Nord & Süd

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Nummer 1  −  2012

Nord & Süd

Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol


Mar c o An g e lu c c i M i c h i l C o s ta G e o r g ES D e s r u e s F e li c e E s p r o C h r i stian F e lb e r I s a b e l T e u ff e n b a c h Lo r e n z Gallm etz e r K a r l - M a r k u s G a u SS J o han n e s I n d e r st F r an z Kรถ s s le r Marti n Lar c h F r a n c e s ca M e l a n d r i R o b e rt M e nas s e Wa lt r a u d M i t t i c h S t e fa n N i c o l i n i Gab r i e la O b e r ko f le r c h r i stian p f e i f e r Han s-Pete r R i e s e M i c hae la S e i s e r

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To n i Vi s e nti n i Te r e sa Vo g l S u s a n n e Wa i z

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J o s e p h vo n We stp hale n

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S t e fa n o Z a n g r a n d o

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Nummer 1  −  2012  −  Nord & Süd  Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol



Nummer 1  −  2012

Zentrum und Peripherie w e i t w e g w o v o n ?


Inhalt 8 Heute

Rand, morgen Mitte

Der Schriftsteller Karl-Markus Gauß sucht nach der Mitte Europas.

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Fließend Deutsch und warmes Wasser

Südtirol als Ziel der deutschen Identitätssuche aus der satirischen Perspektive des Schriftstellers Joseph von Westphalen.

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Johannes Inderst erkundet die winterliche Landschaft des Moränenhügels zwischen Bozen und dem Kalterer See.

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Die Persönlichkeit des Stuhls

Die Stühle des Designers Konstantin Grcic und des Südtiroler Möbelbauers Michael Plank erobern die Designmuseen. Ein Unternehmerporträt von Franz Kössler.

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Dazwischen

Übersetzer sind Vermittler zwischen den Kulturen. Ein Appell des Übersetzers Stefano Zangrando.

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Macht und Ohnmacht

Kann sich regionale Wirtschaftspolitik in Europa von nationalen Ökonomien abheben? Einsichten des Abteilungsleiters im Bereich Wirtschaftspolitk bei der Europäischen Kommission Martin Larch.

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Handelsstadt mit historischer DNA

In Bozen kreuzen sich seit jeher die Handelswege zwischen Deutschland, Österreich und Italien, schreibt Wirtschaftsjournalist Felice Espro.

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Grenzsteinzeit

Ein Grenzstreit in der grenzenlosen EU: Der Schriftsteller Robert Menasse begibt sich mit Bergsteigerlegende Reinhold Messner auf Ötzis Spuren.

Schön kann auch klug sein

Südtirol ist am Anfang seines Weges zum „Wissensland“, prophezeit in seinem Beitrag der Wirtschaftsjournalist Christian Pfeifer.

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Am Mitterberg

Zukunftstechnologien für das Hochgebirge

Am Weltmarkt bestehen: Journalist Marco Angelucci über spezialisierte Kleinbetriebe, die neue Formen der Zusammenarbeit erproben.

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Die gelben Monster

Schlafend und hässlich. Der Hotelier und Umweltschützer Michil Costa aus Corvara reflektiert über Segen und Fluch der Schneekanonen.

4 8

Vom Feld zur Landschaft

Die Südtiroler Landwirtschaft zwischen Lebensmittelproduktion und Landschaftspflege in einer Analyse des Publizisten Stefan Nicolini.

5 4

Die Kirche ist aus dem Dorf gefallen

Eine grafische Erinnerung der in Stuttgart lebenden Künstlerin Gabriela Oberkofler an ihre Heimat Jenesien bei Bozen.

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Wirtschaftsbauten und Kulturlandschaft

Die Architektin Susanne Waiz zeigt zeitgenössische Konzepte zur Revitalisierung landwirtschaftlicher Gebäude.


Nummer 1  −  2012  −  Nord & Süd  Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol

6 3 Südtirol

hin und zurück

Südtirols Wirtschaftslandesrat Thomas Widmann zu Chancen und Grenzen der Mobilität in Südtirol, interviewt vom Journalisten Lorenz Gallmetzer.

67 Lob

der Straßen

Auf Umwegen

Die Erfolgsautorin Francesca Melandri versucht, die komplexe Seele Südtirols zu ergründen.

74 Aktualität

und Tradition

Der Kölner Kunstkritiker und Kunstsammler Hans-Peter Riese über die Skulpturen des Grödner Bildhauers Walter Moroder.

76 Experimentieren

als Hauptberuf

Die ganze Welt klingt, sagt Manuela Kerer. Die Brixner Komponistin porträtiert von der Kulturjournalistin Teresa Vogl.

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Der Hunger der Stadt

Die Küche als Schauplatz der Begegnung der Kulturen in einem Erfahrungsbericht des Slow-Food-Experten Georges Desrues.

8 4

Schöne neue Arbeitswelt

Die Folgen der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft für Südtirol. Betriebswirtin Isabel ­Teuffenbach interviewt den Arbeitsexperten Werner Pramstrahler.

8 8 Teilen

Wohlstand durch Wettbewerb

Die FAZ-Korrespondentin Michaela Seiser lobt die Liberalisierungspolitik der italienischen Regierung Monti und den freien Wettbewerb.

9 0 Lasst

Straßen mit neuen Aufgaben: Ein literarischer Zugang der Schriftstellerin Waltraud Mittich.

6 8 Rom − Südtirol.

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statt trennen

Der globalisierungskritische Theoretiker der Gemeinwohl-Ökonomie, Christian Felber, warnt vor den Folgen ungehemmter Konkurrenz.

sie doch siegen

Die Identitätsprobleme Südtiroler Sportler unter Italiens Flagge analysiert vom italienischen Journalisten Toni Visentini aus Bozen.

9 6 Sehr

geehrte Leserin, sehr geehrter Leser

Abschließende Überlegungen des Chefredakteurs der diesjährigen Ausgabe von Nord & Süd, Franz Kössler.


K AR l - M a r k u s G a u SS

a u s

Heute Rand, morgen Mitte

b l i c k

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Mehr als zehn Gemeinden in verschiedenen Ländern streiten seit Jahren um den Ruhm, dass sich die Mitte Europas auf ihrem Gebiet befinde. Um Gewissheit zu schaffen, hat sich das Nationale Geografische Institut von Frankreich die europäischen Koordinaten noch einmal vorgenommen und festgelegt, dass das Herz Europas exakt dort schlägt, wo sich 25 Grad und 19 Minuten Länge mit 54 Grad und 54 Minuten Breite schneiden, und das ist eine halbe Autostunde nördlich der litauischen Hauptstadt Vilnius, unweit eines Städtchens namens Moletai. Diese Verortung wurde sogleich angefochten, von Orten in der Slowakei und in Slowenien, von Wissenschaftlern und Mythologen, sodass wir getrost davon aus­ gehen können, dass Europa, solange es existiert, keine Mitte haben wird, auf die sich alle beziehen, sondern mehrere Mitten, die sich ihren Rang gegen­seitig ab­ sprechen. Eines haben die konkurrierenden Mitten aber gemein, dass sie nämlich nicht dort zu finden sind, wo die nationalen Zentren liegen, und keineswegs mit den wirtschaftlichen oder politischen Metropolen zusammenfallen. Nein, die Mitten Europas liegen allesamt — in der Provinz. Tief ist die Provinz dort, wo Provinzler Provinzler verächtlich beschuldigen, Provinzler zu sein; den wahren Provinzler bestimmt nichts so sehr wie seine ­pan­ische Furcht, womöglich für einen gehalten zu werden. Dabei hat der Gegen­­ satz von Zentrum und Peripherie schon seit der Erfindung der Eisenbahn an Be­­ deutung verloren, und dank der neuen Kommunikationstechnologien ist er obsolet geworden. Längst sind die Ränder hereingebrochen in die Mitte, in die Mitten, was man auch daran erkennen kann, dass Metropolen aus lauter Kleinstädten und Dörfern zu bestehen pflegen und mitunter sogar in uralt-neue Stammesreviere zerfallen. Metro­polen wären keine, würden sie sich in ihrem Hunger nicht unab­lässig Talente aus den Provinzen einverleiben. So provinzialisieren sie sich selbst und mehren doch zugleich ihre innere Vielfalt. Umgekehrt ist die Peripherie kein stiller Winkel mehr, in dem sich die Rückständigkeit als Idylle genießen ließe: Was immer in der großen Welt an Verheerungen erprobt wird, wirkt sich ver­heerend auch in der ­kleinen aus. Besteht also gar kein Unterschied zwischen Weltstadt und Krähwinkel, sind Zentrum und Peripherie alles eins geworden? Keineswegs. Was an den Rändern erfunden und rebellisch erprobt wird, muss sich, um nicht unbeachtet zu ­bleiben, auch weiterhin in der Mitte behaupten und durchsetzen. Nur ist die Mitte kein fes­ ter Ort mehr, sondern gewissermaßen in Bewegung geraten: Wo heute noch Rand ist, wird morgen schon Mitte sein. Das wiederum braucht nur zu fürch­ten, wer es sich in den Festungen der Zentralmacht gemütlich eingerichtet hat und glaubt, die Geschichte hätte ausgerechnet mit ihm schon ihr glückliches Ziel erreicht.

a u s b l i c k

Karl-Markus Gauß (*1954), Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Aktuelle Buchveröffentlichungen: „Im Wald der Metropolen“ (Zsolnay, 2010), „Ruhm am Nachmittag“ (Zsolnay, 2012).

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Ka r l - M a r k u s Ga u ss


J o s e p h vo n We stp hale n

Fließend Deutsch und warmes Wasser In Deutschland gehörte es lange zum guten Ton, zumindest zum linksintellektuellen, sich nicht deutsch zu fühlen oder fühlen zu wollen. In halbwegs selbstkritischen Kreisen wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs alle Anwandlungen von nationalem Stolz unterdrückt, verleugnet und als nazinah geschmäht. Ein natürlicher Reflex auf die große deutsche Schuld. Schon das Wort „deutsch“ war einem zu viel, man sagte lieber „bundesrepublikanisch“. Nach der Wiedervereinigung allerdings war das Wort „Deutschland“ nicht mehr zu vermeiden. Nachbarn, die erst Angst vor einem in der Mitte Europas übermächtig zusammengewachsenen Land hatten, lächelten bald über die deutsche Sorge, zu großspurig dazustehen, und klopften uns ­genervt auf die Schulter: Ihr wart zwar furchtbar als Hitlers Mitläufer und seine willigen Vollstrecker, aber jetzt könnt ihr langsam normal werden und ein bisschen Nationalbewusstsein zulassen, sonst werden nur eure widerlichen Neonazis lauter. „Genau“, sagten die deutschen Konservativen. Endlich Wasser von außen auf ihre Mühlen. Die alten pubertären Zeiten der nationalen Identifi­ kationsverweigerung aber waren nicht die schlechtesten. Es war noch nicht Mode, den nationalen Zuschreibungen ­auszuweichen und zu behaupten, man sei in erster Linie Europäer. In Deutschland beziehungsweise der Bundes­re­ publik, und vermutlich nirgendwo sonst auf der Welt, wurde auf Partys zu vorgerückter Stunde spielerisch diskutiert, was man denn lieber wäre als Deutscher. Keinesfalls imperialer Ami. Natürlich auch kein armer Pole oder der drang­ salierte Bürger eines anderen Staates des sich auflösenden Ostblocks. Finne? Däne? Belgier? Das wäre dann doch zu blass. Schweizer? Zu satt und selbstzufrieden. Franzose? Zu selbstverliebt und arrogant. Österreicher? Auch nicht viel besser als die Deutschen, und was die Ver­gangen­­heits­ bewältigung betrifft, hinken sie peinlich hinterher. Medi­­ terraner Südländer? Das wäre schon was, aber da fehlt ­ei­nem als schlichtem Germanen dann doch das Tempera­ ment, um glaubhaft den Spanier oder Italiener geben zu können. Und dann kam die rettende Idee, die ideale Lösung der kniffligen Frage: Nicht schlecht, wenn man Südtiroler wäre. Schöne Gegend, man kennt viele Plätze, wo man sich wohlfühlt, wo man mühelos heimatliche Gefühle entwickeln könnte. Südtirol scheint dem Betrachter von au­ ßen offener als die irgendwie enge und sich abschottende Schweiz und nicht so tanzbodenhaft lustig, wie es das

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­ sterreichische Tirol — zumindest dem Volkslied und dem ö Kli­schee nach — ist. Und dann die Leidensgeschichte. Die historischen Narben. Auch die sind prägend und bilden den Charakter. Die Geschichte der Südtiroler Berge und Täler ist bis in die jüngere Vergangenheit gezeichnet von Gift und Galle, Schikanen und Denunziation, Feindschaft und Aussöhnung. Wahrlich genügend Zwänge und Grau­sam­ keiten, aber eben nicht der ganz große Horror, wie er in ­Nazideutschland herrschte. Und schönere Widerstands­ geschichten. Partisanen kennt die schreckliche deutsche Geschichte nicht. Vor allem verlockend: in erster Linie einer Region anzugehören, nicht einer Nation, keine dumpf ­gehorsame Volksmasse zu bilden, sondern eine vergleichsweise aufmüpfige Volksgruppe (die sich die blühende Fan­ tasie der Außenstehenden gern als eine aparte Mischung von alpinen Einzelgängern à la Ötzi vorstellt) — das scheint dem von der eigenen völkischen Tätergeschichte geplagten Deutschen als eine geradezu elegante Lösung. Autonomie, wie hart sie erkämpft wurde und wie glanzlos sie im All­ ­tag auch aussehen mag, klingt in deutschen Ohren unglaublich romantisch. Und dann die Zweisprachigkeit. Wenn die Südtiroler zwischen dem Deutschen und Italien­ischen leicht und locker hin- und herschwingen und dann womöglich noch einen Schlenker ins Ladinische machen, kommt sich der unpolyglotte Deutsche schwerfällig und ­unbegabt vor, wie ein Lurch auf Urlaub, der den einheim­ischen Berg­ dohlen zuschaut und auch gern fliegen können würde. Eine Bevölkerung, in der zwei bis drei Sprachen ­gesprochen werden, ist schon wegen dieser Vielfalt unprovinziell und hat mehr Horizont als die weite amerikanische Prärie. Fast alle Bewohner von Gebirgsgebieten bezeichnen den Rest der Welt als „draußen“ — so auch viele Südtiroler. Das klingt ein bisschen so, als seien sie in ihren Tälern ­ein­gesperrt. Pure Koketterie. Man begegnet ihnen überall. Sie rennen im Himalaja herum, betreiben Edelrestaurants in Schanghai und Farmen in Neuseeland oder spielen Gi­tarre in Londoner Rockbands. Und wenn sie von der gr­o­­ßen Welt genug haben, verlassen sie ihre Umlaufbahnen und kehren zurück zu ihrem beneidenswert wohnlichen Mit­telpunkt der Erde. Leider sind auch Südtiroler nur Men­schen, und wenn sie „draußen“ gelernt haben, wie man Geschäfte macht und optimiert, wollen sie auf die erworbene Tüchtigkeit nicht ver­zichten. Dann werden Schnee­kanonen in Flötentönen als Nachhaltigkeitsmaschinen ­eines sanften Tourismus besungen, und in den Kellern der kleinsten Hotels werden in vorauseilendem Gehorsam quadratkilometergroße Wellnessbereiche eingerichtet, um den vermeintlichen Bedürfnissen der Touristen entgegen­zukommen. Gerade als Liebhaber der Südtiroler Natur aber wünscht man sich angesichts all der millionenfachen Sportund Entspannungsangebote manchmal Hotels, die von grim­migen Freiheitskämpfern geführt werden. Sie schütteln frech den Kopf, wenn Reisende sich nach den Verwöhn­­­ programmen erkundigen. „Whirlpool?“ — „Whirl-was?“ Dann deuten sie sardonisch grinsend auf ein vorsint­­flut­ liches Email­­leschild neben der Eingangstür: „Zimmer mit fließendem warmen und kalten Wasser.“ Joseph von Westphalen (*1945), Schriftsteller und Satiriker in München. Letzte Veröffentlichung: „Aus dem Leben eines Lohnschreibers“ (Luchterhand, 2009).

F l i e S S e n d D e u t s c h u n d wa r m e s Wass e r


Illustration: Crist贸bal Schmal

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J o s e p h v o n W e s t p h al e n


F r an z Kö s s le r

Den größten Teil seines wachen Lebens aber verbringt der urbane Mensch sitzend, auf einem Stuhl. Der Stuhl hat seinen Platz in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft und er spiegelt ihren Fortschritt wider.

c h a n c e n e r k e n n e n

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d i e p e r s ö nl i c h k e i t d e s s t u h ls

c h a n c e n e r k e n n e n

Kein Möbelstück ist so anthropomorph wie ein Stuhl. Er hat Beine, er hat einen Rücken, zuweilen Arme und Ellen­bogen und immer eine Fläche für das Hinterteil. Er kann beweglich sein oder steif, freischwingend oder schaukelnd, bequem, zum Verweilen einladend oder funktional für die Arbeit am Computer. Einen guten Teil seiner Lebenszeit verbringt der Mensch ruhend im Bett. Den größten Teil seines wachen Lebens aber verbringt der urbane Mensch sitzend, auf einem Stuhl. Der Stuhl hat seinen Platz in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft und er spiegelt ihren Fortschritt wider. Von den vermutlich etwas harten steinernen Sitzen der Prähistorie bis zu den bequemen Sesseln in der Fernseh­ ecke unserer Wohnzimmer erzählt er von der Entwicklung der Zivilisation. Auf ornamentalen, unbeweglichen Thronen herrschten die Fürsten der Renaissance. Auf nüchternen, beweglichen Bürosesseln lenken die Manager der Großkonzerne die Geschicke der globalisierten Welt. Die Ästhetik der Stühle ist das Spiegelbild der Ästhetik der Macht. Ein Stuhl — sagt der deutsche Stardesigner Konstantin Grcic — hat immer einen Charakter, er hat vier Beine, er hat ein Gesicht, er hat eine Persönlichkeit und er verändert sich mit der Gesellschaft. Stühle sind wie Menschen, ein jeder ist verschieden, manchmal nur im Detail, manchmal aber gibt es wahre Sprünge in ihrer Typologie und ihrer Funktion. Konstantin Grcic, Jahrgang 1965, ist in München geboren, der Vater ist Serbe, die Mutter Deutsche. Vor ein paar Jahren schon hat ihn eine Jury international führender Designexperten für die Kunstzeitschrift Art zum größten ­lebenden Designer gekürt, noch vor international so profilierten Meistern des Fachs wie dem Franzosen Philippe Starck oder dem Deutschen Dieter Rams. Mit seinen kantigen, oft sperrigen und dabei immer erfindungsreichen ­Entwürfen — schreibt Art in der Begründung für die Auszeichnung — wurde Grcic zum bekanntesten deutschen ­Industriedesigner seiner Generation. In den 1980er-Jahren machte er eine Schreinerausbildung und absolvierte dann das Designstudium am Royal College of Art in London, arbeitete mit einem der führenden englischen Möbeldesigner, Jasper ­Morrison, und betreibt jetzt in München sein eigenes Stu­­dio. Die Stühle, die er entworfen hat, werden in den ­führenden Museen angewandter Kunst der Welt ausgestellt, von New York bis Kopenhagen, von London bis Kapstadt. Ein Stuhl entsteht jedoch nicht allein im Kopf des Designers. Niemand ist heutzutage mehr im Besitz einer fertigen Idee. Das Projekt muss vielmehr im Dialog zwischen Produzent und Designer entstehen — schreibt Grcic in „How to Design a Chair“, einer Publikation des Londoner Design Museums —, auf der Basis gegenseitigen Verstehens und Vertrauens. „It’s like a love affair“, meint der Star­

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designer. Es ist also wie eine Liebesbeziehung, in der man einen guten Partner braucht. Und Grcic sinngemäß weiter: Wenn man sich die Firmen anschaut, die in letzter Zeit die guten oder wichtigen oder interessanten Stühle hergestellt haben, so sind es immer diejenigen, die Substanz haben und über fachlichen Hintergrund verfügen. Der Entwurf eines Stuhls ist ein anspruchsvolles Projekt. Grcic hat seinen idealen Partner in einem alteingesessenen kleinen Südtiroler Möbelproduzenten aus Auer gefunden, wenige Kilometer südlich von Bozen. Der Betrieb blickt auf eine mehr als ein Jahrhundert lange Familiengeschichte zurück. Der Tischler Karl Plank gründete die Firma 1893 in Bozen und machte sich als Hersteller robuster rustikaler Holzmöbel, Bauernstuben, Stühle und Kommoden einen Namen. Es gibt kaum ein traditionelles Landgasthaus in Südtirol, das nicht mit Plank-Stühlen oder ihren Nach­ ahmungen ausgestattet worden wäre. Der Familienbetrieb entwickelte sich von Generation zu Generation, ging an den Sohn Karl jun. über, 1979 übernahm Enkel Martin die Führung; jetzt bestimmt Urenkel Michael die Geschicke der Firma und hat sie in eine ganz neue Richtung gelenkt.

Von links nach rechts: Konstantin Grcic, Martin Plank, Biagio Cisotti und Michael Plank diskutieren letzte Details. Foto: Konstantin Grcic Industrial Design

Im Wechsel der Generationen wuchs der Handwerksbetrieb zu einem Industrieunternehmen an, in den besten Jahren wurden an die 60.000 Bauernstühle produziert, nicht mehr als fünf verschiedene Modelle für einen relativ eingeschränkten Kreis von Kunden. 1968 verlagerte Martin Plank die Produktion aus dem Bozner Stadtgebiet nach Auer, einer kleineren Ortschaft inmitten von Obstplantagen und Weinbergen, direkt an der Verbindungsachse zwischen dem Norden Europas und Italien gelegen, unmittelbar an Eisenbahnstrecke und Autobahn. Die nüchterne, funktionale Fabrikanlage des Südtiroler Architekten Othmar Barth besticht noch heute durch ihre ästhetisch perfekte Einbindung in die ländliche Umgebung. Sie war so angelegt, dass sie den kompletten Produktionszyklus unter ihrem Dach vereinen konnte: von der Brettware aus dem Sägewerk über die Serienproduktion bis zum fertigen Stuhl.

F r an z K ö ssl e r


Die geopolitischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts, das Fallen der Handelsschranken innerhalb der Europäischen Union, die Öffnung des Ostens in Europa und die Globalisierung der Weltmärkte haben auch Südtirol erreicht und den Möbelproduzenten zu grundlegenden Entscheidungen gezwungen. „Wir standen vor der Alter­ native“, begründet Michael Plank die Neuorientierung des Unternehmens, „entweder auf Massenproduktion mit möglichst niedrigen Preisen zu setzen, ein aufwendiges inter­ national verzweigtes Vertriebsnetz aufzubauen und einen möglichst großen Umsatz zu erreichen. Oder aber uns durch ein einzigartiges, herausragendes Produkt von der Konkurrenz abzuheben und mit einer eigenen Vision die­ jenigen Konsumenten anzusprechen, die jenseits der Massenproduktion nach dem Besonderen suchen, nach Ästhetik und nachhaltiger Qualität.“ „Wir sind keine Postleitzahl“ Michael Plank hat die nötigen Voraussetzungen, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Als 13-Jähriger verließ er seinen Heimatort, absolvierte eine Handwerks­ ausbildung zum Tischler an der österreichischen Fach­ hochschule für Möbelbau in Imst und studierte dann Wirtschaftswissenschaften an der Universität Innsbruck. Wäh­ r­end der Studienjahre nutzte er jede Gelegenheit, Kopf und Nase in die große Welt zu stecken, zuerst als Aus­tausch­­ student in Kanada, dann in den USA, wo er in einem internationalen Industriekonzern Erfahrungen in Marketing und Management sammelte. Schließlich entdeckte er seine Leidenschaft für die künstlerische Welt des Designs und studierte an der einschlägigen Hochschule in Mailand. Es ist diese Welt, die ihn persönlich am stärksten fasziniert und geprägt hat. Bei unserem Gespräch ist der jetzt Vierzigjährige — verheiratet und Vater von zwei Söhnen —, lässigelegant in Schwarz gekleidet, mit Halstuch und mo­dischen Schuhen: Er liebe schöne Produkte und gute Qualität, betont er. Sie seien zwar teurer, dafür aber auch besser und von längerer Haltbarkeit, was die Preisdifferenz am Ende wieder ausgleiche. Es ist nicht schwer zu erraten, welchen Weg er für sein Unternehmen gewählt hat. Die industriellen Produktionsmaschinen für Holzmöbel wurden 2004 nach Rumänien verkauft. In der weiten Halle stapeln sich jetzt große braune Kartons, säuberlich beschriftet, zum Versand bereit. In großen Lettern stehen die Destinationen geschrieben: Australien, Südkorea, Japan, USA, Brasilien, Neuseeland. In fünfzig Länder exportiert die Firma heute ihre Stühle. Die Produktion ist zu einem großen Teil ausgelagert, ein Fünftel wird noch selbst gefertigt. In Arzignano, in der benachbarten Region Venetien, die über eine lange Tradition moderner, spezialisierter Kleinindustrien verfügt, stehen die großen, hochtechnologischen und teuren Werkzeugmaschinen der Zulieferer, mit denen die Teile gefertigt werden. In der Halle in Auer werden sie von Fachleuten zum fertigen Möbelstück montiert. Hier kommen schließlich handwerkliche Fertigkeit und Familientradition zusammen. „Wir sind nicht nur eine Postleitzahl; hinter dem Betrieb stehen Geschichte und Erfahrung einer kleinen Gruppe von fünfzehn hoch qualifizierten Mitarbeitern und die ungebrochene Tradition unserer Familie: Urgroßvater,

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c h a n c e n New Yorker Bauarbeiter auf dem Barhocker Miura. Foto: Florian Böhm

Großvater, Vater und jetzt ich“, sagt Michael Plank. „Unsere Leidenschaft und unsere Genugtuung ist eine ­qualitativ hochstehende Produktion. Wir stehen nicht unter dem Druck großer Betriebe, unseren Umsatz ständig erhöhen zu müssen.“ Für den Markt jenseits der anonymen Massenproduktion stellt der Familiencharakter des Betriebs auch einen kommerziellen Vorteil dar. Die Kunden, die nach dem besonderen Möbelstück suchen, schätzen auch den direkten persönlichen Kontakt mit dem Eigentümer und dessen spürbaren Einsatz und Leidenschaft. Sein Vater, betont Michael Plank, habe ihm ein wichtiges Lebensmotto vorgegeben: Mach deine Arbeit so, dass sie dir auch per­­sön­lich gefällt und Freude macht und dass sie sich an Qualität und Dauerhaftigkeit orientiert — der wirtschaftliche Erfolg stellt sich dann von selbst ein. Die Wege des Südtiroler Möbelbauers Plank und des international renommierten Designers Grcic kreuzten sich vor neun Jahren auf der Möbelmesse in Mailand und es entstand sofort, erinnern sich beide Partner übereinstimmend, eine spontane persönliche Sympathie und eine fachliche Verständigung über gemeinsame Visionen. „Designer sind sensible Menschen“, sagt Michael Plank, „man muss sie ­verstehen, sich auf sie einlassen, ihre Vision annehmen und ihr folgen. Alles andere kommt danach, die Computerentwürfe, die dreidimensionalen Darstellungen, die Material­

D i e P e r s ö nl i c h k e i t d e s S t u h ls

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stellten den Barhocker aus Auer in die Reihe der richtungsweisenden Neuerungen im Möbeldesign. Auch der wirtschaftliche Erfolg stellte sich schrittweise ein: Anfangs wur­ ­den an die sechstausend Hocker jährlich verkauft, jetzt hat sich der Rhythmus auf 15.000 beschleunigt — insgesamt wurde Miura bisher 75.000 Mal verkauft. Der Erfolg hat auch seinen Preis. Chinesische Möbelbauer haben das Modell präzise nachgebaut, in Verletzung der Urheberrechte, mehr noch: Sie nehmen die Urheberschaft für sich selbst in Anspruch. Gerichtlich gegen das Plagiat vorzugehen ist in China ein kostspieliges und meist hoffnungsloses Unterfangen. Doch sein Verkauf in anderen Ländern kann gerichtlich unterbunden werden. Ein Test beweist, wie unvergleichbar Imitat und Original sind. Der Hocker aus Planks Werkstatt ist mit bis zu sechshundertneunzig Kilogramm belastbar, die chinesische Nachahmung geht bei hundert Kilo in die Knie. Trotz der Hilfe des Computerdesigns ist der Entwurf eines neuen Stuhls ein sehr viel materiellerer Prozess, als ein Laie glauben möchte. Da werden Prototypen gebaut, da wird bemalt und geklebt, belastet und berechnet. Und nicht zuletzt wird Probe gesessen, denn die Erfüllung eines Stuhls liegt noch immer in seiner Funktion, dem Benützer einen bequemen Sitzplatz zu bieten. Material, Funktion und Ästhetik müssen zu einer Einheit verschmelzen, in einer symbiotischen Zusammenarbeit von Designer, Möbelhersteller und Kunststoffproduzent. Am Beispiel des

