Mid-Century Modern – Visionäres Möbeldesign aus Wien

Page 1



Caroline Wohlgemuth

Mid-Century Modern Visionäres Möbeldesign aus Wien

Birkhäuser Basel


Für Leopold, Konrad und Claire Dieses Buch ist all jenen Vertriebenen gewidmet, über die hier nicht geschrieben werden konnte.


I

Geschichte des Wiener Möbeldesigns von den Anfängen bis 1960

13

1

Möbeldesign – ein Blick zurück: vom Dessinateur zum Designer Vom Handwerk zum industriell gefertigten Möbel b Die Arts-and-Crafts-Bewegung und ihr Einfluss auf Wien

15

a

15

2

19

Biedermeier – Möbelkunst aus Wien

3

Möbel aus gebogenem Holz: die Gebrüder Thonet und Jacob & Josef Kohn a Michael Thonet – der Erfolg der modernen Industrieform für Möbel b Weltberühmt: der Sessel Nr. 14 von Thonet c Jacob & Josef Kohn – Kreativität und Innovation Wien um 1900 Wiener Moderne – das Phänomen des Fin de Siècle b Architekten und Künstler als Möbeldesigner c Wiener Werkstätte d Gegenspieler und Kritiker des Jugendstils: Adolf Loos e Frühes Produktdesign aus Wien

17 21 21 22 22

4

25

a

25 27 28 30 32

5

35

a

Vom Bauhaus zum International Style Das Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin b Moderne Möbel aus Stahlrohr c Wiener ArchitektInnen und DesignerInnen in Deutschland d Vertriebene Visionen – vom Bauhaus in die USA

35 36

6

43

a

43

39 41

Visionäres Wien – Loos-gelöstes Möbeldesign Neue Wiener Möbel der 1920er und 1930er Jahre b Ein neues Frauenbild: Architektinnen als Designerinnen c Haus & Garten – Räume und Möbel für die Seele d Bauhaus mitten in Wien – die Ateliergemeinschaft Singer & Dicker e Die Wiener Werkbundsiedlung – der Höhepunkt modernen Möbeldesigns f Die Bugholzindustrie in den 1920er und 1930er Jahren

56

7

Glamouröses Art déco und Wiener Möbel in Paris

91

8

Ein Riss in der Zeit – 1938 und die Folgen für das Wiener Möbeldesign

94

50 70 79 88

9

98

a

Die vertriebenen VisionärInnen – von Wien in die USA Die Emigration der Moderne b Die frühen Auswandernden c Aus Wien vertrieben – ein erzwungener Neubeginn im Exil d Organic Style – die Möbelformen der 1950er Jahre

98 100

10 Möbeldesign der 1950er Jahre in Wien

115

11

124

Skandinavische Möbel und Wiener Möbeldesign in Schweden: Josef Frank

107 111

12 Bel Design aus Italien

128

13 Industriell gefertigte Möbel im englischen Exil

131

14 Von Wien nach Palästina – Möbeldesign für den neu gegründeten Staat Israel

133

15 Die geistige Botschaft aus Wien

136

Inhaltsverzeichnis

05


II

MöbeldesignerInnen – Biografien

143

1

Oskar Strnad Ella Briggs Oskar Wlach Ernst Lichtblau Josef Frank Paul Theodore Frankl Walter Sobotka Friedrich Kiesler Paul Engelmann Richard Neutra Ernst Freud Liane Zimbler Jacques Groag Felice Rix-Ueno Felix Augenfeld Ernst Schwadron Franz Singer Friedl Dicker Bruno Pollak Jacqueline Groag Walter Loos Anna Szabo Dora Gad Martin Eisler Vergessene Namen

144

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

06

148 150 152 156 164 166 168 170 172 178 180 184 188 190 194 198 202 206 210 214 216 218 220 224


III

Interviews mit ExpertInnen, SammlerInnen & DesignerInnen

231

1

Friedl Dicker & Franz Singer – Georg Schrom über die visionäre Ateliergemeinschaft

232

Über fünf Generationen Design aus Wien – Maria Auböck über die Werkstätte Carl Auböck

240

IV

Einblicke in Wohnungen, Häuser & Cafés

249

1

250

8

Eine Villa und ein Garten für die Seele – das Haus Krasny heute Das Haus der hundert Stiegen – die Villa Beer Designwohnzimmer im Museum: Salonplafond Eine Zeitreise in die 1950er: Café Prückel Wenn die Zeit stillsteht: Original-Möbeldesign aus den 1950er Jahren The Guesthouse Vienna – eine Brasserie mit Wiener Möbeldesign Ein Bohème-Leben über den Dächern Wiens Mid-Century-Modern-Möbeldesign im eleganten Palais

Literatur- und Quellenverzeichnis Bildnachweis Über die Autorin Danksagung Impressum

2

2 3 4 5 6 7

Inhaltsverzeichnis

260 264 268 272 276 280 284 290 294 294 295 296

07



Einleitung

Sie war eine der kreativsten Metropolen der Welt und die Stadt des modernen Designs: Wien um 1900. Josef Hoffmann oder Adolf Loos, die Wegbereiter der Wiener Moderne, genießen bis heute Weltruhm. Auch der erste sogenannte „Design-Sessel“ der Welt, die Nr. 14 der Gebrüder Thonet, wurde in Wien gestaltet und mehr als 80 Millionen Mal auf der ganzen Welt verkauft. Michael Thonet, der Erfinder der Bugholzmöbel, gilt weltweit als Pionier der industriellen Möbelproduktion und des modernen Möbeldesigns. Doch kaum einer kennt Franz Singer, Ernst Schwadron, Bruno Pollak, Friedl Dicker oder Liane Zimbler – allesamt MöbeldesignerInnen aus dem Wien der 1920er und 1930er Jahre. Es war das Zeitalter Sigmund Freuds, Stefan Zweigs, Friedrich Torbergs, Franz Werfels und Joseph Roths, deren Romane weltweit gelesen wurden, Alban Berg und Arnold Schönberg schrieben Musikgeschichte, Max Reinhardts Theaterinszenierungen waren international bekannt. Die Ideen der PhilosophInnen des Wiener Kreises beeinflussten die Philosophie des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Trotz der katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Situation in Österreich kam es in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu einer Hochblüte in der Kunst und Kultur, der Musik und der Literatur und in den Natur- und Geisteswissenschaften. Wien wurde in dieser Zeit erneut zu einer inspirierenden und visionären Kulturmetropole – auch in der Architektur und im Möbeldesign. Neben Josef Hoffmann und Adolf Loos wurden die jüngere Generation der ArchitektInnen wie Oskar Strnad und Josef Frank sowie deren Studierende – erstmals auch Frauen – als MöbeldesignerInnen aktiv. Statt luxuriöser, repräsentativer Villen oder Zinshäuser wurden einfache Wohnhäuser gebaut und etliche Wohnungen renoviert. Zahlreiche ArchitektInnen waren neben ihrem Engagement im sozialen Wohnbau vorrangig als MöbeldesignerInnen und InnenarchitektInnen tätig, was zu einer Blüte des Wiener Möbeldesigns führte. Anders als in Wien um 1900 ging es den MöbeldesignerInnen in erster Linie darum, gute, formschöne und leistbare Möbel zu kreieren und damit das Leben der BewohnerInnen besser und angenehmer zu gestalten. Die neue Zeit verlangte nach neuem Möbeldesign: Mit ihren bunten, farbenfrohen und leichten Möbeln gingen die MöbeldesignerInnen einen unkonventionellen, typisch wienerischen Weg. Gerade in politisch instabilen Zeiten waren sie bestrebt, Räume und Einrichtungen zu schaffen, in denen die Menschen sich wohlfühlen und mehr Ruhe, Gelassenheit und Glück finden sollten. In Wien ebenso wie auch in anderen Metropolen Europas entwickelte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein völlig neues Frauenbild: Junge, unabhängige Frauen, die nun erstmals Zutritt zu den Universitäten und Hochschulen hatten, machten sich als Möbeldesignerinnen einen Namen. Die ersten Architektinnen Österreichs wie Ella Briggs, Margarete Schütte-Lihotzky oder Liane Zimbler verwirklichten ihre Ideen

09


und Gestaltungsprinzipien in gut durchdachten, multifunktionalen Möbeln und flexiblen Einrichtungen und setzten sich bei ihrer Arbeit unermüdlich für die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft ein. Die Geschichte des Wiener Möbeldesigns ist jedoch auch eine Geschichte der Flucht, der Emigration und der Vertreibung der intellektuellen und kreativen Elite Österreichs. Der Großteil der modernen visionären MöbeldesignerInnen Wiens, so wie auch die ersten Architekturstudentinnen Österreichs Lisl Scheu Close, Ella Briggs und Liane Zimbler, Anna Szabo oder Dora Gad, kamen aus jüdischen Familien. Unzählige DesignerInnen, ArchitektInnen und KünstlerInnen erlitten während des NS-Regimes tragische Schicksale, wurden deportiert und ermordet, wie die hochbegabte Möbeldesignerin, Innenarchitektin und Malerin Friedl Dicker. Sie starb im Alter von 46 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz. Wenige konnten rechtzeitig vor den Nationalsozialisten aus Wien fliehen, in Schweden, Brasilien oder den USA Fuß fassen und weiterhin als erfolgreiche DesignerInnen arbeiten oder an renommierten Universitäten unterrichten. Der Wiener Architekt und Designer Ernst Lichtblau floh 1939 aus Wien in die USA, unterrichtete an der Rhode Island School of Design und prägte dort eine ganze Generation junger DesignerInnen. Der Architekt, Möbel- und Stoffdesigner Josef Frank wanderte bereits Ende 1933 nach Stockholm aus und unterrichtete ab 1942 Design an der renommierten New School for Social Research in New York. Seine farbenfrohen und fantasievollen Möbel und Stoffe aus Wien wurden in den 1930er Jahren weltweit bekannt. Walter Sobotka, ebenfalls Architekt und Möbeldesigner aus Wien, floh 1938 nach New York und wurde als Designer der Firma Thonet Brothers New York tätig; ab 1941 unterrichtete er Innenarchitektur am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh, Pennsylvania. Auch Liane Zimbler floh 1938 vor den Nazis in die USA. Ella Briggs, Lisl Scheu Close und Dora Gad kehrten Wien bereits Mitte der 1930er Jahre den Rücken und machten in Großbritannien, den USA bzw. in Palästina als Architektinnen und Möbeldesignerinnen erstaunliche Karrieren. Wien verlor bis 1938 innerhalb weniger Jahre die kreativsten und besten Köpfe – eine schmerzhafte Zäsur und ein unwiederbringlicher Verlust, die sich quer durch alle Wissenschaften und Künste manifestierten und bis heute spürbar geblieben sind. Neben all den menschlichen Tragödien bedeutete das Jahr 1938 ein abruptes Ende der Blüte des Wiener Möbeldesigns. Bereits Mitte der 1930er Jahre verließen angesichts der politischen Situation in Deutschland und Österreich und des immer unerträglicher werdenden Antisemitismus zahlreiche ArchitektInnen und MöbeldesignerInnen die Stadt und gingen in die Vereinigten Staaten, nach Großbritannien oder nach Palästina. Nach dem März 1938 kann nur noch von Flucht und erzwungener Emigration gesprochen werden – Betroffenen war es nur mehr unter schwierigsten Umständen möglich, das Land zu verlassen. Mit der Vertreibung unzähliger Kreativer, Intellektueller, WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und ihren Familien ging der Stadt Wien 1938 ihre Seele verloren. Betrachtet man die Biografien der MöbeldesignerInnen, die vor den Nazis fliehen mussten, sind ganz unterschiedliche Schicksale und Lebensgeschichten sichtbar. Allen gemeinsam ist letztlich die Entwurzelung und die Vertreibung aus ihrer Geburtsstadt Wien bzw. aus der Stadt, in der sie studierten, viele Jahre verbrachten und ihre ersten beruflichen Erfahrungen sammeln konnten. Es sind Schicksale, die bis heute Spuren und schmerzhafte Narben in den betroffenen Familien hinterlassen haben. Josef Frank, Ernst Schwadron oder Liane Zimbler waren lebenslang mit ihren FreundInnen und anderen EmigrantInnen aus Wien eng verbunden und schrieben trotz ihrer Erfolge im Exil in Erinnerungen von einer tiefen Kränkung und Traurigkeit über alles Geschehene und dennoch über Heimweh und

