Alban Janson
Florian Tigges
Alban Janson
Florian Tigges
Birkhäuser Basel .
Der Architektur von Balthasar Neumanns Treppenhaus im Schloss von Bruchsal wird man allein durch eine Beschreibung von Formen, Maßen, Konstruktion und Materialien nicht gerecht. Auch in der treffendsten Schilderung der Baugeschichte, des Kontextes, der ursprünglichen und aktuellen Nutzung verfehlt man das spezifisch Architektonische, solange nicht bedacht wird, wie man diese Architektur als konkrete Situation erlebt: Die erste Annäherung führt ins Dunkel, zugleich aber bietet sich als Alternative zur Höhlenatmosphäre unten der Anstieg rechts und links an, vom Licht nach oben geleitet, zwischen dunklem Abgrund und hellem Außenlicht zunächst fast tänzerisch ausschwingend, noch ohne zu zeigen, wohin er führt. Schließlich schwingt die Bewegung wieder ein, und man erreicht am Ende eine ovale Plattform mitten im Raum, abgelöst von den Wänden, ohne deren Halt und von der geheimnisvoll erhellten farbigen Himmelsdarstellung an der Decke überwölbt, dem Gegenpol zur dunklen Höhle darunter.
Das Architektonische der Architektur, um das es hier geht, betrifft die Artikulation aller denkbaren räumlichen Verhältnisse durch architektonische Mittel.
Weder in technischer noch in formaler Hinsicht ist die Herstellung von Objekten die Hauptaufgabe der Architektur, sondern sie hat vor allem für den Aufenthalt an unterschiedlichen Orten, für Bewegung und Handeln angemessene räumliche Situationen zu schaffen. Die entscheidende Rolle spielt dabei die Wechselwirkung zwischen den räumlichen Eigenschaften baulicher Elemente und den Bedingungen, unter denen sie wahrgenommen, gebraucht und erlebt werden.
Die Grundbegriffe der Architektur erfassen diese architektonischen Situationen nicht aus der Perspektive des Entwurfs, sondern aus der des Erlebens. Denn auch im architektonischen Entwurf ist als Wichtigstes zu berücksichtigen, wie die Menschen die Architektur erleben, die für sie entworfen wird. Die einzelnen Grundbegriffe verweisen in erster Linie weder auf einen konstruktiven Zusammenhang, auch wenn darin etwa „Dach“, „Sockel“ oder „Wand“ vorkommen, noch stellen sie eine kunstwissenschaftliche Bauformenlehre dar, auch wenn „Achse“, „Enfilade“ und „Proportion“ behandelt werden, genauso wenig ist ihre historische Begründung in der Architekturgeschichte beabsichtigt. Und sie werden schließlich auch nicht im Sinne einer breiten soziokulturellen Bedeutung verallgemeinert. Vielmehr steht die konkrete architektonische Erscheinung im Vordergrund, indem die Beschreibung sich auf den situativen Gehalt des jeweiligen Begriffs in enger Fühlung mit der konkreten baulich-räumlichen Gestalt konzentriert.
Die Grundbegriffe der Architektur bieten keine wissenschaftlichen Definitionen oder Handbuchwissen im herkömmlichen Sinn, sondern laden zum Nachvollzug in der gebauten Wirklichkeit ein. Dem Leser soll anhand der Beobachtung von architektonischen Situationen unter Maßgabe der Grundbegriffe ein Instrument der Ausrichtung, Sensibilisierung und Ausweitung seiner Wahrnehmung an die Hand gegeben werden, das es ihm ermöglicht, die in den Grundbegriffen geronnenen Erfahrungen im konkreten Architekturerlebnis nachzuvollziehen.
Dass der Inhalt dieser Begriffe nur unter Berücksichtigung des subjektiven Erlebens adäquat erfasst werden kann, bedeutet nicht, dass sie nur individuelle Gültigkeit hätten. Sobald subjektive Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erfahrungen präzise und verständlich beschrieben werden, sind sie prinzipiell für jeden überprüfbar, der sich den angegebenen Bedingungen aussetzt. Mit Josef König könnte man hinzufügen: Dass solche Aussagen „unmittelbar als treffend“
empfunden werden, kann nicht bewiesen, sondern nur im gegebenen Fall anerkannt werden (1957, 284). Es wäre jedenfalls eine sträfliche Vernachlässigung wesentlicher Merkmale von Architektur, wollte man sich bei deren Beschreibung auf die mess- und zählbaren, vermeintlich objektiven Fakten beschränken, man würde das Beste, was Architektur zu bieten hat, ausschließen. Denn unsere Befindlichkeit hängt von Bedeutung und geistiger Beanspruchung durch die physische Umwelt, von Anmutungen und Atmosphären mindestens ebenso ab wie von „Straßenspülung“ und „Haustürschlüssel“ (Karl Kraus), auch wenn uns für Erstere oft die Begriffe fehlen. Die präzise und ausführliche Beschreibung von Phänomenen des architektonischen Erlebens übersteigt allerdings in der Regel das Maß an differenzierter Aufmerksamkeit, das ein Architekturkonsument in der gewöhnlich beiläufigen Wahrnehmung aufbringt. Da für ihn aber die unterschwellige Wirkung genauso entscheidend ist, müssen Architekten, die für die Erzeugung dieser Phänomene verantwortlich sind, deren Wirkmechanismen genau kennen.