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simulationen, die Identifikation der Brechpunkte und schließlich die Auswahl des Materials.“ Das erste Ergebnis der Zusammenarbeit ist im Jahre 2005 ein Barhocker aus Kunststoff. Er trägt den Namen Miura und auf den ersten Blick würde man ihm nicht zutrauen, wie bequem man auf ihm sitzen kann. In den Bildern des deutsch-amerikanischen Fotografen Florian Böhm, der die bunten Hocker spontan auf Straßen, Baustellen und in Alltagsszenen New Yorks platziert hat, erinnern sie an große Vögel. Geheimnisvoll unbeweglich stehen sie mitten im Großstadtgetümmel, bis sich dann Bauarbeiter und Geschäftsleute zur Mittagspause auf sie setzen, Studenten sie unter ihren Arm nehmen und Fensterputzer sie als Leiter benützen, um auch höhere Schaufenster zu erreichen. Dann zeigt sich, was der Hocker alles kann und wie belastbar er ist. Trotz der aufsehenerregenden äußeren Formen des Möbels betonen Designer und Produzent einstimmig, dass der Gebrauchswert den Vorrang vor der Ästhetik haben muss, dass Funktion vor Form kommt, nach dem Dogma des modernen Industriedesigns: form follows function. Symbiotische Zusammenarbeit Das ungewöhnliche Design feierte internationale Erfolge: das Design Museum in London, Die Neue Sammlung in München (die das älteste Design-Museum der Welt ist), das Museum of Modern Arts in New York, das Vitra Design Museum in Weil am Rhein — alle anerkannten Autoritäten

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Der Freischwinger Myto aus Kunststoff vor dem Firmensitz Plank in Auer in Südtirol.  Foto: Matteo Imbriani

jüngsten internationalen Erfolgs der Zusammenarbeit zwischen Grcic und Plank, des Freischwingers Myto, hat der deutsche Chemie-Konzern BASF diesen Prozess im Detail dokumentiert. Der Konzern lud vier international renommierte ­Designer ein, um die Verwendungsmöglichkeit eines neu­ artigen, besonders schnell fließenden technischen Kunststoffs auszuloten. Schnell war man sich einig, dass eine Sitzgelegenheit, ein gleichzeitig elastischer und stabiler Freischwinger die größte Herausforderung für ein Möbelstück aus Kunststoff sei. Grcic zeichnete für das Design verant-

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Entwurfsskizze des Freischwingers Myto von Konstantin Grcic.  Zeichnung: K. Grcic

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wortlich, Plank für die industrielle Fertigung und den Vertrieb, die Techniker von BASF für das Material. Die Anforderungen waren extrem: Der freischwingende Sessel aus Kunststoff sollte sich durch ein leichtes, fein gezeichnetes Geflecht von üblichen Plastiksesseln abheben. Er musste belastbar und schwingend, beweglich und resistent, leicht und luftig sein. Selbst für die Materialtechniker des welt­ führenden Chemiekonzerns aus Ludwigshafen war das eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Denn der neuartige Produktionsprozess stellt höchste Anforderungen an das Material. Der schnell fließende Kunststoff wird bei hoher Temperatur in ein sogenanntes Spritzgusswerkzeug, eine Art Form oder Matrize aus Stahl, eingespritzt, muss in Sekundenschnelle gleichmäßig bis in jede Ecke des ­Modells fließen, um dann rasch zu einem Kunststoff zu erkalten, der flexibel genug ist für einen freischwingenden Sessel und gleichzeitig stark belastbar für ein widerstandsfähiges Möbelstück. Das Resultat ist innovativ in mehrfacher Hinsicht: Das Design Grcics wird international gefeiert — und das für einen der ersten Freischwinger aus Kunststoff!

keit, Zuverlässigkeit und Präzision. Er selbst, dessen per­ sönliche internationale Lebenserfahrung den neuen Weg und Erfolg seines Betriebs erst ermöglicht hat, träumt noch immer von der großen Welt des Designs, von Mailand, München und New York, von Tokio, Rio de Janeiro: Dort fühle er sich zu Hause. Seine Aufgeschlossenheit habe ihn stets ermutigt, sich der Welt zu öffnen, sich den Herausforderungen zu stellen und dem Risiko nicht aus dem Weg zu gehen. Vielleicht liege darin auch der Vorteil, sagt Michael Plank, in einem kleinen Land wie Südtirol aufgewachsen zu sein. Man sei geradezu gezwungen, seine Kreativität zu entfalten und die Herausforderungen der Welt zu suchen, um sich in ihr zu behaupten.

Franz Kössler (*1951), Südtiroler Journalist, Kolumnist der Wochenzeitung „Falter“ in Wien, ehemaliger ORF-Korrespondent in London, Moskau, Washington und Chefredakteur der „Zeit im Bild“.

c h a n c e n e r k e n BASF wiederum demonstriert am Beispiel Myto das kreative Potenzial seines neuen Kunststoffs, der sich mit seinen breit gefächerten Eigenschaften für unterschiedliche indus­ trielle Anwendungen eignet. Michael Plank würde sich manchmal auch in seinem eigenen Land mehr Aufgeschlossenheit, Verständnis und ­öffentliche Unterstützung für die innovativen Leistungen seines Betriebs wünschen. In der Halle stehen Dutzende leichter Holzstühle in einer Reihe, auf die Lehnen werden Kunststoffteile in bunten Pastellfarben montiert. Die fröhlich hellen, niedrigen Sessel sind der große Hit in Japan, wo man verstanden hat, dass gerade alte Menschen sich nach jugendlichen Farben sehnen. Japanische Seniorenheime zäh­­len heute zu den Großkunden Planks. In Südtirol selbst sind seine Möbel weit weniger bekannt. Dennoch sei Südtirol insgesamt ein idealer Standort für das Unternehmen: Made in Italy hat einen hervor­ ragenden Ruf in der Mode-, Möbel- und Designerbranche, und die Marke Südtirol stehe vor allem im deutschsprachigen Raum für handwerkliche Tradition, Bodenständig-

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Hier: eine erfolgreiche Zusammenarbeit — Martin Plank und Konstantin Grcic.  Fotos: BASF

D i e P e r s ö nl i c h k e i t d e s S t u h ls


S t e fa n o Z a n g r a n d o

Da z w i s c h e n

t h e m a / Ü B E R S E T Z E N

Die Übersetzung ist ein grundlegendes Element der Verbindung zwischen un­ terschiedlichen Welten, eine Tätigkeit der Vermittlung und Übertragung, die nicht nur die Sprache, sondern vielmehr die Kultur in ihrer Gesamtheit betrifft. Auf umfassende Weise zeigt sich die Bedeutung der Sprachvermittlung bei der Übersetzung von Büchern. Bei etwa einem Fünftel aller jährlich in Italien veröffentlichten Bücher handelt es sich um Übersetzungen. In den deutschsprachigen Ländern geht dieser Anteil auf ein Zehntel zurück, ist aber trotzdem beträchtlich und erhöht sich sogar auf rund 50 Pro­­ zent, wenn man nur die Bestseller betrachtet. Was wären beispielsweise Umberto Eco oder Charlotte Link im Ausland ohne ihre Übersetzer? Auch der jüngste Erfolg der deutschen Übersetzung von Francesca Me­ landris Roman „Eva dorme“ (Eva schläft), der — von einer italienischen Autorin verfasst — die Geschichte Südtirols behandelt, ist ein Indiz für ein neu erwachtes Interesse, viel­­leicht sogar für ein Bedürfnis nach Dialog und Austausch. Dieser Austausch zw­i­ schen der italienischen und der deutschen Welt durch die Literatur findet trotz der politischen und wirtschaftlichen Ereignisse statt, die in den letzten Jahren die Distanz zw­­ischen Italien und seinen historischen Partnern jenseits der Alpen vergrößert haben. Südtirol ist nicht nur als vielfach ge­ lobtes Grenzgebiet, als kulturell frucht­barer Boden für Mehrsprachigkeit und Interkul­ turalität bekannt, sondern auch dafür, dass es zusammen mit der Nachbarprovinz ­Trient jene ital­ienische Region ist, in der am meisten gelesen wird. Trotzdem wird der Übersetzung innerhalb der Kulturpolitik Südtirols ein geringer Stellenwert beigemessen — und das obwohl die Mehrsprachigkeit gefördert, ja sogar gefordert wird für alle, die im öffentlichen Dienst arbeiten wollen. Stattdessen tendiert man in Südtirol aus historischen Gründen dazu, den eigenen Sonderstatus und die lokalen Eigen­heiten zu verteidigen. Die deutsche Kulturlandschaft verfügt über ein effizientes Netzwerk

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von Einrichtungen und Vereinen, deren Ziel es ist, die heimische Kultur und Tradition zu erhalten. Dies geschieht nicht nur, indem die Ansteckungsgefahr mit allem, was nicht heimisch ist, so gering wie möglich gehalten wird, sondern oft auch durch Desinteresse an der Übertragung eigener Inhalte in ­a­n­dere Sprachen. Die italienischsprachigen Südtiroler ihrerseits haben es bisher nicht geschafft, Akteure der kulturellen Vermit­t­lung — die diese Provinz mehr als jede ­an­dere begünstigt — zu werden und so ihre Präsenz im Land zu vervollkommnen. Lange Zeit bestand die Gemeinsamkeit mit ih­ren deutschsprachigen Mitbürgern vor allem in der Verteidigung der jeweiligen sprach­lichen und kulturellen Eigenheiten. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein Ver­schulden oder um kollektive Verantwor­ tung, denn schließlich ist im Laufe der letzten Jahrzehnte ein beachtlicher kultureller Nä­­hr­­boden in Südtirol entstanden und ­gediehen, der sich am interkulturellen Dialog orientiert. Es handelt sich vielmehr um ein Erbe der schwierigen, zum Teil von Gewalt geprägten Geschichte. Die Führungsschichten beider Sprachgruppen haben eine Aufarbeitung der Vergangenheit nicht zu­ gelassen und häufig neue Herangehensweisen und Impulse von außen einfach ignoriert. Südtirols Bürger haben es demnach nicht leicht gehabt, das zu werden, was sie der De­finition nach hervorragend verkörpern könnten, nämlich eine „Grenzbevöl­ kerung“ zu sein. Auch heute noch kann ein solches Ziel nicht ohne den politischen und institutionellen Willen zur „Grenzüberschreitung“ erreicht werden — und eine solche erfolgt auch durch die Übersetzung. Die Förderung von Übersetzungen würde nicht nur auf lokaler Ebene ein freies und lebendiges gegenseitiges Kennenlernen begünstigen, das auf das jeweilige kulturelle, historische und poetische Erbe jeder Sprach­gruppe zurückgreift. Südtirol würde dadurch vor allem dank seiner literarischen Produktion über die regionalen und nationalen Grenzen hinauswachsen und Bekanntheit erlangen: Aus dem Deutschen zu über­setzen, würde den kulturellen Dialog mit der Provinz Trient und dem Rest Italiens stärken. Mit der Übersetzung aus dem Italienischen könnte man dem deutschen Sprachraum die Glanzlichter der kulturellen Produktion in italienischer Sprache aufzeigen. Vor allem aber würde eine solche Förderung dazu dienen, aus Südtirol das zu machen, was es bislang aus verschiedenen Gründen nur unvollkommen sein konnte: die Brücke zwischen italienischer und deutschsprachiger Welt, und zwar nicht nur

S t e fan o Zan g r an d o

auf touristischer und wirtschaftlicher, sondern auch auf kultureller Ebene. In den deutschsprachigen Ländern gibt es verschiedene gelungene Beispiele für vergleichbare Ansätze. Zahlreiche Initiativen zur Förderung und Verbreitung der Übersetzung werden von öffentlichen und privaten Einrichtungen gesponsert. Warum sollte es nicht möglich sein, auch in Südtirol Unterstützer für ein solches Projekt zu finden? In Krisenzeiten, wie wir sie derzeit erleben, in denen sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Gefüge niederschlagen und zu Abschottung und Intoleranz führen, wäre die Unterstützung des kulturellen Dialogs, auch durch Übersetzungen, eine Möglichkeit zum Abbau von Spannungen und zur Bekämpfung der schlim­msten Ressentiments. An deren Stelle könnte eine Kultur des Zusammen­ lebens mit mehr Weitblick treten. Übersetzung ins Deutsche: Ulrich Beuttler

Stefano Zangrando (*1973), Autor, Literaturkritiker und Übersetzer in Rovereto. Aktuelle Buch­ver­ öffentlichung: „Quando si vive“ (Keller, 2009).


Marti n Lar c h

Die territoriale oder regionale Verteilung ökonomischer Aktivität scheint geradezu festgefroren. Reiche Regionen bleiben vorn, ärmere zurück. Weshalb?

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M a c h t u n d O h nma c h t — D e r S p i e l r a u m r e g i o nal e r W i r t s c h af t s p o l i t i k

Fotos: Daniel Mazza

Wirtschaft ist Wettbewerb. Diese holprige Alliteration, sie sei mir verziehen, gilt nicht nur für Unternehmen. Sie trifft auf alle Entscheidungsinstanzen moderner Gesell­ schaften zu, sei es ein Individuum oder eine Institution, einschließlich der Wirtschaftspolitik. Der Vergleich mit an­de­ ­ren Staaten und Regionen gehört zu den Fixpunkten jeder wirtschaftspolitischen Debatte. Die Faszination des Ver­ gleichs liegt nicht nur in der Genugtuung, besser oder in der Frustration schlechter zu sein als andere. Sie liegt auch im Glauben, dass im Wettbewerb der politischen und öko­ no­­mischen Kräfte Gelegenheit und Geschick einen Unter­ schied machen. Jede Regierung, ob sie nun in der Haupt­ stadt eines Staates oder in einer mehr oder weniger f­ins­ teren Provinz residiert, ist von statistischen Rang­ordnungen geradezu besessen, insbesondere wenn es um Wirtschafts­ leistung, Ein­kommen oder Beschäftigung geht: Wo stehen wir im Ver­gleich zum Durchschnitt? Gehören wir zu den oberen zehn Prozent? Hat sich unsere Position über die Zeit verbessert oder verschlechtert? Südtirol ist keine Aus­ nahme, ganz im Gegenteil. Das Land liebt es, sich mit allen und allem zu messen: ­natürlich mit angrenzenden Region­en, aber auch europaweit. Im Auge des hiesigen wirt­schafts­ politischen Be­trachters verliert jede auch noch so nüchterne Statistik ihre Unschuld. Tabellen werden die unfreiwilligen Opfer des ­obligaten Kom­parativs oder Superlativs: Wir sind besser, reicher, ­haben eine höhere Lebensqualität, die nie­ drigste ­Ar­­beits­losigkeit und so weiter und so fort. Wer gute Zahlen vor­­weisen kann, klopft sich auf die geschwellte Brust und rechnet es dem Geschick und der Klugheit der eigenen ­wirtschaftspolitischen Entscheidungen an. Wer da­ gegen zurückfällt, sucht Erklärungen im äußeren Umfeld. Das alte Muster eben: Erfolg hat viele Väter, Nieder­lagen sind Waisenkinder. Geschenk oder Geschick? Im Lichte dieser zutiefst menschlichen Neigung drängt sich die Frage auf, inwieweit Politik überhaupt zum Erfolg oder Misserfolg eines Landes beitragen kann. Kön­ ­nen eine Handvoll mehr oder weniger qualifizierter Frauen und Männer, die kraft einer demokratischen Wahl Re­ gierungsaufgaben übernehmen, tatsächlich unseren Wohl­ stand fördern? Wie weit reicht ihr Tun in einer Wirt­schafts­ ordnung, die den Regeln des privaten Eigentums und des Marktes gehorcht? Diese Frage wiegt noch schwerer, wenn

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wir die zentral­staatliche Ebene der politischen Souverän­i­ ­tät ver­lassen und in die tiefer liegenden Stockwerke des Staats­baus vordringen, wo es, je nach Zentralisierungsgrad, mehr oder weniger (meistens weniger) Spielraum der Selbst­ ge­­staltung gibt. Vorweg würde man behaupten wollen, dass mehr Autonomie, gepaart mit Geschick und Verstand der politischen Entscheidungsträger, auf mittlere und lange Sicht notgedrungen ihren Niederschlag findet, auch und ins­ be­sondere was den ökonomischen (Miss-)Erfolg an­geht. Wir sind schließlich aufgeklärte Menschen, glauben an Ur­sache und Wirkung und daran, dass wir ­unsere Geschicke selbst bestimmen können, zumindest teilweise. Wie sagt das schöne katholische Sprichwort: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Mit mehr als 290 Regionen, ausgestattet mit unterschiedlichsten legislativen und exekutiven Zuständigkeiten, stellen die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ­ei­gentlich das perfekte Experiment dar. Spielte regionale Wirt­schaftspolitik tatsächlich eine entscheidende Rolle, müsste dies in den Daten sichtbar sein, vermutlich nicht in feinen Abstufungen, aber doch als grober Trend. Konvergenz versus Divergenz In den letzten Jahren wird eine Entwicklung, die so­ wohl eine beruhigende als auch weniger beruhigende Seite aufweist, unter europäischen Ökonomen und Wirtschafts­ politikern heiß diskutiert. In den letzten dreißig Jahren hat die Kluft zwischen den reichen und den ­weniger reichen Staaten in Europa langsam, aber stetig abgenommen. Ge­ nauer gesagt sind die Einkommensunterschiede ge­messen an der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung je Einwoh­ ­ner geringer geworden. Die ursprünglich ärmeren Volks­ wirtschaften rücken auf. Das ist die beruhigende Seite. Im Gegenzug, und dies ist die weniger gute Nach­richt, haben die Einkommensunterschiede innerhalb der EU-Mitglied­ staaten auf regionaler Ebene nicht ab­ge­nommen. Im Gegen­ teil, in einigen Ländern werden die regionalen Unterschiede sogar größer. Die Konvergenz auf Länderebene findet auf der Ebene der Regionen keine Entsprechung. Zwar nimmt die Wirtschaftsleistung in allen Regionen zu, die schwachen Regionen schließen aber nicht auf. Ein besonders eklatantes Beispiel ist Spanien. Be­ vor das südeuropäische Land von der letzten Rezession erfasst wurde, die 2008 im Fahrwasser der globalen Wirt­ schafts- und Finanzkrise ganz Europa heimgesucht hat, galt es ­als Vorzeigemodell einer erfolgreichen und gelungenen Auf­holjagd. Mitte der 1980er-Jahre, zum Zeitpunkt des EUBeitritts, lag das Pro-Kopf-Einkommen noch rund 30 Pro­ zent unter dem EU-Durchschnitt. Knapp 20 Jahre später war die Lücke bereits geschlossen, zumindest für den durch­ schnittlichen Spanier. Im Jahr 2007 lag das Pro-Kopf-Ein­ kommen der Iberer knapp über dem EU-Durch­schnitt, et­ was über dem Italiens und nur geringfügig hinter dem der Franzosen. Eine in der Tat beeindruckende Leistung. In­­ nerhalb des Landes blieben die Ungleichgewichte indes erhalten. Die historisch ärmeren Regionen im Süden wie Ex­ tremadura oder Andalusien wuchsen zwar, der Ab­stand zu den führenden Regionen blieb allerdings un­verändert. Ähnliche Muster sind mit Abstufungen in den ­meisten, wenn nicht in allen Mitgliedstaaten der euro­päischen Un­ion zu

Martin Larch


Innovative Technologien im Bereich der Fruchtbearbeitung: Ein Blick in das Unternehmen Iprona in Lana bei Meran.

Das Pustertaler Unternehmen Nordpan lieferte die Massivholzplatten fßr das Regalsystem im Naturhistorischen Museum in London.

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M a c h t u n d O h nma c h t


finden: in Italien zum Beispiel, wo der Süden das ewige ­Sorgenkind bleibt, in Belgien, wo der französisch­sprachige Teil, ebenfalls im Süden des Landes gelegen, im­mer noch an den Spätfolgen der Dein­­dustrialisierung la­boriert. Und sogar in Deutschland, wo, man ­höre und sta­­une, selbst im reichen Westen die Bundes­länder Saar­brücken und Bremen trotz regelmäßiger Transfers vom Bund in Sachen Wirtschafts­ leistung notorisch nach­hinken. Leser ohne volkswirtschaftliche Kenntnisse werden sich an dieser Stelle fragen, was daran problematisch sein soll. Wichtig ist doch, dass alle Regionen von der euro­ päischen Integration profitiert haben und wachsen. Dass die gewohnte Hackordnung erhalten bleibt, scheint zweitrangig oder geradezu unumgänglich: Wer in einem Wettlauf spät startet, hat kaum eine Chance, sich mit einem Stärkeren zu messen, insbesondere wenn dieser mit einem Vorsprung ins Rennen geht. Politik ohne Wirkung? Der Haken ist, dass die fehlende Konvergenz der r­ egionalen Pro-Kopf-Einkommen im klaren Widerspruch zu den Erkenntnissen der Wirtschaftstheorie und zu den Zie­ ­len nationaler und europäischer Regionalpolitik steht. Theo­ rien sollten freilich verworfen werden, wenn sie die Realität nicht abbilden: Allerdings scheint die Kon­vergenzhypothese, wie bereits erwähnt, auf Länder durchaus zuzutreffen. ­Wa­rum versagt sie bei Regionen? Eine alles andere als triviale Frage. Noch schwerwiegender ist, dass jeder Staat für sich und die Europäische Union als Ganzes es sich einiges ­kosten lassen, um die erheblichen territorialen Unterschiede zu verringern: offiziell der Solidarität wegen, die man für die benachteiligten Gebiete im eigenen Staat und in der ­Un­ion aufzubringen hat. Der tatsächliche Grund liegt darin, dass zu große Ungleichgewichte die Grundfeste eines Staa­ ­tes od­er eben einer Union erschüttern können. Seit Mit­­te der 1980er-Jahre wird zusätzlich zu den nationalen Res­ sourcen ein wachsender Teil des EU-Budgets für Regional­­ politik ausgegeben. Heute sind es an die 40 Pro­zent. Nur für die Landwirtschaftspolitik wird noch mehr ausgegeben, und selbst die kommt, nicht nur ausschließlich, aber eben doch auch schwächeren Regionen zugute. Beträchtliche Mittel sind aus nationalen und EUTöpfen in Regionen wie Extremadura in Spanien, den ­Sü­den Italiens und andere Gebiete, in denen das Pro-KopfEinkommen deutlich unter dem EU-Durchschnitt liegt, geflossen. Der Erfolg all dieser Anstrengungen und Aus­gaben bleibt, wie gesagt, sehr beschränkt oder völlig aus. Die ter­ ritoriale oder regionale Verteilung ökonomischer Aktivität scheint geradezu festgefroren. Reiche Regionen bleiben vorn, ärmere zurück. Weshalb? Anziehen und abweisen Eine interessante Begleiterscheinung oder Aus­­ prägung der hartnäckigen Einkommensunterschiede auf ­regionaler Ebene ist die geografische Konzentration öko­­no­ mi­sch­er Aktivitäten. In jedem Land gibt es, überspitzt for­ muliert, einige wenige führende Agglomerationszentren inklusive Hauptstadt, aber nicht nur. Der Rest ist mehr oder weniger ökonomische Provinz. Auch hier wieder die Frage:

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Weshalb? Warum ist die Wirtschaftsgeografie so starr und träge? Auf jeden Wirtschaftsstandort wirken, grob ge­ sprochen, zwei entgegengesetzte Kräfte ein: solche, die ­Ressourcen in Form von Investitionen und Humankapital anziehen, und Kräfte, die eher eine zentrifugale Wirkung ausüben. Bestehende Agglomerationszentren locken mit einem großen regionalen Absatzmarkt. Unternehmen, die sich in oder nahe solchen Zentren ansiedeln, sparen nicht nur Transport- und Transaktionskosten, sie tragen zum ­weiteren Ausbau des Absatzpotenzials bei, zumal sie von anderen Unternehmen Vorprodukte ­er­­werben und Ar­beiter beschäftigen, die wiederum einen Teil ­ihres Einkom­mens vor Ort ausgeben. Die Nähe zu ­großen ­regionalen Märkten kann auch mit wichtigen Kosten­vorteilen verbun­­den sein. Investitionsgüter und Vor­­pro­dukte sind tenden­ziell güns­ tiger in einer Umgebung, wo ­viele Hersteller im Wett­be­werb zueinander stehen oder wo Skalenerträge ausgeschöpft werden können, also dort, wo große Produktions­mengen die Durchschnittskosten drücken. Agglomeration hat allerdings auch ihren Preis. Bei zunehmender Wirtschafts- und Bevölkerungsdichte nehmen Grundstücks- und Wohnungspreise deutlich zu. Auch die Löhne bestimmter Qualifikationen steigen typischerweise an. Normalerweise neigen Unternehmen dazu, Wettbewerb zu meiden: In regionalen Agglomerationsgebieten steigt der Wettbewerb tendenziell an. Das Zusammenspiel dieser Krä­fte hat über Jahr­zehnte, wenn nicht Jahrhunderte, eine territoriale Ver­teilung wirtschaftlicher Aktivität in den EU-Mitglied­staaten geformt, die nur schwer verrückbar scheint. Wer in die Ge­schi­­­chte der europäischen Wirtschafts­geo­grafie zurückblickt, stellt fest, dass krasse Verschiebungen meistens, wenn nicht ausschließlich, mit weitreichenden ­politischen Er­eig­nissen wie Kriegen oder Grenzverschieb­ungen verbunden waren oder mit einschneidenden öko­nomischen Strukturveränderungen, wie etwa dem Wechsel von Kohle zu Erdöl als wichtigstem Energieträger indus­trialisierter Gesellschaften. In normalen Zeiten gibt es kaum Bewegung im größeren Maßstab: Die regionale Verteilung öko­nomischer Aktivität und des Reichtums bleibt im Großen und Ganzen festgefahren. Daran kann regionale Wirtschaftspolitik oder euro­ päische Regionalpolitk wenig ändern. In der Fachsprache wurden in diesem Zusammenhang Begriffe wie path dependency oder history matters geprägt. Sinngemäß heißt das, dass die künftige Fahrtrichtung eines regionalen Wirt­ schafts­­­raumes maßgeblich von den ausgefahrenen Furchen im Weg hinter uns bestimmt werden. Wirtschaftspolitik als Ethik Wie zwingend sind diese Einsichten wirklich? Nimmt man sie für bare Münze, verliert jede Anstrengung regionaler Wirtschaftspolitik ihre Berechtigung. Ganz so beliebig und fatal sind die Dinge freilich nicht. Man muss kein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu wissen, worauf individueller und kollektiver Er­folg ge­ baut sind. Noch lange bevor die Wirtschafts­wissen­schaften als eigenständige Disziplin das Licht der Welt er­blickten, hat Immanuel Kant, der große deutsche Philo­soph der Auf­ klärung, 1784 folgenden Schluss über menschliches Streben gezogen:

Martin Larch


Oben: Das Unternehmen Lasa Marmo aus dem S端dtiroler Vinschgau stattet in New York die neue 足U-Bahn-Station am Ground Zero mit Marmor aus. Unten: Z辰hlt zu den Marktf端hrern in Italien im Bereich der Steuerungs- und Automatisierungstechnik: RSD Electronic aus Naturns nahe Meran.

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Oben: Mit den Frässystemen der Firma Zirkonzahn werden zirkongefertigte Zähne hergestellt. Das Unternehmen aus Gais bei Bruneck hat weltweit 15 Niederlassungen. Unten: Seit mehr als 25 Jahren stellt das Unternehmen Kaan in Blumau bei Bozen trocknende Bügelmaschinen und Waschschleudermaschinen her.

