TABLE OF CONTENTS HANSULI MATTER BJÖRN FRANKE
FOREWORD INTRODUCTION
P.XIII P.XIX
GERMAN VERSIONS
P.XXXV
I EDUCATION 1 2 3 4 5 6
STEFANO VANNOTTI
MICHAEL KROHN CORINA ZUBERBÜHLER ULRICH GÖTZ SARAH OWENS NICOLE KIND, SANDRA KAUFMANN, MARGARETE VON LUPIN
DIMENSIONS OF DESIGN: OPERATING IN P.53 A NEW SPACE OF OPPORTUNITY THE ART OF PRUDENT INTERFERENCE P.73 DESIGN YOUR FUTURE P.89 HIGHER EDUCATION AND THE P.107 TRANSFORMATION OF GAMING KEEP FEELING FASCINATION: DESIGN P.125 AND OPEN ENQUIRY THE POTENTIALITY OF SWISS P.141 INDUSTRIAL DESIGN
GERMAN VERSIONS P.159
II PROCESSES 1 2 3 4 5
MARTIN ZIMPER FRANCIS MÜLLER NICOLE FOELSTERL
ROMAN KIRSCHNER, KARMEN FRANINOVIĆ KARIN SEILER
DESIGN AND DRAMA P.207 DESIGN ETHNOGRAPHY AS A “DIRTY” PRACTICE P.219 DESIGNING IN RELATIONS: SETTING UP A P.233 COLLABORATIVE DESIGN TRAINING PROGRAMME INTERACTING IN ENTANGLED ENVIRONMENTS P.249 ACTIVATING ATTITUDE
P.261
GERMAN VERSIONS P.277
TABLE OF CONTENTS
III EPISTEMOLOGY 1 2 3 4
MARGARETE JAHRMANN REINHARD SCHMIDT NIKLAUS HEEB, KARIN SEILER LISA OCHSENBEIN
LUDICS: THE ART OF PLAY AND SOCIETAL IMPACT P.319 DESIGN RESEARCH AS A GESTURE OF SHOWING P.333 IMAGES OF KNOWLEDGE ARE FIGURES OF THOUGHT P.351 ARCHAEOLOGY OF THE PRESENT: P.369 AN IMPORTANT TOOL FOR CONSCIOUSLY DESIGNING (FOR) OUR FUTURE GERMAN VERSIONS P.383
IV ISSUES 1 2 3 4 5
KATHARINA TIETZE BITTEN STETTER FLURINA GRADIN MAIKE THIES
LARISSA HOLASCHKE
BIBLIOGRAPHY P.511 PART I–IV
CULTURAL IDENTITY AND DESIGN P.419 A PLEA FOR AN AESTHETIC FUTURE OF DESIGN P.429 IN TRANSFORMATION: DESIGN FOR P.441 THE ECOLOGICAL SHIFT HOW IMMERSIVE TECHNOLOGIES SHAPE P.453 OUR THINKING AND CHANGE US MORE GENDER — MORE DESIGN? GENDER-SENSITIVE P.465 DESIGN FOR THE SOCIETY OF TODAY GERMAN VERSIONS P.475
INTRO DE
VORWORT
tungen greifen nicht mehr. Gesellschaften und Systeme werden komplexer; Digitalisierung, Globalisierung, Diversität und Immigration dringen in unser bisher überschaubares Öko HANSULI MATTER system der Gestaltung ein und verunsichern viele. Alte Formeln beschwören die gute alte Zeit – neue geben uns den notwendigen Mut, weiter zu gehen, auch wenn wir noch nicht wissen, wer die neuen Designheldinnen und -helden sein werden. Die Zukunft benötigt beherzte kritische, kreative und kommunikative Designschaffende. Dies ist Grund genug für einen Aufbruch ins Unbekannte, und mir ist es ein großes Anliegen, den neuen Opportunitäten den notwendigen Raum zu bieten. Das Projekt Not at Your Service: Manifestos for Design stellt einen Versuch dar, vielstimmig Dies ist kein einstimmiges Manifest für De- zu illustrieren, wie Design mutiert, fremde Gesign – die Zeiten der simplen Dogmen und biete infiziert und manchmal zur reinen Wortintellektuellen Diktaturen sind vorbei; eine hülse verkommt, aber auch innovative, sozial schlechte Nachricht für all diejenigen, die Kom- relevante und disziplinübergreifende Felder für plexität und Widersprüchlichkeit nicht schät- Nachhaltigkeit, technologische