Für die Nebendisziplinen der Architektur wie Bautechnologie, Bau- und Kunstgeschichte, Baurecht oder Planungstheorie gibt es kodifizierte Begriffsbestimmungen von großer Genauigkeit. Ungleich schwieriger scheint es zu sein, für die Verständigung im Kerngebiet der Architektur, die oft unpräzise und klischeehaft bleibt, begriffliche Klarheit zu schaffen. Was eine Dampfsperre, ein Wimperg oder eine Baunutzungsverordnung ist, scheint eindeutig bestimmbar. Viel schwerer ist es, begrifflich klar zu fassen, was räumliche > Gestik ist oder was eine räumliche > Sequenz ausmacht. Tatsächlich lässt sich das Spezifische architektonischer Situationen weniger durch eine technische oder formale, historische oder planungstheoretische Begrifflichkeit erfassen als durch ihre phänomenologische Beschreibung, auf die sich die Grundbegriffe der Architektur hier stützen.
Auch wenn diese Grundbegriffe nicht den Anspruch eines vollständigen, in sich geschlossenen Begriffssystems erheben,
stellt gerade die Form des Wörterbuchs mit ihrer hypertextuellen Verweisstruktur dar, wie ein Begriff nicht nur innerhalb eines Lemmas definiert wird, sondern sein Profil gerade auch durch Aufzeigen von Differenzen und Anschlussmöglichkeiten im Verweis auf andere Begriffe gewinnt. Durch den komplexen und damit eng verwobenen Zusammenhang bildet sich so die Struktur eines Begriffsnetzes heraus, in dem das Wesentliche des Architekturerlebnisses eingefangen werden kann.
Wie man Architektur erlebt, kann beschrieben, aber nur bedingt durch Abbildungen illustriert werden. Die beigegebenen Skizzen zeigen daher im Wesentlichen nur einige bauliche Randbedingungen exemplarisch auf.
Abschirmung
Das Wechselspiel von Trennung und Verbindung zwischen Räumen ist für die Architektur konstitutiv und wird in der Abschirmung konkret. Es umfasst zwei komplementäre Teilvorgänge, die Möglichkeit, hineinzugehen und herauszukommen. Das setzt die Abgrenzung zwischen verschiedenen Räumen voraus und zugleich die Möglichkeit, die Grenze zu überwinden. Dieser in der Abschirmung aufgehobene Gegensatz von Trennen und Verbinden betrifft vor allem die Beziehung zwischen > innen und außen und lässt sich auf einen der Urakte der Architektur zurückführen, die Eingrenzung eines menschlichen Erfahrungsraums durch eine Hülle und dessen Ausgrenzung aus dem räumlichen Kontinuum des Naturraums. Generell zeigt sich das Phänomen aber auch in der Beziehung zwischen jeder Art von Räumen und Raumteilen, die sich graduell gegeneinander abschließen oder öffnen. Nicht nur die Raumhülle wird als Abschirmung wirksam, auch Einfriedungen verschiedenster Art, ebenso > Schwellen, Stufen oder Grenzlinien, die überschritten werden. Die Abschirmung eines > Territoriums kann weich und fließend sein, sich z. B. nur durch eine verschliffene Niveaudifferenz abzeichnen, in einer subtilen Zonierung durch Licht und Schatten oder Materialwechsel, in extremen Fällen sogar nur als Klang- oder Klimainsel.
Das architektonische Mittel der Abschirmung ist jedoch in erster Linie die > Wand mit > Öffnungen. Wände, als geschlossene vertikale Flächen, bilden für unsere Bewegung und unsere Wahrnehmung zunächst Hindernisse, sie trennen den Raum, in dem wir uns befinden, von einem äußeren Raum, unseren aktuellen Aufenthaltsbereich von einem zunächst nicht zugänglichen Bereich. Was wir als Wand identifizieren, hat gewöhnlich eine Rückseite, verweist damit auf den anderen Raum und verbindet so bereits durch die Zweiseitigkeit beide Bereiche. Vor allem aber im Zusammenspiel mit Öffnungen, wie > Tür und Tor oder > Fenster, zeigt die Wand ihre Ambivalenz von Trennung und Verbindung. In Abhängigkeit von Konstruktion und Material bestimmen unterschiedliche
Grade an Durchlässigkeit für Blicke, Licht, Schall oder Bewegung in verschiedenen Kombinationen ihre Funktion als kommunikativer > Filter.
Auf einer Skala von hermetischer > Geschlossenheit bis zu weitgehender Offenheit lassen sich die Anforderungen an Schutz etwa vor widrigem Klima, Licht oder Geräuschen, Sicherung der Privatheit oder Wehrhaftigkeit auf der einen Seite mit dem Bedürfnis nach Ausblick, Kontakt und Selbstdarstellung auf der anderen in unterschiedlichen Anteilen des Trennenden und des Verbindenden gegeneinander ausbalancieren. Die trennend-verbindende Doppelfunktion der Abschirmung ermöglicht schließlich auch das szenische oder voyeuristische Wechselspiel von Verhüllen und Sehenlassen oder Vorenthalten und Zeigen (> Szene). An Dingen oder Personen, die hinter der abschirmenden Wand nur partiell oder als Andeutung wahrgenommen werden, haftet häufig der Reiz des Verborgenen. Ihr Sichtbarwerden oder Hervortreten durch die Durchlässigkeit oder Öffnung der Wand wird dann zur Enthüllung oder zum > Auftritt, unterstützt durch die emblematische Wirkung der vom umgebenden Wandfeld gerahmten Öffnung.