10


eine immerwährende Sehnsucht nach Wien. Der weltberühmte Historiker und Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich sagte über seine Heimatstadt Wien: „Natürlich ist Wien meine Vaterstadt, Deutsch meine Muttersprache. Ich fühle mich in beidem sehr wohl. Aber wenn ich einen Moment nachdenke, wäre es lächerlich, wenn ich sagte, Wien sei meine Heimat. Ich kenne kaum einen Menschen dort. Wen sollte ich anrufen? Ich habe vielleicht noch zwei, drei Bekannte in Wien, mehr nicht. Ich komme zwar von daher, aber ich bin dort nicht mehr zu Hause.“01 Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die vertriebenen MöbeldesignerInnen, die Überlebenden der Shoah, bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht mehr nach Wien zurück. Es gab so gut wie keine Rückholbemühungen der Stadt Wien. Es herrschte die irrige Annahme, dass es den Vertriebenen im Exil gut ging. Die RückkehrerInnen waren in Österreich nicht willkommen, und Wien unternahm nichts, um die verlorenen Familien wieder zurückzuholen. In ihrem Exil in Stockholm, London, New York, Los Angeles oder Buenos Aires konnten die MöbeldesignerInnen, wenn auch nicht alle, auf ihre Ideen, ihre Erfahrungen, ihre Gestaltungsprinzipien und ihr Können aus ihrer Zeit aus Wien zurückgreifen und sich dadurch eine neue Existenz aufbauen. Durch ihre unermüdliche Unterrichtstätigkeit an den besten Universitäten der Welt bildeten sie auch die nächste Generation im Möbeldesign aus. Richard Neutra, Friedrich Kiesler, die frühen Auswandernden, oder Josef Frank waren ihrer Zeit weit voraus. Ihre visionären Möbeldesigns inspirierten StardesignerInnen wie Charles und Ray Eames, Arne Jacobsen oder Gio Ponti. Josef Franks einzigartige Möbel, Stoffe und Lampen, Friedrich Kieslers Multi-Use Chair, Richard Neutras Boomerang Chair oder Martin Eisler Reversível Chair sind heute Design-Ikonen des 20. Jahrhunderts und Inbegriff des Mid-Century-Modern-Möbeldesigns.02 Originale aus den 1940er bis 1960er Jahren sind beliebte Sammlerstücke und erzielen bei Design-Auktionen Rekordpreise. Einige ihrer Entwürfe wurden durchgängig produziert oder von internationalen Design-Unternehmen neu aufgelegt. Mit ihrer unerschöpflichen Kreativität wirkten die MöbeldesignerInnen aus Wien weiterhin im Exil und verbreiteten ihre Ideen auf der ganzen Welt.

01

https://gombricharchive.files.word press.com/2011/04/showdoc73.pdf (Stand: 20.9.2021). 02 Der Begriff stammt von der amerikanischen Journalistin und Autorin Cara Greenberg. Sie benutzte ihn erstmals als Titel ihres Buches Mid-Century Modern. Furniture of the 1950s, und er ist heute die Bezeichnung für modernes Möbel­ design der 1930er bis 1960er Jahre.

Einleitung

11


„In jeder Minute unserer Welt werden Millionen und Milliarden Gedanken gedacht. Aber alle diese Millionen und Milliarden Gedanken verlöschen und vergehen im Raum dieser Minute, schon die nächste weiß von ihnen nichts mehr. Aber unter diesen Millionen und Milliarden flüchtiger, vergänglicher, unfruchtbarer und wertloser Gedanken entsteht manchmal in der Zeit ein besonderer, der nicht in sich verlischt, sondern weiterschwingt, andere Gedanken erregt, erfaßt und mit sich reißt – eine Erfindung, eine Entdeckung, eine Erkenntnis – ein aktiver, ein fruchtbarer Gedanke, der die Zeit, die Welt verändert. Solche Gedanken sind unermeßlich, selten, wenige werden in jedem Jahrzehnt gedacht. Aber auf ihnen beruht die Veränderung unserer geistigen, unserer sittlichen, unserer realen Welt.“ — Stefan Zweig in Über Sigmund Freud zu dessen 80. Geburtstag.01

01 Stefan Zweig, Über Sigmund Freud. Porträt, Briefwechsel, Gedenkworte, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1989, S. 239.


GESCHICHTE des Wiener Möbeldesigns

von den Anfängen bis 1960


oben Entwurf eines Schreibtisches aus der Werkstatt Joseph Ulrich Danhauser, Wien 1814, © MAK Links Biedermeier-Sessel, Entwurf und Ausführung: unbekannt, Wien 1820 bis 1825, © MAK

20

Biedermeier – Möbelkunst aus Wien


3

a

Möbel aus gebogenem Holz: die Gebrüder Thonet und Jacob & Josef Kohn MICHAEL THONET – DER ERFOLG DER MODERNEN INDUSTRIEFORM FÜR MÖBEL

Mitte des 19. Jahrhunderts, als Möbelfabrikanten versuchten, mit modernen Schnitz- und Drechselmaschinen handwerkliche und historische Möbelformen nachzuahmen, entwickelte Michael Thonet sein revolutionäres Bugholzverfahren, ein vollkommen neues Produktionsverfahren im Möbelbau, das bei der Herstellung von Holzmöbeln zu zeitge­ mäßen Formen führte. Unter Dampfeinwirkung gelang es dem deutschen Tischlermeister aus Boppard am Rhein, massive Buchenholzstäbe in eine geschwungene Form zu biegen. Das Holz wurde zuerst in Dampfkammern bei sehr hohen Temperaturen behandelt, um es geschmeidig zu machen, und anschließend mithilfe gusseiserner Formen gebogen. In Trockenräumen wurde das gebogene Holz getrocknet, danach aus der Biegeform genommen, geschliffen und die Oberfläche weiterbehandelt.18 Michael Thonet, ein Befürworter industriell gefertigter Möbel und der Massenproduktion, verfolgte das Ziel, qualitativ hochwertige, elegante und vor allem leichte Möbel zu einem erschwinglichen Preis zu entwickeln. Dabei kaschierte er die industrielle Fertigungsweise seiner Holzmöbel nicht, sondern machte genau diese zum Prinzip der Formgebung. Bereits 1830 führte Michael Thonet die ersten Experimente zur Herstellung von Möbeln aus gebogenem Holz durch und verbesserte dieses Verfahren in den darauffolgenden Jahren. Für seine Erfindung erhielt er in Preußen jedoch kein Patent.19 Bei einer Ausstellung 1841 im Kunstverein Koblenz in Preußen wurde der österreichische Staatskanzler Metternich auf die neuartigen Stühle aus gebogenem Holz aufmerksam. Aufgrund einer Empfehlung Metternichs reiste Michael Thonet nach Wien, um dem österreichischen Kaiserhaus die neuen Möbel aus gebogenem Holz zu präsentieren. Michael Thonet erlangte das Privileg, Möbel nach seiner neuen Bugholztechnik herzustellen, und übersiedelte mit seiner gesamten Familie im Frühjahr 1842 nach Wien. Hier lernte er den französisch-britischen Architekten Peter Hubert Desvignes kennen. Gemeinsam setzten sie große Projekte um wie die Renovierung und Möblierung des Wiener Stadtpalais der Familie Liechtenstein in der Wiener Innenstadt. Michael Thonet stattete auch das Palais Schwarzenberg in Wien mit seinen Sesseln aus gebogenem Buchenholz aus.20 1849 gründete Michael Thonet im Alter von 53 Jahren mit seinen fünf Söhnen ein eigenes Unternehmen zur Herstellung von Bugholzmöbeln mit Sitz in der Wiener Gumpendorfer Straße. Das Familienunternehmen erhielt 18 Vgl. Mang (1978), S. 38. 19 Vgl. Wilhide (2017), S. 42; bald Großaufträge für die Ausstattung von Kaffeehäusern, Restaurants, HoHauffe (2014), S. 36. tels und öffentlichen Gebäuden. Die Thonets, die in Wien ihr Bugholzverfah20 Vgl. Wolfgang Thillmann/ ren perfektioniert hatten, waren in der Lage, gebogene Möbel aus massivem Bernd Willscheid, Möbeldesign. Holz von herausragender Qualität und zu einem konkurrenzlos günstigen Roentgen, Thonet und die Moderne, Katalog zur gleichnamigen Preis anzubieten. Da andere Wiener Möbelfabrikanten das Bugholzver­ Ausstellung, Berlin: Roentgen fahren ebenfalls einzusetzen begannen, kennzeichneten die Thonets Museum Neuwied 2011, S. 155. 21 Vgl. ebd., S. 19. ihre Möbel mit einem Prägestempel.21 1851 nahm Michael Thonet an der Weltausstellung in London teil, im darauffolgenden Jahr eröffnete das Familienunternehmen sein erstes Geschäft in der Wiener Innenstadt. Die Firma wuchs rasant und 1853

Möbel aus gebogenem Holz: die Gebrüder Thonet und Jacob & Josef Kohn

21


Oben L. Plakat der Gebrüder Thonet, Österreich 1876, © MAK/Katrin Wisskirchen Oben R. Sessel  Nr. 14, Entwurf: Gebrüder Thonet, Wien 1859, Ausführung: Gebrüder Thonet, Koritschan um 1900, © MAK/ Georg Mayer Unten Sessel Nr. 14 in Einzelteile zerlegt, Entwurf: Gebrüder Thonet, Wien 1859, Ausführung: ThonetMundus nach 1919, © MAK