Innovation und zen. Die Vergangenheit hatte es einfacher: ästhetische Praxis eröffnet und eine positive «form follows function» und «die gute Form» Wirkung in der Gesellschaft entfaltet. Design waren überzeugende Formeln, die vor dem Hin- ist gefährlich – doch ohne Risiko ist die Zukunft tergrund der industriellen Revolution Sinn, nicht zu entdecken. Ordnung und Orientierung stifteten; Design Kunsthochschulen sind kreative Brutstätwar präzise, reduziert, eindeutig. Der Landi- ten, an denen intrinsisch motivierte Menschen Stuhl, die Helvetica-Schrift oder der Sparschä- ihre Überzeugungen leben und sich ihrer Sache ler sind Schweizer Designikonen und werden «ohne Wenn und Aber» voll hingeben. Diese bis heute als Paradebeispiele im Dienste eines kreative, kritische und mutige Energie sollte globalen Marketings der innovativen Schweiz wahrgenommen und gewürdigt werden. Manieingesetzt. Niemand überlegt sich jedoch, wie festos schafft dafür einen Raum und bildet den hoch die dabei verursachten Opportunitätskos- aktuellen Diskurs an der ZHdK vielstimmig ab. ten sind. Dass Design aktuell weiter, spannenDas vorliegende Buch zum Projekt bündelt der und innovativer unterwegs ist, wird außer die unterschiedlichsten Facetten an ÜberzeuAcht gelassen. gungen, Themen und Praxen von zeitgenössisch Gestaltung ist nicht mehr eine reine Verschö- arbeitenden Designerinnen und Designern an nerungsdisziplin. Die Künste, zu denen ich De- der ZHdK. Die Publikation bietet unterschiedlisign großzügig zuordne, bieten vielgestaltige che Zugänge und Einblicke hinsichtlich dessen, Methoden und Praxen an, die auch für andere was Design heute sein und bewirken kann, und Disziplinen Relevanz haben. Bildung, Tech- versteht sich nicht als abgeschlossenes Projekt, nik- und Biowissenschaften, Soziale Arbeit und sondern als emanzipiertes Zeitzeugnis. viele mehr – alle können von der gelebten ExKollaboratives Design, Interaktion in kompertise in den Künsten profitieren. plexen Systemen, die Ökonomie der AufDie Zukunft ist VUCA, volatil, unsicher, merksamkeit, der ökologische Wandel, Visual komplex und mehrdeutig. a Einfache Anlei- Literacy, geschlechterneutrales Design, UmXXXVI
MANIFESTOS FOR DESIGN
VORWORT
weltsünder-Design, die schmutzige Praxis der Designethnografie, Präsenz und Vertrauen, soziale Verantwortung, der Wert von Hässlichkeit, Death Futures, immersive Technologien, Identität und Krise, Design als Transformationsdisziplin, Design Your Future – all dies sind Themen, die in diesem Lesebuch ungeordnet, aber mit Leidenschaft, persönlicher Überzeugung und professioneller Expertise zur Debatte gestellt werden. Liebe Leserin, lieber Leser, lassen Sie sich verunsichern und inspirieren, nehmen sie Teil am Diskurs. Am besten gelingt dies, wenn Sie die Designerinnen und Designer hinter den Texten kennenlernen.
«Woher kommt der Begriff ‹VUCA›?», a
abgerufen am 19.03.2020, http://www. vuca-welt.de/woher-kommt-vuca-2.