Literatur: Baecker 1990; Feldtkeller 1989
Abstoßung
Abstrahlung
> Feld, Formcharakter, Körper (architektonischer), Konkavität und Konvexität, Kräftefeld, Raumschatten, Zirkulieren
> Formcharakter, Kräftefeld, Raumschatten
Achse
Sind Räume oder Baumassen auf beiden Seiten einer zentralen geraden Ordnungslinie aufgereiht, die in der Regel durch ein Anfangselement und/oder durch ein abschließendes Hauptelement markiert ist, bezeichnet man die Linie als Achse und die Markierung ihrer Enden als Pole. Das Organisationsprinzip der axialen Anlage erzielt sowohl im Gebäudemaßstab als auch im städtebaulichen Kontext durch die Strenge der
Korrespondenz von Anfangspunkt und entferntem Endpunkt und der symmetrischen Anordnung der flankierenden Elemente eine dominante ordnende Wirkung, der sich selbst einzelne Unregelmäßigkeiten der aufgereihten Räume oder Häuser unterordnen. Sie wird unterstützt durch die Ausformung der Achse selbst, sowohl durch Freihalten von Räumen oder Flächen als auch durch Betonung, z. B. in Form von Säulenreihen, Alleen, Wasserflächen oder eines homogenen Feldes, das von der Achse durchlaufen wird. Die Pole werden mit besonderen Raumeigenschaften, Objekten oder Gebäuden betont. Anfangspunkt und weit entfernter Endpunkt werden durch den Gegensatz von Zusammengehörigkeit und zugleich vorhandener Distanz einer räumlichen Spannung ausgesetzt. Durch das Freiräumen der Achse und die Bindung an ein Ziel wird die schrittweise Annäherung zu einer inszenatorisch aufgeladenen Bewegungsbahn mit allmählicher Bedeutungszunahme des Zielpunkts.
Das Prinzip wurde mit seiner Tendenz zu monumentaler Wirkung, dem Hierarchiegefälle von den begleitenden Flanken zu den beherrschenden Polen und dem auf ganzer Länge erfahrbaren allmählichen Entfernungs- oder Annäherungsprozess vielfach als Steigerungsmittel der räumlichen Bewegung innerhalb religiöser oder politischer Inszenierungen eingesetzt (> Monument).
Im Städtebau ermöglicht es das axiale Prinzip, besondere räumliche Beziehungen herzustellen. Sieht man in den Polen Zielpunkte, dann dienen die Achsenbezüge in der Stadt, wie etwa im Barock, der weiträumigen Organisation von Räumen und > Wegen oder der > Orientierung und Wegeführung zu wichtigen Orten. Als regionale Vernetzung greifen sie über die Stadt hinaus. Eine ähnliche Wirkung hat die Sichtachse für die Landschaftsarchitektur, etwa im englischen Landschaftspark. Hier wird durch plötzliches Sichtbarwerden weit entfernter Objekte ein dramaturgisches Netz unerwarteter, doch wohlkalkulierter Verbindungen über den naturartig unregelmäßig erscheinenden Park gespannt.
Ästhetik
Akustik
Alter/Alterung
Aneignung
Angemessenheit
Ankommen
Ankündigung
Der Begriff der „Achse“ hat daneben verschiedene andere Bedeutungen: Von der durch Pole aufgespannten axialen Ordnung zu unterscheiden ist das Prinzip der Axialsymmetrie als spiegelsymmetrische Gliederung von Räumen und flächigen oder plastischen Bauformen (> Symmetrie). Davon unterscheidet sich wiederum der Begriff der „Achse“ als Mittel der Gliederung von Bauwerken und der konstruktiven Organisation von > Reihung und Raster. Als räumliche Koordinatenachsen schließlich bildet das Körperschema von Oben–Unten, Rechts–Links und Vorne–Hinten das Gerüst der > Bewegung und Orientierung des menschlichen > Leibes.
> Bild, Erleben, Gebrauch, Malerisch, Schönheit, Sinneswahrnehmung, Szene
> Klang
> Monument, Patina, Stofflichkeit, Zeit
> Kapazität, Komplexität, Ordnung, Ornament, Städtebau, Territorium, Wohnung
> Bedeutung, Größe, Komplexität, Licht, Ornament, Proportion
> Dramaturgie, Eintritt und Austritt, Introduktion, Weg, Zwischenraum
Eine räumliche Ankündigung weist auf Stellen im Raum hin, die zunächst außer Reichweite sind, aber in der Regel im Laufe einer Bewegung durch den Raum erreicht werden können. Durchblicke, > Ein- oder Ausblicke, eventuell auch akustische Ankündigungen lenken die Aufmerksamkeit auf etwas, was sich hinter einer Wand oder um die Ecke herum verbirgt. Oder ein > Inneres scheint durch Lücken in der > Abschirmung auf, deren materielle Durchlässigkeit dahinterliegende Formen erahnen lässt. Ein den Blick versperrendes Hindernis, das mit seiner Stellung zugleich die Richtung zu seiner Überwindung weist, wie z. B. eine Front in Schrägsicht oder die konvex gekurvte Wand eines Baukörpers, deren Form
quasi den Blick um die Rundung herum bis auf seine Rückseite mitnimmt, sind Varianten dieses verzögernden und zugleich verheißenden Spiels. Manchmal bleibt das, worauf die Ankündigung verweist, ganz im Verborgenen. Lediglich die Andeutung, dass es am Ende des Weges weitergeht, dass um die Ecke herum noch etwas kommt oder das Licht am Ende einer dunklen Gasse wecken unbestimmte Erwartungen, machen uns neugierig, lassen im Extremfall aber alles Weitere im Unklaren.
Anmutung
Das Wort „Anmutung“ ist begriffsgeschichtlich mit dem Wort „Zumutung“ verwandt. Und so sind die Anmutungen unter den Formen architektonischen > Ausdrucks auch diejenigen, durch die wir uns besonders beeinflusst fühlen. Sie werden in der Architektur durch bauliche und räumliche Situationen vermittelt, die den Menschen in einer ersten Wahrnehmungsphase unmittelbar ansprechen, in der sich Stimmungen und Gefühle einstellen, unterschwellige Erwartungen geweckt und entsprechende Reaktionen ausgelöst werden. Unter den Ausdrucksqualitäten von > Formcharakteren und > Atmosphären heben sich die Anmutungen dadurch ab, dass sie sich zu suggestiven Wirkungen verdichten, denen man sich nicht leicht entziehen kann.