24

Möbel aus gebogenem Holz: die Gebrüder Thonet und Jacob & Josef Kohn


Wien um 1900

4

a

WIENER MODERNE – DAS PHÄNOMEN DES FIN DE SIÈCLE

In Wien kam es um 1900 zu einer bedeutenden Blütezeit in der Philosophie, Malerei, Musik, Literatur, Architektur und im Design, aber auch in der Mathematik, den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, der Medizin und Psychoanalyse. Die Stadt erfuhr damals einen rasanten Bevölkerungszuwachs: Lebten im Jahr 1900 rund 1,7 Millionen Menschen in der Metropole, waren es 1910 bereits über 2 Millionen. Es war das Zentrum des Habsburgerreiches, eines europäischen Großreiches mit einer Bevölkerungszahl von über 50 Millionen Menschen, dessen Länder weit in den ost- und südeuropäischen Raum hineinreichten. Wien war das Zentrum der Macht, der Medien, der Mode, der Kultur, des guten Geschmacks und des Designs. Aus sämtlichen Provinzen und Kronländern strömten Zuwandernde in die Metropole, auch zahlreiche jüdische Familien zogen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Wien. Durch das am 21. Dezember 1867 erlassene Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger erfolgte die rechtliche Gleichstellung der Jüdinnen und Juden und aller anderen MitbürgerInnen des Vielvölkerstaates. Mitte des 19. Jahrhunderts umfasste die jüdische Gemeinde Wiens rund 6000 Menschen und wuchs bis zum Jahr 1900 auf rund 150 000 Mitglieder an.29 Das liberale und intel29 Vgl. http://www.archiv-ikglektuelle Großbürgertum Wiens finanzierte unzählige Bauaufträge und wien.at/archives/juedischegemeinde-wien (Stand: 16.7.2021). spielte als KunstmäzenInnen in der Wiener Moderne eine tragende Rolle.30 30 Vgl. Christoph Thun Charakteristisch für Wien um 1900 waren die Querverbindungen zwiHohenstein/Matthias Boeckl/ schen den Künsten – der Malerei, der Bildhauerei, der Architektur, dem KunstChristian Witt-Dörring (Hg.), Wege der Moderne. Josef Hoffmann, Adolf handwerk, aber auch der Musik, dem Theater, der Literatur und der Philo­Loos und die Folgen, Wien/Basel: sophie. Es war das Wien Gustav Klimts, Egon Schieles, Oskar Kokoschkas, MAK, Birkhäuser 2015, S. 112. 31 Vgl. Eric Kandel, Das Zeitalter Josef Hoffmanns, Adolf Loos’, Gustav Mahlers, Sigmund Freuds, Arthur der Erkenntnis. Die Erforschung Schnitzlers und Theodor Herzls. Viele Intellektuelle und KünstlerInnen fühldes Unbewussten in Kunst, Geist ten sich von Wien angezogen – kulturelle Leistungen und intellektuelle Brilund Gehirn von der Wiener Moderne lanz besaßen einen enormen Stellenwert.31 Die Verschmelzung unterbis heute, 3. Aufl., München: Pantheon Verlag 2018, S. 28. schiedlicher kultureller Einflüsse prägte die Stadt, die Pluralität wurde zu 32 Vgl. Serge Lemoine/Marieihrem Wesensmerkmal. Wien war die Stadt der kulturellen Vielfalt und des Amélie zu Salm-Salm, Wien um kreativen Dialoges.32 Die faszinierende geistige und kulturelle Fülle in Wien 1900. Klimt | Kokoschka | Schiele | Moser, Stuttgart: Belser 2005, S. 40. um 1900, das Phänomen der Wiener Moderne, wäre ohne das liberale Wie33 Vgl. Ernst H. Gombrich, ner Judentum jener Zeit nicht erklärbar.33 In Die Welt von Gestern beschrieb Jüdische Identität und jüdisches Stefan Zweig diese Epoche in Wien als „das Zeitalter der Vernunft“, als eine Schicksal. Eine Diskussions­­­ bemerkung, Wien: Passagen Verlag Zeit der Sicherheit und des Wohlstandes.34 2011, S. 19 ff. Dennoch war die blühende Metropole geprägt von einem immer stär34 Stefan Zweig, Die Welt von ker werdenden Antisemitismus. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger Gestern, Berlin: Fischer 1944, S. 13 ff. wendete ihn gezielt als politische Strategie an. In dieser Zeit publizierte der in Wien sehr beliebte Journalist und Redakteur der Neuen Freien Presse Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat und begründete damit die Idee des politischen Zionismus und der Gründung Israels.

Wien um 1900

25


oben

Typenmöbel der

Frankfurter Küche, Doppelspülbecken aus Gusseisen, Schränke, Arbeitsplatte sowie Alu- und Holzschütten, Entwurf: Margarete SchütteLihotzky, Frankfurt 1927, Ausführung: Grumbach, Frankfurt, © Dorotheum Wien, 2019 Rechts Frankfurter Küche, Entwurf: Margarete SchütteLihotzky, Frankfurt 1927, Fotograf: Hermann Collischonn, © KAUAK

40


der Rohe lud damals 17 internationale Architekten zum Bau von Musterhäusern ein, unter anderem Peter Behrens, Walter Gropius, Le Corbusier sowie Josef Frank. Josef Frank entwarf als einziger Wiener für die Mustersiedlung in Stuttgart ein gesamtes Haus. Einige Möbeldesigner aus Wien – Oswald Haerdtl, Walter Sobotka, Oskar Wlach und Franz Schuster – wurden eingeladen, die Häuser und Musterwohnungen zu möblieren.80 Josef Frank richtete sein Haus mit Möbeln aus seinem Wiener Geschäft Haus & Garten ein. Auch ein weiterer Architekt setzte bei der Inneneinrichtung auf Wiener Sessel: Le Corbusier. Er stattete sein Musterhaus mit Bugholzsesseln der Gebrüder Thonet aus Wien aus. In Frankfurt wurde Mitte der 1920er Jahre unter der Leitung des deutschen Architekten und Stadtplaners Ernst May ein kommunales Wohnbauprojekt begonnen. Die Wiener ArchitektInnen Margarete Schütte-Lihotzky, Anton Brenner und Franz Schuster gingen von Wien nach Frankfurt, um im sogenannten „Neuen Frankfurt“ ihre sozialen Ideen der kleinen Wohnungen weiterzuentwickeln.81 Margarete Schütte-Lihotzky, die bei Oskar Strnad an der Kunstgewerbeschule in Wien als eine der ersten Frauen Architektur studiert hatte und ab Beginn der 1920er Jahre als Architektin und Möbeldesignerin in Wien gemeinsam mit Adolf Loos arbeitete, befasste sich vom Beginn ihrer Karriere an mit dem Thema Soziales Wohnen und dem Siedlungsbau. 1926 engagierte Ernst May die junge Wienerin, um in Frankfurt am Hochbauamt mitzuarbeiten. In dieser Zeit gestaltete Margarete Schütte-Lihotzky ihre Frankfurter Küche, die erste moderne Einbauküche, mit der sie weltberühmt wurde.82 Die funktionelle Küche wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem zentralen Thema im Möbeldesign und nicht zuletzt auch in der Frauenbewegung. Margarete Schütte-Lihotzkys Idee war es, der berufstätigen Frau die tägliche Hausarbeit zu erleichtern und zu verkürzen: Die Frankfurter Küche wurde in mehr als 12 000 Haushalten, vor allem in sozialen Wohnbauprojekten in Frankfurt eingebaut. Sie leitete damit einen Trend der modernen Einbauküche ein, der sich in den 1950er Jahren weltweit verbreitete.83 Neben ihrer berühmten Küche plante Margarete Schütte-Lihotzky soziale Wohnbauten, Wohnungen, Schulen, Kindergärten und Einrichtungen. Sie entwarf die unterschiedlichsten Möbel und beschäftigte sich darüber hinaus intensiv mit der industriellen Serienproduktion von Möbeln.84 d

80

VERTRIEBENE VISIONEN – VOM BAUHAUS IN DIE USA

Vgl. Ott-Wodni (2015), S. 94, 101. Vgl. Ottillinger (2009), S. 35 ff. 82 Vgl. Maasberg/Prinz (2005), S. 61 ff. 83 Vgl. Tulga Beyerle/Karin Hirschberger, Designlandschaft Österreich 1900–2005, Basel: Birkhäuser 2006, S. 100. 84 Vgl. http://www. architektenlexikon.at/de/580.htm (Stand: 16.7.2021). 85 Vgl. Hauffe (2014), S. 121 ff. 81

Nicht nur im gesamten Deutschland, sondern auch im Bauhaus tobte in der Zwischenkriegszeit ein politischer Lagerkampf zwischen rechts und links. Hannes Meyer wurde entlassen, sein Nachfolger Ludwig Mies van der Rohe, der den Schwerpunkt der Ausbildung auf Architektur legte, versuchte das Bauhaus zu entpolitisieren. Doch dieser Versuch scheiterte: Der Kunstschule fehlten die erforderlichen finanziellen Mittel, nach einem kurzfristigen Umzug nach Berlin wurde das Bauhaus 1933 von den inzwischen an die Macht gekommenen Nationalsozialisten endgültig geschlossen. Der Großteil der Lehrenden des Bauhauses durfte unter den Nazis in Deutschland nicht mehr arbeiten, Lehrende und Studierende wurden vertrieben und in die Emigration gezwungen. Zu dieser Zeit war der Bauhausstil bereits weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt: Die neuen Materialien wie Stahlrohr im Möbeldesign sowie die typischen einfachen, klaren, schmucklosen Formen des Bauhauses wurden zu einem wichtigen Impulsgeber für einen modernen, internationalen Stil.85 Der International Style in der Architektur und im Möbeldesign hatte sich in den 1920er Jahren aus den Ideen des Bauhauses entwickelt und verbreitete sich Mitte des 20. Jahrhunderts auf der ganzen Welt. Der Name wurde erstmalig 1932 in einem Buchtitel The International Style: Architecture