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Alpiplast in Partschins bei Meran ist einer der europaweit größten Hersteller von Trinkhalmen und beliefert Großunternehmen wie McDonald’s oder Ferrero.

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„… so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nöthigen beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen.“ In diesen Zeilen wird die Bedeutung von Wettbewerb und Eifer auf besonders anschauliche Weise auf den Punkt gebracht. Auch wenn die Zusammenhänge zwischen Be­ mühen und Erfolg im Falle der Wirtschaftspolitik nicht im­ mer ganz eindeutig sind und erheblichen Einschränk­ungen unterliegen, ganz unerheblich ist Wirtschaftspolitik ganz und gar nicht, im Gegenteil. Entscheidend ist wie ­immer das Wie. Immer mehr Studien belegen, dass die klassischen und besonders sichtbaren Formen der wirtschaftspolitischen ­Intervention wie öffentliche Investitionen oder Sub­ven­­t­io­ ­nen zwar von Bedeutung sein können. Allerdings sind die Qualität politischer Institutionen und des Sozialkapitals ­wesentlich wichtiger, obwohl diese aus politischer Sicht um ein Vielfaches unauffälliger sind. Gegenseitiges Vertrauen, gemeinsame Werte, das Einhalten von Normen, die Effekt­i­ vität und Integrität der Politik und der öf­fentlichen Ver­ waltung gehören in diese Kategorie, die auf den ersten Blick äußerst flüchtig und wenig greifbar er­scheint. Und in der Tat handelt es sich hierbei um Eigen­schaften, die erstens sehr langsam wachsen und zweitens nur schwer zu kor­rigie­ren sind, aber eben lange wirken. Politik hat in diesem Zu­ sammenhang national und regional eine wichtige Vor­bild­ funktion inne, die nicht zu unter­schätzen ist. Wenn beispielsweise Italien seit Ende der 1990erJahre eine denkbar schlechte Wirtschaftsentwicklung hin­ gelegt hat und lediglich abgewirtschaftete Länder wie ­Simbabwe ein geringeres Wachstums verzeichnet haben, dann nicht, weil weniger investiert wurde oder weil die ita­­ lienischen Arbeitskräfte weniger qualifiziert wären. Italiens private und öffentliche Unternehmer investieren in Sum­ ­me den gleichen Anteil des BIP wie etwa in Deutsch­land, und auch in Sachen Ausbildung gibt es keine ekla­tante Kluft dies- und jenseits der Alpen. Worin sich Italien seit über ­ei­nem Jahrzehnt von anderen europäischen Ländern abhebt, ist die stetige und drastische Verschlechterung dessen, was im Englischen governance genannt wird: die Qualität der ­in­stitutionellen und politischen Rahmenbedingungen und der politischen Entscheidungsträger. Einschlägige Sta­ tistiken, die jährlich die politische und institutionelle Lage welt­weit son­dieren, be­legen diese Entwicklung. In Italien haben diese Statistiken einen eindeutigen Trend: Sie zeigen nach unten. Der Lichtblick daran ist, dass diese Statistiken ­vorwiegend die Bedingungen auf zentralstaatlicher Ebene ­wi­der­spiegeln. Selbstverwaltung an der Peripherie kann ei­ n­en klaren Unter­schied ausmachen und ist in einigen Fällen auch deutlich sichtbar. Und hier kehren wir nach Südtirol zurück. Das ma­ kro­ökonomische Blutbild dieser Provinz ist seit Jahr­zeh­nten makellos: hohes Pro-Kopf-Einkommen, kaum Arbeits­ losigkeit — selbst in Krisenzeiten. Die lokale Politik sieht sich freilich als Geburtshelferin und Leibärztin dieses Erfolgs. Wie entscheidend ihr Beitrag tatsächlich war und ist, läs­st sich letztlich schwer ermessen. Aber nehmen wir der

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Ein­fachheit halber einmal an, die Politik hätte eine führende Rolle gespielt, dann drängt sich immer noch die brechtsche Frage auf: „Cäsar schlug die Gallier? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Und tatsächlich haben eine Unzahl von Köchen am Erfolg mitgewirkt, auch Küchen­hilfen, Rezeptionisten, Buchhalter, Klempner, Manager, Ver- und Einkäufer, Tischler, Elektriker, Beamte und alle anderen. Es ist die beeindruckende Ethik und Professionalität der Erwerbstätigen, die den wirtschaftlichen Erfolg tag­täglich erneuern und aus Südtirol einen ­attraktiven Stand­­ort machen, vermutlich nicht für gigan­tische Pro­ duktions­­betriebe, die enorme Produktionsflächen benötigen und ein Reservoir in­­­aktiver Erwerbspersonen. Beides ist in Süd­tirol nicht zu ­fin­­den. Wer indes so alt­modische Qualitäten wie Pflichtbe­wus­stsein, Vertrauens­würdigkeit und Einsatz­be­­reitschaft gepaart mit guter Ausbildung, Einfallsreichtum und, ja warum auch nicht, einer effizienten öffentlichen Verwaltung sucht, der wird in Südtirol fündig.

Martin Larch (*1964), Südtiroler Wirtschaftsexperte, seit 2000 für die Europäische Kommission in Brüssel tätig, Leiter der Abteilung zur Koordinierung der länderspezifischen Überwachung der Wirtschaftspolitik.

M aR t i n L a r c h


F e li c e E s p r o

Han d e lss ta dt m i t h i s to r i s c h e r D N A

Illustration: Simone Vollenweider

Ist Bozen lediglich ein „Vorort“ von Mailand, Bologna, Venedig und München oder stellt die Stadt einen strategischen Knotenpunkt dar, der nicht nur geografisch, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht Mitteleuropa mit dem Mittelmeerraum verbindet? Stellen wir doch eine einfache Kilometerberechnung mit einem beliebigen Online-Routenplaner an: München, die führende Stadt unter den deutschen Wirtschaftsstandorten, liegt 281 Kilometer von der Südtiroler Landeshauptstadt entfernt. Folgen wir der Nord-Süd-Achse, stoßen wir 154 Kilometer südlich von Bozen auf Verona, Kreuzungspunkt mit jener Verkehrsader, die Turin, Mailand, Bergamo, Brescia, Vicenza, Padua, Venedig und Triest verbindet — mit anderen Worten die reichsten und produktivsten Gebiete Italiens. Folgen wir der Nord-Süd-Achse weiter, treffen wir 288 Kilometer südlich von Bozen auf Bologna, jene Stadt, mit dem höchsten Anteil von Unternehmen pro Einwohner. Zwischen Mailand, dem Finanz- und Wirtschaftszentrum Italiens, und ­Bozen liegen 282 Kilometer. Und Venedig, sowohl Tourismusstadt par ex­cellence als auch bedeutendes Handels- und Industriezentrum, liegt 214 Kilometer entfernt. Tatsächlich liegt Bozen also gleich weit von München, Mailand, Venedig und Bologna entfernt. Aber ist sie diesen Großstädten nur peripher vorgelagert oder bildet sie einen Berührungspunkt? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man Bozen als eine kleine Durchzugsstadt für Personen und Waren wahrnehmen, die sich auf dem Weg von Deutschland nach Italien, oder, in umgekehrter Richtung, von Italien nach Deutschland be­ finden. Im Jahre 15 v. Chr. kam Pons Drusi (Drususbrücke) an der Etsch eben diese ­Be­deutung zu. Das römische Heer hatte den Militärstützpunkt auf dem heu­tigen Stadt­gebiet Bozens im Zuge der Eroberung

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Rä­tiens und der darauffolgenden Besetzung Deutsch­lands errichtet. Dann jedoch wandelte sich die Bestimmung: Der im 12. Jahrhundert gegründete Stadtkern nahm sofort eine wichtige Stellung im Handel zwischen Deutschland und Italien ein, da er weder vom deutschen Kaiser noch vom Papst abhängig war. Ein fruchtbarer Boden für Geschäfte, was auch die Florentiner Bankiers witterten, die reihenweise dorthin zogen. Achthundert Jahre später hält Bozen diese Bestimmung immer noch aufrecht. Heute, nach wechselvollem Geschichtsverlauf, der erzwungenen Annexion an Italien nach dem Ersten Weltkrieg, der Italianisierungspolitik des Faschismus und dem jahrzehntelangen Kampf um Eigenständigkeit von­ seiten der deutschsprachigen Bevölkerung, ist die Stadt das Herz einer eben doch „etwas anderen“ Provinz, die eine weitrei­ chende Autonomie innerhalb Italiens genießt. Im Laufe der Zeit bildete sich so eine Be­völkerung heraus, zu deren positiven Charakter­eigenschaften weitverbreitete Mehrsprachigkeit, eine gewisse Unbeugsamkeit und Fleiß zählen — eine Bevölkerung, die ihre Rolle als Händler und Vermittler nun im Zeitalter der Globalisierung beizubehalten und wenn möglich auszuweiten bestrebt ist. Obwohl Messen ihre ursprüngliche Funktion als Warenumschlagplatz etwas verloren haben, zieht Bozen mit ­seinen modernen Fachmessen für nachhal­ tiges Bauen, Energieeffizienz, erneuerbare Energie, Hotelausstattung, Alpintechnologie, Neuerungen im Wintersport und Knowhow im Apfelanbau immer noch zahlreiche Besucher aus allen Himmelsrichtungen an. Deutsche und österreichische Banken und Versicherungen eröffnen hier ihre italie­ nischen Zweigstellen, während italienische Banken von Bozen aus ihre Filialen in Deutschland und Österreich lancieren. Dienstleister im Unternehmensbereich be­ raten ihre Kunden auf Deutsch zu recht­ lichen, finanziellen und kommerziellen ­Belangen in Italien und verfügen über die richtigen Kontakte und Informationen, um italienische Firmen zu Gesetzen und Gebräuchen in Österreich und Deutschland beraten zu können. Es ist also kein Zufall, dass viele ausländische Firmen einen Sitz in Südtirol haben, allesamt Handelsstützpunkte für den italienischen Markt. Die Zahlen des Landesstatistikamtes Astat zum internationalen Handel belegen, dass 34,5 Prozent der aus Südtirol exportierten Güter nach Deutschland gehen und 46,5 Prozent der Südtiroler Importe aus Deutschland stammen, bevor sie über ganz Italien verteilt werden. Auch die Daten des

Han d e lss ta d t m i t h i s t o r i s c h e m D N A

italienischen Statistikinstituts Istat bestä­ti­ gen die Rolle von Deutschland als wichtigsten Handelspartner Italiens, das im Gegenzug für Deutschland den fünftgrößten Handelspartner darstellt (und den zweitgrößten bei Investitionen). Durchschnittlich belief sich das Handelsvolumen deutscher Produkte auf dem italienischen Markt in den letzten drei Jahren auf 60 Milliarden Euro pro Jahr und das Volumen italienischer Produkte auf dem deutschen Markt auf 45 Milliarden jährlich. Nicht vergessen werden sollten auch die elf Millionen Touristen aus Deutsch­land, die jedes Jahr ihren Urlaub in Italien verbringen, 2,4 Millionen davon in Südtirol. Von diesem Blickwinkel aus be­ trachtet, befindet sich Bozen also nicht in der anonymen Peripherie des Viereckes zwischen München, Mailand, Bologna und Venedig, sondern liegt vielmehr in dessen Zentrum, als ein Hauptakteur der Begegnung zwischen der deutschen und italie­nischen

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Importe aus Deutschland

Handesvolumen zwischen Italien und Deutschland (in Millionen Euro, Quelle: ISTAT).

Wirtschaft. Am 20. und 21. Oktober 2011 organisierten die beiden Industriellenvereinigungen Confindustria und Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in Bozen das erste Business Forum zwischen Wirtschaftstreibenden beider Länder und erklärten die Südtiroler Landeshauptstadt zum Austragungsort des fortan — so der Plan — jährlich stattfindenden Gipfels. Angeführt wurden die Delegationen von den jeweiligen Präsidenten von Confin­dustria und BDI, Emma Marcegaglia und Hans-­Peter Keitel. Die

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k o l u m n e / e s P R o

Diskussionen drehten sich um die aktuellen Themen Staatsverschuldung, Wirtschaftsaussichten in der Euro­zone, Unternehmenspolitik und Handels­kontakte und schlossen mit einem Maßnahmenpapier, das an die beiden Regierungen übermittelt wurde. Man beschloss zudem, sich im folgenden Jahr wieder in Bozen ­zusammenzufinden, um gemeinsame Lobbyingstrategien gegenüber den jeweiligen Regierungen sowie gegenüber Europa auszuarbeiten. Warum aber sollte man sich jedes Jahr ausgerechnet in Bozen treffen? „Hier werden beide Sprachen gesprochen und sowohl Wirtschaftsund Produktions­struktur als auch Behörden sind mit der Funktionsweise beider Welten vertraut. Bozen ist die logische Brücke zwischen Nord und Süd“, waren sich Marcegaglia und ­Keitel am Ende der zweitägigen Veranstaltung einig. Für die Südtiroler Hauptstadt bedeutet das, für zwei Tage im Jahr das Who’s who der deutschen und italienischen Unternehmenslandschaft zu beherbergen — es waren zwanzig Delegierte pro Land —, aber auch Regierungsvertreter beider Länder. So nahmen 2011 für Italien Außenminister Franco Frattini und die für Europa zuständige Ministerin Anna Maria Bernini und für Deutschland der stellvertretende Außen­minister Werner Hoyer an dem Forum teil. Giulio Tremonti und Wolfgang Schäuble hatte im letzten Moment der fast zeitgleich stattfindende Gipfel der europäischen ­Finanzminister daran gehindert, ebenfalls anwesend zu sein. Wie bei einem „rich­tigen“ Wirtschaftstreffen üblich, gab es auch Proteste der sogenannten „Indignados“, der „Em­pörten“, die friedlich verliefen und deren Verteter sogar mit Emma Marcegaglia zusammen­trafen, und die übliche Schar einiger Dutzend Journalisten, die immer bei solchen Veranstaltungen anzutreffen ist, war auch vorhanden. Also ideale Vorausset­zungen, um Bozen unter dem Label „deutsch­-italienische Wirtschaftshauptstadt“ in allen lokalen, nationalen und inter­ na­ti­o­nalen Informationsmedien zu ­platzieren, wenn auch nur für zwei Tage. Die Mehrsprachigkeit allein vermag die Anziehungskraft Südtirols auf Tourismus, Investitionen, Kapital, Importe und Exporte, ja sogar Wirtschaftsgipfeltreffen nicht zu erklären. Achthundert Jahre Erfahrung in der Rolle als Handelsplatz haben sich sozusagen in der DNA niedergeschlagen, die Entwicklung der Autonomie in den vergangenen 60 Jahren hat eine solide Basis für eine funktionierende öffentliche Ver­ waltung geschaffen, die Begegnung verschiedener Sprachgruppen hat eine Bevölkerung hervorgebracht, die in der Lage ist, über die

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Grenzen zweier unterschiedlicher, aber wirtschaftlich eng miteinander verbundener Welten hinweg zu arbeiten, zu investieren, zu verkaufen und zu kaufen sowie qualitativ hochwertige Dienstleistungen anzubieten. Der allgemeine Wohlstand mit einem BIP pro Kopf über 34.500 Euro (2010) und die Vollbeschäftigung haben soziale Spannungen auf ein Minimum reduziert. Sogar das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ist in Südtirol ein fruchtbares: Der Klassenkampf wurde durch die Sozialpartnerschaft nach österreichischem Vorbild ersetzt. Nehmen wir zu all dem noch die atemberaubende Aussicht auf die Dolomiten dazu, die jährlich rund 29 Millionen Übernachtungen in touristischen Einrichtungen einbringen, so entsteht der Eindruck, als beschrieben wir den Garten Eden der Wirtschaft, das Eldorado der Geschäftswelt. Aber machen wir uns nichts vor. Auch dieses Land hat seine Schwachstellen: den Mangel an Flächen für Produktionsstätten zum Beispiel. Verständlich, aber unüberwindbar, wenn man bedenkt, dass sich gut 80 Prozent des Territoriums auf über 1000 Meter Seehöhe befindet. Das ist auch der Grund, warum sich Südtirol als Tor präsentiert, um von Nordeuropa nach Italien zu gelangen und umgekehrt. Aber es ist ein Tor, das nicht allen offen steht. Wer auf Innovation, neue Technologien, konkrete Inves­ titionen oder ökologisch nachhaltige Unternehmensführung und Güter setzt, findet bei den entsprechenden öffentlichen Agenturen volle Unterstützung: Diese helfen bei der Flächenbeschaffung für die Unternehmensansiedlung, beim Knüpfen geschäftlicher Kontakte, bei der Ermittlung privater und öffentlicher Finanzierungsmöglichkeiten oder bei der Suche nach Partnern wie Universitäten und spezialisierten Kompetenzzentren, die eine Weiterentwicklung innovativer Ideen ermöglichen. Wer diese Voraussetzungen nicht vorweisen kann, muss sich wohl eher darauf beschränken, Südtirol im Urlaub zu besuchen.

Übersetzung ins Deutsche: Claudia Amor

Felice Espro (*1972) Leiter des Wirtschaftsressorts des „Corriere dell’Alto Adige“ (Lokalaus­ gabe des „Corriere della Sera“) in Bozen.

F e l i c e Es p r o


R o b e rt M e nas s e

Grenzsteinzeit — Wanderung entlang der Südtiroler Grenze

Fotos: David Schreyer

Wie hoch ist eine Grenze? Wo verläuft ihre Obergrenze? Das staatliche Hoheitsgebiet ist nach der sogenannten Kármán-Linie, die von der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) festgelegt und international ­anerkannt wurde, bis einhundert Kilometer über der Erdoberfläche definiert. Darüber beginnt der hoheitsfreie Weltraum. Wie tief geht eine Grenze? Nach dem Völkerrecht entlang der Staatsgrenze hinunter bis zum Erdmittelpunkt. Grenzen gehen also tiefer als hoch. Die Südtiroler Grenze verläuft in den Dolomiten sehr hoch und geht sehr tief. Sie ist in über zweitausend Metern Höhe tief hineingegraben und hineingesprengt in das Gestein des Gebirges und verläuft in einem Zickzackkurs, für dessen wirren Verlauf es weder topografisch noch kulturell einen unmittelbar nachvollziehbaren Grund gibt. Abgesehen davon, dass es keine „natürlichen Grenzen“ gibt — alle Grenzen sind von Menschen gezogen —, diese Grenze folgt nicht einmal mehr dem Anschein einer sogenannten natür­ lichen Grenze. Man müsste, um sie zu verstehen, histo­ risches Blut riechen können. Der groteske Zickzackkurs der heutigen Grenze folgt über lange Strecken exakt dem Verlauf der Schützengräben und militärischen Stellungen, die sich im Ersten Weltkrieg tief eingegraben haben: in einem Stellungskrieg, der Abertausenden Menschen das Leben gekostet hatte, im Versuch, eine Grenze zu durchbrechen, die schon damals politisch und kulturell eine willkürliche Trenn­ linie gewesen ist. Man sieht die Grenze heute nicht mehr. Man sieht die alten Schützengräben. Sie sind doch eine „natürliche Grenze“: Produkt der Menschennatur. Hoch oben wurde eine Grenze eingegraben. Nicht hoch genug. Nicht tief genug. Grab genug. Heute ist die Grenze zwischen Südtirol und Österreich dank der nachnationalen Entwicklung Europas aufgehoben. Italien und Österreich sind Mitglieder des SchengenRaums. Die Grenze ist gefahrlos ohne Kontrolle passierbar, es gibt keine Hindernisse, keinen Stacheldraht, keine Grenzbalken auf den Straßen und Wegen, über die Scharen

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von Wanderern in bunter Funktionskleidung ziehen. Die rote Linie, die im Atlas oder in Landkarten eingetragen ist, trennt politische Verwaltungseinheiten. Das Blutrot auf der Linie, die ich entlangwandere, ist versickert und ausgewaschen. Da und dort ein Flecken Schnee, wie ein unbeschriebenes Blatt. Und doch ist diese Grenze immer noch ­umstritten und umkämpft, als müsste sie, die nicht mehr existiert, erst aus der Welt geschafft werden. Oder als könnte man sie auch noch aus der Geschichte tilgen. Bis heute demonstrieren Tiroler Deutsch-Nationalisten regelmäßig für eine Freiheit, die sie längst haben, für eine Selbstbestimmung, die sie politisch und ökonomisch in höchstem Maß genießen, sie demonstrieren gegen eine „Unrechtsgrenze“, vor der nur die Unrecht haben, die diese Grenze nicht vergessen können. Auf dem Monte Piana, über den die Grenze zwischen Südtirol und Österreich verläuft, gibt es bis heute einen Grenzstein, der im Jahr 1753, also noch unter Kaiserin Maria Theresia, gesetzt worden war. Im Sommer 2011 wanderte ich mit Reinhold Messner über die Dolomiten, die unsichtbare, eingemeißelte Grenze entlang. Als wir auf den Monte Piana kamen, zeigte mir Messner diesen historischen Grenzstein, ging um ihn herum — und begann zu beten. Zumindest hatte es diesen Anschein. Ich war fassungslos. Messner betet einen Grenzstein an? Mir fehlten die Worte, ich konnte keine Frage formulieren, bis Messner aufblickte und sagte: „Da schau her!“

Reinhold Messner vor einer Gedenktafel für die gefallenen italienischen Soldaten im Ersten Weltkrieg.  Foto: R. Menasse

G r e n z s t e i n z e i t — Wan d e r u n g e n t lan g d e r sü d t i r o l e r G r e n z e


Auf der Rückseite des Grenzsteins war eine Tafel angebracht, die an den ersten italienischen Soldaten erinnerte, der im Ersten Weltkrieg hier an dieser Stelle beim Versuch starb, diesen Grenzstein zu verrücken. Nach ihm starben noch 14.000 Menschen im wenige Dutzend Meter messenden Umkreis dieses Steins, im so vergeblichen wie sinnlosen Bemühen, diese Grenze zu durchbrechen, in die eine oder andere Richtung zu verschieben. Der theresianische Grenzstein steht bis heute da — wurde unverrückbar verrückt: zum Grabstein der Opfer einer Fiktion. Messner hat nicht gebetet, er hat gedacht. Im Sinn von Gedenken. So tief eingegraben die Südtiroler Grenze auch ist, als Gräben im Gebirge und als Fiktion in den Köpfen mancher Menschen, so eigentümlich unscharf ist sie als rechtliches Substrat. Nicht weil sie bekämpft wird, obwohl sie praktisch nicht mehr existiert, und nicht weil sie immer wieder sicht­bar gemacht wird, obwohl sie verschwunden ist, sondern weil sie die einzige Grenze der Welt ist, die offiziell staatspolitisch zurückgedacht wurde in eine Zeit, in der Staatsgrenzen noch gar nicht existierten: Als der heute so­ genannte „Ötzi“, der „Similaun-Mann“, starb, gab es weder Italien noch Österreich, keine Nationen, keine Grenzen. Er starb, als die Alpen noch staatenlos waren und der Mensch nur die Grenzen kannte, die die Natur und seine eigene Kraft ihm setzten. Und dann wurde im ausgehenden 20. Jahrhundert darüber gestritten, ob der „Similaun-Mann“

Schützengräben markieren den ehemaligen italienisch-­ österreichischen Grenzverlauf.  Foto: R. Menasse

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Italiener oder Österreicher war. Ein Streit, der bis zum obers­ten Europäischen Gerichtshof ging. Dieser Konflikt war eine Konsequenz des eigentümlichen, einzigartigen Sachverhalts, dass die Südtiroler Grenze heute einen doppelten Verlauf hat, der eine trapezförmige Fläche bildet, von der strittig ist, wem sie gehört: dem italienischen oder dem österreichischen Staat. Das kam so: Als der Grenzverlauf zwischen Italien und Österreich staatsvertraglich festgelegt und besiegelt war, stiegen Geometer, die von beiden Staaten vereidigt worden waren, mit Maurern in die Berge hinauf, um die Grenzsteine zu setzen. Es war eine große Karawane, mit all den Lasttieren, die die Steine und den Zement, mit dem die Steine unverrückbar einbetoniert werden sollten, transportierten. Vor dem Similaun ergab sich ein simples pragmatisches Problem. Der im Staatsvertrag festgelegte Grenzverlauf war für einen einzelnen Menschen nur unter größter Gefahr, für die ganze Karawane gar nicht gangbar. Der gangbare Weg führte ein Stück in das österreichische Territorium hinein, um dann in einem Winkel von etwa 40 Grad zurück in italienisches Territorium zu führen, von dem er ein etwa gleich großes Eck herausschnitt, bevor er wieder auf die vertraglich festgelegte Linie zurückführte. Die Männer wählten diesen Weg. Niemand würde es je überprüfen. Kein Staat hatte, wenn man die Karawane größerer Gefahr aussetzte, etwas zu gewinnen oder zu verlieren. Da oben gab es nur Geröll, Schnee und Eis, unwirtliches Gelände, scharfen Wind. Die Steine wurden also entlang des Wegs gesetzt, den die Karawane bequemer gehen konnte. Oben auf jedem Grenzstein ist eine Rille eingemeißelt, die sogenannte Weisung. Verlängert man diese Rille in der Luftlinie, weist sie die Richtung zum nächsten Grenzstein. So wird die auf Verhandlungstischen gezogene Grenzlinie topografische und völkerrechtliche Realität. Bei der Ausrichtung der Weisung machten die Geometer beim Einmauern der Grenzsteine allerdings Kompromisse: Dort, wo sie die Steine zu weit im österreichischen Staatsgebiet set­z­­ten, richteten sie die Weisung nicht ganz präzis in Richtung zum nächsten Grenzstein, sondern in Richtung italienisches Territorium aus und umgekehrt. Auf diese Weise entstand die skurrilste politische Grenze der Welt: Zwischen der staa­tsvertraglich festgelegten Grenze und dem durch die Grenzsteine gezogenen Grenzverlauf öffnet sich ein Spalt von mehreren Tausend Quadratmetern — die durch die

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Eindrücke von der heutigen italienisch-österreichischen Grenze am Brenner.

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­ eisung der Grenzsteine gleichsam schraffiert wird. Es W wäre niemals jemandem aufgefallen, wenn „Ötzi“ nicht just innerhalb dieser schraffierten Fläche gefunden worden wäre. Durch den Mann aus der Steinzeit begann ein Grenzsteinzeitkonflikt im Schengen-Europa. Der italienische Staat errichtete ein weithin sichtbares Monument, das den Eindruck erweckt, dass es sich hier um den Fundort der mumifizierten Leiche aus der Steinzeit handelt. Das Monument befindet sich zwei kleine Schritte diesseits von italienischem Hoheitsgebiet, wie es der Staatsvertrag definiert. Der tatsächliche Fundort aber liegt etwa hundert Meter davon entfernt, innerhalb der „schraffierten Fläche“ zwischen der Staatsvertragsgrenze und dem durch die Grenzsteine gesetzten Verlauf, in einer unscheinbaren Mulde, dem Daumenabdruck einer völlig verrückten Geschichte. Zwei Staaten, die heute mit großem Aufwand ihre Grenzen gegen Flüchtlinge dichtmachen, wollten einem 5.300 Jahre alten Toten, der in der Jungsteinzeit auf der Flucht, mit einem Pfeil im Rücken, just dort starb, wo heute die Ländergrenze „doppelt“ verläuft, einen Pass ausstellen, ihm die Staatsbürgerschaft verleihen und ihn eingemeinden. Es ging um sehr viel Geld: um EU-Subventionen für wissenschaftliche Forschung, Zuschüsse für den Museumsbau aus dem EU-Budget für Regionalförderung, Tourismusförderung. Es erscheint als Witz eines völlig wirren Weltgeistes, dass ausgerechnet im nachnationalen Europa, innerhalb des Schengen-Raums, der Grenzen aufhob und verschwinden ließ, von der höchsten Rechtsinstanz dieses Kontinents eine Grenze gezogen werden musste, um die Nationalität eines Steinzeitmenschen festzustellen. Zugleich wird die österreichisch-italienische Grenze dadurch zur Metapher für die zeitgenössische Situation nicht nur dieser beiden Länder, sondern ganz Europas: Der Konflikt ging „nur“ um wirtschaftlichen Profit und konnte unblutig gelöst werden.