Beispielsweise wird der Charakter konkaver Formen in ihrer Anmutung häufig als empfangend erlebt oder der Ausdruck eines aufragenden Turms als beherrschend, wenn nicht gar drohend. Viele Anmutungen sprechen uns in unserem räumlichen Verhalten an, z. B. wenn Formen oder Situationen verlockend oder abweisend, unnahbar oder beengend erscheinen.
Die Anmutung dynamischer Ausdrucksqualitäten zeigt sich vor allem in der räumlichen > Gestik, eine niedrige dunkle Decke etwa mutet drückend an, eine Kuppel bergend und eine aufstrebende Raumform hebend. Stimmungsqualitäten erscheinen in Anmutungen besonders eindringlich, indem sie
Bilder stehen für etwas, was sie selbst nicht sind. Mit diesem gewohnten Bildverständnis lassen sich in der Architektur zweierlei Bildfunktionen begreifen: Bilder am Bau (1) und Bauten als Bilder (2). Versteht man Architektur aber als > Situation, dann muss in einer weiteren Art von Bildauffassung anstelle des Baus die Situation als Bild begriffen werden. Dazu ist ein spezifisch architektonischer Bildbegriff erforderlich (3).
1. Bilder am Bau, z. B. Malereien oder Skulpturen, tragen als Bemalung von Oberflächen und illusionistische Behandlung von Wand und Decke zur > Atmosphäre oder zur > Gestik räumlicher Situationen bei oder eröffnen wie im Barock zusätzliche virtuelle Räume. Ob als integraler Teil des Bauwerks oder als Zutat, im Rahmen eines Gesamtkunstwerks wirken sie neben Musik und anderen Darbietungen entscheidend am Raumerlebnis mit.
2. Bauten als Bilder zu betrachten, ist in der Architekturgeschichte gang und gäbe. Bauwerke und zuweilen ganze Städte werden als Bilder gelesen: die ägyptischen Pylonen als Himmelstor, turmreiche mittelalterliche Kirchenbauten als vieltürmiges himmlisches Jerusalem und das vogelgestaltige TWA-Flugterminal als Bild von Abflug und Landung. Dabei vermischen sich oftmals Bild- und Symbolfunktionen. Für die Architektur besonders charakteristisch sind Bauformen, deren > Formcharakter unmittelbar dasselbe zum > Ausdruck bringt, was sie mittelbar durch das Bild darstellen, wie etwa die Dynamik der Schiffsmetapher in der Moderne (> Symbol).
In der sogenannten französischen Revolutionsarchitektur sollten Gebäude ihren Zweck und Charakter durch bildhafte Elemente und Formen ausdrücken. Solche „sprechende Architektur“ (franz. architecture parlante) stellt seit der Postmoderne auch der Bildtyp der „Ente“ dar, der nach dem Beispiel eines Geflügelrestaurants in Entenform (Robert Venturi u. a.) seinen Inhalt gleichfalls durch die bildhafte Gebäudegestalt ausdrückt. Abbilden und Darstellen sind zwar nicht die
Hauptaufgaben der Architektur, aber sie rufen Assoziationen des Vertrauten, etwa bekannte Bilder vergangener Epochen oder sozialer Milieus, wach. Bauten als Bilder zu betrachten, muss aber nicht heißen, dass sie etwas abbilden. Der Bildcharakter im Sinne einer emblematischen Einprägsamkeit von Bauformen trägt zur Intensität architektonischen Erlebens bei, so etwa das klassische Bild vom Haus mit dem schrägen Dach als Inbegriff der > Behausung.
Im gerahmten Durchblick hingegen, im Kamerasucher oder auf dem Monitor wird die Architektur zum Bild im Sinne einer Isolierung durch den Ausschnitt und die Blickfixierung von einem bestimmten Standpunkt her. Sie wird nicht im Handeln und in der Bewegung als konkrete Situation erlebt, sondern die durch den Rahmen gefasste Bildkomposition bringt die Architektur auf Distanz, macht sie zum Objekt der Betrachtung. Der Tourist erlebt den realen Ort oft nur aus der Perspektive des Bildbetrachters. Das > malerische Bild der Architektur, die sich vor allem in der Fassade von ihrer fotogenen Seite zeigt, stützt sich auf Flächenproportionen und Maßverhältnisse, attraktive Farbigkeit und Oberflächeneffekte, interessante Formüberschneidungen, das Spiel von Fläche und Tiefe, oft plakative Zeichenhaftigkeit. Es wird fast ausschließlich visuell wahrgenommen und eignet sich für die kontemplative Betrachtung. Es bietet aber auch den Vorteil einer weitgehenden Kontrollierbarkeit, lässt sich leicht reproduzieren und anschließend global verbreiten, als plakatives Image eignet es sich gut zur Vermarktung. In all diesen Fällen tendiert der Bildinhalt zu einer gewissen Künstlichkeit, die sich von der gegebenen Situation löst und nicht ganz zur Wirklichkeit des Betrachters gehört.
3. Diese Bildsicht kann aber umschlagen in eine andere, spezifisch architektonische Bilderfahrung, die sich aus der Fixierung eines Blickwinkels löst. Sobald der Raum der Architektur uns in die Tiefe hineinzieht und umfängt oder durch körperhafte Konfrontation ein räumliches Spannungsfeld aufbaut, erwacht möglicherweise das „architektonische Bild“.