XXXVII
EINLEITUNG
NOT AT YOUR SERVICE: EIN EINLEITENDER ESSAY
BJÖRN FRANKE
EINLEITUNG Design wird oft als ein Marketinginstrument gesehen, das eingesetzt wird, um einen ästhetischen oder funktionellen Wettbewerbsvorteil beim Verkauf von Waren, Ideen oder Dienstleistungen zu schaffen. Obwohl dies eine gültige und wertvolle Sichtweise des Designs innerhalb eines kommerziellen Rahmens sein mag, definiert sie keineswegs die Grenzen des Designs. Der Marktplatz sollte jedoch weder den Umfang des Designs noch die Rollen bestimmen, die Designer*innen übernehmen können. In diesem einleitenden Essay sollen einige Aspekte der Kritik an dieser Auffassung von Design sowie einige Dichotomien umrissen werden, deren nichthinterfragtes Fortbestehen den Rahmen von Design als Form der akademischen Untersuchung einschränkt. Zum einen wird das Betätigungsfeld durch die Terminologie und Konzeption des Designs bestimmt, also durch die Frage, was mit dem Begriff «Design» gemeint ist. Obwohl es einige Arbeitsdefinitionen von Design gibt, erscheint es sehr schwierig, Design theoretisch zu definieren. Diese Schwierigkeit zeigt sich in spiralfallartigen Sätzen wie «design is to design a design to produce a design.» a Andererseits wird der Bereich von Design oft durch institutionelle Grenzen begrenzt, d. h. durch das, was «Design» in seinem Diskurs
ein- und ausschließt. Eine Institutionskritik des Designs weist daher auf die ideologischen, sozialen, politischen oder ethischen Defizite des Designdiskurses sowohl in der Theorie als auch in der Praxis hin. b Das First Things First Manifesto c zum Beispiel hob hervor, wie eng die Auseinandersetzung der Designer und Designerinnen mit der Welt damals verstanden wurde. Obwohl satirisch übertrieben, weist das Manifest zu Recht darauf hin, dass der allgemeine Konsens offenbar darin bestand, dass Designer und Designerinnen ihre Fähigkeiten für kommerzielle Zwecke nutzen sollten, um Dinge wie «cat food, stomach powders, detergent, hair restorer, striped toothpaste, aftershave lotion, beforeshave lotion, slimming diets, fattening diets, deodorants, fizzy water, cigarettes, roll-ons, pull-ons and slip-ons» d zu verkaufen, anstatt für sozial nützlichere Zwecke zu entwerfen. Konzepte wie Design for the Real World e machen darüber hinaus deutlich, dass sich Designer und Designerinnen nur mit einer sehr begrenzten Anzahl von Themen befassen und ihre Tätigkeit auf die Probleme eines nur kleinen Teils der Weltbevölkerung konzentrieren. Was es wert ist, entworfen zu werden, und für wen es sich lohnt, zu entwerfen, wurde im damaligen Designdiskurs selten problematisiert, und aus der Perspektive dieses Diskurses scheinen daher die Probleme, auf die sich Designer und Designerinnen konzentrieren, die einzigen Probleme zu sein, die es gibt. Infolgedessen John Heskett, Toothpicks and Logos: Design a
in Everyday Life (Oxford: Oxford University Press, 2003), 5. Vgl. Alexander Alberro and Blake Stimson, eds., Institutional Critique: An Antholog y of Artists’ Writings (Cambridge, MA: MIT Press, 2009). Ken Garland, «First Things First: A Manifesto», The Guardian, January 24, 1964. Das Manifest wurde am 29. November 1963 am Institute of Contemporary Arts verfasst und verkündet. Ibid. Victor Papanek, Design for the Real World: Human Ecolog y and Social Change (London: Thames & Hudson, 1985; Nachdruck, 2006).
b
c d e
XXXIX
PART I
EDUCATION
FIG. 1
ZHdK Department of Design Degree Show, Game Design, 2019.