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Wir haben kein Bild des Mannes, der 1915 auf dem Monte Piana beim Versuch, die Grenze zu durchbrechen, sein Leben lassen musste und dessen Name auf einem Grenzstein aus dem Jahr 1753 angebracht wurde. Das ist Geschichte. Wir haben Bilder des Similaun-Manns, der noch Jahrtausende nach seinem Tod, durch den er an seine Grenze gelangt war, eine Grenze überschritt, vom Fund­­ort zum Monument seines Fundorts, und der weitergewandert ist in ein Museum in Bozen, wo wir ihn besuchen können. Das ist unsere Zeitgenossenschaft. Reinhold Messner stand auf den höchsten Bergen der Welt, wo der Weitblick zweifellos größer ist als in den Tälern, den Niederungen der Provinz. „Wir dürfen uns nicht selbst genügen“, sagte er, als wir die Grenzen Süd­ tirols abwanderten, und beschwor Europa als Gegengewicht zur regionalen Egozentrik. Aber: Wo ist die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Egozentrik, wo ist die Grenze zwischen delegierter Souveränität und Fremd­bestimmung? Diese Grenze mäandert heute im Zickzack ­zwischen Brüsseler EU-Institutionen, nationaler Regierung, Landesregierung und den Gemeinden hin und her, sie ist noch nicht sichtbar und wirksam gezogen. Sie zu bestim­men ist der Grenzkonflikt der Zukunft.

Robert Menasse (*1954), Schriftsteller, lebt in Wien. Zuletzt erschienen: „Ich kann jeder sagen: Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung“ (Suhrkamp, 2009).

G r e n z s t e i n z e i t — Wan d e r u n g e n t lan g d e r sü d t i r o l e r G r e n z e


J o han n e s I n d e r st

Der Mitterberg ist der Bergrücken südlich von Bozen. Er trennt das Überetsch vom Unterland. Der niedrige Buckel aus rötlichem Quarzporphyr ist mit Misch­ wäldern und submediterraner Vegetation bedeckt. Er reicht von Schloss Sigmundskron im Norden bis zum Kalterer See im Süden. Die höchste Erhebung ist der ­Hohenbühl im Süden mit 690 Metern — die beiden Montiggler Seen, die markante Felsformation „Rosszähne“ und die Burgruine Leuchtenburg charakterisieren ebenfalls das Gebiet. Der Großteil der Fläche liegt in den Gemeinden von Eppan und Kaltern, die derzeit mit knapp 22.000 Einwohnern über vier Prozent der Südtiroler Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Menschen leben vom Obst- und Weinbau, das Gebiet beherbergt aber auch zahlreiche Handwerks- und Tourismusbetriebe. Ein fotografischer Streifzug von Johannes Inderst.

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C h r i s t i a n Pf e i f e r

S c h ö n k ann a u c h k lu g s e i n

Illustration: Simone Vollenweider Jahrzehntelang, nein jahrhundertelang lebte die Bevölkerung des heutigen Südtirol weitestgehend von der Landwirtschaft, dazu vom Handel, weil die Lage ­di­rekt am niedrigsten Alpenpass — dem Bren­ner — dazu prädestinierte. Die Indus­ trialisierung erlebte Südtirol nicht als Segen, sondern als Fluch, ging sie doch mit dem Faschismus und der Einverleibung des ­südlichen Tirol in den italienischen Staat einher. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann ent­­wickelte sich in rasantem Tempo der Tou­rismus. Dieser wirtschaftsgeschichtliche Ausflug ist notwendig, um zu verstehen, wieso Südtirol heute — sagen wir es ganz ehrlich — in Sachen Forschung hinterherhinkt. Gute Küche und zuvorkommender Service brauchen keine Forschung, und während sich andernorts forschungsaffine Branchen entwickelten, erarbeiteten sich die Südtiroler nach dem Zweiten Weltkrieg auch ohne Forschung ein Pro-Kopf-BIP, das zu den höchsten Europas zählt. International erfolgreiche Vorzeigeunternehmen wie Dr. Schär (Weltmarkt­ führer glutenfreie Lebensmittel) und Durst Phototechnik (Systemlösungen für die Reproduktion von Bildern), die in Südtirol angesiedelt sind, forschen in Triest bzw. Lienz. Und Südtiroler, die in der Forschung Karriere machen, tun dies fern ihrer Heimat im Ausland. Trotzdem: Wieso sollte Südtirol nicht zu einem Forschungs- und Inno­va­ tions­­­­standort werden? „Das Genussland Süd­tirol soll sich zum Wissensland ent­­ wickeln“, formuliert Wirtschaftslandesrat Thomas Widmann das ehrgeizige Ziel der Landes­politik. Um diesem Ziel näherzukommen, schafft die Landesregierung nach und nach mit erheblichem finanziellen Aufwand Einrichtungen, die als Partner, aber auch als Geburtshelfer und — wieso nicht — als Magneten für innovationsfreudige Unternehmen dienen sollen. Da wäre einmal die Euro­pä­ische Akademie, kurz EURAC, die als Forschungsinstitution bereits internatio-

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nal ­Lorbeeren gesammelt hat, etwa in der Mumienforschung, angelehnt an Ötzi, der nur wenige Gehminuten vom gläsernen EURAC-Sitz entfernt eine Touristenattraktion ist. Da wäre das landwirtschaftliche Versuchszentrum Laimburg, das Südtirols international erfolgreichen Obst- und Weinbau unterstützt. Da wäre der TIS innovation park, der Unternehmensbrutstätte sowie In­­ novationspartner in einem ist. Da wäre die blutjunge Freie Universität Bozen, die zwar erst noch volljährig werden muss, aber doch bereits auf erfolgreiche Kooperationspro­ jekte mit Unternehmen verweisen kann. Da wäre die erst vor zwei Jahren in der Landeshauptstadt Bozen angesiedelte Fraunhofer Italia Research, eine Tochter der renommierten Fraunhofer-Gesellschaft, die sich schon jetzt als Bereicherung für Südtirols Forschungslandschaft entpuppt — dank der Südtiroler Filiale haben heimische Unternehmen nun Zugriff zum enormen Wissensschatz des Fraunhofer-Netzwerkes. Ausgaben für Innovation 25.000.000 € Rückstellung Stiftung Innovation

30.142.000 € Landesabteilung Innovation

5.900.000 € TIS Innovations park

96.760.972,46 € des Südtiroler Landeshaushaltes 2012

25.000.000 € Freie Universität Bozen Funktionskosten (30%)

12.690.000 € EURAC Research Südtiroler Informatik AG (30%) 2.000.000 €

3.000.000 € Wissenschaftliche universitäre Forschung

Versuchszentrum Laimburg 3.890.972 €

Wissenschaftliche Forschung im Gesundheitswesen 220.000 €

Ausgaben für Innovation (Quelle: Landesabteilung Finanzen).

Schließlich wäre da noch der im Entstehen begriffene Technologiepark, an dem sich zwar ein Streit entfacht hat, wie viele Millionen die Mauern kosten dürfen, der aber zwei­fels­ohne den Forschungs- und Innovations­stand­ort Südtirol beleben wird, wenn er mit den richtigen Inhalten gefüllt wird. Das zeigen Beispiele aus anderen Teilen Eu­ropas. 96 Millionen Euro nimmt die Landes­­regierung 2012 in die Hand, um ­Forschung und Innovation in Südtirol zu fördern, rechnet Finanz- und Innova­ tionslandesrat Roberto Bizzo vor. Zusätz­ liches Potenzial schlummert in der in den Start­löchern befindlichen Innovations­ stiftung, mit deren Zinserträgen künftig ­Im­pulse ­gesetzt werden sollen.

S c h ö n k ann a u c h k l u g s e i n

Apropos Fraunhofer: Der berühmte Name macht in Bozen vor, dass funktionieren kann, was Südtirols Politik vorschwebt, nämlich Forscher aus dem Ausland anzu­ locken bzw. Südtiroler Forscher nach Hause zurückzuholen, um den Forschungsstandort Südtirol zu etablieren. „Südtiroler, die teilweise ihre Karriere schon im Ausland geplant hatten, kommen zu uns. Wir sind ein Magnet für High Potential in Südtirol“, sagt Dominik Matt, der Leiter des Fraunhofer Innovation Engineering Center (IEC). Mut zugesprochen bekam Südtirol auch bei der dritten Auflage des Global Forum Südtirol, das unter dem Motto „Vision Südtirol — Das Land der klugen Köpfe“ stand. Der gebürtige Brunecker Alexander Steinkasserer, Leiter der Abteilung für ­Immunmodulation an der Uni Erlangen-­ Nürnberg und somit typisches Beispiel für einen Südtiroler, der fernab des Landes ­Forscherkarriere gemacht hat, räumte ein, dass „Wissenschaftler Nomaden sind, die dorthin gehen, wo es schön ist“. Bedingung sind selbstverständlich interessante beruf­ liche Perspektiven, aber die Weichen dafür werden in Südtirol derzeit gestellt. „Es ex­is­ tie­ren gute Beispiele, wie sich international anerkannte Forschung auch in der Peri­ pherie etablieren kann“, so Steinkasserer. Südtirol bringt mit seiner hohen Lebens­ qualität, die darin gipfelt, dass 75 Auto­ minuten zwischen dem Gletscherskispaß in Schnals und dem Sprung ins kühle Nass des Kalterer Sees liegen, beste Voraussetzungen mit. Forschen, wo andere Urlaub machen — wieso nicht? Immerhin wirken die Reize auf viele Millionen Gäste, und kein Arbeitsleben besteht nur aus Arbeit. Dem Präsidenten der Freien Universität Bozen, Konrad Bergmeister, ist Süd­ tirol sogar ein bisschen zu schön: „Wenige Studierende möchten weggehen.“ Daher spielt die Universität mit dem Gedanken, in den Studienprogrammen ein verpflichtendes Auslandssemester einzuführen, um die Studierenden zu zwingen, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern. Das spricht Bände. Südtirol befindet sich erst am Anfang seines Weges zum Wissensland. Aber es scheint gewillt, im internationalen Kampf um kluge Köpfe zu den Gewinnern zu ge­hören. Und es scheint vernünftigerweise For­sch­ungs­ ­schwerpunkte setzen zu wollen, wohl wissend, nicht überall gut sein zu können.

Christian Pfeifer (*1974), Journalist in Bozen, ehemaliger Redakteur der Tageszeitung „Alto Adige“, seit 1995 Redakteur der „Südtiroler Wirtschafts­zeitung“.

K o l u m n e / P F E I F E R


Mar c o An g e lu c c i

Zukunftstechnologien für das Hochgebirge Das Leben in den Bergen ist eine Herausforderung. Seit Jahrzehnten haben Bauern und Handwerker in Südtirol nach Möglichkeiten gesucht, um das Leben in alpinen Lagen weniger mühsam zu gestalten. Durch diese Anstrengungen konnte über Jahre hinweg Fachwissen auf dem ­Gebiet der „alpinen Technologien“ anreifen und konnten neuartige Ideen auf den Weg gebracht werden. Dass sich derartige Bemühungen lohnen, zeigt die Erfolgsgeschichte zweier findiger Südtiroler, die aus Teilen eines Heulüfters und Düsen von Bewässerungsanlagen aus der Landwirtschaft eine eigene Schneekanone zusammengebastelt haben. Heute ist Walter Rieders und Georg Eisaths Unternehmen TechnoAlpin Weltmarktführer für Beschneiungsanlagen. Die wachsende Konkurrenz auf dem globalen Markt führt jedoch dazu, dass einzelne, wenngleich innovative Unternehmen sich nur schwer durchsetzen können, weshalb es zunehmend wichtiger ist, Netzwerke zu schaffen, in denen Unternehmen gleicher Branche zusammenfinden und gemeinsam agieren. Netzwerkprojekte, ­sogenannte Cluster, sind freie Zusammenschlüsse von Unternehmen, Organisationen und Instituti-

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onen, die sich zum Ziel gesetzt haben, bestehendes Potenzial durch Zusammenarbeit und Entwicklung gemeinsamer Projekte zu optimieren. Die Zusammenführung von Stärken und die Bündelung von Know-how ermöglichen die Entstehung innovativer Lösungen und Produkte, welche nötig sind, um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Ausgehend von diesen Entwicklungen, rief Südtirol 2005 die Initiative CAN (Cluster Alpine Network) ins Leben, welche heute dem TIS innovation park angegliedert ist. Auf Betreiben der Landesregierung wurde eine Struk­­tur eingerichtet, um die Kooperation von Unternehmen zu erleichtern, die im selben Bereich tätig sind. Diese führte dann zur Entstehung der ersten Cluster im Sektor der Alpintechnologien. Seither wurden mehr als 300 Unternehmen in die Cluster „Bau“ sowie „Holz & Technik“ aufgenommen, und deren Bedeutung wächst ständig. Die Unternehmen zeichnen sich durch beträchtliche Kompetenz bei baulichen Maßnahmen am Berg aus, beispielsweise bei Lawinen- und Steinschlagnetzen, im Tunnel- und Brückenbau oder bei Konstruktionen zur Hangstabilisierung. Auf die beiden Cluster folgten bald die Plattformen „Zivilschutz & Alpine Sicherheit“ sowie „sports & winterTECH“, spezialisiert im Bereich des Wintersports. Die Gründung des letztgenannten Clusters war allerdings kein einfaches Unterfangen, umfasst ein derartiges Netzwerk doch Unternehmen, die ähnliche Produkte herstellen und daher in Konkurrenz zueinander stehen. Anfangs sorgte diese Tatsache bei lokalen Unternehmern für Misstrauen,

Die im Cluster „sports & winterTECH“ zusammengeschlossenen Unternehmen liefern die Aus­stattung gesamter Ski­ gebiete, von der Beschneiiung bis zur Thermokleidung der Mitarbeiter.  Foto: NIVIS GmbH

Marco Ang e lucc i


welches vor allem durch das Engagement von Erwin ­Stricker überwunden werden konnte. Den 2011 verstorbenen ehemaligen Skirennfahrer und Tausendsassa beeindruckten die Projekte der Leitner-Gruppe in China. Anlass für Stricker, sich für die Schaffung des Clusters „sports & winterTECH“ starkzumachen, das vor allem kleinere Unternehmen bei deren Positionierung auf neuen Märkten unterstützen sollte, nicht zuletzt, weil nicht nur der regionale, sondern auch der europäische Markt übersättigt scheint. Nach mehr als fünf Jahren kann man sagen: Strickers Bemühungen haben sich gelohnt. „Derzeit gehören dem Cluster knapp 20 Unternehmen an“, erklärt Cluster-­ Manager Thomas Egebrecht, der gemeinsam mit dem Projekt-Manager Martin Gruber das Netzwerk betreut. Der Cluster ist mit seinen Projekten auf dem asiatischen und dem osteuropäischen Markt (vor allem in Hinblick auf die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi) vertreten und nimmt an internationalen Veranstaltungen und Messen in Zusammenarbeit mit der EOS (Export Organisation Südtirol) und der Messe Bozen (Mitorganisatorin der Ispo-­ Alpitec-China-Ausstellung) teil. Im Vergleich zu ähnlich gelagerten Netzwerken in Deutschland und Frankreich, wo man bereits überstaatliche Projekte in Angriff genommen hat, die Unternehmen sich aber vornehmlich in anderen Bereichen zusammenschlie­ßen (hauptsächlich Seilbahntransportwesen und Winterbekleidung), ist der hiesige Cluster von kleinerer Struktur. Dies tut seinem Erfolg keinen Abbruch, im Gegenteil: Seine hochgradige Spezialisierung macht den Cluster auf europäischer Ebene einzigartig. Dank seiner schlanken Struktur arbeitet er außerdem sehr flexibel an der Schnittstelle zwischen Kompetenzzentrum und Beratungsstelle. Wenngleich das Hauptaugenmerk des Clusters darauf liegt, die Kooperation zwischen den Unternehmen zu forcieren, ist er zu einer ­Anlaufstelle für Unternehmer des Wintersportsektors geworden, indem er diesen bei der Entwicklung von Forschungsprojekten und bei der Inanspruchnahme von Fördermitteln beratend zur Seite steht. Durch die Erstellung von Businessplänen, Machbarkeitsstudien und Produkt­analysen wird jedes Unternehmen zwar individuell betreut, aber der Cluster ist weit mehr als ein beratendes Organ. Er ist Bezugspunkt für alle im Bereich des Wintersports aktiven Unternehmen. „Unsere Mitglieder sind in der Lage, ein Skigebiet in seiner Gesamtheit zu errichten“, unterstreicht Egebrecht. „Der Cluster arbeitet mit Leitner und Doppelmayr zusammen, den beiden Leadern auf dem Gebiet der Seilbahntechnik, auch wenn sie formal nicht dem Cluster angehören. Ob Projektausarbeitung, Wassermanagement, Zeitmessung bei Wettkämpfen, Schutz der Stützpfeiler oder Ausstattung mit Schneekatzen und Bekleidung für die Angestellten — unsere Unternehmen können all diese Teilbereiche abdecken“, erklärt er weiter. Bei einer vor zwei Jahren durchgeführten Studie wurden in Südtirol über 60 Betriebe gezählt, die in der einen oder anderen Weise im Wintersportsektor tätig sind. „Für das Unternehmenswachstum sind die Voraussetzungen hier ideal: Das Know-how ist sehr hoch, man kann neue Materialien direkt vor Ort testen und hat hier gute Möglich­ keiten, strategische Partner zu finden“, erklärt Andreas Winkler, Koordinator des Bereiches Alpine Technologien

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beim TIS innovation park. In Zukunft soll der Cluster „sports & winterTECH“ mehr Mitglieder haben. Bisher konnten neue Unternehmen nur nach Zustimmung der Mitglieder aufgeno­m­­men werden. Die restriktiven Zugangsmodalitäten sollen abgeändert werden, um der Plattform neue Impulse zu geben und neue Kooperationen zu ermöglichen. Und eine weitere Veränderung bahnt sich an: Bisher verzichtete der Cluster darauf, sich an größeren Projekten aktiv zu beteiligen. Dies könnte sich ändern, wird der Cluster in eine rechtsfähige Einheit umgewandelt. Dann wird er zu einem tatsächlichen Marktakteur, der an Wett­ bewerben zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen teilnehmen kann. Zu den Schwerpunkten des Clusters gehört auch die Forschungstätigkeit, die sich in den letzten Jahren vor allem auf Nachhaltigkeit konzentriert hat. In größeren Skigebieten wurden Projekte mit dem Ziel vorangetrieben, die Umweltbelastung durch die Nutzung erneuerbarer Energien zu reduzieren sowie eine nachhaltige Mobilität und ein sinn­volles Wassermanagement bei Beschneiungsanlagen zu fördern. „Zum Thema des Wassermanagements haben wir im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung Studien erarbeitet, die Entwicklungsmodelle für den gesamten Alpenraum definieren“, erklärt Egebrecht. Innerhalb des Clusters wurde auch die Plattform „Proneve“ ­geschaffen, die sämtliche Aspekte untersucht, die mit Kunstschnee und dessen Produktion zusammenhängen, um die optimalen Methoden und Vorgehensweisen — also die Best Practice — zu ermitteln, die in allen Skigebieten zur Anwendung kommen sollen. Anreiz für die Branche und somit auch für den Cluster bieten die Investitionsvorhaben des Landes. Um das große Verkehrsaufkommen in Skidörfern zu vermeiden, werden direkte Verbindungen zwischen Bahnhöfen und Aufstiegsanlagen angestrebt. Nach der erfolgreichen Anbindung Brunecks an das Skigebiet Kronplatz sollen ähnliche Bauvorhaben auf der Plose und auf dem Helm umgesetzt werden. Derartige Projekte dürften dem gesamten Tourismussektor neue Impulse verleihen, besonders vor dem Hintergrund, dass in immer mehr Skigebieten Aufstiegsanlagen auch in den Sommermonaten in Betrieb bleiben. Egebrecht zufolge, der auch eine Arbeitsgruppe zur Elektromobilität koordiniert, eröffnet die Anbindung der Aufstiegsanlagen an das öffentliche Verkehrsnetz den Skigebieten neue Perspektiven für den Sommertourismus. Das Entwicklungspotenzial solcher Anbindungsprojekte, aber auch sogenannter Bike-Parks, die in den Skigebieten während der Sommermonate eingerichtet werden sollen, wird in clusterinternen Studien untersucht. Ein genaues Bild über die Tätigkeit des Clusters kann man sich durch die Teilnahme an einer „Snowtour“ machen, einer Weiterbildungsveranstaltung für ein internationales Fachpublikum aus der Wintersportbranche. Während der Veranstaltung, die 2010 ins Leben gerufen wurde, sind Besuche von Aufstiegsanlagen, Gespräche mit Geschäfts­ führern und Projektanten von Skigebieten sowie mit Pro­ duzenten im Sektor der Wintertechnologie vorgesehen. ­Besonderes Highlight ist der Besuch eines ­internationalen Sport­events (Ski-Weltcup im Gadertal oder in Gröden, ­Biathlon-Weltcup in Antholz), das unter logistischen, organisatorischen und marketingtechnischen Aspekten unter-

Z u k u nf t s t e c h n o l o g i e n fü r d as H o c h g e b i r g e


sucht wird. Dem internationalen Publikum wird also jenes Wissen vermittelt, das hinter den Schnee- und Wintertechnologien sowie dem Skigebietsmanagement Südtirols steckt. Nicht ohne Stolz fügt Egebrecht an: „Die Mitglieder des Clusters sind für den Wissenstransfers zuständig. Nicht nur Wintertechnologien aus Südtirol, ­sondern auch unser Know-how sind gefragt.“

M i c h i l c o s ta

D i e G e l b e n M o ns t e r

Übersetzung ins Deutsche: Silvia Oberrauch

Marco Angelucci (*1975), Journalist der italienischen Tageszeitung ­„Corriere dell’Alto Adige“ und Korrespondent von Radio Popolare Network in Bozen.

Nachdem ich den höchsten Punkt des Hügels erreicht habe, steht mir beim Verlassen des dichten Waldes dieses gelbe, riesige Monster gegenüber. Schlafend und hässlich. Einmal in Funktion ist sein Geheul ohrenbetäubend. Bis zu 400 Liter Wasser verbraucht es in der Minute. Den Dolomiten fehlt ja nun wirklich nicht die weltweit wertvollste Ressource. Aber welche Aus­wirkun­ gen hat es, wenn diese für die künstliche Herstellung von Schnee verwendet wird?

K o l u m n e / c o s t a Foto: Michil Costa

Man muss sich bloß die Schmetterlingstheorie des amerikanischen Klimaforschers Edward N. Lorenz vorstellen: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Sydney löst Regen in New York aus. Corvara, es ist neun Uhr an einem Sonntag. Während ich einen Kaffee aus Jamaika genieße — Fair Trade, versteht sich —, grüßt mich Franz, der Pistenraupenfahrer. „Ich habe die ganze Nacht gearbeitet, um die Pisten auf Vordermann zu bringen“, sagt er. Seine müden Augen glänzen zufrieden. Ich blicke aus dem Fenster. Die Skipiste gleicht einem Billardtisch: platt, glatt,

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M a r c o A n g l u c c I / M i c h I L c o s ta


einfach perfekt, auch wenn in diesem Jahr noch wenig Schnee gefallen ist. Kinder und Jugendliche drehen auf ihren Snowboards Pirouetten und jagen lachend und glücklich die Pisten herunter. In diesem Moment kann ich die Bedeutung des Begriffs Freiheit nachvollziehen. Ich muss unumwunden zugeben: Ohne diese umweltbelastenden Schneekanonen wäre ich kein Gastwirt, der ladinische Spezialitäten und edle Tropfen servieren und über diese auch noch schreiben darf. Und sicherlich wäre ich kein Umweltschützer. Wahrscheinlich würde ich gar nicht in Corvara leben und ein solch finanziell sorgloses Leben führen. Jeder leistet auf seine Weise einen Beitrag für den Fortschritt, der schnell voranschreitet und vieles einfacher und auch besser macht, mit dem allerdings auch viele Nachteile verbunden sind. Die Schneekanonen können der Magie der Dolomiten zwar nichts anhaben, es liegt aber an uns, dass die Identität dieser Naturwelt weiterbestehen kann. Es liegt an uns, Geschichte und Menschlichkeit dieser Gegend zu erhalten und sorgsam fortzuschreiten. Nach dem österreichischen Philo­ sophen Rudolf Steiner sollten alle Hand­ lungen in einem sanften Seelenzustand ausgeführt werden. Auch Franz, der erfah­rene Schneeraupenfahrer, geht mit der Piste sensibel und sanft um. Ihm und den Erfindern der Schneekanonen gebührt, ladinisch gesprochen, unser „Giulan“, unser Danke. Wir brauchen jedoch einen Fortschritt, der die eigenen Grenzen kennt und vor allem ein inneres Wachstum anstrebt. Ich habe das Glück, hier zu leben. Ich werde nie­mals aufhören, mich dafür zu bedanken, und ­hoffe, dass auch die nächste Generation dieses Glück genießen kann — mit oder ohne gelbe Monster.

Michil Costa (*1961), engagierter Umweltschützer und Gastronom, führt mit seiner Familie das Hotel La Perla in Corvara im Gadertal.

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S t e fa n N i c o l i n i

Vom Feld zur Landschaft Fotos: Othmar Seehauser

Höher, schneller, größer — dieser Slogan dominierte in den letzten 60 Jahren die westliche Wirtschaft im Allgemeinen und die Landwirtschaft im Speziellen. Wälder wurden gerodet, um Raum für neue Weideflächen und Aufstiegsanlagen zu schaffen, Almwiesen wurden erschlossen, Steillagen begradigt, Hügel abgetragen, Straßen gebaut. Die Alpen sind heute wirtschaftlich so ausgebeutet wie kein zweites Berggebiet Europas. Die Zeiten, in denen dieser quantitativen Expansion unkritisch begegnet wurde, sind jedoch auch in Südtirol vorbei. Neue Modelle sind gefragt, welche die Bauern aus der Abhängigkeit von öffentlichen Fördermitteln und Chemieherstellern führen. Lokale Kreisläufe und wirtschaftliche Nischenbereiche sind deshalb ­wegweisende Alternativen. 2011 haben etwa zwei Dutzend Bergbauern im Wipp­ ­tal eine Genossenschaft gegründet, die seither das Fleisch des weißen und braunen Tiroler Bergschafes sowie des Schweizer Juraschafes vermarktet. „Uns geht es nicht um Masse, wir setzen auf Qualität und glauben an ­lokale Kreisläufe“, sagt der Obmann der Genossenschaft ­Alexander Plattner. Die Arbeitsabläufe von der Weide bis zum Schlachthof sind jederzeit kontrollierbar und garantieren Transparenz nach innen und nach außen. Abnehmer sind ausschließlich Privatpersonen oder Gastronomiebetriebe der näheren Umgebung, Anfragen aus Bozen werden abgewiesen. Neue Förderkriterien sind notwendig Das ökologische Bewusstsein der Konsumenten wächst. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, ist gerade in den klein strukturierten Alpenregionen eine neue Förderpolitik nötig, denn das für landwirtschaftliche Betriebe EU-weit angewandte Förderprinzip „Wachsen oder Weichen“ ist in ökologisch sensiblen Bergregionen nicht nur aus volkswirtschaftlicher Sicht ein Nonsens. Das Motto „Je größer die Investition, desto höher die Förderung“ hat dazu geführt, dass wirtschaftlich gut aufgestellte Kleinbetriebe im landwirtschaftlichen Haupterwerb vom Markt verschwunden sind. Welche Konsequenzen diese Kriterien für die Umwelt und Betriebe selbst haben, soll folgendes Beispiel veranschaulichen.

D i e g e l b e n M o ns t e r / V o m f e l d z u r L an d s c h af t

K o l u m n e / c o s t a


Blick ins Tal auf die landwirtschaftlichen Flächen des unteren Vinschgaus.