Bogen
Bühne
einflusst die Bewegung und verleiht dem ganzen Raum eine Exklusivität. Rauigkeit oder Glätte eines Bodenbelags beeinflussen die Fortbewegungsqualität, die akustischen Eigenschaften den Raumklang. Auch durch Härte, Elastizität oder Plastizität (Sand) und Schwingungsverhalten sowie durch ein eventuelles Gefälle wird die Bewegungsart teils gravierend, teils subtil mitbestimmt. Schließlich wirken diese Faktoren im Zusammenspiel auch erheblich auf die > Atmosphäre ein, von der Distinguiertheit eines Marmorbodens mit Inkrustationen, auf dem man sich gemessenen Schrittes bewegt, bis zum knarzenden Dielenboden als Bestandteil einer herkömmlichen Stube oder dem durch Teppiche oder Matten bedeckten Boden, der dazu auffordert, die Schuhe auszuziehen und sich niederzulassen.
> Arkade
> Auftritt, Bild, Szene, Treppe
Chora
Code
Concinnitas
> Körper (architektonischer), Raum-Körper-Kontinuum
> Lesbarkeit, Zeichen
> Ordnung, Schönheit
Dach
Als Pars pro Toto, steht das Dach für die > Behausung. „Ein Dach überm Kopf“ zu haben, ist die Mindestvoraussetzung einer Bleibe. Im separaten Dach, als Unterstand oder Regendach, kommt dessen schützender Charakter in Reinform zum Ausdruck. Dagegen vermittelt das Flachdach als unauffällige horizontale Platte, die sich nach innen zugleich als > Decke zeigt, seine bergende Funktion mit geringerer Ausdruckskraft. Es verschafft dem Dach stattdessen die zusätzliche Funktion als Aufenthaltsbereich. Seit der Moderne werden Dächer mit ihren Dachterrassen und Dachgärten daher zum Bestandteil der Wohnung im Freien und stellen zudem eine weitere
> Fassade dar. Le Corbusier wollte mit der Dachterrasse den Landverbrauch des Hauses auf der Erde kompensieren und schuf auf den Flachdächern seiner Häuser wertvolle Aufenthaltsräume, die nicht nur die Dachoberfläche als Boden haben, sondern deren Volumen auch durch die Einfassung mit einzelnen Wänden und Rahmenkonstruktionen markiert sind. Die für das Dach eigentümliche Erlebnisintensität bietet es aber vor allem in seiner traditionellen Gestalt mit der Differenz von Außen- und Innenform. Nach innen gibt es seine Form an die Decke ab, während es sich in der charakteristischen Gestalt von Neigung, Faltung, Wölbung und Überstand nach außen wendet. So transportiert es auch die notorischen Bedeutungen. Auch nach der Einführung des Flachdaches gehört das Satteldach immer noch zu unserem vertrauten Bild vom Haus, wie es die Kinderzeichnung zeigt, und ist für die meisten ein Zeichen für Heimat und Behausung.
Durch seine Form ist das Dach in der Lage, Verbindung aufzunehmen zu den benachbarten Häusern, sie durch die Kontinuität von Dachflächen zusammenzubinden, ihre Volumen zu verschmelzen oder durch Wiederholung der Form einen gemeinsamen > Rhythmus zu erzeugen. Die Topografie einer Landschaft zeichnet sich als „Dachlandschaft“ in den Dachformationen ab. Form, Stellung und Anordnung von Dächern verleihen einer Stadt oder Region oftmals ihren Charakter und ihre Unverwechselbarkeit. Durch die eigenwillige Gestalt einer besonderen Dachform separiert sich ein Haus dagegen aus dem örtlichen > Kontext. In jedem Fall aber sind die Dächer an der Formierung von Stadträumen beteiligt. Zu deren Homogenität und Geschlossenheit tragen einheitliche Dachformen und -stellungen bei, indem z. B. die Häuserfronten nur Traufen (traufständig) oder nur Giebel (giebelständig) aufweisen. Durch kontrastierende Dachformen indessen treten die Häuser einander mit individueller > Gestik entgegen, wenden sich etwa durch Pultform oder große Dachöffnungen einander zu oder voneinander ab, greifen mit großen Vordächern in den Raum aus oder zentrieren ihn mit der Kuppel
um sich. Dabei ist die Form des Daches nicht nur aus der Distanz zu erkennen, sondern zeigt sich aus der Nähe im Giebel oder an der Traufe und dem Dachüberstand. Mit Gesims und Überstand deutet die Dachkante zugleich einen virtuellen oberen Abschluss des Platzraums an und bildet gleichsam den Rand eines imaginären Platz-Daches.
Der Dachrand ist aber auch der obere Abschluss, den die äußere Gebäudeform selbst benötigt, sogar das Flachdach zeigt sich als Abschluss in der Attika. Ein elementares Merkmal der > Tektonik ist die Unterscheidung von unten und oben, die in dem Gegensatz von fest auf dem Baugrund ruhendem Sockel und aufgesetzter Haube oder aufgelegtem Deckel des Daches zum Ausdruck kommt. Während das Flachdach aus gewöhnlichem Blickwinkel zur Plastizität eines Hauses nicht beiträgt, lässt sich die schräge Dachform als eine kontinuierliche Weiterführung der Außenwand ins Dach deuten, welche die (konvexe) Körpergestalt eines Hauses nach oben vervollständigt. Die Geschlossenheit der Dachflächen unterstützt die körperhafte Erscheinung und trägt zur skulpturalen Wirkung eines Baukörpers bei. Allerdings wird die konkrete Beschaffenheit der Dacheindeckung in Form der Schuppung durch Dachziegel, Schindeln, durch die Bedeckung mit einer dünnen Metallschicht oder die Fellstruktur von Stroh oder Reet auch als eigene hautartige Schicht wahrgenommen.