Vom Bauhaus zum International Style

41


d

BAUHAUS MITTEN IN WIEN – DIE ATELIERGEMEINSCHAFT SINGER & DICKER Nach ihrem Studium am Bauhaus gründeten die jungen DesignerInnen Friedl Dicker und Franz Singer in Berlin die gemeinsamen Werkstätten Bildender Kunst, die auf Bühnenausstattungen, Buchbindearbeiten, Textilien, Grafiken und Kinderspielzeug spezialisiert waren. Mitte der 1920er Jahre zog Friedl Dicker von Weimar zurück nach Wien. Sie eröffnete ein Atelier in der Wasserburggasse 2 im 9. Bezirk, wo sie unter der Mitarbeit von Martha Hauska gewebte Stoffe und Taschen anfertigte. Franz Singer folgte ihr im Februar 1925 nach Wien, arbeitete zunächst in einem Atelierraum in seiner Wohnung in der Schadekgasse 18 im 6. Bezirk, schloss sich aber noch im selben Jahr Friedl Dickers Atelier in der Wasserburggasse an. Schon bald florierte die Ateliergemeinschaft: Gemeinsam entwarfen sie Häuser, gestalteten Wohnungen, Geschäfte und einen Kindergarten und designten eine Vielzahl von Möbeln, Lampen, Teppichen und Stoffen. Friedl Dicker arbeitete hauptsächlich als Innenarchitektin und Möbeldesignerin, Franz Singer als Architekt. Bei den Inneneinrichtungen war Friedl Dicker für die Auswahl der Farben und Materialien zuständig; sie experimentierte mit neuen Formen, Farbkombinationen und Stoffen und schuf die Atmosphäre in den von ihnen gestalteten Räumen.160 Als MöbeldesignerInnen waren die beiden visionär: Gemeinsam entwarfen sie innovative Möbel und Stoffe, mit denen sie allein in Wien mehr als 50 Innenräume gestalteten. Franz Singer überlegte sich rational-technische Lösungen und signierte die Entwürfe mit seinem Namen. Das Design, die Oberflächen, die Farbigkeit, die Stoffe – das alles war jedoch der Einfluss von Friedl Dicker. Die Gurtbespannungen, Möbelstoffe, Teppiche und Tagesdecken wurden von der Designerin, die an der Kunstgewerbeschule die Textilklasse und am Bauhaus die Werkstatt für Weberei besucht hatte, entworfen und eigens in Handarbeit angefertigt.161 Nach Erzählungen von Leopoldine Schrom, einer langjährigen Mitarbeiterin, war der Beitrag Friedl Dickers im Bereich des Möbeldesigns in der Ateliergemeinschaft beachtlich. Sie dokumentierte und signierte ihre Arbeit jedoch nicht und stand im Schatten ihres Partners.162 Franz Singer und Friedl Dicker, die selbst keine ArchitektInnen waren, holten sich Studierende bzw. AbsolventInnen von der Technischen Hochschule Wiens, die für die technischen Details verantwortlich waren. Im Atelier waren in den Jahren 1925 bis 1938 verschiedene MitarbeiterInnen beschäftigt. Ab 1927 arbeitete Bruno Pollak in der Ateliergemeinschaft Wien mit.163 Anna Szabo war ab 1929 im Atelier beschäftigt und wurde zu einer der beständigsten MitarbeiterInnen Franz Singers und Friedl Dickers. Da die Auftragslage der Ateliergemeinschaft Ende der 1920er hoch war, holte sie auch ihre Studienfreundin Leopoldine Schrom ins Atelier. Das 160 Vgl. Hövelmann (2018), S. 106. 161 Vgl. ebd. Zeichnen der Möbel sowie der Perspektivzeichnungen überließen Franz 162 Vgl. Interview mit Georg Singer und Friedl Dicker ihren MitarbeiterInnen. Hans Biel, der ebenfalls an Schrom am 21.2.2021; Hövelmann der Technischen Hochschule studierte, war von 1931 bis zu seiner Emigra(2018), S. 100 ff. 163 Vgl. Werner Röder/Herbert A. tion nach London 1934 im Atelier beschäftigt. Auch Eugenie „Jenny“ Pillat Strauss, Biographisches Handbuch arbeitete in der Ateliergemeinschaft mit; sie blieb bis 1936. Der Großteil der der deutschsprachigen Emigration Zeichnungen wurde nicht signiert, eine Zuschreibung der Arbeiten ist daher nach 1933–1945, Institut für schwierig. Die StudentInnen entwarfen Einrichtungen und GeschäftsZeitgeschichte, Research Foundation for Jewish Immigration, umbauten und fertigten Möbelskizzen sowie Prototypen für Möbel an; sie New York/München: K. G. Saur waren in den Entwurfsprozess von Möbeln, Raumgestaltungen und Bauten Verlag 1999, S. 215. 164 Vgl. Hövelmann (2018), S. 117. stark einbezogen. Anna Szabo, Leopoldine Schrom und Eugenie Pillat zählten zu den ersten Frauen, die in Wien Architektur an der Technischen Hochschule studierten.164 Im Atelier Singer & Dicker entstand in den Jahren 1925 bis 1938 eine beachtliche Zahl von Möbeln. Jene, die zu Beginn der

70

Visionäres Wien – Loos-gelöstes Möbeldesign


Oben

Entwurf eines Gartenzimmers, Friedl Dicker und Franz Singer,

Wien um 1927, Sammlung GS , © FS

71


oben Entwurf multifunktionaler Stahlrohrsessel, Friedl Dicker und Franz Singer, Wien um 1930, Sammlung GS, © FS unten Entwurf ineinander schiebbarer Sitzmöbel, Friedl Dicker und Franz Singer, Wien um 1927, Sammlung GS, © FS oben R. Entwurf eines Toilettenschrankes, Friedl Dicker und Franz Singer, Wien um 1927, Sammlung GS, © FS Unten R. Entwürfe eines stapelbaren Stahlrohrsessels und Hockers mit überkreuzten Fußteilen, Franz Singer, Wien um 1930, Sammlung GS, © FS

74


Visionäres Wien – Loos-gelöstes Möbeldesign

75


OBen

Espresso-Bar auf

der Werkbund-Ausstellung im Österreichischen Museum für angewandte Kunst und Industrie, Wien 1930, Entwurf: Felix Augenfeld und Karl

Guévrékian aus Teheran gehörten zu den wenigen internationalen Architekten, die von Josef Frank zur Teilnahme an der Werkbundsiedlung in Wien eingeladen wurden.181 Die 70 Musterhäuser in Hietzing sollten Beispiele für modernes, zeitgemäßes Wohnen und den künftigen Siedlungsbau darstellen. 182 Auch sechs Frauen waren am Projekt beteiligt: Als einzige Architektin plante Margarete Schütte-Lihotzky die Häuser Nr. 61 und 62. Die Wiener Designerin Ilse Bernheimer, Oskar Strnads Privatassistentin, entwarf die Inneneinrichtung der Häuser Nr. 15 und 16; dabei verwendete sie Bruno Pollaks Möbel aus Stahlrohr. Rosa Weiser war für die Inneneinrichtung der Häuser von Gerrit Rietveld zuständig und Ada Gomperz und Leonie Pilewski richteten gemeinsam das Haus Häring ein. Grete Salzer gestaltete den Garten des von Jacques Groag errichteten Projektes.183 Über 200 Unternehmen beteiligten sich an dem Architekturprojekt und stellten ihre Produkte für eine Mustereinrichtung der Häuser inklusive moderner Haushalts- und Küchengeräte zur Verfügung. In zahlreichen Häusern wurden Möbel der Firma Thonet sowie Lampen von J.T. Kalmar ausgestellt. Josef Franks und Oskar Wlachs Einrichtungsgeschäft Haus & Garten stattete drei Musterhäuser komplett aus.

80

Hofmann, Fotograf: Bruno Reiffenstein, © MAK

181

Vgl. Ott-Wodni (2015), S. 104. Vgl. Meder (2008), S. 62. 183 Vgl. https://www. werkbundsiedlung-wien.at/ architektinnen (Stand: 22.7.2021). 182

Visionäres Wien – Loos-gelöstes Möbeldesign


Oben

Plakat für die Werkbundsiedlung, Joseph Binder,

Wien 1932, © Joseph Binder/MAK

81


86

Oben Werkbundsiedlung, Haus Nr. 12, Wohnraum, Entwurf: Josef Frank, Wien 1932, Fotograf: Martin Gerlach jun., © Wien Museum


Oben

Werkbundsiedlung, Haus Nr. 25–28, Entwurf: André Lurçat, Wien 1932,

Fotograf: Martin Gerlach jun., © Wien Museum

87


8

Ein Riss in der Zeit – 1938 und die Folgen für das Wiener Möbeldesign „Sie wissen alle, wie die Tragödie begonnen hat. Das war, als in Deutschland der Nationalsozialismus heraufkam, dessen Parole vom ersten Tag an lautete: Ersticken. Ersticken alle Stimmen außer einer. Ausrotten alle Manifestationen des freien Wortes, in welcher Form auch immer, künstlerisch, literarisch, journalistisch“203, schrieb Stefan Zweig, der bereits 1934 von Salzburg nach London emigrierte, über die verheerenden Folgen des Nationalsozialismus. Der damals weltberühmte österreichische Schriftsteller reiste bis zum Frühling 1938 noch einige Male in seine Geburtsstadt Wien. Was unmittelbar in den Tagen nach dem „Anschluss“ in Wien geschah, „hat seines gleichen nicht in der Geschichte des Judentums – Deutschland war ein Samtpfötchen gegen diesen mörderischen Hieb“, so Stefan Zweig in einem Brief an seinen Freund, den deutschen Schriftsteller Arnold Zweig im Frühling 1938, „die Wiener, die österreichischen Juden, waren ja viel homogener in ihrer Struktur als die deutschen Juden, sie gehörten dazu, sie hatten die Stadt Wien geformt und mitgeschaffen.“204 Die Folgen des Einmarsches der Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 waren für alle Jüdinnen und Juden verheerend. In seinem Buch, Stadt ohne Seele. Wien 1938 beschreibt der Historiker Manfred Flügge sehr präzise den dramatischen Umbruch, die Radikalisierung innerhalb der Gesellschaft binnen kürzester Zeit nach dem sogenannten „Anschluss“ und die tragischen Schicksale der Wiener Jüdinnen und Juden. 205 Einige erschütternde Fakten: Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 12. März 1938 kam es in ganz Österreich zu Pogromen, bestialischen Ausschreitungen, unzähligen Inhaftierungen und Deportationen. Gleichzeitig kam es zur Einführung der „Nürnberger Rassengesetze“ und zu Enteignungen, „Arisierungen“ jüdischen Eigentums, Raub, Plünderungen und Übergriffen. Das gewaltsame Vorgehen gegenüber jüdischen Männern, Frauen und Kindern gipfelte in den Novemberpogromen in der Nacht vom 203 Stefan Zweig in seinem Auf9. auf den 10. November 1938 mit mehr als 6500 willkürlichen Verhaftungen satz Das große Schweigen aus dem Jahr 1940, in: Stephan Resch an jenem düsteren Tag allein nur in Wien. (Hg.)/Stefan Zweig, „Worte haben Lebte in Wien in diesen Jahren nach Paris die zweitgrößte jüdische Gekeine Macht mehr“. Essays zu meinschaft Europas mit mehr als 200 000 Mitgliedern, so markierte der Politik und Zeitgeschehen 1916– 1941, Wien: Sonderzahl Verlag 12. März 1938 ein jähes Ende dieser blühenden Gemeinde und der kulturel2019, S. 182. len Hochblüte Wiens. Stefan Zweig, Joseph Roth, Josef Frank oder Franz 204 Stefan Zweig in einem Brief Singer verließen, die Gefahr kommen sehend, bereits Mitte der 1930er an Arnold Zweig im Frühling 1938, in: Stefan Litt (Hg.)/Stefan Jahre die Stadt. Zwischen März 1938 und Mai 1939 flohen 130 000 Jüdinnen Zweig, Briefe zum Judentum, Berlin: und Juden aus Wien vor den Nazis. Unzähligen Menschen gelang die Flucht Jüdischer Verlag, Suhrkamp Verlag nicht: Mehr als 65 000 Wiener Jüdinnen und Juden wurden deportiert und 2020, S. 258. 205 Vgl. Manfred Flügge, Stadt ermordet; ganz wenige überlebten die Shoah versteckt bei FreundInnen ohne Seele. Wien 1938, Berlin: oder Verwandten im Untergrund als „U-Boot“ in der Stadt.206 Aufbau Verlag 2018, S. 10 ff. 206 Vgl. ebd. Wien verlor im Jahr 1938 die kreativsten und besten Köpfe. Ein Riss in der Zeit, der sich quer durch alle Wissenschaften und Künste manifestierte und bis heute spürbar geblieben ist. Max Reinhardt, Joseph Roth, Friedrich Torberg, Ernst Gombrich, Karl Popper, Stefan Zweig – um nur einige, ganz

