Wanderlust, Germany, 26 April 2018

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Der Wolf

I Der Wolf in Deutschland

ER IST

WIEDER DA! Der Wolf ist zurück in Deutschland! wanderlustAutor Sam Mittmerham spricht mit Experten und blickt auf die aktuelle Situation der Wölfe. Text: Sam Mittmerham

ch erinnere mich nicht wirklich, aber es dürfte um die Jahrtausendwende gewesen sein. Ich öffnete meine Augen und sah im Westen ein Land ohne Artgenossen. Es war vergleichsweise still dort; kein Geheul fremder Rudel, kein Gift, keine heimtückischen Wolfsfallen, keine Kämpfe um Territorien. Offenes, weites Land mit Wald und Wild. War das das Paradies? In der Oberlausitz begannen wir uns anzusiedeln. Unsere ersten Kinder kamen im Jahr 2000 auf einem stillen Truppenübungsplatz in Sachsen zur Welt. Und dort blieben wir erst einmal; leise, still und heimlich, so wie es eigentlich nicht unsere Art ist. Aber der Mensch zwingt uns dazu. Wir haben Angst vor ihm und meiden ihn. 2006 schlichen wir auf leisen Pfoten nach Brandenburg, 2007 waren wir schon in Niedersachsen. Danach zeigten wir uns in fast allen Bundesländern; in manchen nur ab und zu. In anderen machten wir uns sesshaft. Heute sagen die Menschen, es gibt 60 Rudel und 13 Paare von uns in Deutschland. Aber in Wirklichkeit wissen sie es nicht ,und sie sind vorsichtig mit ihren Zahlen. In Wahrheit gibt es schon mehr von uns. Wir sind gekommen, um zu bleiben.

Was ist Fakt, was Politikum?

Europäischer Wolf: seit der Jahrtausendwende auch wieder in Deutschland.

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Die Angst vor dem Wolf wird oft faktenfrei aufgebauscht. Eine Echte Gefahr für den Menschen geht vom Wolf nicht aus.

Der Wolf ist zurück in Deutschland und dort längst zum Politikum geworden. Er wird emotional diskutiert; die Palette umfasst fast alles von Jubel bis Angst, Hass und ­Hysterie, Populismus und Verklärung. Fakten, Sachlichkeit und Entscheidungen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse bleiben oftmals auf der Strecke und unberücksichtigt. Doch was sind diese Fakten? Wie soll man mit dem Wolf umgehen? Und wie tun das ­unsere Nachbarn?

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Viele Fakten vom Wolf können durch das Sammeln von Spuren gewonnen werden, wie hier durch das Einsammeln von Kotproben.

Fakten rund um den Wolf Status

Stand 2017 gibt es in Deutschland 60 Rudel und 13 Paare. Bei einer durchschnittlichen Rudelgröße von sieben Tieren sind das also ca. 450 Wölfe in ganz Deutschland. Zum Vergleich: Neben den 82 Millionen Menschen im Land gibt es circa 40 Millionen Schafe, Pferde, Esel, ­Rinder und Schweine.

Ernährung

Das Senckenberg Museum hat über 6.000 Kotproben in Deutschland gesammelt und analysiert. Danach ernährt sich der Wolf von Reh (53 %), Rotwild (15 %), Wildschwein (18 %) sowie manchmal auch von Damhirsch, Muffelschaf, Hase und anderen kleinen und mittelgroßen Säugern (zusammen 13 %). Nutztierrisse sind mit 1 % die Ausnahme und spielen als Nahrung keine Rolle.

Herdenschutz Fakt ist, dass der Wolf eine in der EU streng geschützte Art ist. Fakt ist auch, dass er in Deutschland Nutztiere reißt, so zum Beispiel 143 Mal in Niedersachsen im Jahr 2017 und 17 Mal im gleichen Zeitraum in NRW. Fakt ist, dass das Gesetz nur in absoluten Ausnahmefällen den Abschuss eines Wolfs erlaubt. Der Wolf wird sich daher weiter ausbreiten und in Deutschland bleiben. Auch das ist ein Faktum, unabhängig von Unkenrufen, Mahnfeuern oder Jubelstürmen. Wie sol-

len wir uns also mit dieser neuen, alten Tierart in unserer Heimat arrangieren, und zwar basierend auf Fakten, nicht auf Hysterie (siehe Infobox rechts)?