Das Dach bietet die Möglichkeit, mit seiner differenzierten Durchgliederung den Grundriss oder die Zusammensetzung des Hauses aus verschiedenen Gebäudeteilen außen ablesbar zu machen. Die Formen des Inneren spiegeln sich in der Komposition verschiedener Dachelemente wider. Andererseits kann das einheitliche Dach auch ein mehrgliedriges Gebäude als Ganzheit zusammenfassen. Die besondere Gestik eines Hauses gipfelt meistens in der Dachform, manchmal ruft sie physiognomische Assoziationen zu Lebewesen hervor, zu Gesichtern oder skurrilen Frisuren. In ihrer eigentümlichen Gestalt reflektiert sie die äußere Form im Inneren des Hauses, wenn Innenräume von der Dachform mitgeprägt werden.
Von Schutzdach, offener Halle oder Pavillon abgesehen, sieht man allerdings dem Haus von außen in der Regel nicht an, wie es unter seinem Dach aussieht. Es kündigt den geschützten Raum im Inneren nur an, weckt Erwartungen und fordert zum Eintreten auf. Ein großer Dachüberstand oder eine weit heruntergezogene Traufe lassen außen schon die Introversion des Inneren erahnen. Sie bilden Vorstufen, indem man bereits ein „Inneres“, zumindest einen > Zwischenraum, erreicht, wenn man unter der äußeren Kante hindurch unter das Vordach tritt. Innen angekommen aber sieht man vom Dach normalerweise nichts mehr. Seine Gestalt wird zwar von außen kommend als Erwartung in den Innenraum mit hineingenommen, in den meisten Fällen aber zunächst von der Erdgeschossdecke vertreten. Nur in besonderen Fällen, besonders in überwölbten oder überkuppelten Räumen, Hallen oder Scheunen, kommt es vor, dass das Erlebnis des Inneren mit dem Eindruck von der Dachgestalt des Äußeren zusammenfällt. Dann wird der Raum durch die Gestik der Dachform gerichtet, zentriert oder gegliedert, dehnt sich nach oben oder wird gestaucht und legt bestimmte Bewegungsfiguren nahe.
Die Differenz zwischen Dach und Decke hingegen reflektiert deren unterschiedliche Aufgaben als äußere Bauform und als innere Raumhülle. Während das Dach nach außen Masse suggeriert, repräsentiert die Decke den Himmel. In ihrem Zwischenraum, einer Form von > Poché des Querschnitts, befindet man sich „im“ Dach, das dort nicht der überdachte Innenraum des Hauses ist, sondern ein abgesonderter, kaum belichteter und schwer einsehbarer Bereich. Im offenen Dachstuhl gibt das Haus die Rationalität seiner Konstruktion zu erkennen, zugleich bildet aber das staubige Gewebe von Balken und Streben im Dämmerlicht einen geheimen Rückzugsort. Dessen Räume, Dachboden, Speicher, Dachkammer erreicht, wer ins Dach hinaufsteigt, um etwas zu verstecken oder sich zu verbergen, und sich dabei auch versteigen kann.
Literatur: Burren/Tschanz/Vogt 2008
Plastizität
Platte
Platz und Straße
> Dach, Fassade, Körper (architektonischer), Licht, Oberfläche, Sinneswahrnehmung
> Decke, Ebene, Geschlossenheit
Plätze und Straßen sind die Innenräume der Stadt. So wie die körperhaften Massen der Wände einen Innenraum im Haus umschließen, so umfassen die Baukörper der Häuser den Platz und den Straßenraum in der Stadt. Im Figur-Grund-Verhältnis heben sich nicht nur die markanten Gebäudeobjekte aus der Textur des homogenen städtischen Gewebes heraus, sondern bei ausreichender Dichte auch die prägnanten Platzfiguren und Straßenräume. Durch ihren individuellen baulichen Charakter verleihen sie einer Stadt ihre Unverwechselbarkeit.
Historische Bedeutungen eines Ortes machen sie vielfach zu > Monumenten, wodurch sie wiederum als Orte des öffentlichen Lebens einer Stadt und für aktuelles Geschehen bedeutsam werden.
Plätze sind in der Regel nicht vollständig durch eine umlaufende Raumgrenze geschlossen, sondern nur partiell durch Gebäude, zwischen denen Lücken bestehen. Wenn dennoch von einem Platz die Rede sein kann, liegt es an der Gestaltwahrnehmung, die durch eine Ergänzung über die Lücken hinweg die Kontur zur > Gestalt vervollständigt. Dafür dürfen die Lücken nicht zu groß und nicht zu tief sein. Radiale Straßeneinmündungen etwa bilden weit offene Löcher, winkelig ansetzende Straßen dagegen fangen den Blick aus dem Platzinneren auf und sichern die > Geschlossenheit. Im Frontverlauf von Platz- und Straßenfassaden lässt sich durch Visierbrüche, seitlich oder in der Höhe, der > Blick so auffangen, dass der Raum sich vorübergehend schließt, um erst nach einer Annäherung wieder weiterzuführen. Eine vergleichbare Wirkung wird durch versetzte Straßeneinmündungen an der Stelle einer Straßenkreuzung erzielt.