Gehen wir von einem Milchviehbetrieb mit einer ­hofeigenen Futtergrundlage für 20 Großvieheinheiten (GVE) aus — das ist die Umrechnungseinheit zum Vergleich verschiedener Nutztiere. Eine Großvieheinheit entspricht dabei etwa 500 Kilogramm, also einem ausgewachsenen Rind. Der Altbauer steht vor der Hofübergabe und möchte durch die Erneuerung des Wirtschaftsgebäudes dem Hof­ erben eine bessere wirtschaftliche Perspektive und güns­ tigere Arbeitsbedingungen schaffen. Der Bauer wird zum Bau eines neuen Wirtschaftsgebäudes für 30 GVE animiert, weil er dafür mehr Fördermittel erhält. Unmittelbar bekommt der Bauherr die höheren ­Kosten für den Neubau und für die mit den zehn zusätz­ lichen Tieren verbundenen Betriebsmittel wie Kunstdünger, Kraftfutter und Heu zu spüren. Die weitere Folge ist eine größere Abhängigkeit von den Weltmarktpreisen und ein Überschuss an Wirtschaftsdünger. Voraussetzung für die Gewährung der Förderung ist nämlich die Laufstallhaltung der Tiere, welche meistens auch eine Umstellung von Festmist auf Gülle bedeutet. Bei diesem organischen Dünger ist allerdings die Gefahr einer Grundwasserbe­lastung ungleich höher. Hinzu kommt, dass in den meisten Güllebetrieben zu viele Tiere gehalten werden, diese mehr Kraftfutter er-

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halten und das Grünland durch mehrfache Schnitte intensiver genutzt wird. Die Tieraus­scheidungen sind in solchen Betrieben deshalb eiweißreicher und damit stickstoffreicher — und das belastet wiederum das Grundwasser. Neue Förderkriterien, die den Klima- und Umweltschutz in den Vordergrund stellen, würden den sogenannten wirtschaftlich benachteiligten Berggebieten nachhaltig die Existenz sichern. Eine ökologische Landbewirtschaftung könnte sich von den Monokulturen abwenden und den Wirtschaftsmotor Tourismus zusätzlich ankurbeln, zumal der Gast und Konsument von heute bereits regionale Qualitätsprodukte bevorzugt. Ein Beispiel dafür ist in Toblach zu finden, einer Pustertaler Tourismushochburg nahe der Grenze zu Osttirol. Hier sind der Tourismusverband Hochpustertal und der Bauernbund eine vielleicht zukunftsweisende Zusammenarbeit eingegangen. Hoteliers, die regelmäßig Frischprodukte bei der örtlichen Sennerei beziehen, werden zu Quality Partnern der Milchbetriebe. Dabei ist nicht die Quantität ausschlaggebend, sondern die Kon­ tinuität der Bestellungen der Gastronomen. „Diese Zu­ sammenarbeit ist einzigartig in Südtirol“, sagt Anton ­Tschurtschenthaler, Obmann der örtlichen Sennerei. 25 ­Beherbergungsbetriebe aus der näheren Umgebung unterstützen bisher die Initiative, die für die Sennereigenossenschaft einen logistischen Mehraufwand bedeutet. Sie ist nämlich dazu verpflichtet, Bestellungen innerhalb kurzer Zeit frei Haus zu liefern und ihre Produktpalette zu erweitern, um den Bedürfnissen der Kunden zu entsprechen. Das, was der Sennerei im äußersten Osten Südtirols zu gelingen scheint, wird einige Kilometer flussabwärts mit einer gewissen Resignation zur Kenntnis genommen. Den dortigen Kartoffelbauern ist es bisher nicht gelungen, die Gastronomen von der Güte ihres Produktes zu überzeugen. Die Pustertaler Knollenfrucht wird an Großhändler nach Süditalien und neuerdings auch nach Nordafrika geliefert. Südtirols Hotelbesitzer bevorzugen billigere Kartoffeln aus Polen. Nach einem Blick in die Geldtasche, zumindest scheint es so, endet der Lokalpatriotismus, der regionale Wirtschaftskreisläufe stärken würde. Eine ähnliche Problematik besteht beim Rohprodukt Milch. Da die Konsumenten keine entscheidenden qualitativen Unterschiede zwischen Milch aus den verschiedenen Bergregionen erkennen können, ist die Kaufentscheidung vielfach vom Preis bestimmt. Südtirols Sennereibetriebe haben deshalb schon früh auf die Veredelung der Milch gesetzt, so auch die Sennerei in Brixen. Hier wird nahezu die gesamte Jahresproduktion veredelt, das sind knapp 90 Millionen Kilogramm (fast 92 Millionen Liter) Milch. In Südtirol erzeugter Frischkäse wie Mozzarella, Ricotta oder Mascarpone landet in den Supermarktketten Oberitaliens oder findet sich in Gourmetlokalen von New York als Marke Made in Italy. Bauernhof als Wohn- und Lebensraum Südtirols Vorfahren lebten als Selbstversorger auf dem Hof und ernährten sich von dem, was der Boden und die Haltung von Kühen, Ziegen, Hühnern und Schweinen ­hergaben. Die Bergbauern lebten autark und hatten in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft neben Adel, Klerus und Bürgertum eine eigene Ständevertretung im Tiroler Landtag in Innsbruck, wodurch sich vielleicht auch ihr ausgeprägtes

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Oben: Dominierender Apfelanbau in Südtirol. Die heimische Landwirtschaft hat sich zur Monokultur ent­ wickelt, sucht nun aber nach Alternativen. Links: Genossenschaften lagern und vermarkten die Produkte der Bauern. Blick auf die Obstgenossenschaft Fruchthof Überetsch in Frangart unweit von Bozen.

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Netze sollen die Ernte vor Hagelschlag sowie Sonnen- und Windschäden schützen.

Selbstbewusstsein erklärt, das bis heute anhält. Das bäuerliche Leben folgte einem strengen Ritual, das vom Kirchenkalender und den Jahreszeiten bestimmt war. Im Winter wurden die Schweine geschlachtet und im Frühjahr die Felder bestellt. Im Sommer standen Heuarbeiten an, während man im Herbst dem göttlichen Beistand für die Ernte dankte, die von Jahr zu Jahr unterschiedlich ausfiel. Dazwischen wurde geliebt, geheiratet, getauft, gestorben und täglich gebetet. Der Hof bildete einen geschlossenen Kreislauf, in dem Mensch und Vieh eine Symbiose bildeten, in dem alle Generationen miteinander lebten und sozial Schwache häufig integriert waren. Die Mechanisierung der Landwirtschaft und der ­konsequente Einsatz von Kunstdüngern oder chemischen Mitteln, welche die Gesundheit und das Wachstum der Pflanzen fördern sollen, bewirkten einen radikalen Wandel in der Bewirtschaftungsart von landwirtschaftlichen Kulturgütern: Die extensiv bewirtschaftete Landfläche wurde ­sukzessive von der intensiv bewirtschafteten Monokultur verdrängt. Die charakteristischen Streuobstgärten mussten ­weichen, plantagenmäßig angebaut werden nun neue Obstsorten, die sich besser auf dem Markt verkaufen. Die Bau­ ­ern sahen sich zusehends den Zwischenhändlern ausge­ liefert. Deshalb schlossen sie sich vielerorts in Genossenschaften zusammen, um ihre Produkte gemeinschaftlich zu sammeln, zu lagern und zu vermarkten. Der Bauer trat endgültig aus dem postfeudalen Schatten des Spätmittelalters heraus, der sich in Tirol hartnäckiger gehalten hatte als anderswo, um Teil der kapitalistischen Marktwirtschaft zu werden. Heute steht die Landwirtschaft vor neuen Heraus­ forderungen. Ökologisch sensible Zonen sind aufgrund klimatischer und topografischer Gegebenheiten für eine Massenproduktion denkbar ungeeignet. Die Ökologisierung der Landwirtschaft, besonders des Obst- und Weinbaus,

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könnte über den integrierten Anbau erfolgen, bei dem die eingesetzten Mittel von unabhängigen Kontrollinstanzen überprüft werden. „Dafür kann und muss die Politik sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene mit entsprechenden Förderkriterien und -maßnahmen die Rahmenbedingungen schaffen. Damit wird die Multifunktionalität der Landwirtschaft wieder stärker ins Bewusstsein der Allgemeinheit gerückt“, ist Andreas ­Kronbichler, Südtiroler Agronom aus Bruneck, überzeugt. Die drohende Landflucht und das Sterben von Bauernhöfen stellten die Politik neuerdings vor zusätzliche Probleme. Denn die immer höher werdenden gesetzlichen Auflagen und die steigenden Produktionskosten veranlassen viele Bauern, die Hofstelle aufzugeben oder zu verpachten. Doch der Bauernhof darf nicht mehr nur zur bloßen ­Produktionsstätte anonymer Massenprodukte degradiert werden, sondern soll zu einem attraktiven Wohn- und ­Lebensraum auch für künftige Generationen werden. Erreicht werden könnte dies durch kleine und damit flexible Wirtschaftsstrukturen, welche die vor Ort produzierten Rohstoffe veredeln. Durch die Kleinstrukturiertheit solcher Vereine oder Genossenschaften können die Produktionsschritte nachverfolgt werden, was zu einer größtmöglichen Identifikation mit dem Produkt führt. Damit würden auch mehr lokale Arbeitskräfte gebraucht und lange Transportwege vermieden werden. Grundsätzlich gilt auch hier die natürliche Gesetz­ mäßigkeit: Je größer die Arten- und Produktvielfalt, desto stabiler das Agrarökosystem. Dem gegenüber stehen allerdings die Optimierung der Betriebsabläufe und die begrenzten Personalressourcen. „Daher sollte sich jeder landwirtschaftliche Betrieb auf zwei bis drei wirtschaftliche Standbeine beschränken, etwa auf die Mutterkuhhaltung und auf den Urlaub auf dem Bauernhof, der bei Urlaubern immer beliebter wird“, meint Kronbichler. Selbst her­gestellte

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Lebensmittel wie Brot, Marmelade, Honig, Milch oder Fleischwaren werden zunehmend als wertvoll ein­gestuft. Bio ist in Südtirol längst kein Schimpfwort mehr: Die Zahl der biologisch geführten Betriebe steigt jedes Jahr, inzwischen liegt der Anteil schon bei 10 Prozent. Im oberen Teil des Vinschgaus, der ehemaligen Kornkammer Tirols und im Westen Südtirols gelegen, werden ­bereits auf 50 Hektar biologisch zertifizierter Dinkel und Roggen angebaut. Die Renaissance des Getreideanbaus ist für viele Bauern eine ernsthafte Alternative zum Obstbau geworden, der sich aufgrund der Klimaerwärmung in immer höhere Lagen verschiebt und die Grundstückspreise in die Höhe treibt.

Das in Siloballen verpackte Futtermittel prägt das Landschaftsbild in Südtirol.

Stefan Nicolini (*1966), Publizist, Mitarbeiter der Sendung „Landwirtschaft heute“ der RAI Bozen, Leiter der Presseabteilung des Raiffeisenverbandes Südtirol.

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Welcher Bauer denkt schon an das Bebauungsmuster des Tales, wenn er einen neuen Stall errichtet? Und welche Gemeinde erwägt zuerst die Verdichtung des Zentrums, bevor sie neues Bauland ausweist?

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Fotos: Nicolò Degiorgis

An die 15 Ställe hat Gion Caminada seit den 1990erJahren in seiner Schweizer Heimatgemeinde Vrin errichtet. Bevor er sich 1992 an die Planung seines Erstlings, der ­sogenannten Geißenalp auf der Hochebene Greina, machte, erstellte Caminada gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Thomas Meier eine Analyse mit dem Titel „Vrin: Wirt­ schaftsbauten und Melioration — Inventarisierung und Ent­ wick­lungsstudien“ 1. Aus dem Studium von Gruppierung, ­Typologie und Konstruktion der Wohn- und Wirtschaftsgebäude entwickelte Caminada darin Thesen für das „Weiterbauen“ des Dorfes. Wirtschaftsbauten im Dorfkern sollen nach Möglichkeit erhalten und den Anforderungen einer modernen Landwirtschaft angepasst werden. Der Bau von neuen Ställen im Dorf oder am Dorfrand soll sich in das vorhandene Bebauungsmuster einfügen. Die größte Her­ausforderung liegt dabei in der Dimension neuer Wirtschaftsbauten, die sich in die kleinteilige Struktur eines ­gewachsenen Ortes integrieren müssen. Wenn jedoch Ställe aus dem Dorf ausgesiedelt werden müssen, so sollen wieder kompakte Gruppierungen geschaffen werden, die den Zentren vorgelagert sind. Hier können auch Gewerbebetriebe für die Lagerung und Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte entstehen, wenn im Zentrum kein passender Bauplatz zur Verfügung steht. Das Denken in größeren geografischzeitlichen Zusammenhängen des Tales und seiner Landschaft sowie der Baukultur und ihrer Tradition ist für ­Caminada die Grundlage der Entwicklung. Die Stärke von Vrin liegt in der Konsequenz, mit der sich die Zukunft aus der Vergangenheit ableitet. Die Idee des Dorfes als Gemeinschaft steht dabei über den Interessen Einzelner, das Projekt wird von den Bewohnern mitgetragen. Ein Ansatz, der in unserer von Einzelinteressen geprägten Gesellschaft fast märchenhaft klingt. Welcher Bauer denkt, wenn er einen neuen Stall errichtet, schon an das Bebauungsmuster des Tales? Und welche Gemeinde erwägt, bevor sie neues Bauland ausweist, zuerst die Verdichtung des Zentrums? Südtirol ist das Land der Aussiedler: Laut Artikel 107 des Südtiroler Raumordnungsgesetzes dürfen landwirtschaftliche Betriebe von Wohnbauzonen ins landwirtschaftliche Grün aussiedeln, wenn dies aufgrund objektiver Kri­ terien erforderlich ist. Doch was den Bauern ein besseres Wirt­schaften ermöglichen sollte, hat sich als Gift für die Landschaft erwiesen. Das Südtiroler Landesamt für Statistik hat für die Zeit zwischen 1988 bis 2005 festgestellt, dass fast 25 Prozent der Bautätigkeit in natürlicher Landschaft und außerhalb der in den Bauleitplänen dafür vorgesehenen

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Zonen verwirklicht wurden. Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um landwirtschaftliche Gebäude, sondern auch um Wohnbau, Hotels und Gewerbebetriebe. Das landwirtschaftliche Grün ist in fast der Hälfte der Südtiroler Gemeinden mittlerweile die am stärksten verbaute Zone. Bezeichnenderweise grassiert diese Anarchie vor allem in kleinen Nachbargemeinden großer Tourismusorte. Wo man mit einer Wiese viel Geld verdienen kann, indem man sie in Bauland verwandelt, ist die Motivation für die Erhaltung und Pflege der Kulturlandschaft entsprechend gering. Während früher die Gemeinden allein über die Notwendigkeit einer Aussiedlung entschieden, wurde 2007 eine Expertenkommission, die sogenannte Sonderkommission 2, ins Leben gerufen, die den Missbrauch eindämmen soll. Die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich jedoch mittlerweile stark verändert und ein Vergleich mit dem Schweizer Bergdorf Vrin ist in den meisten Gemeinden obsolet geworden. Denn während die Bevölkerung von Vrin

Neues Pfarrhaus und steinerner Stadel neben der Kirche in Tabland oberhalb Naturns.

noch heute vorwiegend von der Landwirtschaft und der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte lebt, hat sich der wirtschaftliche Schwerpunkt in den meisten Tälern Süd­ tirols auf den Dienstleistungsbereich und das Gewerbe verlagert. Die geschichtlichen Zusammenhänge, auf die sich Gion Caminada bezieht, sind längst verloren gegangen. Aber auch die Landwirtschaft selbst hat sich in manchen Regionen so stark verändert, dass ein Anbinden an vorhandene Strukturen nicht mehr möglich scheint. So war der Vinschgau im Westen Südtirols einst die Kornkammer des Landes, von dieser Tradition zeugen die großen Kornspeicher und steinernen Stadel, die heute noch die Ortschaften vor allem im oberen Teil des Tales prägen. Erst vor etwa 50 Jahren setzte der intensive Obstbau ein. Ausgehend von Meran wurden erst im unteren und später auch im mit­t­ leren Vinschgau Apfelbäume gepflanzt. Genossenschaften wurden gegründet, um für die Lagerung und den Absatz zu

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Der Bärenstadel in Laas im oberen Vinschgau wird heute als öffentliche Garage genutzt.

sorgen. Die alten Sorten wurden durch ertragreichere, niederstämmige Kulturen ersetzt und die Hektarerträge auf ein Maximum gesteigert. Große Lager und Kühlzellen wurden errichtet, um diesen enormen Apfelberg übers Jahr zu verkaufen. Heute produziert Südtirol über eine Million Tonnen Äpfel pro Jahr, das sind zehn Prozent der europäischen Apfel­ernte. Die Obstmagazine sind die Stadel der Gegenwart. Die alten Wirtschaftsbauten stehen leer. Dass es sie überhaupt noch gibt, ist vor allem dem römischen Erbrecht zu verdanken, das im Vinschgau nachwirkt und eine Auf­ teilung des Besitzes unter den Erben vorsah. Meist sind die Eigentumsverhältnisse heute so kompliziert, dass jede Sp­e­kulation mit der Bausubstanz im Sand verläuft. Die Folge ist, dass etwa im Ortskern von Laas an die 30.000 m3 Wohn- und Wirtschaftsgebäude leer stehen. In Mals sind es 60.000 m3 und in der kleinen Gemeinde Schluderns sogar 70.000 m3. Statt sich im Zentrum zu verdichten, wach­sen die Dörfer ins Grün hinaus und füllen den Talboden mit neuen Wohn- und Gewerbezonen. Mit der Ausdünnung der historischen Zentren schreitet auch die Zer­ siedelung voran. Wie die Zukunft aussehen soll, darüber scheiden sich die Geister. Bezeichnend ist, dass sich der Ensembleschutz, der den Charakter von traditionellen Ge­bäudegruppen und Straßenzügen erhalten soll, fast nirgends gegen die Interessen der Besitzer durchsetzen kann. Doch selbst in Laas, wo Gion Caminada in die Expertenkommission berufen

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wurde, ist kein einziges Ensemble ausgewiesen worden. Nur vereinzelt gelingt es, die massiv gemauerten und über schmale Fenster belichteten Stadel einer neuen Nutzung ­zu­zuführen. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Bären­ stadel im Dorfzentrum, der nach langen Verhandlungen von der Gemeinde erworben wurde und seither als öffentliche ­Ga­rage genutzt wird. Andere Stadel wurden zu Kunst­ räumen, Ateliers oder meist mit bedeutend größerem Aufwand fürs Wohnen adaptiert. Die meisten scheinen ­jedoch in einem Dornröschenschlaf darauf zu warten, dass die Apfel­kult­uren, so wie sie fast über Nacht in den Vinsch­­gau gekom­­men sind, auch wieder verschwinden. Ein Chorproberaum als Missing Link 3 Im unteren Vinschgau, oberhalb der Ortschaft ­ aturns, liegt die kleine Fraktion Tabland. Vom Nachbar­ N ­ort Staben kommend, bemerkt man schon bald einen hellen ­Fl­eck unmittelbar neben der Kirche auf dem Hügel. Seit Kurzem steht hier ein neues Pfarrhaus neben der Kirche, Giebel an Giebel mit einem alten Stadel, doch respektvoll ein Stück zurückgesetzt. Bis vor wenigen Jahren war Tabland ein verschlafenes Dorf. Mit einer neuen Wohnbauzone kamen viele Familien in den Ort, doch fehlten öffentliche Einrichtungen. Deshalb wollte die Pfarrgemeinde ein Haus für die Jugend und die Vereine schaffen, einen Ort der Begegnung und der Kultur. Im Jahr 2008 wurde der Bau eines

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neuen und größeren Pfarrhauses in die Wege geleitet. Das unansehnliche Widum aus den 1970er-Jahren sollte ab­ gebrochen werden. Den Planungswettbewerb gewannen die Architekten Marx & Ladurner aus Schlanders. Als Einzige hatten sie vorgeschlagen, den steinernen Stadel zu erhalten und ihn als Proberaum für den Chor zu nutzen. Die kunstvoll gemauerten Stadel gehören seit jeher zum Ortsbild von Tabland — im alten Ortskern stehen sie in lebhaftem Wechselspiel zu den verputzten Fassaden der Wohngebäude. Heute dienen sie meist nur mehr als Garage oder Depot für die Landwirtschaft, viele werden über kurz oder lang aus dem Ortsbild verschwinden. Als bekannt wurde, dass beim neuen Pfarrhaus der Stadel erhalten bleiben würde, re­ agierten viele Menschen im Ort mit Unverständnis und

Die Zukunft der Landwirtschaft Am Eingang von Moos, einem Ortsteil des Puster­ taler Bergdorfes Sexten, steht der Schneiderhof der Familie ­Happacher. Der Vater von Hannes Happacher war zur Über­zeugung gelangt, dass Berglandwirtschaft keine Zukunft hat. Sein Sohn hat studiert und betreibt heute eine Anwaltskanz­­­lei in Bruneck. Die Liebe zur Landwirtschaft ist ihm jedoch geblieben und sie war auch die Triebfeder für die Aussiedlung der Hofstelle. Da es für den alten Hof im Ort keine Erweiterungsmöglichkeit gab, wurde im Jahr 2003 die Aussiedlung bewilligt: Die neue Hofstelle soll auf einem etwa 6,5 Hektar großen Grund der Familie in Froneben auf 1560 Metern oberhalb von Moos errichtet werden. Vorerst stehen hier jedoch nur der Stall und das Maschinenhaus. Der Standort der Gebäudegruppe ist sorgfältig gewählt: auf einer kleinen Kuppe, im halbwegs ebenen Gelände und mit einem fantastischen Blick nach Süden, auf das Fischleintal und die Sextner Sonnenuhr, einem Naturschauspiel der Dolomiten. Der Stall steht ­pa­rallel zum Hang, während der Giebel des kleinen Ma­ schinen­hauses, um 90 Grad gedreht, sozusagen einen Schlusspunkt setzt. Dazwischen liegen Auslauf und Mistlege. Beide Wirtschaftsgebäude ruhen auf einem ins Gelände geschnittenen Betonsockel. Die Holzkonstruktion

Der sanierte Stadel in Tabland dient heute als Chorproberaum.

Kopfschütteln. Im Herbst 2011 ist das neue Pfarrhaus ein­ geweiht worden. Das weiß verputzte Haus, der Stadel und eine ­kl­eine Totenkapelle bilden einen geschützten Platz. Eine nie­­drige Steinmauer säumt den Hohlweg, der entlang des Fried­hofs zu den Feldern hinunterführt. Zwischen Toten­kapelle und Stadel öffnet sich der Blick auf den karstigen Hang des Sonnenbergs. Der Saal im Pfarrhaus ist zum Platz hin verglast. Bei Veranstaltungen kann die Fassade geöff­­net und der Platz mitbenutzt werden. Außerdem ist der Pfar­rsaal mit dem Chorproberaum im Stadel durch eine ­gro­­ße Schiebetür verbunden, die hohe Tenne mit den ­schmalen Arkadenfenstern sorgt für eine gute Akustik. Marx & ­Ladurner haben mit ihrem Eingriff eine „Fehlstelle“ gesch­lossen und das alte Zentrum als Gegengewicht zur gesichtslosen Wohnbauzone gestärkt. Eine wichtige Rolle spielt da­­bei der kleine Stadel, der das neue Pfarrhaus mit dem alten Bebauungsmuster verknüpft.

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Der ausgesiedelte, neu errichtete Schneiderhof in Moos in Sexten.

ist mit einer horizontalen Stülpschalung aus Lärchenbrettern verkleidet. Architekt Klaus Hellweger aus St. Lorenzen hat sich bei diesem Projekt vor allem mit den grundsätzlichen konzeptionellen Fragen beschäftigt, während bei der Ausführung der Zimmermann oft auch freie Hand hatte. Mit dieser „Arbeitsteilung“ ist Hellweger zwar prinzipiell einverstanden, nur der zu große Dachvorsprung stört ihn jedes Mal, wenn er ihn sieht. Die funktionellen Lösungen haben sich jedenfalls bewährt. Für die Heutrocknung wird Frischluft über einen Zwischenraum im Dach angesaugt

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Die Sprinzen f端hren im neuen Laufstall ein privilegiertes Dasein, sie bekommen nur Heu von den eigenen Wiesen.

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und von einem Ventilator durch einen Lattenrost in den Heustock geblasen. Im darunterliegenden Stall ist an der Rückwand ein langes Schieferboard befestigt, auf dem mit weißer Kreide säuberlich Stammbäume notiert sind: Resi, Meggy und Mo­­na sind Sprinzen, lebhaft gesprenkelte Abkömmlinge einer alten Pustertaler Rinderrasse, die schon mehrmals beinahe aus dem Tal verschwunden wäre. In der Monarchie waren die robusten Kühe so beliebt, dass man sie mit der kurz zuvor errichteten Südbahn in den Wiener Raum br­a­chte und den Bestand im Tal stark dezimierte. Unter Mussolini wiederum galten die Sprinzen als nicht zuchtwürdig. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließ­ lich wurden sie von neuen Rassen, die mehr Milch gaben, ver­­drängt. Erst in den letzten Jahrzehnten wendete sich das Blatt: Heute gibt es im Pustertal wieder an die 350 Sprinzen, acht davon stehen im Stall des Schneiderhofs. In dem mit großen Fenstern nach Süden orientierten Laufstall führen sie dort ein wahrhaft privilegiertes Dasein, verfüttert wird nur Heu von den eigenen Wiesen. Diese werden auf 1560 Metern nur zwei­­mal im Jahr geschnitten, ihr Ertrag reicht jedoch für die in extensiver Bewirtschaftung geführte Mutterkuhhaltung aus. Die Tiere sollen in Zukunft auf dem Hof geschlachtet und das Fleisch dort auch ver­ arbeitet werden, um die Kreisläufe enger zu schließen. Auf dem Schneiderhof wird öko­­logische und nachhaltige Landbewirtschaftung betrieben: Die Familie ist davon über­zeugt, dass Landwirtschaft mit Weitblick doch eine Zukunft haben kann.

der Wunsch der Bauherren nach hohen und hellen Räumen erfüllt werden. Neben dem Hof befindet sich ein Laufstall, der trotz seiner beeindruckenden Größe von der Straße her kaum wahrgenommen wird. 2002 hat Walter Steger den alten Hof — damals noch ohne Vitrine — samt einem Stall, der in den 1990er-Jahren errichtet wurde, von seinen Eltern übernommen. Seither hat sich vieles verändert. Zuerst wurden für das Grauvieh Liegeboxen im Freien errichtet, danach beschäftigte sich Steger mit dem Umbau des Stalles, wobei er ausgiebig in einschlägigen Zeitschriften recherchierte und seine Tiere intensiv beobachtete. Im Jahr 2007 war die Zeit schließlich reif: Das Projekt haben Steger und Hitthaler gemeinsam konzipiert, jeder trug sein spezifisches Wissen bei. Die Ansätze waren zwar einfach, doch vieles, was heute beim Stallbau üblich ist, wurde hinterfragt. Der Jungbauer will vor allem an natürlichen Kreisläufen festhalten und biologisch einwandfreie Qualität produzieren. Auf Chemie, sei es im Futter oder bei der Düngung der Wiesen, wird aus Überzeugung verzichtet. Im Zuge des Umbaus wurde der alte Stall aufgebrochen. Melkkühe und Jungvieh, an die 80 Stück insgesamt, stehen unter Schutz­ dächern, doch faktisch im Freien. Sie überwintern, dem Klischee zum Trotz, auch im kalten Ahrntal problemlos bei ­Minusgraden. Die Tiere profitieren von Luft und Licht, ge­ ben in den Wintermonaten jedoch keine Milch. Saisonale Unterschiede sind in der Natur normal. Das Futter stammt von den eigenen Wiesen. An die 40 Hektar werden von der 2008 zusammen mit anderen Bauern gegründeten Gesellschaft Bio Ahrntal bewirtschaftet. Dazu kommen vier Hek­ ­tar Acker zum Anbau von Kartoffeln und Getreide. Gelagert wird das Heu in einem hangseitig angebauten und leicht ins Gelände versenkten Stadel. Damit das Heu nicht an Qualität verliert, darf es nicht zu Ballen gepresst werden. Daher braucht es für die Lagerung einen über 50 Meter langen Stadel. Eine Fotovoltaikanlage liefert die Energie zur Be­ heizung der Trockenkammer, in der dem Heu die überschüssige Feuchtigkeit entzogen wird. An der Schnittstelle zwischen Stadel und Stall liegt der Futtertisch. Als Steger bemerkte, dass die kalten Metallgatter die Tiere ­beim Fres­ ­sen störten, ersetzte er sie durch Holzgatter.