Unsinnige Jagd Die Jagd auf Wölfe solle in Deutschland erlaubt werden. Andere Maßnahmen wie zum Beispiel Schutzzäune seien keine realistische Lösung, sagt FDP-Agrarexperte Karlheinz Busen: „Nur so kann die Gefahr für Herdentiere und andere WildbestänHerdenschutz durch Elektrozaun und ­Herdenschutzhunde sind ein effektiver Schutz gegen Wolfsübergriffe.

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de wirksam gebannt werden.“ Viele Landwirte seien in ihrer Existenz bedroht, wenn der Wolf ihre Herdentiere reiße. „Mehr und höhere Zäune allein werden dieses Problem hierzulande nicht lösen.“ Die Fakten (siehe rechts) sprechen allerdings eine andere Sprache. Dietmar Kemper, Redakteur beim „Westfalen-Blatt“, findet: „Solche Sätze grenzen an Panikmache, und schrecklich banal sind sie auch.“ Und weiter: „In der öffentlichen Diskussion wird

Wanderlust mit dem Wolf Neben hitzigen Debatten um Verluste, die der Wolf herbeiführt, entwickelt er sich auch zur Einkommensquelle. Im Wolfcenter (www.wolfcenter.de) im niedersächsischen Dörverden kann man Übernachtungen im Baumhaus direkt am Wolfsgehege buchen. In der Lausitz bietet Wolfland Tours (www.wolflandtours.de) geführte Exkursionen durch erfahrene Biologen ins Wolfsgebiet an. Wer es wissenschaftlicher und zeitlich länger mag, kann mit Biosphere Expeditions (www.biosphere-expeditions.org) jedes Jahr jeweils eine Woche lang bei wissenschaftlichen Wolf-Bestandserhebungen in Niedersachsen mitmachen.

Sind Nutztiere nicht oder nur schlecht geschützt, wird der Wolf versuchen, leichte Beute zu machen. Neben Ziegen und Schafen sind seltener auch Rinder, Pferde oder Gehegewild betroffen. Herdenschutzempfehlungen variieren z­wischen den Bundesländern. Der sogenannte „Mindestschutz“ ist ein 90 Zentimeter hoher Elektrozaun mit mindestens 2.000 Volt Spannung. Der „empfohlene Schutz“ beträgt 110 Zentimeter Zaunhöhe und 4.000 Volt Spannung. Immer häufiger werden auch ­ Herdenschutzhunde eingesetzt, die mit der Nutztierherde leben und anschlagen, wenn sich ein Wolf ­nähert, und ihn so vergrämen, denn bei ­einer so beschützen Herde ist keine leichte Beute mehr zu machen. Herdenschutzmaßnahmen funktionieren in den allermeisten Fällen. Dort wo flächendeckend Herdenschutzmaßnahmen entsprechend dem Mindestschutz eingesetzt werden, gehen Wolfsangriffe auf Nutztiere so stark zurück, dass sie zur seltenen Ausnahme werden.

Abschuss

Die Tötung eines Wolfs ist ein ungeeignetes und kontraproduktives Mittel zum Schutz von Nutztieren. Der Abschuss eines Wolfs bringt immer Unruhe in das territoriale und familiäre Gefüge. Außerdem können so Lerneffekte von Alttieren auf Jungtiere verloren gehen,

sich von Nutztieren fernzuhalten. Nach dem Abschuss einzelner Tiere würden zudem zuwandernde Wölfe die entstandene Lücke höchstwahrscheinlich schließen und Nutztiere, die nicht ausreichend geschützt sind, als leichte Beute nutzen. Daher sind Herdenschutzmaßnahmen in Wolfsgebieten unabdinglich und können durch eine Bejagung nicht ersetzt werden.