Nur in der dicht bebauten Stadt besteht die Begrenzung von Platz- und Straßenräumen hauptsächlich aus den Gebäu-
defronten. In anderen Fällen bilden Hecken, Mauern oder geschlossene Zäune halbhohe Raumgrenzen, wobei die Augenhöhe eine kritische Marke für die Geschlossenheit ist. Stufen, Kanten, Rinnen und Mäuerchen deuten die Raumgrenze nur an. Baumreihen können eine Platzkontur ersetzen, doch meistens haben sie eher den Effekt eines Schleiers oder einer Grenzverdoppelung zu den zurückgesetzten Hausfronten. Als Allee lassen sie den Vergleich mit den Säulenreihen und deren Leitwirkung in einer Basilika zu, das gilt mehr noch für (beidseitige) Arkaden. In Form der Stadtloggia gehen Säulenhalle und Platzraum ineinander über. Schließlich ist auch die Beleuchtung an der Formierung von Außenräumen beteiligt, etwa wenn Leuchten in einheitlicher Höhe ein Dach andeuten, Lichtkegel Räume ausgrenzen, Raumzonen durch Licht- und Schatteninseln gegliedert werden oder angestrahlte Gebäude als Orientierung und Quelle von > Raumschatten dienen.
Während die Disziplinierung durch die Konstruktion eine regelmäßige Form von Innenräumen im Haus bedingt, beziehen Straßen und Plätze ihre freiere Form aus der Verschränkung mit der jeweiligen Bebauungsstruktur. Ihre unregelmäßige, oft ungeplante Gestalt „ergibt sich“ manchmal als Zwischenraum zwischen Baumassen, sie wurde aber auch oft in einer differenzierten Reaktion auf Wahrnehmungsanforderungen entworfen. So bildet die Platzfläche etwa als Vorplatz eine Referenzzone vor bedeutenden Bauwerken, die es erlaubt, vor ihnen zurückzutreten; eine Platzwand kann die konkav rahmende Schale bilden, in die ein Gebäude sich konvex hineinwölbt, wie z. B. Santa Maria della Pace in Rom. Oder der Platz gleicht einer Bühne, auf der ein Gebäude auftritt, wie z. B. die Kirche Santa Maria Formosa in Venedig, die sich in den gleichnamigen Campo gleichsam von der Seite effektvoll hineinschiebt. Plätze und Straßen sind Orte, an denen wichtige Bauwerke sich begegnen, einander (frontal) gegenübertreten, so wie etwa Weinbrenners Stadtkirche und Rathaus am Marktplatz von Karlsruhe. Durch ihre > Gerichtetheit orientiert sich nach Camillo Sitte eine gestreckte Platzform z. B.
als „Tiefenplatz“ nach einer bestimmten Bauwerksfront an der Schmalseite, als „Breitenplatz“ nach einer Hauptfassade an der Breitseite. L-förmige Plätze präsentieren ein Gebäude von zwei Seiten, mit einer Gliederung in Haupt- und Nebenplatz greifen Gebäudeteile und Platzteile ineinander, sodass verschiedene > Fassaden eines Bauwerks eigene Vorplätze erhalten. Manchmal entsteht durch das Wechselspiel von Figur und Grund ein Patchwork aus mehreren Bauwerks- und Platzfiguren nebeneinander, wie z. B. um den Salzburger Dom herum. Rudolf Arnheim beschreibt das Verhältnis der zentrifugalen Ausdehnungskraft einer Platzfigur zur Gegenkraft der sie begrenzenden Baumassen als empfindliche Kräftebalance. Intime Platzräume von großer Geschlossenheit und geringer Größe wirken wie Stadtzimmer, brauchen aber eine Mindestausdehnung, um sich als Raumfigur mit ausreichendem Gegendruck gegen die Massen der Randbebauung behaupten zu können. Umgekehrt verlieren zu große Plätze den Zusammenhalt, wenn die Ränder gegenüber der Ausdehnung zu schwach werden. Die Prägnanz und Ausdehnungsmacht eines runden Platzes ist in der Regel so stark, dass die Platzumrandung nur passiven Widerstand leistet (> Kräftefeld). Die Rundform bietet aufgrund ihrer deutlichen > Konkavität die größte Geschlossenheit. Die konkave Raumwirkung wird zusätzlich im Querschnitt verstärkt, wenn der Platzboden sich zur Mitte senkt und große Dachüberstände den Raum auch nach oben leicht umschließen. Wölbt sich der > Boden eines Platzes nach oben, dann setzt er dem Betreten eine eigentümliche Spannung entgegen. Als > Inneres empfindet man einen Platz- oder Straßenraum auch besonders dann, wenn die Fassaden, etwa durch die Spuren des Bewohnens, wie die Wände von Innenräumen gestaltet sind oder wenn das Pflaster, im > Ornament verlegt, einem Teppich gleicht.