94


wenige damals weltweit bekannte Namen zu nennen – wanderten rechtzeitig aus. Nach dem 12. März 1938 kann nur noch von einer Flucht gesprochen werden. Mit der Vertreibung unzähliger Kreativer, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, JournalistInnen, UniversitätsprofessorInnen, PolitikerInnen, Lehrender, Ärzte und Ärztinnen, JuristInnen, PhilosophInnen, SchauspielerInnen, MusikerInnen, TheaterbesitzerInnen, BetreiberInnen von Kaffeehäusern, Restaurants oder Geschäften, Industrieller und UnternehmerInnen, Handwerker- und KunsthandwerkerInnen, Studierender und SchülerInnen, Familien samt ihrer Kinder ging der Stadt Wien im Jahr 1938 ihre Seele verloren. Viele große Namen aus dem Bereich Architektur und Möbeldesign – wie Josef Frank, Franz Singer, Friedl Dicker, Bruno Pollak, Ernst Freud oder Ella Briggs – verließen aufgrund des unerträglichen Antisemitismus und der politischen Lage in Deutschland und Österreich bereits Mitte der 1930er Jahre die Metropole. Ein Großteil der ArchitektInnen und MöbeldesignerInnen, die zu Beginn der 1930er Jahre das moderne und fortschrittliche Wien darstellten, die ProtagonistInnen der Wiener Wohnkultur, mussten nach dem „Anschluss“ aus Wien fliehen.207 Bis 1938 verlor Wien innerhalb weniger Jahre fast sein gesamtes intellektuelles, modernes und visionäres Potential an ArchitektInnen und MöbeldesignerInnen.208 Oskar Strnad starb 1935 in Bad Aussee, ihm blieben die Gräueltaten der Nazis erspart. Ella Briggs war Ende der 1920er Jahre von Wien nach Berlin übersiedelt. Nachdem für sie das Leben nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unerträglich geworden war, kehrte sie 1935 nach Wien zurück und wanderte 1936 nach London aus.209 Jacques Groag und dessen Ehefrau Jacqueline Groag flohen 1938 aus Wien nach Prag und 1939 weiter nach London. Viele kreativen Köpfe hinter der visionären Ateliergemeinschaft Singer & Dicker verließen Mitte der 1930er Jahre die Metropole. Franz Singer, Hans Biel und Bruno Pollak lebten ab 1934 in London und kehrten nach 1938 nicht mehr nach Wien zurück. Anna Szabo floh 207 Vgl. Oswald Oberhuber/ 1938 aus Wien nach Budapest und überlebte dort den Krieg als „U-Boot“. Gabriele Koller/Gloria Withalm, Zentralsparkasse und Auch Karola Bloch übersiedelte Mitte der 1930er Jahre von Wien nach Prag, Kommerzialbank Wien (Hg.) in wo sie gemeinsam mit Friedl Dicker Möbel und Inneneinrichtungen entZusammenarbeit mit der warf; 1937 emigrierte die gesamte Familie Bloch in die USA.210 Friedl DiHochschule für angewandte Kunst in Wien, Die Vertreibung cker verließ 1934 Wien, um nach Prag zu gehen. Die hochbegabte des Geistigen aus Österreich. Designerin und Künstlerin überlebte die Shoah nicht, sie wurde am 9. OkZur Kulturpolitik des Nationaltober 1944 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.211 sozialismus, Wien: Hochschule für angewandte Kunst in Nach Josef Franks Emigration nach Stockholm führte Oskar Wlach das Wien 1985, S. 197. gemeinsame Unternehmen Haus & Garten in Wien weiter; 1938 wurde es 208 Vgl. ebd., S. 624; Stadler „arisiert“. Die Familien Frank und Wlach überlebten den Holocaust in New (2004), S. 623. 209 Vgl. Marcel Bois/Bernadette York City wie auch Walter Sobotka und Ernst Lichtblau. Liane Zimbler legte Reinhold (Hg.), Margarete Schüttenur wenige Wochen vor dem „Anschluss“ am 21. Februar 1938 als erste Lihotzky. Architektur. Politik. Frau Österreichs die Ziviltechnikerprüfung in Wien ab. Sowohl ihr Atelier in Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk, Wien/Basel: Wien als auch in Prag wurde 1938 aufgelöst, im April 1938 floh sie mit ihrer Edition Angewandte, Buchreihe Familie über London in die USA. Felix Augenfeld und Ernst Schwadron der Universität für angewandte Kunst konnten 1938 von Wien über Paris und London ebenfalls rechtzeitig in die Wien, Birkhäuser 2019, S. 42. 210 Vgl. Boeckl (1995), S. 349. USA auswandern.212 Otto Breuers gesamter Besitz und dessen Firma wur211 Vgl. Röder/Strauss (1999), den nach dem „Anschluss“ von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. S. 215. 212 Vgl. Boeckl (1995), S. 327 ff. Der Architekt versuchte sich am 9. November, in der Nacht der November213 Vgl. Ott-Wodni (2015), S. 359. pogrome in Wien, das Leben zu nehmen, doch es gelang ihm nicht. Wenige 214 Vgl. http://www.architekten Tage später erhängte er sich im Alter von 41 Jahren im Sanatorium Purkerslexikon.at/de/1437.htm dorf.213 Viktor Lurje floh im Herbst 1938 aus Wien nach Schanghai und (Stand: 1.8.2021). ging Anfang der 1940er Jahre nach Indien, wo er als Innenarchitekt und Möbeldesigner tätig war. Er starb noch während des Krieges 1944 in Jaipur.214 Ernst Plischke emigrierte 1939 gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna

Ein Riss in der Zeit – 1938 und die Folgen für das Wiener Möbeldesign

95


links Einblick in die Abstract

Oben R. Alberto Giacomettis Femme égorgée

Gallery, Art of This Century,

auf einem Multi-Use Chair von Friedrich Kiesler

Ausstellungsgestaltung von Friedrich

in der Surrealist Gallery, Art of This Century,

Kiesler, New York 1942, Fotograf:

New York 1942, Fotograf: K. W. Herrmann,

K. W. Herrmann, © Österreichische

© Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-

Friedrich und Lillian Kiesler-

Privatstiftung, Wien

Privatstiftung, Wien

104

unten R. Friedrich Kiesler vor einem Bild von Jean Hélion, New York 1942, © Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien


Die vertriebenen VisionärInnen – von Wien in die USA

105


106

Oben

Unbekannte Frau in der Painting Library, Art of This Century, New York 1942, Foto-

graf: K. W. Herrmann, © Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien


c

AUS WIEN VERTRIEBEN – EIN ERZWUNGENER NEUBEGINN IM EXIL

Der „Anschluss“ im März 1938 bedeutete für unzählige Menschen aus Wien eine schmerzhafte Zäsur – die Vertreibung, die Flucht aus ihrer Heimatstadt, die erzwungene Emigration und damit eine vollkommene Entwurzelung. Viele flohen unter größten Strapazen aus Wien über Paris nach London und von dort mit dem Schiff weiter nach New York City. Die EmigrantInnen erwartete in den USA zunächst eine ungewisse Lage, die wenigsten beherrschten die englische Sprache; oftmals kamen sie nach einer monatelangen Flucht mit wenig Geld in die Vereinigten Staaten. Freundschaften und Netzwerke unter den Flüchtlingen waren umso wichtiger; sie waren lebensnotwendig und für die Situation der aus Wien geflohenen DesignerInnen im Exil nicht wegzudenken. Bereits etablierte, früher ausgewanderte ArchitektInnen, beschäftigten ihre Berufskollegen und -kolleginnen und FreundInnen aus Wien, die 1938 ins Land kamen. Der damals 50-jährige Walter Sobotka floh im Juli 1938 gemeinsam mit seiner Familie von Wien nach New York City. Noch im selben Jahr begann er als Möbeldesigner für die Firma Thonet Brothers New York zu arbeiten. Neben dieser Tätigkeit – er entwarf in erster Linie Bugholzmöbel – arbeitete er auch für den amerikanischen Designer Russel Wright. 1941 übersiedelte er nach Pittsburgh in Pennsylvania, um dort Innenarchitektur am Carnegie Institute of Technology zu unterrichten. Zunächst war Walter Sobotka als Assistent für Architektur, Textilien und Kunstgewerbe und ab 1946 als Professor für Innenarchitektur tätig. Neben seiner Unterrichtstätigkeit konnte er sich weiterhin als Möbeldesigner, Innenarchitekt und Bühnenausstatter einen Namen machen. Walter Sobotka richtete unter anderem auch das Haus für die damals berühmte Filmschauspielerin Hedy Lamarr ein. Der Designer aus Wien unterrichtete bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1958 und war bis zu seinem Tod als freiberuflicher Architekt und Designer in den Vereinigten Staaten tätig.254 Unter schwierigsten Umständen floh Ernst Lichtblau im August 1939 aus Wien über London nach New York. Der zu diesem Zeitpunkt 56-jährige Designer arbeitete zunächst in Manhattan für Macy’s als Designkonsulent und gestaltete für das beliebte Kaufhaus Präsentationen und Ausstellungen. 1945 begann er an The Cooper Union School of Art, einer Universität für Architektur und Design in Manhattan, Textildesign zu unterrichten. Im Herbst 1947 wurde er Lektor, später Professor für Innenarchitektur an der Rhode Island School of Design in Providence in Rhode Island. Schon bald wurde Ernst Lichtblau zum Vorstand der Abteilung für Innenarchitektur an der Universität ernannt und Mitte der 1950er Jahre schließlich zum Dekan der Fakultät für Architektur. 1950 und 1953 beteiligte er sich an einer Ausstellungsreihe im MoMA unter dem Titel Good Design und erhielt mehrere Auszeichnungen für seine Metallarbeiten. Im Museum 254 Vgl. http://www.architekten seiner Universität organisierte er in den 1950er Jahren die Ausstellung lexikon.at/de/612.htm Furniture of Today für moderne Möbel und Inneneinrichtung. Durch seine (Stand: 1.8.2021). 255 Vgl. August Sarnitz, Der unermüdliche Unterrichtstätigkeit und seine zahlreichen Ausstellungen verlorene Alltag – Ernst Lichtblau, in: prägte auch er eine ganze Reihe junger amerikanischer DesignerInnen.255 Boeckl (1995), S. 291 ff.; https:// Felix Augenfeld floh nach dem „Anschluss“ aus Wien nach London. Ein www.moma.org/momaorg/shared/ Jahr später emigrierte der damals 46-jährige Möbeldesigner nach New pdfs/docs/press_archives/1487/ releases/MOMA_1951_0005.pdf York City. Bereits kurz nach seiner Ankunft in den USA erhielt er die Archi(Stand: 1.8.2021). tektenlizenz des Staates New York und wurde Mitglied des American Insti256 Vgl. Hanisch in: Boeckl (1995) tute of Architects.256 1941 eröffnete Felix Augenfeld ein Architekturbüro in S. 240. Manhattan in der 66th Street, arbeitete aber in erster Linie als Möbeldesigner und Innenarchitekt. Es gelang ihm, sich als Interior Designer für schwierige Raumsituationen zu etablieren. Wien und Manhattan hatten in