Die Vision eines Querdenkers Das von Dreitausendern umrahmte Tauferer-Ahrntal ist ein nördliches Seitental des Pustertals. Fährt man das Tal aufwärts Richtung Talschluss, so fällt auf der Höhe des Ortes St. Jakob ein alter Hof auf, über den eine Art Vitrine gestülpt wurde. Der scheinbar despektierliche Umgang mit dem Bestand hat über das Tal hinaus für Diskussionen gesorgt. Der Brunecker Architekt Stefan Hitthaler sieht sein unkonventionelles Projekt anders: Durch die neue Klimahülle aus Holz und Glas konnte die noch vorhandene Sub­ stanz des alten Hofes unverändert erhalten und gleichzeitig

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Liegeboxen für das Grauvieh im Freien.


In der modernen Rinderhaltung sind die Tiere nicht mehr angebunden, sondern können sich im sogenannten Laufstall frei bewegen. Rinder mit Hörnern benötigen zwar mehr Platz als ihre hornlosen Artgenossen und verursachen deshalb mehr Kosten, für den Bauer Steger hat allerdings die tiergerechte Haltung Priorität. Seine Rinder genießen noch andere Privilegien: Da das Tor fast immer offen steht, können sie entscheiden, wann sie auf die Weide gehen oder vom Melkroboter gemolken werden wollen. Stall und Stadel, die sich so selbstverständlich ins Gelände fügen, dass man ihre Größe aus keiner Perspektive als störend em­ pfindet, bestehen aus Holz, das zu 90 Prozent aus dem eigenen Wald stammt. Wie traditionell üblich, wurde Lärche für die Fassade und Fichte für die tragenden Bauteile verwendet. Nur für das Stadeldach mussten wegen der großen Spannweite verleimte Holzträger zugekauft werden. Ne­ ben dem Stall sollen eine Käserei für die Milchverarbeitung und ein Erdkeller entstehen, die sich in das Gesamtkonzept von Bio Ahrntal einfügen. Hier soll in Zukunft der Grau­­ käse, eine regionale Käsespezialität, reifen. Damit würde sich der natürliche Kreislauf vom Heu zum Stall und zur Milchverarbeitung schließen. Walter Steger möchte mit seinem Projekt auch finanziell autonom und von Subven­ tionen unabhängig werden. Die nächsten Jahre werden

zeigen, ob diese Rechnung aufgeht. Der neue Stall ist je­ denfalls der Beweis, dass Laufställe trotz ihres großen ­Flächenbedarfs kein störendes Element in der Landschaft sein müssen. Eine gut überlegte Wahl der Position, eine ­ausgefeilte Konstruktion, die Verwendung von ortsgerechten Baumaterialien sind drei nur scheinbar einfache Prinzipien, die, ebenso wie Stegers Vision von schonender Viehhaltung, im heutigen Stallbau leider kaum anzutreffen sind. Anmerkungen: Zitiert aus: „Cul zuffel e l’aura dado, Gion A. Caminada“, herausgegeben von Bettina Schlorhaufer, Quart Verlag 2005 2 Die sogenannte Sonderkommission besteht aus einem Agronomen und den Direktoren der Landesabteilungen Natur und Landschaft, Raumentwicklung und Landwirtschaft. Den Vorsitz der Kommission führt der Bürgermeister der jeweiligen Gemeinde. 3 Auszug aus dem Katalog zur Ausstellung „Der nicht mehr gebrauchte Stall“, herausgegeben von Susanne Waiz und Kunst Meran, Edition Raetia 2011. 1

Susanne Waiz (*1958), freischaffende Architektin und Autorin in Bozen. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Auf Gebautem bauen“ (Folio Verlag, 2005).

Der Bauernhof von Walter Steger im Tauferer-Ahrntal.

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Lo r e n z Gallm etz e r

Südtirol hin und ­zurück Fotos: Ivo Corrà

Die Kollegen nennen ihn schmunzelnd den ­„mobilen Landesrat“ — und das nicht nur, weil Thomas Widmann neben Industrie, Hand­werk, Handel und Personal auch für das Ressort Mobilität in der Südtiroler Landes­­ regierung zuständig ist. Ein Gespräch mit Südtirols Wirtschafts­landes­rat über zeitgemäße Mobilitätspolitik, sanften Tourismus, den Bau des Brennerbasistunnels, ­den Grund, warum sich Südtirols Betriebe so schwer mit Inno­vation und Forschung tun, und die Gefahr, dass Italiens Sparmaßnahmen als Folge der Finanzkrise Südtirols Autonomie aushöhlen könnten. Lorenz Gallmetzer: Vor welche Schwierigkeiten stellt eine Gebirgslandschaft wie jene in Südtirol eine zeitgemäße Mobilitätspolitik? Thomas Widmann: Als wir von Rom die volle Zu­ ständig­keit für die regionalen öffentlichen Verkehrs­ dienste erhalten haben, war klar, dass die Eisenbahn das Rückgrat der öffentlichen Verkehrsversorgung werden musste. Mit dem sogenannten Südtirol-Takt verkehren die Züge nunmehr halbstündlich — das Land hat neue moderne Zuggarnituren angeschafft und bis auf wenige Ausnahmen auch die Ausstat­ tung der Bahnhöfe qualitativ verbessert. Die öff­­ent­ lichen Busse wurden an diesen regelmäßigen Zug­ verkehr an­gebunden. Somit haben wir jetzt ein ­vernetztes Verkehrssystem, das landesweit sämtliche ­Ort­schaften erreicht. LG: Ist es wirklich notwendig, in jedes abgelegene Dorf zu kommen? TW: Alle Untersuchungen zeigen, dass die Gefahr der Abwanderung aus peripheren Gegenden durch eine gute Verkehrsanbindung dieser entlegenen Täler und Dörfer gebannt werden kann. Das gilt vor allem für die zahlreichen Nebenerwerbsbauern. Deshalb ­wollen wir jedes Dorf zumindest im Ein-Stunden-Takt mit

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Bussen anfahren. Eine Studie der Technischen Universität ETH in Zürich belegt, dass überall dort, wo die Abwanderung der Bauern verhindert werden konnte, sich der Tourismus auf natürliche Weise entwickelt hat. Das sieht man in unseren Talschaften, in denen wir überall Tourismus haben, der wiederum zum Verbleib der Gastwirte, der Handwerker und der Kaufleute in diesen Gegenden geführt hat. Ein weit­e­ res gelungenes Beispiel unseres neuen Mo­bilitäts­ ansatzes ist die Rittner Seilbahn. Die Bewo­hner des Hochplateaus oberhalb Bozens sind im Vier-MinutenTakt bis 23 Uhr an die Landeshauptstadt angebunden, viele konnten deshalb ihr Zweit­auto ver­kaufen. Jetzt können die Rittner abends ins Theater gehen oder die Bozner nach einer Wan­derung auf dem Ritten noch in einem Restaurant einkehren. LG: Welche Maßnahmen könnten noch ergriffen werden, um den Pkw-Verkehr vor allem im Tourismus einzu­dämmen? TW: In der Tat kommen derzeit 97 Prozent unserer Gäste mit dem Auto. Wir sind ein Tourismusland mit 29 Millionen Nächtigungen und fünfeinhalb Millionen Besuchern pro Jahr — das sind zwei Drittel des Aufkommens in der Schweiz, obwohl unser Nachbarland mehr als zehnmal so groß ist wie Süd­tirol.

L o r e n z Gallm e t z e r


Wir werden es nie schaffen, dass sämtliche Gäste mit der Bahn oder dem Flugzeug anreisen, das bleiben lediglich Nischen. Trotzdem setzen wir auf alternative Projekte. Nachdem wir ein Netzwerk von Bahn und Bus geschaffen haben, sollen jetzt der ­so­genannte „Süd­tirol-Pass“ für Einheimische und die „Mobilcard“ für Touristen einen preisgünstigen und benutzer­ freund­­lichen Zugang dazu gewähr­leisten. Ein Gast kann ­damit einen ganzen Tag mit der Bahn oder dem Bus unterwegs sein und auch sein Fahrrad mitnehmen. Beispiel Vinschgau im Westen des Landes: Dort gibt es sieben Fahrrad-Verleihstellen. Der Gast kann also mit dem Rad die Gegend er­kunden und dann auf das Netz von Bahn und Bus umsteigen. LG: Will das der heutige Tourist überhaupt? TW: Auf jeden Fall. Die Urlaubsgewohnheiten der Tour­isten haben sich geändert. Blieben sie früher zwei bis drei Wochen im Land, so haben wir jetzt im ­Sch­nitt fünf- bis siebentägige Aufenthalte und immer kurz­fristigere Buchungen. Die Gäste suchen die Ruhe und wollen das Auto stehen lassen können. Dabei können vergleichsweise kleine Maßnahmen zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel großen Erfolg ­haben. LG: Können Sie Beispiele nennen? TW: Pfelders ist ein kleines Dorf am Ende des P­asseier­­tales nicht unweit von Meran. Das Dorf ist für Autos gesperrt, ein Zug auf Rädern und ein Citybus holen die Urlauber vor dem Dorf ab und bringen sie an ihr Ziel. Zugleich wurde eine moderne Kombi­ bahn errichtet, auf der eine Gondelbahn und ein ­Sessellift an einem Seil laufen, und die jederzeit Rad­ fahrer, Rodler oder Skifahrer transportieren kann. Die­­ses verkehrsberuhigende Modell „sanft-mobil in Pfelders“ hat auch ein internationales Medienecho erhalten. Wir haben zur richtigen Zeit den Trend erkannt. Das gilt ebenso für die autofreie Seiser Alm, auf der wir ein neues Modell für den Wintersport umsetzen möchten. Das Zukunftsmodell schlechthin ist aber in Percha im Pustertal beheimatet. Dort haben wir einen Bahnhof errichtet, von dem man direkt auf die Aufstiegsanlagen des Skigebiets Kronplatz umsteigen kann. Die Erfahrung zeigt, dass nicht mehr das Pistenkilometerfressen im Trend liegt. Viele Wintertouristen fahren heute zum Beispiel vom Winter­ sportort Sexten nach Percha, lassen sich von dort ins Skigebiet bringen, genießen dort einen Skitag, fahren dann mit dem Bus weiter auf die Seiser Alm, näch­ tigen dort und kehren am nächsten Tag wieder nach Hause zurück. Ich bin davon überzeugt, dass wir Hunderttausende mit öffentlichen Verkehrs­mitteln zum Skifahren bringen werden können. Schon jetzt nutzen rund 1.000 Gäste pro Tag den Anschlussbahnhof in Percha, vier weitere der­artige Bahnstationen sind in Planung. Außerdem soll es Wochenendzüge geben, damit ausländische Gäste mit der Bahn ­an­reisen und direkt ins Skigebiet ge­langen können. LG: Sie stellen sich darauf ein, dass noch mehr Urlauber Südtirol bevölkern werden? TW: Nein, unser Ziel ist es nicht, die Anzahl der Gäste und Nächtigungen zu steigern; was das an­geht,

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Thomas Widmann (*1959) ist Landesrat für Industrie, Handwerk, Handel, Personal und Mobilität.

sind wir fast an der Grenze angelangt. Wir möchten zum einen die Saison durch vorsaisonale Angebote wie die Weihnachtsmärkte verlängern und zum ­an­deren mit gleich vielen oder gar weniger Näch­­­ti­ gungen eine höhere Wertschöpfung erreichen. Das ­erreichen wir mit Qualitätstourismus. LG: Die Vertreter der Wirtschaft fordern mit Nachdruck eine noch bessere „Erreichbarkeit“. Was ist damit gemeint? TW: Die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrs­ mitteln innerhalb des Landes ist schon jetzt gut. Allerdings lässt der Ausbau von wichtigen Straßen teilweise zu wünschen übrig. So sind die Pustertaler Straße oder die Vinschgauer Straße nicht mehr zeitgerecht. Jeder noch so umweltbewusste Beo­bachter muss eingestehen, dass wir da nachbessern müssen, denn die Hauptverkehrsachsen müssen gut erschlossen sein — das ist die Basis dafür, dass man überhaupt dorthin gelangt, wo man dann Ruhe ge­nießen kann. Außerdem brauchen wir auch einen effizienten Waren­transport bis in die Peripherie, weil wir ganz bewusst eine periphere Wirtschafts­struktur erhalten wollen. LG: Die Landesregierung hat sich trotz heftigen Wider­ standes für den Ausbau des Flughafens in Bozen ent­ schieden. Wie wird dieser aussehen und warum ist er Ihrer Meinung nach nötig?

S ü dti rol h i n u n d z u r üc k


TW: Der Ausbau ist allein schon deshalb notwendig, weil die Landesverwaltung sonst die Betriebs­kon­ zession für den Flughafen verlieren und überhaupt keinen Einfluss mehr auf die Entwicklung der Anlage haben würde. Die Flugzeuge, die heute in Bozen landen, dürfen ein gewisses Gewicht nicht überschreiten. Das schmälert die Beförderungs­kapazität und die Reichweite der Flüge. Ziel ist es, die Piste auf eine für die Flughafenkategorie C2 vorge­sehene Länge zu bringen, damit Flugzeuge mit einer Kapazität von 70 Passagieren landen und starten ­können. Neben den vier täglichen Hin- und Rück­flügen nach Rom sollen weitere internationale Flüge, zum Beispiel nach Wien, angeboten werden. Vom Flughafenausbau profitieren die Bevölkerung und auch Unternehmen, die sich in Südtirol an­siedeln möchten. LG: Stichwort Brennerbasistunnel (BBT). Einerseits wird wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise die Finanzierung seitens der österreichischen und der italienischen Regierung immer wieder infrage gestellt. Andererseits bezweifeln Kri­ tiker, dass seine Realisierung zu einer wirklichen Ab­na­h­me des Lastenverkehrs auf der Straße führen würde. Öster­reich und Italien könnten als EU-Mitglieder im Unter­schied zur Schweiz nicht die Mautpreise und andere Regel­werke einsetzen, um die Transportunternehmen zum ­Um­steigen auf die Bahn zu bewegen. Somit sei der BBT sinn­lose Zer­ störung der Natur und eine Milliardenverschwendung. TW: Ich glaube, dass der BBT für die gesamte EU ein prioritäres Projekt ist und bin überzeugt davon, dass er verwirklicht wird, denn er stellt die einzige und absolut beste Lösung für die zukünftige Erreich­ barkeit dar. Er ist bei Entfernungen von 500 bis 700 Kilometern sicher die bessere Alternative zum Flugzeug. Wenn ich in zwei Stunden von München in ­Bozen sein kann, absolut umweltfreundlich, WiFiausgestattet, mit meinem Büro jederzeit verbunden und komfortabel reisend, dann ist das die Zukunft. LG: BBT-Kritiker wie etwa die Grünen sind da anderer Meinung. TW: Ich kann nicht verstehen, warum die Grünen gegen den BBT sind, denn der regionale Zugverkehr wird dadurch besser für die lokale Bevölkerung nutzbar. Im Güterverkehr queren derzeit 5.500 Lkws täglich den Brenner. Die Hälfte davon sind Ziel- und Quellverkehr, also Transporte, die aus Südtirol starten oder hier enden. Diese 50 Prozent werden wir nicht von der Straße wegbekommen. Im BBT kön­n­ ten aber aufgrund der geringen Neigung der Strecke mit nur einer Lokomotive doppelt so lange Güterzüge den Brenner passieren als derzeit die Züge mit drei Lokomotiven. Bei einer Vollausnutzung von 400 Zügen pro Tag hätten wir eine theoretische Kapazität von 11.440 Lkws pro Tag, das sind viermal so viele Transittransporter, als derzeit am Tag durch Südtirol fahren. Zudem könnten 30 bis 50 Personenzüge im Halbstundentakt den BBT nutzen. Da muss doch ­jedermann einsehen, dass das die Alternative für die Zukunft ist. LG: Was ist mit der Befürchtung, dass der Tunnel überhaupt nicht genützt werden könnte?

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TW: Aus meiner Sicht ist diese Angst unbegründet. Wenn man mit nur einer Lokomotive doppelt so ­viele Container transportieren kann, dann wären die Kos­ten schon zu den jetzt geltenden Preisen absolut kon­kurrenzfähig. Nun werden die Benzinpreise in ­Zukunft keinesfalls sinken, sondern weiter ansteigen. Und wenn Österreich und Italien den BBT verwirklicht und finanziert haben, dann werden sie auch eine Erhöhung der Maut vornehmen, sonst würde das ­ganze Projekt ja keinen Sinn ergeben. Mit den EU-­ Bestimmungen ist das vereinbar und die notwendigen Liberalisierungen in Italien sind ja schon jetzt ab­ sehbar. LG: Apropos Liberalisierung. Es gibt besorgte Stimmen, die davor warnen, dass die Liberalisierungs- und Sparmaß­ nahmen der Regierung Monti als Folge der Finanzkrise die Südtirol-Autonomie aushöhlen könnten. TW: Diese Gefahr ist real. Der italienische Staat ist extrem sanierungsbedürftig. Aber durch die vom zen­ tral­istischen Rom anvisierten Maßnahmen werden sämtliche primären Kompetenzen, etwa im Handel oder in der Landwirtschaft, die Südtirol errungen hat, ausgehöhlt. Dabei müssen wir aufgrund des soge­ nannten Mailänder Abkommens sehr viel Geld bezahlen, um eine Reihe von zentralen Belangen selbst verwalten zu können und von den italienischen Staats­­schulden abgekoppelt zu werden. Zweitens werden wir im Stabilitätspakt, der geringere Aus­ga­ ben in der Verwaltung vorsieht, gleich behandelt wie etwa die Regionen Kampanien oder Basilikata. Das ist ungerecht, weil diese Regionen einen Schuldenberg von Milliarden von Euro angehäuft haben, während Südtirol seine Hausaufgaben ge­macht hat und keinen einzigen Euro Schulden aufweist. Drittens konnten wir bisher höhere Steuer­einnahmen in un­ serer Provinz einbehalten und damit soziale oder wirt­schaftsfördernde Maßnahmen er­greifen. Jetzt ­sol­len diese Einnahmen direkt in das Staatsbudget ­flie­ßen. Sollten hier nicht Kompromiss­lösungen ­gefunden werden, würden wir in zwei bis drei Jahren ökonomisch vollkommen ausgehöhlt und handlungsunfähig dastehen. LG: Kam deshalb Ihr Vorschlag, sich von Italien freizu­ kaufen? TW: Derzeit lastet auf jedem Südtiroler Bürger ein Anteil an den Staatsschulden von rund 30.000 Euro. Gemessen an Südtirols Bevölkerung könnte man Rom 12 bis 15 Milliarden Euro anbieten, wenn wir im Gegenzug sämtliche in Rom verbliebenen Zu­ ständig­­keiten für Südtirol erhalten, beispielsweise die Finanzhoheit, die Einführung einer Landespolizei oder eine regionale Rentenversicherung. Davon ausgenommen blieben die Währungs-, Außen- und Verteidigungs­politik. Dann wäre zwar jeder Süd­ tiroler angesichts des Landes-BIP von 18 Milliarden Euro in einem vergleichbaren Ausmaß verschuldet wie die österreichischen oder deutschen Bürger, aber die Schulden würden von der Südtiroler Landesregierung verwaltet werden und nicht von Rom. Dann ­wäre Südtirol zwar kein Freistaat, aber vollkommen autonom.

L o r e n z Gallm e t z e r


LG: Was die Südtiroler Wirtschaft und deren Wett­be­werbs­ fähigkeit betrifft, zeichnen Ihre eigenen Statistiken und die jährlichen Studien der EU auch ein kritisches Bild. Be­sonders bemängelt werden Schwächen bei Innovation, Forschung und Internationalisierung, sprich Export­ fähigkeit. TW: Das liegt an unserer Unternehmensstruktur. Wir haben sehr viele kleine Familienbetriebe. Die Hand­ werksbetriebe sind im Schnitt halb so groß wie die österreichischen und noch wesentlicher kleiner als die deutschen. Zugleich haben wir viele sehr innovative Betriebe und sogar Weltmarktführer speziell im Bereich der Alpintechnologien. Diese Unter­ nehmen heben die Produktivität ihrer Mitarbeiter als einen der wichtigsten Standortvorteile hervor: Die Mitarbeiter sind fleißig, haben wenig Fehlzeiten und sind gut ausgebildet, also Topqualität bei den human ressources. Auf den Standort wirkt sich auch das Umfeld positiv aus: das milde Klima, die Lebens­qualität, die Nord-Süd-Verbindung und vieles mehr. Negativ zu Buche schlägt hingegen die Planungs­unsicherheit. Der italienische Staat erlässt rück­wirkende Gesetze, ändert andauernd Bestimmungen, es mangelt an Klarheit. Der Steuerdruck in Italien ist natürlich auch enorm. In Südtirol gibt es außerdem hohe Grundstückpreise und wenige Ansiedlungs­flächen, da nur sechs Prozent des Landes besiedelbar sind. LG: Warum hinkt Südtirol aber in Sachen Forschung und Innovation hinterher?

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TW: Ein- bis Zweimannbetriebe sind zu klein, um ­innovativ zu sein und um intensiv forschen zu ­können. Sie können die Maschinen, die die öffent­ liche Hand finanziell unterstützt, nicht rund um die Uhr betreiben und sind im Einkauf und im Absatz ­benachteiligt. Deshalb fördert das Land Koope­ rationen und die Weiterbildung, damit die Exportfähigkeit solcher Kleinstbetriebe steigt. Das Sorgenkind Forschung soll allerdings mit einem neuen Technologiepark einen Aufschwung erleben. Alle lokalen Innovations- und Forschungsakteure des Landes wie etwa die Univer­sität, die Europäische Akademie EURAC, der Innovationspark TIS und das bekannte Forschungszentrum Fraunhofer sollen ­unter ein Dach gebracht werden, um Synergien zu nützen und für die Forschung optimale Bedingungen zu schaffen, damit wir mit den ­internationalen Entwicklungen Schritt halten können. Die Standortagentur Business Location Südtirol ist für die Unternehmensansiedlung im Areal verantwortlich. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen werden.

Lorenz Gallmetzer (*1952 ), ehemaliger ORF-Korrespondent in Paris und Washington, Leiter der Diskussionssendung „Club2“, freier Publizist in Wien.

S ü dti rol h i n u n d z u r üc k


Wa lt r a u d m i t t i c h

Lob de r Str aS S e N

k o l u m n e / m i t t i c h

Ich gebe es zu: ich bin ein Straßenfreak. Allein schon die Namen der Alt­ straßen im Land, der Handels- und Heerstraßen, Via Alemagna, Via Claudia Au­ gusta, lassen Funken sprühen. Viel fremdes Volk kam, Gaukler und Söldner und Marketenderinnen und Sänger, verschlagene Händler und stolze, versoffene Heer­führer. Über Landro kamen sie, Rimbianco und Endidae. Sie brachten die Neuigkeiten, die Geschichten, aber auch die Gewürze und Blumensamen, die Krankheiten zudem und die Gosse und das jeweils neue Wissen. Wenn wir heute an Straßen denken, fällt uns weit Banaleres ein: Nordeinfahrten und dritte Fahrspuren, Gratis-Parkstunden, Südund Ostumfahrungen, Autobahnkonzes­ sionen. Die Verkehrsprobleme haben uns fest im Griff, die Abgase, der Lärm, der ­St­au. Ich will sie nicht kleinreden. Mit Zukunftssinn sind sie lösbar, nicht mit Zu­ kunfts­skepsis. Share the space heißt ein Los­ungswort. Denn ich will ja ein Lob­lied anstimmen auf die Straßen, sie beinahe rehabilitieren. In Erinnerung auch an jene erste Straße, an der ich aufgewachsen bin, die Via Alemagna, die mir eine Neugier eingebrannt hat auf ihre unbekannte Endstation, auf Venedig. Oder noch viel mehr eine Sehnsucht nach den Geheimnissen von Städten, die am Meer liegen. Die Straßen des Landes Südtirol sind keine prunkvollen Boulevards; Passstraßen haben wir, Pano­ rama- und Hochalpenwege mit Haarnadelkurven, Weinstraßen, auch Alleen und Pro­ menaden und vor allem Steige und Pfade und sehr viele Forststraßen. Auf allen diesen unseren gebauten Wegen müssen wir hier und jetzt immer wieder von Neuem den Weg suchen, mit Kreativität und ­Fantasie. Denn „heimwärts fahren“ war die bestimmende Metapher der Politik und auch der Wirtschaft in den letzten 200 ­Jahren. Die Metaphern heißen jetzt: etwas in die Wege leiten, den doppelt gefährlichen Mittelweg meiden, nicht im Wege stehen, den Weg bahnen; nicht einmal die Wege der Pflicht oder der Notwendigkeit sind ohne neue Verkehrsregeln gangbar. Denn in ­dieser

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globalisierten Welt, in der sich mit einem Klick in einem batter d’occhio, ­einem Wimperschlag, alles übermittelt, wo „Ent­fer­ nung“ ein altes Wort ist, wäre es ­möglich, dass unsere Straßen neue Funk­tionen übernehmen. Straßen des Wissens können wir bauen, Rundwege des Auf­zei­gens von Geschichte, Kunst, Literatur und der neuen Technologien. Pilgerwege des Innehaltens hin zu abgelegenen Jakobs­kirchen im Land. Musikstraßen dorthin, mit Klangteppichen ausgelegt, in der neuen Musiksprache, so neu, dass die Flügel der Barockengel wackeln. Pfade der neuen ­Leidenschaften zur Konservierung von atem­beraubenden Naturlandschaften, wir ­werden sie befestigen. Und gleichzeitig an claustrofobia alpina leiden und die highways aufsuchen. Lebensumweltkunst ausüben. So wie die Straßenund Tunnelbauer die neuen Techniken

Weg nach dort/drüben/„enten“. Incontri, Begegnungen, werden stattfinden in solchen Kom­m­unikationsniederlassungen, mit den jungen Ökonomen von „enten“ werden wir ­reden über den eigenen Standpunkt und den fremden. Ja, orten, ausgraben und neu anfangen. Und jeder von uns soll seinen Traumweg orten, jenen ersten, den er erinnert, eine Zypressenallee oder eine von ­Pappeln gesäumte oder doch eine Wasserstraße mit Birken? Um so die Tiefenschärfe anzu­peilen, die alle als Kind hatten, als sie zum ersten Mal den Heimweg ganz ­al­leine gingen und plötzlich wussten: ­Eigentlich stehe ich für mich allein. Und was die ­großen Autostraßen angeht, ­unter denen sich die Dörfer ducken, wir und die Dörfer sollten den Frieden schließen mit ihnen. D a s alpine roadmovie könnte dann entstehen, eine oder einer von den ganz Jungen sollte es drehen, dort, wo die ­Brücken und Schleifen dieser ­Autobahn am kühnsten, schon Kunst sind, wird der tramp seine Gesch­ichten her­unterspulen, wie er zum Beispiel dem ­Albrecht, dem Dürer, begegnet ist knapp vor Klausen. Fellini und Kerouac mögen Pate stehen. Aber es müssen die ­eigenen ­Geschichten sein. Die Mythen ent­ stehen so: Landro, Rimbianco, Endidae. Mythen, ­erdacht auf neuen Wegen, braucht das Land. Wege nach außen, Wege nach innen, hinunter in die Ebenen, hinauf in den ­Norden, hinüber in den Osten. Ein ­weites, ein erweitertes Land.

Waltraud Mittich (*1946), Schriftstellerin in Bruneck. Aktuelle Buchveröffentlichung: „Du bist immer auch das Gerede über dich“ ­(Raetia, 2012).

Foto: Arnulf zu Linden, cc-Lizenz

nach neuen Umweltkriterien anwenden, so sollen unsere Wege zu incontri dell’arte di vivere führen, Be­gegnungszonen, Gemeinschaftsstraßen, um sich auszutauschen über die Wirt­schaft, die Politik, die Künste und die Geschichten der anderen. Denn Geschichten erzählen und ihnen zuhören können, ist unter ­anderem eine Methode der Problemlösung. Ortungsunternehmen werden wir gründen längs der Via Claudia Augusta und ver­sunkene Orte rekonstruieren: Endidae, ­römische Straßenstation, das Wort kommt möglicherweise vom Dialektalausdruck „enten“, drüben, mythischer Ort, seine Magie wird uns weiterhelfen auf dem

WA LTR A UD M ITTICH


F r a n c e s ca M e l a n d r i

Der Wahnsinn kann so definiert werden: etwas Randständiges, das sich für das Zentrum hält (wie es im Übrigen auch wahnsinnig ist, wenn ein Zentrum glaubt, keine Ränder zu haben).