118
HIGHER EDUCATION AND THE TRANSFORMATION OF GAMING
and with significant delay. The sector orients itself towards the “HOMO LUDENS”—the playing human being—at the centre of society, but in this respect, it always retains a firm grasp on its own economic interests. It is thus the task of universities and institutions of higher education to lead our engagement with digital games in the public interest. They must provide guiding frameworks, design correctives, and make them practicable. To this end, these institutions must, first of all, provide the theoretical basis for a nuanced debate. Their published reflections, analyses, categorisations and criticisms must define the fundamentals of the field and point out new opportunities. Secondly, this engagement should not remain merely theoretical. Universities must make practical use of games if they are to realise innovative uses for them. Such counter-examples are far removed from the profit-orientated contemporary gaming sector, and they are necessary to ensure that companies are not solely responsible for determining the direction in which gaming culture develops as society experiences a digital transformation. Nevertheless, the inventive power of universities can be intensified if the results of pilot projects are linked to the industry, enabling results to flow in both directions. Finally, higher education institutions can play a decisive role in communicating the transformation of gaming culture— and this impacts both the development of the necessary expertise as well as the process of informing the general public. Societal engagement with games cannot occur only with wellknown, mainstream titles, but must also ad-
TEXT 4
119
PART I
EDUCATION
dress previously unknown and experimental approaches. The Zurich University of the Arts (ZHdK) has been offering a comprehensive curriculum in the field of game design according to these principles since 2004. It was one of the first public universities in Europe to dissect games intensively, in both teaching and research; the critical and constructive stance of the game design programme at ZHdK has led to the creation of its own brand. ZHdK Game Design issues a large number of publications on game studies every year, along with communication projects aimed at the general public and a number of projects in the research and development of serious and applied games. s t Some of the games developed by students just after graduating have garnered major international recognition and awards (in some cases, even before students have completed their degrees). u Companies founded by graduates have become known for expanding gaming into the digital dimension, while at the same time leading their players back to its core meaning. v The profundity of interactive narration, virtual poetry and playful learning are what make these games worth seeing and playing. ZHdK Game Design asserts that the medium of games should serve to enrich existing culture, not displace it.
FIG.1 P.118
s
See ZHdK Game Design, “Jahresberichte,” accessed February 4, 2020, http://gamedesign.zhdk.ch/ forschung/jahresberichte. See ZHdK Game Design, “Serious & Applied Games,” accessed February 4, 2020, http://gamedesign.zhdk.ch/ forschung/serious-games.
t 120
u
See Far: Lone Sails, http://www.fargame.com; Niche: A Genetics Survival Game, http://niche-game.com; Airheart: Tales of Broken Wings, http://airheartgame.com; Feist, http://playfeist.net. See Okomotive, http://okomotive.ch; Stray Fawn Studio, http://strayfawnstudio.com; Playables, http://playables.net; ZHdK Game Design, “Take-Off,” http://gamedesign.zhdk.ch/ take-off.
v
REFLECT P.56 P.59 P.60 P.74 P.77 P.85 P.113 P.119 P.129 P.143 P.150 P.211 P.213 P.215 P.220 P.221 P.229 P.234 P.236 P.237 P.238 P.240 P.243 P.262 P.263 P.269 P.270 P.272 P.320 P.322 P.325 P.326 P.329 P.336 P.345 P.346 P.352 P.356 P.365 P.376 P.421 P.425 P.433 P.444 P.446 P.447 P.454 P.458 P.467 P.468 P.471 GENDER P.83 P.137 P.145 P.224 P.420 P.422 P.425 P.466 P.467 P.468 P.469 P.470 P.471
