Kultur heute ist, wie wild, wie seriös, wie kaputt, wie adrett. Und das bitte jenseits von allen breitgetretenen Stereotypen. Junge Autoren zu entdecken, sie zu fördern und das deutschsprachige Publikum von ihnen zu begeistern, zu zeigen, was alles geht in Sachen türkischer Literatur, das ist unser Ziel. Dafür reisen wir regelmäßig nach Istanbul und Ankara, schütteln trockene und feuchte Hände auf Literaturfestivals, hören genau hin, wenn über einen neuen heißen Autoren geflüstert wird und wischen den Staub von unseren liebsten türkischen Klassikern.
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