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R o m − S ü dt i r o l . a u f u mw e g e n

Zeichnung: Ika Künzel

Ich bin in einer Stadt geboren, die seit zwei Jahr­ tausenden als caput mundi definiert wird und von der man sagt, dass alle Straßen zu ihr führten. Niemandem, möchte man meinen, könnte ein stärkeres und selbstverständlicheres Gespür dafür, was „Zentrum“ bedeutet, angeboren sein als jemandem, der an einem solchen Ort zur Welt kommt. Zum Zeitpunkt meiner Geburt jedoch entsprach ­die­­se über Jahrtausende aufrechte Zentralstellung schon ­lä­­ngst nicht mehr der Wirklichkeit. Italien und seine Hauptstadt waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Zentrum von gar nichts mehr. Vielleicht noch des Kinos, des Designs, der Gastronomie; gewiss aber nicht der Weltgeschichte. Ich bin also an einem Ort geboren, der als „absolutes Zentrum“ definiert wird, dies jedoch nur in einer rein geistigen, abstrakten, zeitlosen Form. Ein Ort, der, abgesehen von seiner faktischen Einzigartigkeit als Sitz der katholischen Kirche, im Vergleich zu seiner unerreichbaren Vergangenheit ganz offensichtlich zur Peripherie geworden war. Ich kann nicht sagen, ob die starke Anziehung, die ich für alles empfinde, was randständig ist (physisch, geografisch, emotional, sprachlich), mit diesem peinlichen Sonderstatus meiner Stadt (ehemals unanfechtbarer Mittelpunkt gepaart mit gegenwärtiger Bedeutungslosigkeit) zu tun hat oder ob sie einfach ein Charakterzug von mir ist. In Rom geboren zu werden und dort aufzuwachsen hat mich gewiss schon von klein auf die Vielfältigkeit der möglichen Ebenen von „Zentrum“ und „Rand“ erkennen las­sen. Dies ist ein Glück für jemanden, der einen Blick entwickeln will, der nicht nur verschiedene Sichtweisen zulässt, sondern geradezu nach diesen sucht — eine unerlässliche Eigenschaft für jeden, der wie ich das Geschichtenerzählen zu seinem Beruf gemacht hat. In diese Dialektik von Zentrum und Rand, die meinen Geburtsort prägt, haben sich jedenfalls sehr bald meine besonderen Entscheidungen und persönlichen Vorlieben eingefügt. Ich war 19, als ich als Drehbuchautorin in der römischen Film- und Fernsehindustrie (sprich RAI, Cinecittà etc., mit anderen Worten, im nationalen Zentrum des Showgeschäfts) zu arbeiten begann. Nach einigen Jahren über­ ­kam mich ein Gefühl, das ich mit vielen neugierigen Altersgenossen teilte, nämlich das Gefühl, dass anderswo, in ei­nem unbestimmten „Da-Draußen“, eine sehr viel „zentral­ere“ Welt sei, als jene, in der ich lebte. Eine Welt, von der ich nichts wusste, außer das, was ich über Nachrichten ­erfuhr, die mir immer nur aus zweiter Hand zugetragen wurden; eine Welt, der gegenüber ich die Randständigkeit (im Sinne von Begrenztheit) all meiner persönlichen Erfahrungen empfand. So verspürte ich eine große Lust, mir diese Welt mit eigenen Augen anzusehen und dort eine längere Zeit zu verbringen; Lust, im metaphorischen, aber auch im konkreten Sinne auf­zubrechen — ohne Rückfahrschein. Mir

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wurde klar, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte, dass bald die Bindungen des Erwachsenenlebens (sprich Kinder, zu bezahlende Hypotheken etc.) diesen Traum unmöglich machen würden. Mit 26 also, und obwohl ich bereits eine berufliche Laufbahn eingeschlagen hatte, habe ich wie viele Neunzehnjährige nach dem Abschlussjahr den Rucksack geschultert und bin zu einer Art verspätetem Sabbatjahr aufgebrochen — das dann nicht ein Jahr, sondern viele Jahre gedauert hat. Die Orte, die mich angezogen haben und an denen ich länger verweilt habe, waren schon immer ausgesprochen randständig: Ladakh, ein geografischer und ethnischer Zipfel Tibets diesseits der indischen Grenze, abgelegen und viele Monate des Jahres unzugänglich, so eingekeilt, wie es hinter den Gipfeln des Himalaja ist. Der Isaan, der Nordosten Thailands fern der Tourismusrouten, arm und unterentwickelt und Sitz der Hinayana-Klöster, deren Mönche hier Abgeschiedenheit und Ruhe gefunden haben. Neu­ seeland, das man von Europa aus gesehen, wenn man von ­einigen Archipelen des Pazifischen Ozeans absieht, gewiss als das geografisch randständigste Land der Welt bezeich­ ­nen kann … Ich schrieb und erhielt Briefe, um den Kon­­­takt mit lieben Menschen zu Hause aufrecht zu erhalten, denn E-Mails gab es damals noch nicht. Da ich je­des Mal für viele Monate und bei manchen Reisen sogar ein ganzes Jahr fort war, wurde der Gang zum örtlichen Post­­amt, das Abholen der postlagernden Briefe und ihre Lektüre ein auf­re­ gendes Ritual, dem ich den ganzen Tag widmete. Und immer, unausbleiblich, fand sich in wenigstens einem der Schreiben dieselbe Frage, von verschiedensten Leuten ­formuliert und sicherlich wohlwollend gemeint: „Was tust du da nur, so weit weg?“ Im Subtext: so weit weg vom ­Zentrum der Dinge. Und jedes Mal fühlte ich mich wie der Jude in jener kleinen Geschichte, der Claudio Magris den Titel seines Essays über Joseph Roth (der sich mit Randständigkeit auskannte) entnommen hat. Ein Jude beschließt, auf Reisen zu gehen. Der Rabbiner, der ihn vor seiner Abfahrt segnet, fragt ihn: „Und sagt mir: Fahrt Ihr weit weg?“ Und er antwortet: „Weit weg wovon?“ Weit weg wovon? Oder genauer: randständig im Bezug auf welches Zentrum? Die Frage impliziert, dass sich das Zentrum dort befindet, im sogenannten normalen Leben. Ich aber fühlte mich dem Zentrum der Dinge nahe, wenn ich in einer Grundschule in der Einöde jenseits des Himalaja Englisch unterrichtete oder in einem Flüchtlingslager auf einer Insel vor Hongkong mit vietnamesischen boat people arbeitete oder von der machtvollen Brandung an den Küsten Neuseelands eingeschüchtert wurde — weit mehr, als ich mich jemals im caput mundi Rom gefühlt hatte. Ich fühlte mich meiner eigenen Mitte näher, freilich, so wie es nicht selten jenen passiert, die sich auf Reisen freiwillig in eine Randposition zu ihrem Alltagsleben begeben. Und somit fühlte ich mich auch dem Zentrum des einzigen Universums näher, das ich kennen konnte: dem von mir selbst er-fahrenen. Darüber hinaus habe ich eines begriffen: Was aus der Sicht der Weltgeschichte häufig als randständig beurteilt wird, kann außergewöhnlich zentral sein und umgekehrt, wenn es mit geografischen Parametern gemes­­­sen wird. Es ist schwer, sich mitten in der mongolischen Step­­­pe unter dem winterlichen Sternenhimmel nicht im Mittelpunkt des Planeten zu fühlen. Gleichermaßen ist es aber auch schwer, sich von dort nicht auch äußerst fern

F r an c e s c a M e lan d r i


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TITE L / TITE L


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A UTOR / A UTOR


der mensch­lichen Zivilisation, der Weltgeschichte, fern vom pul­sieren­­den und hektischen Takt unserer Zeit zu fühlen. Wenn ich nach Monaten oder auch ganzen Jahren von diesen Reisen nach Italien zurückkehrte, schien mir die ­zentrale Lage des caput mundi, die so sehr auf Vergangenheit und Geschichte beruhte, überaus beengend. Mir fehlte das ­andere Zentrum, und zwar das absolute der Natur, das ich kennengelernt hatte. Und was für einer Natur! Der Pazifik, der Himalaja, die Steppen Zentralasiens. Auch die ewig sich in Bewegung befindenden Menschenmassen des indischen Subkontinents — eines der meiner Meinung nach ­außergewöhnlichsten Naturschauspiele der Welt. So entdeckte ich paradoxerweise, dass ich mich an einem Ort, der aus geopolitischer Sicht sehr viel randständiger ist als Rom, aus Sicht der Natur aber unermesslich stärker und unmittelbarer wirkt, sehr viel mehr im Zentrum fühlte (nochmals: im Zentrum meiner selbst und damit im Zentrum meiner Welt). Ein solcher Ort ist Südtirol mit seinen Bergen. Ich zog nach Gröden. Es ist schwer, sich nicht im Zentrum der Schöpfung zu fühlen, wenn man täglich am Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen auf der Seiser Alm erwacht und am Abend das Alpenglühen auf dem Langkofel erblickt. Oder genauer, es ist schwer für mich. Anfänglich hielt ich mich nur zwischen der einen Reise und der nächsten in Südtirol auf. Dann bin ich dauerhaft dort­hin übersiedelt, habe dort meine Kinder zur Welt gebracht und aufgezogen. Und allen Freunden aus Rom, die mich besuchen kamen und mich fragten: „Wie kannst du nur so weit weg wohnen?“, hätte ich erneut am liebsten geantwortet: „Weit weg wovon?“ — Das Konzept der Randständigkeit ist interessant, weil es zwei Bedeutungen hat, die auf seltsame Weise ähnlich und zugleich gegensätzlich sind. Ich habe mehrere Freunde gefragt, womit sie das Wort „Rand“ assoziieren, und ihre Antworten lassen sich grob zwei Kategorien zuordnen. Die erste verbindet das Wort „Rand“ mit dem Begriff der Grenze, der Trennlinie, dem Saum, dem äußersten Ende — ein Ort, an dem etwas aufhört und etwas anderes anfängt. Ein Ort der Trennung, aber auch der Kommunikation. Etwas, das man überwinden kann oder auch nicht, das aber jedenfalls lebensnotwendig ist. Die Haut der Dinge also. Die zweite Bedeutung bezieht sich nicht auf eine Linie, sondern auf einen Raum: ein Raum, der weiter vom Zentrum der Dinge entfernt ist, sich aber immer noch innerhalb des Dinges befindet. Das ist wichtig: Der Rand ist nie „drau­ ­ßen“, er ist auf jeden Fall „drinnen“, wenn auch manchmal nur noch knapp. Oft wird er aus Sicht des Zentrums unterschätzt, doch ohne ihn wäre das Zentrum sinnlos, formlos, unvollkommen. Das naheliegendste Beispiel für diese zweite Interpretationsmöglichkeit ist das bedruckte Blatt: Unsere Aufmerksamkeit liegt auf dem, was geschrieben steht, doch ohne den weißen Rand wäre es unlesbar. Ein weiteres Beispiel stammt von Michel Foucault, der gesagt hat, dass eine Gesellschaft Ränder braucht. Genauer: Es gibt diejenigen, die an den Rändern leben, und diejenigen, die sich nur deshalb überlegen fühlen, weil es eben jene anderen gibt. Eine Freundin, die Fotografin ist, hat mir ein drittes Beispiel ­geliefert: jene Zone am Rand des Bildes, durch die Spannung im Bild entsteht. Niemand schenkt ihr Aufmerksam-

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keit, weil der Sinnträger, das Subjekt, der eyecatcher, die Emotion des Bildes anderswo liegt; aber ohne ihn, ohne diesen leeren Rand, hätte nichts von all dem einen Sinn. In meinem Beruf — Geschichten erzählen — ist das Konzept der Randständigkeit ein essenzielles. In der ersten Bedeutung, jener von „Grenze“, ist der Rand die erste Voraussetzung für Kreativität. Es gibt nichts Unfruchtbareres als die völlige Freiheit. „Erzähl mir etwas“ ist der hemmends­te Satz, den es gibt, der Satz, der uns verstummen und die schönen Dinge, die wir bis dahin zu sagen gehabt hät­ ­ten, vergessen lässt. „Etwas“ ist ein randloser Begriff, form­ ­los und unbegrenzt. Um eine Geschichte zu erfinden — und dasselbe gilt auch, wenn man ein Musikstück komponieren, ein Bild malen oder einen Leckerbissen zubereiten will —, muss man sich zuerst Grenzen setzen. Thematische, stilis­ tische, strukturelle, zeitliche, inhaltliche — egal welcher Art. Wichtig ist, dass man sich Grenzen auferlegt. Nur innerhalb dieser Grenzen ist man frei zu schaffen. Auch in seiner zweiten Bedeutung — „Ort, der am weitesten möglich vom Zentrum entfernt ist“ — ist für mich das Konzept von Zentrum und Rand wichtig, nämlich als Blickwinkel beim Schreiben. Ich empfehle immer allen Schreibenden, eine, wie ich es nenne, „indirekte Beleuchtung“, das heißt eine Beleuchtung, die nicht vom Zentrum — von der Figur, der Situation, der Geschichte —, sondern vom Rand ausgeht. Indirekt eben. Eine Beleuchtung, wie sie die Restauratoren verwenden, um die Unvollkommenheiten eines Bildes, seine Unebenheiten und unerwarteten Kontraste sichtbar zu machen. Eine Beleuchtung oder auch eine Sichtweise, die sich nicht damit zufriedengibt, die Dinge von der Mitte aus zu betrachten, sondern die einige Schritte zurücktritt, sich vom Zentrum dessen, was wir tun, entfernt und es uns dadurch paradoxerweise ermöglicht, die Dinge klarer zu sehen. Meinen ersten Roman „Eva schläft“ habe ich mit der Absicht geschrieben, einen Teil italienischer Geschichte zu erzählen. Gewiss, ein „randständiger“ und ausgegrenzter Teil, aber doch immer ein Teil der Geschehnisse in meinem Land im zwanzigsten Jahrhundert. Und es hat mich jedes Mal sehr gefreut, wenn jemand — im Allgemeinen südlich von Salurn — mir gesagt hat, dass er dadurch viele Aspekte der politischen und geschichtlichen Ereignisse in Italien ken­­nengelernt und verstanden hat, die ihm zuvor fremd waren. Mir scheint also, dass es mir gelungen ist, zumindest ein wenig „indirektes Licht“ auf die Geschichte meines Landes zu werfen. Auch mein neuer Roman ist mit einer ähnlichen Absicht entstanden. In „Più alto del mare“ („Höher als das Meer“) spreche ich von den sogenannten „Anni di Piombo“ („Bleierne Jahre“), und zwar aus der randständigsten und einer in der Literatur am seltensten eingenommenen Perspektive: nicht aus jener der Täter, auch nicht aus jener der Opfer oder der Verwandten der Opfer, sondern aus jener der Verwandten der Täter. Die Wahl dieses Blickwinkels ist mir, um es klarzustellen, instinktiv gekommen, beim ersten Skizzieren der Idee. Aber man hat viele Ideen, und nur sehr wenige werden dann wirklich eine Geschichte, ein Roman, ein Film. In diesem Fall war es so, dass die Idee sich als immer fruchtbarer herausstellte, je länger ich die äußerste Randständigkeit meiner Protagonisten untersuchte, sodass sie tatsächlich von einem vagen Denkansatz zu einem Roman geworden ist.

R o m — S ü d t i r o l . A u f u mw e g e n


— Ist die Randständigkeit also etwas Schönes? Sie ist gewiss etwas Fruchtbares, Erhellendes, Kreatives. Die Ränder verbinden unterschiedliche Dinge, schaffen Raum, um aufzulockern und mit Sinn auszustatten, was im Zentrum zu dicht, schwer, voll erscheint. Sie sind Orte der Kommunikation und Ausarbeitung. Aber wenn es wirklich nur so wäre, müsste Südtirol in seiner augenscheinlichen geopolitischen Randständigkeit als Grenzort zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen, in seiner Randposition zwischen zwei verschiedenen Zentren von unschätzbarem kulturellen und sozialen Reichtum (einerseits Italien, an­dererseits die deutschsprachige Welt), zu denen sich noch Wohl­­befinden, Naturschönheit, funktionierende Sozial­dienste und viele andere Schätze gesellen, einer jener ­Orte auf der Welt sein, an dem die Menschen am glücklichsten sind. Am zufriedensten, am tolerantesten, am kreativsten, am verständnisvollsten für die Facetten des Lebens. Verständnisvoll auch für die anderen, seien es nun Einzelne oder ganze Kulturen. Und doch … Nein. Südtirol zeigt sich nicht so, jedenfalls nicht, wenn man die lokalen Zeitungen liest. Neben, oder vielleicht soll­­te man besser sagen unter den vielen herausragenden Leistungen im unternehmerischen oder sozialen Gebiet, un­ter der hohen Lebensqualität gibt es etwas Dunkles in dieser Provinz. Etwas Selbstreferenzielles, Unbewegliches. Etwas Starres, manchmal sogar etwas Nachtragendes. Etwas, das nicht psychisches Wohlbefinden hervorbringt, sondern diese etwas formlose Sache, die manchmal als D ­ isagio, „Miss­behagen“, bezeichnet wird. Für diejenigen, die aus Regionen Italiens kommen, die in Bezug auf das „kon­­krete“ Leben — Schönheit der Orte, Lebensqualität, Wohlstand — weniger glücklich sind, ist der Unterschied ­zw­ischen dem materiel­­len Wohlergehen in Südtirol und den vielen mehr oder ­weniger augenfälligen Formen des exis­tenziellen Notstands wirklich befremdlich. Es ist viel über dieses Phänomen und seine möglichen Ursachen geredet worden: der viel zu ­schn­elle Übergang von der Armut einer bäuerlichen Kultur zum plötzlichen Reichtum durch den Tourismus, die fehlende Aufarbeitung großer Teile der jüngeren Geschichte, die Unfähigkeit, seine Gefühle auszudrücken. Selbstverständlich glaube ich nicht, dass es eine einzige Antwort gibt. Dennoch möchte ich vorschlagen, gerade auch das Konzept der Ran­dständigkeit näher in Betracht zu ziehen. Wir haben gesehen, wie die Randposition zu innerem Reichtum, zu einer breiteren Sicht auf die Welt, zu einem tieferen Blick führen kann. Doch damit dies geschehen kann, muss eine Bedingung erfüllt werden: Die eigene Randständigkeit muss anerkannt werden. Anerkannt als Wert, als Stärke, als Vorteil — all das kann sie sein, wie wir gesehen haben. Aber wehe dem Randständigen, das sich für ein Zentrum hält! Es wird all seinen oben beschriebenen Reichtum verlieren. Darüber hinaus wird dem Begriff „Zentrum“ fast immer der Begriff „Reinheit“ zugeordnet. Die Versuche, den gefühlten Verlust der eigenen Zentralstellung — ein Gefühl der Schwä­­che und des Bedrohtseins, eben der Randständigkeit — zu kompensieren, bringen nicht zufällig eine rassistische, faschis­tische, totalitäre Gesellschaft hervor. All dies ist Südtirol nicht, sicherlich, und es hat bestimmt Abwehrkräfte, um nicht so zu werden. Doch dies ist die Gefahr, die jenen droht, die immer nur eine

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Identität als die zentrale hervorheben, da­rüber darf man sich keine Illusionen machen. Die Ge­schichte des vergangenen Jahrhunderts hat uns dies nur zu gut verdeutlicht — unnötig, die Lektion zu wiederholen. — Die Orte, die sich ihrer Randständigkeit bewusst sind, schöpfen daraus also Reichtum und Kreativität. Sie wer­ ­den zu Orten des Austauschs, der Ausgestaltung, der Originalität, der Erneuerung, in denen alles im Fluss ist. Die Orte, die sich auf ihre behauptete Zentralstellung versteifen, ziehen sich hingegen in sich selbst zurück, stellen sich als von der eigenen Einmaligkeit besessen heraus und bleiben faktisch unfruchtbar. Die Politik in Südtirol scheint mir allzu häufig genau diesen Fehler zu begehen. Beispiele? Zahl­lose. Die Vertreter der italienischen Rechten, die sich an Symbole einer längst vergangenen Zentralstellung hängen (der Faschismus, Mussolinis „Rombezogenheit“). Oder die letzte absurde Polemik gegen das Fest der Befana, das von der Partei Süd-Tiroler Freiheit als „italienisch“ und damit als „nicht authentisch südtirolerisch“ angeprangert wurde. Diese Kritik impliziert eine eindimensionale und einförmige Kulturvorstellung, die um ein vom Begriff „Heimat“ geprägtes Zentrum kreist. In beiden Fällen wer­ ­den die zugrunde liegenden Konzepte — „italianità“ und „Heimat“ — als absoluter Identifikationspunkt und damit als ein hypothetischer, illusorischer „Mittelpunkt“ gesetzt. Ein Mittelpunkt innerhalb einer Welt der Beziehungen, die kei­ ­nen Mittelpunkt kennt, da jedes Land mit jedem verbunden ist, und erst recht dieses kleine Grenzland. Und dass ein Grenz­land am Rand liegt, drückt sich schon in den Begr­if­ ­fen aus. Dies sind zwei Beispiele der jüngsten Vergangenheit. Doch sie sind gewiss nicht die einzigen. Sie zeigen immerhin gut, welche zugleich lächerlichen und besorgniser­ regenden Auswüchse ein öffentlicher Diskurs haben kann, der die Ebenen von Rand und Zentrum verwechselt. — Der Journalist Toni Visentini hat kürzlich seinem letzten Buch über Südtirol /Alto Adige den Titel „Non siamo l’ombelico del mondo“ („Wir sind nicht der Nabel der Welt“) gegeben. Dieser Tatsache eingedenk zu sein scheint mir ein ausgezeichneter Ratschlag für jeden: für jeden Einzelnen, für jede Gesellschaft. Der Wahnsinn kann so de­ finiert werden: etwas Randständiges, das sich für das Zen­ trum hält (wie es im Übrigen auch wahnsinnig ist, wenn ein Zentrum glaubt, keine Ränder zu haben). Und man kann die Weisheit als etwas Randständiges definieren, das über sich Bescheid weiß. Es gibt keine Zweifel darüber, welche der beiden Lebensmöglichkeiten in der Dynamik von Rand und Zentrum die einzig wirklich fruchtbare, ­kre­ative und unserer Zeit angemessene ist. Welche wird Südtirol wählen?

Übersetzung ins Deutsche: Selma Mahlknecht

Francesca Melandri (*1964), Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Aktuelle Buch­ veröffentlichung: „Eva schläft“ (Blessing, 2011).

F r an c e s c a M e lan d r i


Geheimnisvolle statuarische Figuren: Walter Moroder in seinem Atelier im Grödental.

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D i e V e r s ö h n u n g v o n A k t u al i tä t u n d T r a d i t i o n


Han s-Pete r R i e s e

Die Versöhnung von Aktualität und Tradition Foto: Ivo Corrà

Es gehört zu den unvergesslichen Momenten, die man mit Künstlern erleben kann, mit Walter Moroder durch St. Ulrich im Südtiroler Grödental zu gehen. Er entstammt einer Schnitzerfamilie, deren Namen an vielen Häusern, über vielen Schaufenstern der Herrgott-Schnitzer steht, und er ist doch ganz anders. Trotzdem erläutert er die traditionellen Schnitzmethoden bis hin zu unglaublichen, com­ puter­gesteuerten Maschinen, auf denen die weltbekannten Figuren in Serie hergestellt werden. Er hat Verständnis für die Industrie, kein abwertendes Wort kommt über seine Lippen, er weiß sich bei aller Andersartigkeit der eigenen künstlerischen Produktion dieser traditionellen Welt gleichwohl zugehörig. Gelernt hat Walter Moroder in der Werkstatt seines Vaters, David Moroder, dessen Name bis heute auf dem eindrucksvollen Gebäude steht, das Vater und Sohn einst gebaut und gemeinsam genutzt haben. „Atelier“ — die­ ­sen Begriff verwendet Walter nicht, er bleibt bei dem der Werkstatt, denn das, was da unter seinen Händen entsteht, ist Handwerk. Auf die Frage, wie lange er denn an einer seiner Figuren arbeitet, hat Moroder eine irritierende Antwort parat: „Ich kann aus Erfahrung sagen, dass eine Figur innerhalb von 10 bis 20 Minuten entsteht. In dieser kurzen Zeit habe ich das Gefühl, mit der Skulptur eins zu werden.“ Alles Weitere bezeichnet er schlicht als „Arbeit“, und wenn man das Privileg hatte, ihm bei dieser Arbeit einmal zuschauen zu dürfen, dann versteht man den Satz sofort. Es ist, als entstehe die Figur wirklich aus dem Nichts — obwohl an einem großen „Klotz“ aus Holz gearbeitet wird. Es ist dies natürlich das ewige Geheimnis der Kunst, speziell der Bildhauerei, wie sich das dann fertige Werk aus einem vollkommen ungestalteten Material-Block entwickelt. Moroder hat allerdings erfahren müssen, dass mit dem profunden Handwerk, das er bei seinem Vater erlernt hat, heute in der Kunst keine Punkte mehr gemacht werden können. Wo zum Teil mit Wegwerfmaterialien mehr als dilettantisch gearbeitet wird und manche Kunstwerke kaum die erste Ausstellung heil überstehen, muten die solide gearbeiteten Skulp­turen von Moroder fast klassisch-konservativ an. Aber der junge Kunststudent auf der Münchner Akademie hat auch nicht darauf bestanden, sein erlerntes Handwerk in

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den Vordergrund zu stellen. Was er in München in sich aufgesogen hat, ist eine Art geistiges Rüstzeug, das Begreifen der Moderne und ihr Verhältnis zu dem, was er von zu Hause, aus dem Grödental mitgebracht hatte. Die frühen Studentenarbeiten zeigen, dass hier jemand gearbeitet hat, dem es augenscheinlich auf das Ergebnis gar nicht so sehr angekommen ist — es war eine Phase nicht der Suche, aber des Abwartens. Diese Ruhe, in sich selbst ruhende Sicherheit über etwas, was weder sich bisher gezeigt hatte noch wo­rüber der Künstler selber einen Begriff gehabt hätte, zeich­­net die Kunst von Walter Moroder bis heute aus. Die Rückkehr in das Grödental nach dem Studium muss eine un­geheure Herausforderung für den jungen Künstler gewesen sein. Einerseits. Andererseits zeugt sie von einer inneren ­Sicherheit, die man nur bewundern kann. Denn ­Moroder trägt bereits eine Vorstellung in sich, die sich von der Tra­dition der Schnitzerei, in der er aufgewachsen ist, fundamental unterscheidet und doch in einer merkwürdigen Verbindung zu ihr steht. Man könnte es so formulieren, dass die Figuren von Walter Moroder, die ganz und gar in der Jetztzeit angesiedelt sind, Teil der avantgardistischen zeit­­genössischen Kunst sind, doch ohne den kulturellen, tra­­ di­tionellen Hintergrund der Kultur der Südtiroler Schnitzkunst nicht zu begreifen wären. Die statuarischen Frauenfiguren von Walter Moroder beherrschen jeden Raum, in dem sie aufgestellt sind, und sie ragen sofort aus dem Kunstangebot heraus, das sie, zum Bei­spiel bei einer Kunstmesse, umgibt. Es sind aufrecht stehende Menschen, die in sich abgeschlossen erscheinen, die nichts von ihrem Inneren preisgeben und die auf eine merkwürdige Weise geheimnisvoll bleiben, auch wenn man sich ihnen direkt und intensiv aussetzt. Ihr Blick — dargestellt durch Glasaugen — geht ins Leere oder in eine unbestimmte Ferne, jedenfalls kann man ihn nicht erwidern oder auf sich lenken. Die Körperformen sind unbewegt, keine Dynamik, keine Geste, keine Richtung geht von ihnen aus. Manche Beobachter fühlen sich an ägyptische Figuren erinnert, und das hat sicher seinen Grund. Aber es ist etwas ­anderes, was diese Frauen ausstrahlen: Sie sind entrückt wie die Heiligen der traditionellen Schnitzerei im Grödental, aber sie sind kein Klischee einer Mythologie. Stattdessen sind sie welthaltig und so mit Welt gesättigt, dass sie es sich leisten können (oder dazu gezwungen sind), sich von dieser Welt abzuwenden. Und das ist die eigentümliche ästhetisch-psychologische Dialektik dieser Figuren: Sie sind gleichzeitig welthaltig (weltgesättigt) und weltabgewandt. Allerdings wenden sie sich nicht einer Überwelt, einer religi­ösen Mythologie zu, sondern sich selbst, sie ruhen in sich, de­mon­s­ trieren dies durch ihre gelassene Haltung und ihre Hoheit. Denn das ist es, was einem immer wieder in den Sinn kommt, wenn man die Figuren von Walter Moroder ansieht: Sie präsentieren sich in einer fast traditionellen Hoheitsgeste, der man sich nicht entziehen kann. Vielleicht ist es eine falsche Begrifflichkeit, wenn man hierbei von einem Geheimnis spricht, das sie bewahren und dem man auf die Spur zu kommen versucht, indem man sie anschaut. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sich hinter diesen Figuren (oder besser gesagt in ihrem Inneren) etwas verbirgt, das wir nicht benennen können und das letztendlich ihre Faszination ausmacht.