Anders als die Innenräume im Haus sind Plätze und Straßen ineinander übergehende Stadträume, die mehr der Bewegung als dem dauernden Aufenthalt dienen. Maßgeblich für ihre Form ist daher, wie sie Bewegungen lenken und sich mit-
einander zu > Sequenzen verbinden. Den Auftakt von historischen Platzfolgen bilden häufig (ehemalige) Eingangsplätze in die Stadt, gleich hinter dem Tor, wie etwa die Piazza del Popolo in Rom und der Königsplatz in München, oder am Wasser, wie die Piazzetta in Venedig oder die Piazza dell’Unità d’Italia in Triest. Als Stadtvorplätze haben sie die Bedeutung eines > Zwischenraums, analog zum Foyer eines Gebäudes. Im weiteren Verlauf setzen sich Platz- und Straßenfolgen aus Einheiten zusammen, die ineinandergreifen oder sich voneinander separieren, teilweise > Gelenke bilden und durch Kontraste in Größe, Form und Charakter die > Dramaturgie des städtebaulichen Raumgefüges bestimmen. Die Trennung und den Übergang von einem Raum zum anderen bilden entweder Engstellen zwischen Gebäudekanten, Toren vergleichbar, oder aber mehr oder weniger fließende Verbindungen. Die unregelmäßige Platzform selbst legt durch ihre > Gestik oft eine bestimmte Form des Durchquerens nahe. Platzwände bilden häufig keinen eindeutigen Raumabschluss, sondern versperren den Blick nur vorläufig, lenken ihn aber, sobald man sie erreicht, durch Schrägstellung in eine neue Richtung und führen die Bewegung damit zur nächsten Raumeinheit. In anderen Fällen führen Wege an einer kontinuierlichen Fassadenfront entlangfließend in den Platz hinein und hinaus, oder Straßen lassen einen Platz gleichsam an den Ecken auslaufen und binden ihn ins weitere Straßennetz ein. Straßenverläufe wiederum gliedern sich in abgeschlossene Raumabschnitte, wenn ihre Fronten abknicken oder sich krümmen, verengen oder zueinander versetzen. Die Kunst, mit diesen Mitteln eine lebendige Raumbildung zu erzielen, beherrschte besonders Theodor Fischer, dessen städtebauliche Planungen für München vor allem eine bestimmte „Bewegungsform“ erzielen sollten. Plätze und Straßen sind die Räume des öffentlichen Lebens einer Stadt und zugleich deren Verkehrsflächen. Daher müssen sie so beschaffen sein, dass man sich auf ihnen zu verschiedenen Zwecken und Tätigkeiten aufhalten, vor allem aber in der Bewegung beiläufig begegnen kann. Die Tren-
nung von Bereichen für den Fahrzeugverkehr und solchen für die Fußgänger begünstigt zwar die ungestörte Bewegung von beiden. In gemeinsam genutzten Räumen (shared spaces) hingegen werden Vorschriften und Verbote durch Blickkontakt und gegenseitige Rücksichtnahme ersetzt. Statt der Trennung durch Bordsteine und der Kanalisierung des Verkehrs in normierten Fahrbahnen ermöglicht die > Orientierung an der ganzen räumlichen Situation ein angemessenes Verhalten. Damit treten auch die architektonischen Merkmale solcher Stadträume stärker in den Vordergrund. Anstelle von Zeichen weisen sie durch den unmittelbaren Ausdruck ihrer räumlichen Gestalt Aufenthaltsorte und Bewegungszonen aus und geben Richtungen an.
Literatur: Cullen 1961; Janson/Bürklin 2002; Rauda 1957; Sitte 1889
Dicke, oft unregelmäßig geformte Mauermassen, durch die Räume eingepackt und abgepuffert erscheinen wie durch eine gepolsterte Tasche (franz. poché), nennt man Poché. Solche Polster oder Füllsel kommen vor allem dann zustande, wenn die Anordnung von Räumen im Grundriss „nicht aufgeht“, weil einzelne Innenräume sich in Form und Richtung so voneinander unterscheiden, dass die Trennung zwischen ihnen nicht aus einfachen Wandscheiben bestehen kann. Wo sie aneinandergrenzen, wird der verbleibende unregelmäßige Rest deshalb durch Poché ausgeglichen.
Im Französischen bezeichnet das Wort poché ursprünglich die Schwärzung oder Schraffur der geschnittenen Teile in einer Grundriss- oder Schnittzeichnung. So wird vor allem im Schwarzplan – dagegen in der erlebten Situation meist nur eingeschränkt – erkennbar, dass im Figur-Grund-Verhältnis von > Körper und Raum durch Poché die Figurfunktion dem Raum zugewiesen wird. Die körperhaften Massen bleiben untergeordnet im Hintergrund und stützen die Raumform. Der einzelne Raum erscheint tendenziell von den anderen und
vom Gefüge separiert, indem der Zusammenhang zwischen den Räumen durch Wechsel der Raumgeometrie oder unerwartete Richtungswechsel unterbrochen und durch Poché nur formlos geflickt wird. Dadurch ermöglicht die Verwendung von Poché jedoch eine freie Disposition der Innenräume hinsichtlich Form, Richtung und Anordnung, ohne dass sich benachbarte Räume in Lage und Form beeinflussen müssen. So lässt sich z. B. in den Räumen auf beiden Seiten einer modellierten Wandmasse gleichermaßen > Konkavität herstellen. Der Einsatz von Poché stärkt die Präsenz des einzelnen Raums im Vergleich zur übergeordneten Einheit des Raumgefüges. Poché lässt sich als zusammenhängender Hintergrund, als eine Art Stützgewebe betrachten, durch das die einzelnen Räume verpackt, verbunden und in ihrer Selbstständigkeit und Prägnanz gesichert werden. Innerhalb eines komplexen Raumsystems ermöglicht es den Zusammenhalt zwischen unterschiedlichen Formen und Richtungen. Durch die modellierte Baumasse der Fassade erlaubt es Poché, zwischen Innenund Außenraum zu vermitteln. Damit ist diese Interferenzzone auch ein Mittel des Ausgleichs, das es erlaubt, auf jeder Seite differenziert zu reagieren, ohne dem Zwang zu folgen, der bei gleichbleibender Wanddicke eine Entsprechung zwischen Innenkontur und Außenkontur verlangen würde.
In der Regel erscheint die Mauermasse des Poché zwar als unregelmäßig geformter Rest, als sekundär gegenüber den primären Raumformen und als deren negativer Abdruck, die Wahrnehmung kann aber auch umschlagen und die Masse zur Figur werden lassen, wie z. B. in den Pfeilern von Donato Bramantes Grundriss für St. Peter. Poché wird meistens im Grundriss wirksam, kann aber auch im Schnitt mitspielen, vor allem als Zwischenzone zwischen > Decke und > Dach. Die als Poché wirksame gebaute Masse kann durch > Porosität oder als > raumhaltige Wand selbst wiederum Innenräume enthalten, die gegenüber den Haupträumen indessen als untergeordnete Kammern, Nebenräume, Schränke und Ähnliches im Hintergrund bleiben. Im Maßstab der Stadt können ganze Ge-