Die vertriebenen VisionärInnen – von Wien in die USA

107


OBen

Möbel in der Werk-

bund-Ausstellung im Österreichischen Museum für angewandte Kunst und Industrie, Wien 1950, © MAK rechts Stadthallensessel, Entwurf: Roland Rainer, Ausführung: Wiesner-Hagner, Wien um 1950, Sammlung CW

114

Die vertriebenen VisionärInnen – von Wien in die USA


10

Möbeldesign der 1950er Jahre in Wien

Die Jahre nach 1945 in Wien waren vom Wiederaufbau der Stadt geprägt. An Möbeldesign war unmittelbar nach Kriegsende nicht zu denken – Gebäude und Wohnungen mussten gebaut und saniert, bei den Einrichtungen und Möbeln vor allem improvisiert werden. In Wien herrschte eine unglaubliche Wohnungsnot, das soziale Wohnbauprogramm der Stadt Wien wurde wieder aufgenommen. Rund 40 Prozent der Gebäude sowie die städtische Infrastruktur waren zerstört; auch kulturelle Institutionen, historische Gebäude sowie die Wahrzeichen der Metropole, die Oper, der Stephansdom oder das Burgtheater, wurden in den letzten Kriegstagen schwer beschädigt. In Zusammenarbeit mit der Stadt Wien, der Arbeiterkammer, der Handelskammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund wurde 1952 das Möbelprojekt Soziale Wohnkultur ins Leben gerufen. Menschen mit einem niedrigen Einkommen sollten schöne, zweckmäßige und praktische Möbelstücke für Kleinwohnungen zu günstigen Preisen erwerben können. Eine gesamte Möbelserie wurde damals entworfen – das Angebot reichte von Regalen, Betten, Sitzbänken und Lampen bis zu Küchenmöbeln. Das Design kam unter anderem von Oskar Payer, Roland Rainer und Franz Schuster. Die Möbelproduzenten wurden vom Verein Soziale Wohnkultur unter Vertrag genommen, Design und Qualitätsansprüche festgelegt und die Möbelproduktionen vorfinanziert. Sämtliche Einrichtungsgegenstände wurden mit einem SW-Möbel-Logo gekennzeichnet; die Marke stand für günstiges, qualitätsvolles und modernes Möbeldesign.278 In den 1950er Jahren gingen im Bereich des Möbeldesigns wesentliche Impulse von den in Wien verbliebenen ArchitektInnen aus. Bei ihren Entwürfen griffen sie auf die künstlerisch produktive Zeit der 1920er und 1930er Jahre zurück und damit auf die visionären Ideen und Gestaltungsprinzipien der ProtagonistInnen der Wiener Wohnraumkultur, der vertriebenen oder ermordeten ArchitektInnen. Nur ganz wenige der vom NS-Regime verfolgten, überlebenden ArchitektInnen und DesignerInnen kehrten nach dem Krieg wieder nach Wien zurück. Ernst Lichtblau ging erst 1961 im Alter von 78 Jahren aus den USA in seine Geburtsstadt zurück und nahm seine Tätigkeit als Architekt wieder 278 Vgl. Eva B. Ottillinger (Hg.), auf; kurz danach starb er an einem Herzinfarkt.279 Ernst Plischke zog 1963 Möbeldesign der 50er Jahre. Wien aus Neuseeland wieder zurück nach Wien und wurde Professor für Archiim internationalen Kontext, Wien/ tektur an der Akademie der bildenden Künste Wien. Wesentliche Aufträge Köln/Weimar: Böhlau 2005, S. 48 ff. 279 Vgl. http://www. als Architekt blieben jedoch aus. Auch Oskar Payer kam nach dem Krieg architektenlexikon.at/de/357.htm aus Palästina wieder nach Wien. Mit seinem Einrichtungsgeschäft prägte (Stand: 15.7.2021). er das Möbeldesign der 1950er Jahre. Oskar Payer, der in Wien eine Tischler280 Marianne Payer/Oskar Payer/ ausbildung absolviert und die Staatsgewerbeschule besucht hatte, setzte Peter Payer: Payer-Decor. Die Wiener Einrichtung, Wien: Eigensich in der Nachkriegszeit für den sozialen Wohnbau und ein modernes verlag 1957; Oskar Payer/Peter Möbeldesign ein. Daneben schrieb er mehrere Einrichtungsbücher wie Die Payer: Praktische Wohnungskunde, Wiener Einrichtung oder Praktische Wohnungskunde und beteiligte sich Wien: Eigenverlag 1960. auch an der Entwicklung und Gestaltung der SW-Möbel-Aktion.280 Gemeinsam mit seiner Frau Marianne Payer eröffnete er Anfang der 1950er Jahre das Einrichtungsgeschäft Die Wiener Wohnung, das Anfang der

Möbeldesign der 1950er Jahre in Wien

115


126

unten L. Kommode, Entwurf: Josef

unten r. Sessel aus Holz, Bambus und

Frank, Stockholm um 1938, Ausführung:

Leder, Entwurf: Josef Frank, Stockholm um

Svenskt Tenn, © ST

1947, Ausführung: Svenskt Tenn, © KAUAK


links Estrid Ericson und Josef Frank im Geschäft von Svenskt Tenn in Strandvägen 5 in Stockholm, 1964, Fotograf: Lennart Nilsson, © ST rechts Zeichnung für Stoff Naschmarkt, Josef Frank, Wien um 1920, © MAK Unten R. Stoff Primavera, Entwurf: Josef Frank, Wien um 1920, Ausführung: Svenskt Tenn, © ST Unten L. Stehlampe, Entwurf: Josef Frank, Wien um 1930, Ausführung: Svenskt Tenn, Sammlung K

Skandinavische Möbel und Wiener Möbeldesign in Schweden: Josef Frank

127


Er war einer der wenigen ÖsterreicherInnen, die am Bauhaus studieren konnten. Seine Erfahrung als Bühnenbildner war für die Inszenierung der von ihm gestalteten Räume sehr wertvoll. Franz Singers Möbelentwürfe waren „Verwandlungskünstler“ und wurden in kleinen Serien hergestellt. Nach seiner Emigration konnte er in London seine Arbeit als Architekt und Möbeldesigner fortsetzen und ausbauen. 198


1896 – 1954 †

Bauhaus-Student

Franz SINGER Wien Berlin

Franz Singer wurde am 8. Februar 1896 in Wien

und Berlin, insbesondere für Berthold Vier-

Architekt

in eine großbürgerliche jüdische Familie

tels Theater Die Truppe. Nach Beendigung

Möbeldesigner

geboren. Sein Vater Dr. Siegmund Singer

seines Studiums gründete Singer 1923 mit

war Textilunternehmer und Inhaber einer

Friedl Dicker in Berlin die Werkstätten

Färberei in Stockerau, seine Mutter Hermine

Bildender Kunst und gemeinsam entwarfen

war eine geborene Haurowitz. Franz Singer

sie Inneneinrichtungen, kunsthandwerkliche

hatte eine jüngere Schwester, Frieda, und

Objekte und Bühnenausstattungen.167

zwei ältere Brüder, Julius und Paul. Sein Vater 1925 kehrte Franz Singer nach Wien zurück verstarb früh, Franz war damals erst 14 Jahre

und schloss sich in der Folge Friedl Dickers

alt. Franz Singers Zeichenbegabung wurde

Atelier in der Wasserburggasse 2 im Alser-

schon früh erkannt und so besuchte er

grund an. Ihre Ateliergemeinschaft war trotz

1905/06 einen Kinderzeichenkurs im Atelier

der wirtschaftlich angespannten Zeiten in den

der Malerin Emma Schlangenhausen unter

darauffolgenden Jahren sehr erfolgreich.168

der Leitung des Malers und Bühnenbildners

Die beiden DesignerInnen spezialisierten

Alfred Roller.165

sich auf die Gestaltung von Wohnungen,

Während des Ersten Weltkrieges wurde er zum

Geschäftslokalen und Möbeln. Bei den ge-

Militärdienst eingezogen und begann ein

meinsamen Projekten war Franz Singer

Studium der Philosophie und Kunstgeschich-

für die Architektur zuständig, Friedl Dicker

te an der Universität Wien, das er jedoch

für die Atmosphäre, die Farbgestaltung

nicht abschloss. Ab 1917 besuchte er die

und die Stoffe.169 Zusammen entwarfen sie

private Kunstschule von Johannes Itten, wo

klappbare, stapelbare und multifunktionale

er auch seine spätere Partnerin Friedl Dicker

Möbel, Lampen und andere Einrichtungs-

kennenlernte. Als Johannes Itten seine

gegenstände. Bei seinen Entwürfen experi-

Kunstschule in Wien schloss, um ans Bau-

mentierte Franz Singer mit Sperrholz und

haus zu gehen, folgten ihm Franz Singer

Stahlrohr. Es entstand eine Serie stapelbarer

und Friedl Dicker im Jahr 1919 nach Weimar.