TEIL IV 1| 2| 3| 4| 5|
KATHARINA TIETZE BITTEN STETTER FLURINA GRADIN MAIKE THIES LARISSA HOLASCHKE
KULTURELLE IDENTITÄT UND DESIGN S.476 PLÄDOYER FÜR EINE ÄSTHETISCHE ZUKUNFT DES DESIGNS S.482 IN TRANSFORMATION: DESIGN FÜR DIE ÖKOLOGISCHE WENDE S.490 WIE IMMERSIVE TECHNOLOGIEN UNSER DENKEN FORMEN UND UNS VERÄNDERN S.498 MORE GENDER–MORE DESIGN? GENDERSENSIBLES DESIGN S.504 FÜR DIE GESELLSCHAFT VON HEUTE
DE
TEIL IV
THEMEN
KULTURELLE IDENTITÄT UND DESIGN TEXT 1
KATHARINA TIETZE
Der Begriff Identität hat Konjunktur. Er wird in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt und ebenso oft kritisiert. Er ist komplex, mehrdeutig und relevant. Wie lässt er sich fruchtbar für das Design machen? Welche Aspekte sind dafür von Bedeutung? Inwiefern können beispielsweise Identitäten selbst gewählt werden oder wann handelt es sich um Zuschreibungen? Was zeichnet Designprojekte zum Thema Identität aus? Identitätsfragen werden aktuell überall diskutiert. So sind beispielsweise Geschlechteridentitäten mit der MeToo-Debatte in den letzten zwei Jahren in den Fokus gerückt. Nach den umfangreichen Vergewaltigungsvorwürfen gegenüber dem Filmproduzenten Harvey Weinstein erhob sich eine Welle des Protests, die internationale Wirkung hatte. Viele Branchen richteten den Blick auf die Diskriminierungen von Frauen. In der Schweiz sorgte der Frauenstreik im Juni 2019 für Aufsehen. Die Relevanz des Themas zeigt sich auch an der ZHdK; so viele Diplomarbeiten wie noch nie nahmen 2019 das Thema auf. Dabei öffnete sich auch der Blick auf das Spektrum der Geschlechter und die sexuelle Orientierung, also Anliegen der LGBTI-Community. a Ein weiterer Aspekt sind nationale Identitäten, die bereits nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges an
Bedeutung gewannen. Aktuell erzielen rechte Parteien wie die AFD in Deutschland, der Front National (heute Rassemblement National) in Frankreich oder die Lega in Italien Wahlerfolge. Populist*innen bezeichnen sich heute auch als identitär, statt sich ausschließlich auf Nation oder Herkunft zu beziehen. Geflüchtete Menschen, die 2015 und 2016 vor allem aus Syrien, Afghanistan und S omalia nach Europa kamen, stehen vor der existenziellen Frage, wie sie die kulturelle Identität ihrer Herkunft mit der ihrer neuen Heimat verbinden können. Von vielen Europäerinnen und Europäern wurden sie willkommen geheißen, aber es gab und gibt auch Ängste. Die Probleme sind akut, weil die Europäische Union die Aufnahme der Geflüchteten immer noch nicht geregelt hat, unter anderem, da Staaten wie Ungarn und Polen sich einem Verteilschlüssel strikt verweigern. Diese Aufzählung ließe sich beliebig erweitern. Deutlich wird, wie dringlich und komplex, aber auch ambivalent die Diskussionen über verschiedene Vorstellungen von Identität sind. Für mich steht hier der Bezug zum Design im Vordergrund, verstanden als Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft. Daher konzentriere ich mich im Folgenden auf den Begriff der kulturellen Identität, der auch synonym mit kollektiver oder sozialer Identität verwendet wird. Damit klammere ich Fragen personaler Identität, die zum Beispiel psychologischer Natur sein können, aus. Der Soziologe Erving G offman unterscheidet die beiden Begriffe wie folgt: «By ‹social identity›, I mean the broad social categories (and the organizations and groups that function like categories) to which an individual can belong and be seen as belonging: age-grade, sex, class, regiment, and so forth. By ‹personal identity›, I mean the unique organic continuity imputed to each individual, this established through distinguishing marks such as name and appearance, and elaborated by means Mehr zum Thema Gender im Beitrag von a Larissa Holaschke in diesem Band.