Schaden

Insgesamt leisteten die Bundesländer seit der ersten Wolfssichtung in Deutschland Zahlungen in Höhe von rund 500.000 Euro. Zum Vergleich: Der Marder verursacht in Deutschland 63 Millionen Euro Schaden an Autos, wohlgemerkt jährlich. Der Schaden durch Wild auf der Fahrbahn belief sich 2017 auf 653 Millionen Euro. Der Wolf ist nicht der Hauptgrund für den Rückgang traditioneller Viehhaltebetriebe; stattdessen sind es steigende Kosten bei gleichzeitig stagnierenden oder fallenden Erlösen, der Verlust von Weideflächen und abnehmende Leistungen im Vertragsnaturschutz. In vielen Fällen findet sich bei Schäfereibetrieben auch schlicht keine Hofnachfolge, da das Berufsbild des Schäfers besondere Anforderungen an Motivation und Leistungsbereitschaft stellt und mit heutigen Lebensstilen oft nur schwer vereinbar ist.

Gefahr

Das Bundesministerium für Umwelt sagt auf seiner Webseite: „Es ist nicht lauter, das Sicherheitsgefühl der Menschen auf dem Land mit den durch unterlassenen Herdenschutz entstehenden Schäden in Verbindung zu bringen. Von gesunden Wölfen geht in der Regel keine Gefahr aus, sie reagieren auf Menschen mit Vorsicht und nicht aggressiv. Die durch „Rotkäppchen“ geschürten Ängste entsprechen nicht der Wirklichkeit in Deutschland und Europa. Es gibt nur wenige Fälle, in d ­ enen sich Wölfe Menschen unter 30 Metern genähert haben.“ Während bislang noch kein Angriff eines Wolfs auf Menschen in Deutschland gemeldet wurde, wurden bei Wildtierunfällen im Jahre 2016 2.790 Menschen verletzt, 521 davon schwer, elf tödlich.


die Tierart zur Bedrohung hochstilisiert, ­quasi zum ,Weißen Hai auf Pfoten‘, und die jahrhundertealte Legende von der Bestie fortgeschrieben. Weil sich Politiker gerne als Kümmerer präsentieren, erwecken sie den Eindruck, als wäre der Wolf ein echtes Problem.“ Genauso deutlich wird Peter Schütte, Leiter des Projekts „Herdenschutz Niedersachsen“: „Der beste Schutz der Wölfe ist der Schutz der Nutztiere“, so Schütte. „Bejagung ersetzt keine Herdenschutzmaßnahmen.“ In unseren Nachbarländern wie der Slowakei oder Polen, in denen der Wolf nie vollständig verschwand, ist der Umgang mit „Isegrim“ übrigens wesentlich

Ein Jungwolf blickt in eine ungewisse Zukunft.

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entspannter. Man hat dort nie verlernt, ihn als Teil der Natur zu akzeptieren und seine Nutztiere entsprechend zu schützen. Die hochemotionalen Diskussionen in Deutschland werden dort mitunter belächelt. Und so sind bei der Rückkehr des Wolfs in ein Land Zyklen zu beobachten. Zuerst wird meist wild und emotionsgeladen diskutiert. Darauf folgt eine Beruhigungsphase und die Rückkehr zur Sachlichkeit, wenigstens bei den meisten. Sobald man dann merkt, dass der verteufelte Wolf doch nicht blutrünstig sämtliche Weidetiere auffrisst, setzt eine Phase der Lösungsfindung und des Arrangierens mit dem Wolf ein. Dabei hängen die Lösungsansätze sehr deutlich vom

politischen Umfeld ab. Die Lösungen – und davon gibt es viele – sind dabei so unterschiedlich wie die politischen Landschaften. Wie sich Deutschland mit dem Wolf arrangieren wird, bleibt dabei offen, denn das Land ist ja erst am Anfang seines neunen/alten Weges mit dem Wolf. Übrigens: Frankreichs Regierung will mehr Wölfe. Ihre Zahl soll bis 2023 auf 500 steigen.

Eine Wolfsspur im Sand wird vermessen.

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Fotos: Sam Mittmerham (4), Petter Schütte (1), Theo Grüntjens (1)

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