Sessel und Freischwinger sowohl für Kinder

Franz Singer blieb bis 1923 am Bauhaus,

als auch für Erwachsene mit einem be-

besuchte dort die Tischlerei- und Bühnen-

sonderen, für Franz Singer typischen

werkstatt und arbeitete für verschiedene

Kennzeichen, dem überkreuzten Fußteil, die

Theaterproduktionen. Noch während seiner

zu Beginn der 1930er Jahre auch in kleinen

Ausbildung heiratete er am 17. März 1921 die

Serien produziert wurden.170 Franz Singer

um 11 Jahre ältere Wiener Sängerin Emmy

und Friedl Dicker engagierten sich auch für

Heim, es war bereits deren zweite Ehe. Sie

das Gemeinwohl; sie arbeiteten für das

bekamen einen Sohn, Michael „Bibi“, der

Sozialprogramm der Gemeinde Wien, stat-

jedoch mit ca. zehn Jahren in Wien starb.166

teten Kindergärten aus und entwickelten

Zu Beginn der 1920er Jahre arbeitete Franz

stapelbare Möbel für engste Räume.171

Singer gemeinsam mit Friedl Dicker für ver- Friedl Dicker verließ 1931 nach privaten Konschiedene Theaterproduktionen in Dresden

MöbeldesignerInnen – Biografien

flikten das gemeinsame Atelier; die beiden

199


kreativen DesignerInnen arbeiteten aber

Nach dem „Anschluss“ 1938 durfte Singer in

weiterhin zusammen an Einrichtungs-

Wien nicht mehr arbeiten. In London war

projekten. Singers Ehefrau Emmy lebte ab

er weiterhin als Architekt und Möbeldesigner,

Beginn der 1930er Jahre in England und

insbesondere für Kindermöbel und Spiel-

wanderte später von dort nach Kanada aus.

zeug, tätig und engagierte sich im sozialen

Ab 1934 hielt sich Franz Singer überwie-

Wohnbau.173

gend in London auf, arbeitete aber von Groß- Nach dem Krieg verbrachte Franz Singer britannien aus weiterhin für sein Atelier in

einige Jahre in Salzburg, in seine Geburts-

Wien. Neben seiner freiberuflichen Tätigkeit

stadt Wien kehrte er jedoch nie mehr wieder

als Architekt und Möbeldesigner arbeitete

zurück. Er starb am 5. Oktober 1954 bei

Singer ab 1934 auch als Berater für die

einem Besuch seiner langjährigen Freundin

Londoner Einrichtungsunternehmen John

Margit Téry-Buschmann in Berlin.174

Lewis und Peter Jones. 1936 lud ihn sein Bruder Paul ein, sich an einem Architekturprojekt in Palästina zu beteiligen.172

01

Lampe aus Messing, Entwurf: Franz Singer,

Wien 1929, Sammlung GS 02

Lampe aus Messing und Glas, Entwurf:

Franz Singer, Wien um 1925, Sammlung GS

01

200

02

Franz Singer


03

Sessel aus Birnenholz mit

schwarzer Jutegurtbespannung und Wiener Geflecht, Entwurf: Franz Singer und Friedl Dicker, Wien um 1927, © Dorotheum, 2019 04

Prototyp eines V-Arm-

lehnsessels aus Stahlrohr, Holz und Wiener Geflecht, Entwurf: Franz Singer, Wien 1933, Sammlung GS 05

Stapelbarer Holzsessel

aus Buchenholz mit Jutegurtbespannung, Entwurf: Franz Singer und Friedl Dicker, Wien um 1930, © KAUAK 06

Stapelbarer Sessel aus rot

lackiertem Stahlrohr und Sperrholz mit gekreuztem Fußteil in

03

04

05

06

08

09

X-Form, Entwurf: Franz Singer, Wien 1936, Sammlung GS 07

Prototyp eines Beistell-

tisches aus Stahlrohr und Holz, Entwurf: Franz Singer, Wien 1936, Sammlung GS 08

Freischwinger Hériot aus

Stahlrohr mit gekreuztem Fußteil, Holz und Wiener Geflecht, Entwurf: Franz Singer, Wien 1932, Sammlung GS 09

Stapelbarer Sperrholz-

sessel mit gekreuztem Fußteil in X-Form, Entwurf: Franz Singer, Wien 1936, Sammlung GS

07

MöbeldesignerInnen – Biografien

201


Als eine der begabtesten Bauhaus-StudentInnen bezeichneten sie Walter Gropius und Johannes Itten. Schon als Kind war sie durch ihr zeichnerisches Talent und ihre Kreativität aufgefallen. Als Innenarchitektin und Möbeldesignerin hatte sie großen Erfolg und konnte ihre vielseitigen Talente einsetzen. Selbst ohne Mutter aufgewachsen und kinderlos geblieben, widmete Friedl Dicker ihr gesamtes Leben der Kunstvermittlung und dem Zeichenunterricht von jungen Talenten. Die Kinderzeichnungen ihrer SchülerInnen aus Theresienstadt gingen nach dem Zweiten Weltkrieg um die Welt. 202


1898 – 1944 †

Bauhaus-Studentin

Friedl DICKER Wien Auschwitz

Friedericke „Friedl“ Dicker wurde am 30. Juli

begleiteten ihn auch einige seiner Wiener

Innenarchitektin

1898 in Wien in eine jüdische Familie

SchülerInnen dorthin, darunter auch die

Designerin

geboren. Ihr Vater Simon stammte aus der

damals 21-jährige Friedl Dicker, Anny Wottitz

Malerin

heutigen Ukraine und arbeitete in einem

und Franz Singer.178

Kunstpädagogin

Papiergeschäft; ihre Mutter Karolina, gebo-

Am Bauhaus fertigte Friedl Dicker unter ande-

rene Fanta, kam aus Wien. Friedl hatte keine

rem Buchbindearbeiten sowie Kinderspiel-

einfache Kindheit; ihre Mutter starb, als sie

zeug und erlernte die Technik der Lithografie.

erst vier Jahre alt war. Geschwister hatte sie

Ihr Lieblingsmaler Paul Klee wurde 1921

keine, so wurde sie liebevoll von ihrem

als Lehrer ans Bauhaus berufen. Ab da sah

Vater alleine großgezogen. Bereits in frühen

sie ihn täglich, schaute ihm beim Malen zu

Jahren entdeckte Friedl ihr kreatives und

und besuchte seine Vorlesungen über das

künstlerisches Talent. Im Papiergeschäft

Wesen der Kunst und die kindliche Fantasie.

ihres Vaters verbrachte das junge Mädchen

Die Bekanntschaft mit Klee und dessen

ihre freie Zeit neben der Schule und dort

Kunst beinflussten Friedl Dickers gesamtes

fand sie auch alles, um ihrer Fantasie und

Leben. Zu dieser Zeit arbeitete sie gemein-

Kreativität freien Lauf zu lassen – Ton, Stifte,

sam mit ihrem Freund Franz Singer auch

Farben und Papier. Sie ging in die Bürger-

in der Theaterabteilung des Bauhauses.179

schule für Mädchen und nahm von 1905 bis

Walter Gropius schwärmte über die junge

1907 an einem privaten Kinderzeichenkurs

Künstlerin: „Fräulein Dicker war in der Zeit

von Alfred Roller in Wien teil.175 Von 1912

vom Juni 1919 bis September 1923 Studie-

bis 1914 besuchte sie die Graphische Lehr-

rende des Staatlichen Bauhauses in Weimar.

und Versuchsanstalt in Wien, an der ab

Sie hat sich während dieser Zeit durch ihre

1908 auch Frauen offiziell zugelassen waren.

seltene und außerordentliche künstlerische

Im Anschluss daran studierte sie von 1915

Begabung stets hervorgetan und das beson-

bis 1916 an der Kunstgewerbeschule und be-

dere Augenmerk der ganzen Lehrerschaft

suchte die Werkstätte für Textil von Rosalia

auf ihre Arbeiten gerichtet. Die Vielseitigkeit

Rothansl.176 Um Geld dazuzuverdienen,

ihrer Begabung und ihre große Energie

arbeitete die junge Studentin fürs Theater,

hatten zur Folge, daß ihre Leistungen und

nähte Kostüme und stellte Requisiten

Arbeiten zu den allerbesten des Instituts

zusammen.177

gehörten und daß sie schon während ihrer

Von 1916 bis 1919 besuchte Friedl Dicker die

Studienzeit zur Tätigkeit als Lehrerin mit

private Kunstschule von Johannes Itten

herangezogen werden konnte. Als ehemali-

in Wien. Dort lernte sie auch Anny Wottitz

ger Leiter und Begründer des Staatlichen

und ihren späteren Geschäftspartner und

Bauhauses in Weimar verfolge ich mit

Freund Franz Singer kennen, die beide

großem Interesse die künstlerische Tätigkeit

ebenfalls bei Itten studierten. Als Johannes

des Fräulein Dicker.“180

Itten die Schule 1919 schloss und mit seiner

Nach ihrem Studium gründeten Friedl Dicker

Lehrtätigkeit am Bauhaus in Weimar begann,

und Franz Singer in Berlin die Werkstätten

MöbeldesignerInnen – Biografien

203


Bildender Kunst, die sich auf Spielsachen,

und heiratete ihn im Jahr 1936. Friedl, die

Schmuck, Buchbindearbeiten, Textilien,

sich von da an Brandeis nannte, war

Grafiken und vor allem auch auf Ausstattun-

in Prag weiterhin als Architektin und Möbel-

gen fürs Theater spezialisierten. 1925 zog

designerin tätig, ihre Arbeiten signierte

Friedl Dicker wieder zurück nach Wien und

sie mit „FB“. Sie entwarf Inneneinrichtungen,

eröffnete ein Atelier, wo sie Stoffe gestal-

renovierte Wohnungen gemeinsam mit

tete und Buchbindearbeiten übernahm. Bald

Karola Bloch und Greta Bauer-Fröhlich,

darauf folgte Franz Singer ihr nach und

einer ehemaligen Bauhaus-Studentin, und

ab 1926 arbeiteten sie gemeinsam in einer

entwarf Textilien in Zusammenarbeit mit

Ateliergemeinschaft in der Wasserburg-

Frieda Stork, Franz Singers Schwester. Außer-

gasse im Alsergrund. Bei den gemeinsamen

dem gab sie Zeichenkurse, bei denen sie

Projekten war Friedl Dicker in erster Linie für

auch kunsttherapeutisch arbeitete. Darüber

die Innenarchitektur und Möblierung sowie

hinaus war Friedl Brandeis zu dieser Zeit

für die Farbgestaltung und Stoffe und Franz

weiterhin an gemeinsamen Projekten mit

Singer für die Architektur zuständig. Im

Franz Singer in Wien beteiligt.184

Atelier fertigte Friedl auch Möbelstoffe,

Im Sommer 1938 übersiedelte sie mit ihrem

Teppiche und Tagesdecken in Handarbeit.

Mann nach Hronov, einer Kleinstadt in

Gemeinsam entwarfen sie zahlreiche Innen-

der Nähe der polnischen Grenze. FreundIn-

einrichtungen und innovative und vor allem

nen versuchten sie zur Emigration zu über-

multifunktionale Möbel. Die visionären

reden. Auch Franz Singer, der bereits nach

Entwürfe aus dem Atelier Singer & Dicker,

London gezogen war, wollte, dass sie dort-

bei denen der Bezug zum Bauhaus erkenn-

hin nachkam. Friedl Brandeis erhielt ein

bar war, wurden bald zum Inbegriff des

Visum für Palästina, doch nachdem ihr

modernen Möbeldesigns in Wien und auf

Mann keines bekam, blieb sie bei ihm. Am

zahlreichen Ausstellungen und in interna-

16. Dezember 1942 wurde sie gemeinsam

tionalen Zeitschriften wie Domus gezeigt.

mit ihrem Ehemann in das Konzentrations-

181

Die Zusammenarbeit und die Beziehung der

lager Theresienstadt deportiert. Pavel

beiden MöbeldesignerInnen war jedoch

Brandeis arbeitete dort als Zimmermann,

kompliziert und von privaten Konflikten ge-

Friedl Brandeis wurde Betreuerin in einem

kennzeichnet; sie hatten eine dramatische

der Mädchenheime in Theresienstadt.