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KULTURELLE IDENTITÄT UND DESIGN
TEXT 1
of knowledge about his biography and social attributes – knowledge which comes to be organized around his distinguishing marks.» b Im Design soll und muss es um gesellschaftliche Fragen gehen, obwohl oder gerade weil wir in einer «Gesellschaft der Singularitäten» (Andreas Reckwitz) leben. Ein wichtiger Anspruch des Designs ist, dass es sich an eine Zielgruppe, ein Kollektiv richtet, egal ob es sich um drei Personen oder Tausende handelt. Personale und kulturelle Identität hängen miteinander zusammen. Im Fall des Designs ist die personale Identität der Designerin oder des Designers von großer Bedeutung, oft sind biografische Erfahrungen Ausgangspunkt von Gestaltungen. Allerdings erlangen sie nur Bedeutung, wenn sie auch für andere relevant sind. In der Perspektive des Designs geht es nicht nur um Gruppen, sondern um deren kulturellen Charakter: «Wer nach kollektiver Identität fragt, interessiert sich meist für politische Logiken der Klassifizierung und Zuordnung von Einzelnen. Wer nach kultureller Identität fragt, interessiert sich eher für den Anteil von Ritualen, Artefakten, Texten oder Medien an der Kollektivbildung.» c Diese Formate können, aber müssen nicht, Designprodukte sein. Was hier nur am Rande eine Rolle spielt, ist die Gestaltung der Identität von Marken, ein wichtiges Feld des Designs, das aber ein eigenes Thema wäre. Ein zentraler Aspekt von Identität ist, dass sie ein Konstrukt ist. (Dies ist auch allen nationalistischen Auffassungen entgegenzuhalten.) Sie ist imaginär und muss immer wieder neu hergestellt werden. Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall präzisiert dies: «Perhaps instead of thinking of identity as an already accomplished fact, which the new cultural practices then represent, we should think, instead, of identity as ‹production›, which is never complete, always in process, and always constituted within, not outside, representation.» d Dies bedeutet, dass Identität gestaltet wird und sich daraus Anliegen, Aufgaben, Fragestellungen für das Design ergeben – ein weiterer wichtiger Aspekt.
Identität als Konstruktion impliziert auch, dass es nicht sinnvoll ist, den Begriff zu eng zu fassen bzw. zu sehr festzuschreiben. Daher argumentiert die Publizistin Carolin Emcke mit einer dünnen Definition von kollektiven Identitäten, nämlich «Vergemeinschaftungen, die bestimmte Praktiken und Überzeugungen teilen.» e Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann spricht von einem schwachen Konsens in Bezug auf Identität und benennt drei Punkte: die subjektive Konstruktion, den Bezug zur konkreten Realität und das Verhältnis des Einzelnen zu einem Gegenüber. f Aus der Tatsache, dass Identität nicht einfach vorhanden ist, sondern immer wieder gestaltet wird, ob bewusst oder unbewusst, ergibt sich ein spezifisches Verhältnis zur Zeit. Die Geschichte bzw. Geschichten sind unerlässlich zur Konstruktion unserer Identität. Wir müssen uns erzählen, wie beispielsweise die Schweiz zu dem geworden ist, was sie heute ist, und was dies für die Zukunft bedeutet. Auch der Begriff der Identität muss historisch wahrgenommen werden. Kaufmann schreibt: «Die Identität ist nur zu Ruhm gekommen, weil sie unsicher geworden ist.» g Es lässt sich gut nachvollziehen, dass Menschen vor 100 Jahren in eine bestimmte Klasse hineingeboren wurden, die ihr Leben, berufliche Wege und geografische Situierungen vorherbestimmt hat. Heute dagegen stehen uns in Mitteleuropa viele Möglichkeiten offen, dadurch unterliegen wir jedoch einem permanenten Entscheidungsdruck, der auch Verunsicherung Erving Goffman, Relations in Public: Microstub dies of the Public Order (London: Allen Lane
c d e f
477
The Penguin Press, 1971), 189. eike Delitz, Kollektive Identitäten (BieleH feld: transcript, 2018), 33. Stuart Hall, «Cultural Identity and Diaspora», in Identity: Community, Culture, Difference, Hg. Jonathan Rutherford (London: Lawrence & Wishart, 1990), 222. Carolin Emcke, Kollektive Identitäten: Sozialphilosophische Grundlagen (Frankfurt: Fischer, 2018), 14. Jean-Claude Kaufmann, Die Erfindung des Ich: Eine Theorie der Identität (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2005), 41.