Liebesbeziehung und kamen nicht von-

Sie organisierte geheime Zeichenkurse für

einander los. Franz Singer war seit 1921 mit

hunderte inhaftierte Kinder des Lagers

der Sängerin Emmy Heim verheiratet, mit

und arbeitete mit den Kindern auch als Kos-

der er einen Sohn hatte, der mit ca. zehn Jah-

tümbildnerin für ein Theaterstück, Käferlein.

ren starb. Nachdem sich Friedl Dicker

Sie hoffte, dass die Kinder durch den

von Franz Singer getrennt hatte, eröffnete

Kunstunterricht mit ihren Emotionen und

sie 1931 ihr eigenes Atelier in Wien. Zu

ihrer Umgebung besser umgehen können

dieser Zeit begann sie sich auch der Kunst-

würden. Selbst in Theresienstadt versuchte

pädagogik zu widmen; sie hielt Zeichen-

sie, mit ganz einfachen Mitteln die Räume

kurse für Kindergärtnerinnen und Kinder ab.182

„ihrer“ Kinder eine Spur angenehmer und

Friedl Dicker wurde 1931 Mitglied der Kommu-

wärmer zu gestalten – sie färbte mit ihnen ge-

nistischen Partei in Wien. Nach einer Haus-

meinsam die Bettwäsche und verzierte

durchsuchung 1934 in ihrem Atelier, bei

die Wände.185

der falsche Pässe gefunden wurden, wurde

Im September 1944 wurde Pavel Brandeis

Friedl Dicker verhaftet.183 Franz Singer

nach Auschwitz deportiert. Friedl bestand

intervenierte für sie und sie kam wieder frei.

darauf, bei ihm zu bleiben, und meldete sich

Nach ihrer Haftentlassung floh sie nach

freiwillig für den nächsten Transport, um

Prag, wo ihre Tante Adela Brandeis mit drei

ihrem Ehemann zu folgen. Bevor sie Theresien-

Söhnen lebte. Friedl Dicker verliebte sich

stadt verließ, übergab sie Raja Englande-

in ihren jüngsten Cousin Pavel Brandeis, der

rova, einer ihrer SchülerInnen, zwei Koffer

um knapp sieben Jahre jünger war als sie,

mit rund 4500 Zeichnungen der Kinder.

204

Friedl Dicker


Am 8. Oktober erreichte ihr Zug Auschwitz.

Groag, einem Neffen Jacques Groags, der

Einen Tag nach ihrer Ankunft, am 9. Oktober

ebenfalls dort inhaftiert war.188 Die Zeichnun-

1944, wurde Friedl Brandeis ermordet; sie

gen der Kinder aus Theresienstadt, die unter

war damals 46 Jahre alt.

der Leitung von Friedl Brandeis entstanden

186

Ihr Ehemann

Pavel Brandeis überlebte die Shoah. Ihr Vater

waren, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg

starb am 13. August 1942 in Theresienstadt.

in Ausstellungen auf der gesamten Welt

187

gezeigt. Sie befinden sich heute im Jüdi-

Raja Englanderova versteckte die Koffer mit den Kinderzeichnungen bis zur Befreiung

schen Museum in Prag und sind unauslösch-

von Theresienstadt und übergab sie Willy

liche Dokumente eines Lebens in Angst.189

02

01

01

Entwurf der Plastik Anna Selbdritt, Friedl Dicker,

Sammlung GS 02

Sessel aus Ahorn- und Buchenholz, teilweise rot lackiert,

mit Gurtbespannung, Entwurf: Friedl Dicker und Franz Singer,

03

Ausführung: Möbelfabrik Professor Hartmann, Wien um 1927, © MAK/Nathan Murrell 03

Zeichnung eines Armlehnsessels mit bunter, geflochtener

Bespannung von Friedl Dicker und Franz Singer, Sammlung GS

205


In den 1950er Jahren wurde er zu einem der bekanntesten MöbeldesignerInnen der brasilianischen Moderne. Mit einem abgeschlossenen Architekturstudium kam der 25-jährige Martin Eisler ohne Geld in Buenos Aires an und begann sofort, als Möbeldesigner zu arbeiten. Der Sohn des berühmten Wiener Kunsthistorikers Max Eisler wurde zu einem der führenden InnenarchitektInnen Argentiniens und Brasiliens und entwarf für Oscar Niemeyers Bauten die Einrichtung. Heute erzielen seine Möbel bei Auktionen Rekordpreise. 220


1913 – 1977 †

Architekt

Martin EISLER Wien Brasilia

Martin Eisler kam am 27. Oktober 1913 in Wien

weiter und eröffneten eine weitere Nieder-

Möbeldesigner

in einer jüdischen Familie zur Welt. Sein

lassung in Buenos Aires, die bis heute unter

Unternehmer

Vater Max Eisler, ein bekannter Professor

dem Namen Interieur Forma tätig ist.231

für Kunstgeschichte an der Universität

Eisler war von den brasilianischen Tropen-

Wien, Gründungsmitglied des Österreichi-

hölzern sowie von modernen Lackier- und

schen Werkbundes, Publizist und über-

Beschichtungstechniken auf Holz, Glas

zeugter Zionist, war verheiratet mit Elsa,

und Bronze begeistert, die er oft bei seinen

geborene Tieber.

Entwürfen verwendete. Ende der 1950er

227

Max Eisler war eng mit

Oskar Strnad und Josef Frank befreundet

Jahre wurde Knoll International auf ihn auf-

und durch seine vielen Beiträge über mo-

merksam. Das Unternehmen verkaufte

dernes Wohnen das Sprachrohr der Neuen

Eislers Möbelentwürfe in den Vereinigten

Wiener Wohnkultur. Martin Eisler, der durch

Staaten und verhalf dadurch dem Designer

sein familiäres Umfeld schon früh mit Kunst-

zu internationaler Bekanntheit. Zur glei-

und Designtheorie in Berührung kam, stu-

chen Zeit erreichte auch der Bauboom in

dierte ab 1931 Architektur bei Oskar Strnad

Brasilia seinen Höhepunkt und Eisler stat-

an der Kunstgewerbeschule, die er 1934 mit

tete in Kooperation mit dem brasiliani-

einem Diplom abschloss.228

schen Architekten Oscar Niemeyer zahl-

Sein Vater starb im Dezember 1937 in Wien

reiche Bauten mit den von ihm entworfenen

und kurz danach, im März 1938, floh der

Möbeln aus. Zu Eislers bekanntesten

junge Architekt vor den Nazis nach Argenti-

Entwürfen zählen die Stühle Reversível und

nien. Eisler kam nach einer langen Flucht

Costela, die mit dem Compasso d’Oro,

ohne Geld in Buenos Aires an und begann

einem von Gio Ponti ins Leben gerufenen

sofort, als Möbeldesigner zu arbeiten.

Designpreis, ausgezeichnet wurden.232

229

Bereits 1940 stellte er seine Entwürfe bei

Martin Eisler heiratete im Exil die aus Stuttgart

einer Designausstellung der Mueller

stammende Rosl Wolf, deren gesamte

Gallery aus. Gemeinsam mit Arnold Hakel

Familie aus Deutschland vor den Nazis

gründete Eisler 1945 die Firma Interieur,

ebenfalls nach Buenos Aires geflohen war.

die Möbel der beiden Designer verkaufte.

Die beiden bekamen zwei Kinder, Ruth

Anfang der 1950er Jahre lernte Martin Eisler

und Alberto. Martins Mutter Elsa Eisler

bei einer Reise nach Brasilien den aus

wurde am 23. September 1942 im Alter von

Italien stammenden Möbeldesigner Carlo

50 Jahren im Vernichtungslager Treblinka

Hauner kennen und 1955 gründeten die

ermordet. Das Ehepaar kehrte nie wieder

beiden in Brasilia das Möbeldesign-Unter-

nach Wien zurück. Martin Eisler starb

nehmen Forma.230 Carlo Hauner ging Ende

am 21. April 1977 im Alter von 63 Jahren in

der 1950er Jahre zurück nach Italien und

Brasilia.233

verkaufte seine Firmenanteile an Eisler. Martin Eisler und sein Schwager Ernesto

Seine Möbel werden heute von der italienischen Firma Tacchini neu herausgebracht.234

Wolf führten Forma in Brasilien erfolgreich

MöbeldesignerInnen – Biografien

221


01

Reversível Chair, Entwurf:

Martin Eisler, Brasilien um 1950, Ausführung: Tacchini, © Tacchini/Andrea Ferrari 02

Shell Lounge Chair,

Entwurf: Martin Eisler, Brasilien um 1955 © H. Gallery 03

Sideboard, Entwurf:

Martin Eisler und Carlo Hauner für Forma, Brasilien um 1950, © Dorotheum Wien, 2018 04

Costela Chair, Entwurf:

Martin Eisler, Brasilien um 1953, Ausführung: Tacchini, © H. Gallery 05

01

Costela Chair, Entwurf:

Martin Eisler, Brasilien um 1953, Ausführung: Tacchini, © Tacchini/Andrea Ferrari 06

Coffee Table, Entwurf:

Martin Eisler, Brasilien um 1950 © H. Gallery

01

01

222

02

Martin Eisler


03

04

05

06

MöbeldesignerInnen – Biografien

223




260


2

Das Haus der hundert Stiegen – die Villa Beer

In der fast 650 Quadratmeter großen Villa in Hietzing verwirklichten die beiden Architekten Josef Frank und Oskar Wlach zu Beginn der 1930er Jahre ihre Philosophie des offenen Raumkonzeptes und einer harmonischen Verbindung von Haus und Garten. Unterschiedliche Raumhöhen, übergroße Fenster, unzählige Stiegen und ein atemberaubender offener Wohnraum machen die Wege durch das Haus zu einem einzigartigen Erlebnis. Das Zentrum der Villa ist wie ein Schiffbug samt Reling gestaltet. Im ersten Stock stand der Flügel der ehemaligen Hausherrin Margarethe Beer; sie war eine begeisterte Pianistin und ihr Klavierspiel sollte man von überall hören können. Josef Frank und Oskar Wlach planten das gesamte Haus, die Innenarchitektur und den Garten und richteten dieses mit Möbeln und Stoffen von Haus & Garten ein. Die komplette Raumgestaltung bis hin zu einzelnen Möbeln blieben im Original erlinks Durch die über-

halten – sämtliche Treppen, Badezimmer, Küchenre-

dimensionalen, im Original

gale, Wandverbauten oder Türschnallen stammen

erhaltenen Fenster scheint man im Haus Beer förmlich im Garten zu leben. Die Fensterbank sowie der Fauteuil von Haus & Garten sind aus dem Jahr 1931.

aus Josef Franks und Oskar Wlachs Federn. Lange Zeit stand die Villa Beer leer. 2021 fand sie mit Lothar Trierenberg einen neuen Eigentümer, der nun das Haus zu einem einzigartigen Museum umgestalten möchte.

Einblicke in Wohnungen, Häuser & Cafés

261


oben Der offene Wohnraum mit Treppe im Haus Beer unten Der Teesalon im ersten Stock des Hauses Beer mit einem runden Fenster; unmittelbar daneben stand der Konzertflügel der ehemaligen Hausherrin. rechts Der offene Wohnraum, wie ein Schiffbug samt Reling gestaltet, verbindet sämtliche Wohnräume und den ersten Stock.

262


Einblicke in Wohnungen, Häuser & Cafés

263


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.