Hans - P e t e r R i e s e


Der Kunsthistoriker Hans-Joachim Müller schreibt in einem Essay zu Moroder und dieser Faszination des ­Inneren: „Kern ist Existenzform tief drinnen. Kern ist nicht das Innerste. Das Innerste wäre nur um den Preis der Zerstörung des Kern zu erhalten.“ Merkwürdig; je mehr man sich mit den Figuren von Walter Moroder beschäftigt und sie in den Kontext der zeitgenössischen Kunst einordnet, in der die Figuration ja seit einiger Zeit wieder im Vormarsch ist — denken wir hier nur an den deutschen Holzbildhauer Balkenhol —, desto mehr kommen einem die seriellen ­Hei­ligenfiguren aus den Schnitzerwerkstätten des Grödentals in den Sinn. Walter Moroder verbindet in einer ein­zigart­igen Art und Weise Aktualität, und das meint hier äs­thetische Aktualität, mit der Tradition, in der er auf­ge­ wach­­sen ist. Mir wurde dies deutlich anlässlich einer Aus­ stel­lungs­­er­öffnung seiner Kunst in Bad Homburg bei ­Frankfurt. Nach einer gut besuchten Vernissage saßen wir in ei­nem Lokal, das sich nach und nach leerte. Zum Schluss saß Walter ­Moroder mit seiner Familie und Freunden aus St. ­Ulrich an einem großen Tisch und sie sangen ganz leise Südtiroler Volkslieder in der ladinischen Sprache. Ohne dass eine einzige Figur des Künstlers präsent war in diesem Lokal, erschloss sich wenigstens ein Teil dessen, was Müller den Kern, also die Existenzform genannt hat.

Hans-Peter Riese (*1941), ehem. ARD-Korrespondent in Prag, Moskau und Washington, Chefredakteur des Hessischen Rundfunks, Kunstsammler und Kunstkritiker in Köln.

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Te r e sa Vo g l

Das Experimentieren als Hauptberuf Foto: Ivo Corrà

„Nie habe ich mir überlegt, was ich wohl in fünf Jahren machen würde.“ Manuela Kerer, die Zielgerichtete und gleichzeitig Offene. Die Suchende, die Forschende, die Lauschende. „Der Gehörsinn ist für mich ein Wunder, denn die ganze Welt klingt!“ Und vor allem: die Vielseitige. Berufsfelder gäbe es genug für die studierte Geigerin, Psychologin, Juristin und Komponistin. Daneben die Freunde und der Stand am Brixner Weihnachtsmarkt, wo sie jedes Ad­ventwochenende gemeinsam mit den Geschwistern dem Va­­ter beim Verkauf hilft: „Am 24.12. gehen wir zu Mittag turn­usmäßig zum Würstelstand.“ So unkompliziert und entspannt scheint sie mit vielen Dingen des Lebens umzuge­ ­hen, denn trotz Leistungssport Eiskunstlauf während der Schulzeit ist ihr die Jagd nach Trophäen kein Anliegen: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das Kompositionsstudium abschließen würde“, sagt Kerer. „Ich glaube auch nicht, dass man nur für einen Abschluss oder Titel studieren sollte. Aber dann hat es mich bis zum Schluss interessiert und ich hab es fertig gemacht.“ Die Neugierde, das Interesse an Unbekanntem, ist die Triebfeder hinter Kerers schier endloser Energie. Dazu kommt ein gewisser missionarischer Drang, neue Musik „unter die Leute zu bringen“, wie sie sagt. „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Je öfter er ungewohnte Dinge hört, umso besser ist das. Deshalb hätte ich auch keine Bedenken, ein Stück von mir an die Werbung zu verkaufen. Musik und Kultur haben eine große wirtschaftliche Komponente.“ Mit den musikalischen Gewohnheiten des Menschen und ihren Auswirkungen auf die Hirnstrukturen setzt sie sich derzeit in einer ihrer beiden Dissertationen mit dem Titel „Das musikalische Gedächtnis bei Patienten mit leichter Demenzerkrankung“ an der Psychiatrie Innsbruck auseinander. „Im Bereich der Neuropsychologie und der Musik gibt es noch relativ wenig Material, weil es sehr schwer zu erforschen ist“, erklärt Manuela Kerer. „Ich würde mich deshalb gerne näher mit den Gehirnstrukturen von Menschen befassen, die sich ausgiebig mit neuer Musik beschäftigen, und solchen, die damit nichts zu tun haben, und dann die Unterschiede erforschen.“ Ihr anderer Forschungsschwerpunkt betrifft die eigene (musikalische) Karriere: Dissertation Nummer zwei entsteht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Innsbruck zum Thema „Die Entwicklung der Rechte der KomponistInnen in Österreich“.

A k t u al i tä t u n d T r a d i t i o n / Das E x p e r i m e n t i e r e n A L S Ha u p t b e r u f


Die Suchende, die Lauschende: Die Brixner Komponistin Manuela Kerer.

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T e r e sa V o g l


„Komponieren kann man überall dort, wo man sich wohlfühlt“ Eine Wohnung in Innsbruck, das Elternhaus in Brixen und viele Auftragsarbeiten aus Wien: Komponieren an der Peripherie ist ein Konzept, das für das 1980 geborene quirlige Multitalent seit einigen Jahren aufgeht. 2006 kamen die ersten Aufträge, damals noch parallel zum Anwalts­prak­tikum. Im Jahr darauf schloss Manuela Kerer ihr Kompo­sitionsstudium bei Martin Lichtfuss am Tiroler Landesko­n­ser­vatorium ab, mittlerweile lebt sie von ihrer Musik. Die Liste der Preise und Stipendien ist lang, obwohl sie eine ak­tive Auftragsanbahnung eher ablehnt. „Es zieht sich­durch mein Leben, dass ich nicht so gerne an Leute herantrete“, sagt die Südtirolerin. Es habe noch jeder, der sie ­gesucht habe, gefunden — trotz fehlender Homepage. Das aktive Sprechen über ihre Musik ist Kerer wichtiger als ein durchkomponierter Internetauftritt. Ist ihr Komponieren in ir­gend­einer Weise „verortet“? Eher findet sich die Inspiration dazwischen, im Zug, auf der Reise. Vielleicht träumt sie ­deshalb davon, die ganze Welt zu durchqueren. Wichtig ist aber auch das Setting: „Wenn ich ein Stück über einen Berg oder einen Schrottplatz mache, dann gehe ich dorthin und schau mir das an.“ Das Gehirn, das ist auch so ein Ort, mit dem sie sich intensiv auseinandersetzt — und es wäre nicht Manuela Kerer, würde sie ihr außermusikalisches Wissen nicht auch in ihre Werke einbringen. So geschehen in ihrem Violinkonzert aus dem Jahr 2008 und 2009. Es trägt den Namen „plas“ und ist eine Reise durch das menschliche Gehirn, das sich für Kerer besonders durch seine Wandelbarkeit und seine Plastizität auszeichnet. Im Stück schwirren Klänge, Geräusche und Töne wie kleine Neuronen durch den Raum, stoßen zusammen, lernen, wandern, ruhen, rasten aus oder verharren. Aber auch die flexible Positionierung der Musiker im Raum ist „typisch Kerer“: Die sich bewegenden Ensembleformationen bilden die verschiedenen Gehirnlappen nach. Doch das ist für die Komponistin alles andere als bloße Effekthascherei: „Ich lasse die Musiker gerne den Ort wechseln, an dem sie spielen. Das beeindruckt die Leute immer. Aber ich mache auch ganz ‚klassische‘ Stücke und verzichte auf dieses Kasperletheater, auch wenn solche Formen für mich natürlich immer einen Sinn haben.“ Diese „klassischen“ Stücke sind oft kammermusikalischer Natur und tragen Namen wie „Dolce malinconia“ (Süße Melancholie) für ein Violoncello-Quartett oder „Solitudine vaga“ (Schleierhafte Einsamkeit) für drei Zithern und Zuspielung von Reiseklängen. Auch die traditionelle Verbindung von Musik und Poesie hat in Kerers Werken Platz: „monddüne“ aus dem Jahr 2009 bezieht sich einerseits auf einen Ausspruch von Antoine de Saint-Exupéry und ist andererseits ein „Schlafphasen-Quartett“, das von der Einschlafphase bis zum traumbeladenen REM-Schlaf „alle Stückln spielt“, um es Wienerisch auszudrücken. Ihre Herkunft ist ein Thema, musikalisch wie sprachlich: „Meine Mutter war Ladinerin, ich mag gerne ladinische Titel.“ Aber auch zimbrische, italienische und südtirolerische Ausdrücke können Namensgeber sein, wie das ­„Oachale“: ein Stück für Flöte, Sopransaxofon, Perkussion, Harfe, Violine und Kontrabass aus dem Jahr 2008 über das Eichkätzchen, uraufgeführt vom Ensemble „die reihe“,

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und zusammen mit den anderen erwähnten Stücken auf die CD „Edition Zeitton“ mit dem Titel „Manuela Kerer“ gebrannt. Nur das „Stück für 10 elektrische Zahnbürsten“ harrt noch seiner Entdeckung durch die Dentalpflege­ industrie.

Teresa Vogl (*1983), Kulturredakteurin des ORF-Radio, gestaltet und moderiert Musiksendungen auf Ö1.

Das E x p e r i m e n t IERE N A L S Ha u p t b e r u f


Georges Desrues

Der Hunger der Stadt Fotos: Barbara Mair

Für den Historiker Massimo Montanari bedeutet der Fall des Römischen Reiches nicht zuletzt auch das Aufeinandertreffen zweier sehr unterschiedlicher Ernährungs­ systeme. Das römische, das hauptsächlich auf Landwirschaft beruhte und in dessen Zentrum Weizen und Brot standen, auf der einen Seite. Und jenes der Kelten und Germanen, bei dem die Jagd eine wesentliche Rolle spielte und das sich vorwiegend durch den Konsum von Fleisch auszeichnete, auf der anderen Seite. „Für die Römer bestand ein ganz

­ esentlicher Unterschied zwischen dem landwirtschaftlich w bearbeiteten Raum, den sie Ager nannten, und der unbesiedelten Natur, die sie als zivilisationsfremd beziehungsweise -feindlich wahrnahmen und für die sie den Begriff Saltus gebrauchten“, sagt Montanari. Dem gegenüber hätten die Barbaren, wie die Römer die keltischen und germanischen Stämme nannten, beträchtliche Begabungen darin ent­ wickelt, Nutzen aus der unbebauten, ursprünglichen Natur zu ziehen. „Die Jagd und Fischerei, das Sammeln wilder Früchte und die extensive Aufzucht von Haustieren in den Wäldern — vor allem von Schweinen, aber auch von Pfer­ ­den und Rindern — waren wesentliche Bestandteile ihrer Gesel­lschaften“, erklärt der Experte für Agrar- und Er­näh­­ rungs­geschichte. Mit der Eroberung Roms durch die Barbaren hät­ten sich diese beiden aus einem verschieden gearteten Umgang mit der Natur entstandenen Modelle der ­Lebensmittelerzeugung und der Ernährung begonnen zu vermischen: das sesshaft-urbane, vorwiegend pflanzliche der Römer mit dem nomadisch beeinflussten, hauptsächlich ­flei­schlichen der Germanen, sagt der Historiker. In den darauffolgenden Jahren wurden die römischen, nun von den In­vasoren regierten Städte zu Zentren der Verwaltung bei­ ­der landschaftlichen Räume, also sowohl des Agers als auch des Saltus. „Am besten zeigt sich das daran“, so Montanari weiter, „dass nun auch die Wälder genau wie die Felder auf ihren Ertrag hin erfasst wurden. Man begann das Wild oder die Hausschweine zu zählen, die darin lebten und für die Nahrungsversorgung der Städte infrage kamen.“ Das machte die Lebensmittelversorgung der Städte zu einer wesentlichen Funktion des öffentlichen Dienstes, für die, um sie zu gewährleisten, eigens Beamte beschäftigt wurden. Die Stadt verwandelte sich zur Dreh­scheibe für Nahrungsmittel aller Art, die hier, auf den städtischen Märkten, gehandelt wurden. Während des starken Anstiegs der landwirtschaft­ lichen Produktion zwischen dem neunten und elften Jahrhundert gewannen ländliche Produktionseinheiten zuneh­ m­end an Bedeutung. Dörfer, Schlösser, Klöster entwickelten sich zu Zentren des Lebensmittelhandels. Gleich­zeitig jedoch vollzog sich in ländlichen Gebieten auch ein Wandel von einer selbstversorgenden zu einer marktwirtschaftlichen Landwirtschaft. Tatsächlich waren es von nun an die Märk­ ­­te und Konsumgewohnheiten der Städter, die darüber bestimmten, welchen Wert die erzeugte Nahrung hatte. „Daraus entstand eine neue Art des städtischen Im­per­ia­lismus, ein Teil der Verwaltung widmete sich ausschließlich dem ­gesamten Herstellungsprozess der zur Eigenversorgung notwendigen Lebensmittel; die Fruchtbar­keit der Böden, die Verarbeitungstechniken der Mühlen und Öfen, die Arbeitszeiten der Bauern — alles wurde von der städtischen Ver­­waltung kontrolliert und gesetzlich geregelt “, sagt ­Montanari. Relokalisierung

Speck am Pretzhof: Die Hammen reifen hier mindestens ein Jahr lang.

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Über Jahrhunderte blieb dieses System im Großen und Ganzen erhalten. Mit der Industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte es sich zusätzlich. Zum einen schon allein deshalb, weil ein in­dustrielles Gesellschaftssystem eine Urbanisation der Gesell­schaft mit sich bringt. Und zum anderen, weil das

Georges Desrues


Auf­­kom­men eines neu erworbenen städtischen Wohlstands sowie neuer Technologien im Transportsektor, aber auch im Bereich der Konservierung von Nahrungsmitteln, einen verstärkten Handel mit Produkten ermöglichte, die von weiter her angeliefert werden konnten und somit auch außerhalb der Jahreszeiten erhältlich waren. Seit der Antike galten weitgereiste und nichtsaisonale Lebensmittel als Statussymbol der Reichen — von nun an waren sie auch für größere Bevölkerungsschichten erhältlich und erschwinglich. „Womit das urbane Ernährungsmodell der Städter zum Modell für die gesamte Bevölkerung wurde“, sagt der Historiker Montanari. Tatsächlich hat mit der Industriellen Revolution und dem einhergehenden technologischen Fortschritt eine Ent­wicklung begonnen, die das Ende der Hungerepidemien in Europa einläutete. In den Jahren des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Einzug der Industriali­sie­ rung auch in den südlichen Ländern des Kontinents wurde erstmals in der Geschichte der Zugang zu Nahrung für nahezu alle Europäer zur Selbstver­ständlichkeit. Durch er-

Um zum Gastraum zu gelangen, muss man am Pretzhof an den Tierställen vorbei.

höhte Bildung, Reisetätigkeit und Einwanderung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vermehrten sich in den Städten die „ethnischen“ Restaurants und ­wur­­den exotische Produkte noch leichter erhältlich, als sie das bisher schon waren. Die gesamte Welt wurde zum „glo­ ba­len Dorf“, in dem sich die Städter der Industriena­tionen mit Lebensmitteln versorgten. Eine gleichzeitig statt­fin­ den­­de Industrialisierung der Lebens­mittelproduktion be­ wir­­kte in den reichsten Ländern dieser Welt jedoch auch eine Art Gleichschaltung der Essgewohnheiten und des An­ gebots an Nahrung, das sich bis heute auf die sogenannten Schwellen­­länder ausgebreitet hat. Alles war zu jeder Zeit und an jedem Ort für jedermann erhältlich — wodurch das „exotische“ Lebensmittel als Statussymbol zunehmend ausgedient hatte. „Das Gericht oder das Lebensmittel, das man selbst isst, dient auch immer als Symbol der Ausgrenzung. Es sind meine Essgewohnheiten, die mich vom anderen, meistens dem fremden, aber auch dem vermeintlich weniger gebil-

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deten oder wirtschaftlich weniger erfolgreichen Mitbürger unterscheiden“, sagt der Anthropologe Piercarlo Grimaldi, Rektor der Universität für gastronomische Wissenschaften in Pollenzo im Piemont. Da der „exotische“ Charakter eines Lebensmittels diese Funktion nicht mehr erfüllen konnte, mussten neue Eigenschaften gefunden werden, die es vermochten, ein Lebensmittel einzigartig oder zumindest besonders erscheinen zu lassen. Anfang des 21. Jahrhunderts schließlich fand man sie in den Begriffen „lokal“, „saisonal“ und „regional“. Während die Industrielle Revolution eine Art „Entlokalisierung“ des Ernährungssystems einleitete — wie das der Historiker Giorgio Pelto nannte —, entstand mit der technologischen Revolution des ausgehenden 20. Jahr­ hunderts bei den urbanen Eliten ein zunehmendes Ver­ langen nach Rückkehr zu handwerklich und lokal erzeugten Lebensmitteln — wodurch man von einem aktuellen Trend zur „Relokalisierung“ sprechen kann. Geprägt vom Fitness-, Ernährungs- und Umweltbewusstsein der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts begann der städtische Konsument nach Lebensmitteln zu verlangen, die nicht mehr von weither angeliefert werden mussten, sondern lokal erzeugt waren. Solche Lebensmittel gelten nicht nur als umweltschonender, da sie die Transportwege verkürzen und somit den CO2-Ausstoß verringern, sondern auch als gesünder, weil sie, zumindest im Fall von Gemüse und Obst, einerseits frischer sind und andererseits reifer und somit nährstoff­ reicher geerntet werden. Bald verwandelte sich der Trend in eine Art Lebenseinstellung, sodass in den USA Mitte der er­sten Dekade des 21. Jahrhunderts der Begriff Locavore ent­­stand. Als Locavores bezeichnet man jene „Verbraucher, die beim Einkauf von Lebensmitteln darauf achten, dass sie lokal erzeugt sind“, so die übersetzte Definition des New Oxford American Dictionary, das den Begriff 2007 zum Wort des Jahres erklärte. Die Bewegung der Locavores und ihre Wahrnehmung als neuartiges Konsumverhalten hat in den letzten Jahren in den USA und in Europa verschiedenste Initiativen ins Leben gerufen, in deren Zentrum die Versorgung der Städter mit lokal produzierten Lebensmitteln steht. Dazu vier Beispiele. Erstens: die amerikanischen Far­­mer markets, städtische Wochenmärkte, bei denen die Bauern aus dem Umfeld ihre Waren selber verkaufen. Zweitens: die italienischen Gruppi di Acquisto Solidale (GAS), was übersetzt solidarische Einkaufsgruppen bedeutet, also Zusammen­schlüsse von Verbrauchern, die gemeinsame Einkäufe unter Berücksichtigung von selbst auferlegten ethischen Kriterien tätigen. Drittens: sogenanntes Urban Farm­ ­ing, welches entweder nichts weiter bezeichnet als die gute, alte Schre­bergartenbewirtschaftung oder aber darin besteht, brachliegende Grünflächen im städtischen Raum mit essbaren Pflanzen zu bebauen. Viertens: Community supported agriculture (CSA), also ein Landwirtschaftsgemeinschafts­ ­hof, ein System, bei dem eine Gruppe Verbraucher einen landwirtschaftlichen Betrieb unterstützt, indem sie sich verpflichtet, dessen Erzeugnisse über einen bestimmten Zeit­ raum hinweg abzunehmen und so die Risiken und Gewinne der Lebensmittelproduktion mitzutragen. Ganz scheint es, als wären all diese Initiativen nicht nur dazu da, dem Verbraucher eine Versorgung mit Lebens­ mitteln zu ermöglichen, denen er einen gesundheitlichen, geschmacklichen und ökologischen Mehrwert zuspricht,

D e r H u n g e r d e r S ta d t


Der Bauernhof liegt am Eingang des Pfitscher Tales bei Sterzing.

dass der Kellner die Landessprache spricht und erklären kann, was ein Tiroler Gröstl ist“, so Thun. Um jenes Gesamt­ erlebnis zu schaffen, von dem Thun spricht, ist eine enge Zusammen­­arbeit der Erzeuger und Gastwirte auf regionaler Ebene eine wesentliche Bedingung. Im Idealfall ist der Wirt zugleich auch Bauer und stellt seine Produkte selbst her. In dieser Situation ist etwa Karl Mair, Besitzer des Pretz­hofs in Tulfen, acht Kilometer von Sterzing gelegen. „Der Pretzhof ist ein Gesamthof, was bedeutet, dass hier mö­glichst alles produziert wird, was für den Gast­be­ trieb not­wendig ist: das Fleisch, die Milch, aber auch das Futter für die Tiere, das Obst und das Gemüse — und sogar der Strom. Die Landwirtschaft ist unser Hauptlieferant und das Gasthaus unser Hauptabnehmer“, erklärt Mair die Dual­ität seines Berufs. Um am Pretzhof zum Gastraum zu gelan­­gen, muss man an den Tierställen vorbei. „Das ist ganz bewusst so. Wir wollen der Landwirtschaft Wertigkeit verleihen, indem wir sie herzeigen“, sagt Mair, dessen Rinder der alten lokalen Rasse Tiroler Grauvieh angehören. „Das sind sehr robuste Tiere, die sich im Laufe der Zeit sehr gut an die Gegend angepasst haben.“ Ihr Fleisch sei sehr fein­faserig und von bester Qualität. „Natürlich sind sie kleiner und weniger ausgiebig als andere internationale Fleischrassen, aber wir arbeiten hier seit 25 Jahren ohne

s­ o­ndern deren Erzeugung gleichzeitig eine tief sitzende Sehn­sucht nach Naturbezug bei dem von Landwirtschaft entwöhnten oder entfremdeten Städter befriedigt. Die „Entlokalisierung“ und teilweise Entmenschlichung der Herstellung von Essen durch die Lebensmittelindustrie hat offenbar zum Bedürfnis nach Entdeckung oder Wieder­entdeckung eines über Jahrtausende gewachsenen Bezugs zu Nahrungsmitteln und damit zur Landarbeit, zum Klima und also zur Natur selbst geführt. Unter diesem Gesichts­punkt ist wohl auch das Verlangen nach „saisonalen“ Pro­dukten zu ver­ stehen, das so viele städtische Verbraucher heute äußern. Tatsächlich sind auch die Jahreszeiten Teil der Natur und bestimmten über Jahrhunderte das Leben der Menschen im All­gemeinen und der Bauern im Besonderen. Kulinarisches Gesamterlebnis Im Gegensatz zu „lokal“ und „saisonal“ steht das ­ d­jektiv „regional“ nicht so sehr für den Konsum von LeA bensmitteln in der Stadt als vielmehr für die Erwartungs­ haltung des Städters, sobald er seine Stadt verlässt. In ­Zei­­ten, in ­de­nen das Angebot an Restaurants und Lebens­ mitteln in den meisten Städten trotz der schier endlosen Auswahl eben­­falls gewissermaßen gleichgeschaltet ist, zieht es den Stadtbewohner auch deshalb aufs Land, um dort kulinarische Erfahrungen zu sammeln, die ihm zu Hause verwehrt bleiben. „Der moderne Gast möchte die Gegend, in der er seine Frei­zeit verbringt, so intensiv wie möglich erleben“, sagt der Südtiroler Designer und Architekt Matteo Thun, der sich mit der Nachhaltigkeit von Hotelanlagen beschäftigt. „Bei uns­­eren Hotel-Projekten verwenden wir beispielsweise nur Baumaterialien, die im Umkreis von maximal zehn Kilometern hergestellt werden. Außerdem achten wir darauf, dass regional gekocht wird, und zwar mit Produkten aus dem Um­­land“, sagt Thun und geht noch einen Schritt weiter: „Natürlich sollte auch das Personal aus Einhei­mischen bestehen. Es gehört zum Gesamterlebnis,

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Speisekarte. Das erlaubt mir, das ganze Tier zu verkaufen. Wenn also beispielsweise das Filet aufgebraucht ist, sagt mir meine Frau, was sie sonst noch hat, und das biete ich dann an“, sagt Mair. Zu den erwähnten internationalen Rassen gehört zum Beispiel das aus Schottland stammende Angus-Rind, de­­ssen Fleisch in den letzten Jahren so gut wie überall auf der Welt zum Inbegriff von Fleischqualität hochgespielt wurde. „An­gus ist für das Rind, was Cabernet Sauvignon auf dem Gebiet des Rotweins ist — beide werden überall auf der Welt mit Erfolg produziert“, sagt Severin Corti, Restauranttester bei der Wiener Tageszeitung „Der Standard“, „aber ob es tatsächlich schmeckt, hängt eigentlich viel mehr von der Art der Haltung und der Fütterung ab als von der Rasse selbst.“ Für die Massentierhaltung ist das kleinwüchsige ­Tiroler Grauvieh gänzlich ungeeignet. Und zu einer von der internationalen Gastronomie gefragten Fleischrasse wird es wohl auch nie, schon allein deswegen nicht, weil sein Flei­sch­ertrag zu gering und seine „Edelteile“ wie Filet und Faux­-filet ziemlich schmächtig ausfallen. Das alles

Georges Desrues


macht das Fleisch des Grauviehs zum perfekten Beispiel für ein regionales Produkt, das man am besten in seiner angestammten Umgebung genießt. Genau das ist es, nach dem der „moderne Gast“, um Matteo Thuns Ausdruck zu gebrauchen, heute sucht: Lebensmittel, die Terroir vermitteln. Der französische Be­griff wurde anfänglich in der deutschen Sprache ­aus­schließ­lich in Bezug auf Wein verwendet, um einen G­e­­schmack zu beschreiben, der geprägt ist vom Klima, dem Bo­den, der Höhenlage des Gebietes, in dem er wächst, aber auch von der Tradition und vom Know-how der Menschen, die ihn erzeugen. Mittlerweile wird der Begriff auf jede Art von Lebensmittel angewandt, das solches zu vermitteln in der Lage ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Lebens­mittel vorwiegend an Orten zu finden sind, an denen sich der städtische Markt in der Regel nicht versorgt, also üblicherweise in von den Städten entfernten Randgebieten oder zu-

Käse oder Wurstwaren) zu sichern und damit die kultu­ relle und biologische Vielfalt zu bewahren, ist es notwendig, die schwindenden lokalen Märkte durch eine Form des ­Tourismus zu ersetzen, der solche regionalen Produkte zu schätzen versteht, was diesen auch in Zukunft einen Ab­ satzmarkt garantieren könnte. „Weil das Land Südtirol an den Massentourismus verschleudert und mit billigen Im­ port­produkten überschwemmt wurde, sind die Bauern auf der Strecke geblieben. Für die Wirte und für die Tourismus­ be­triebe sollte es längst eine Selbst­verständlichkeit sein, mit lokalen Pro­dukten zu arbeiten, selbst wenn sie teurer sind. Denn unseren Bauern kann es nur gut gehen, wenn die Wir­te gute Arbeit leisten“, sagt der Bauer und Wirt Karl Mair. Ganz scheint es so, als sei heutzutage nicht mehr das urbane Ernährungsmodell Vorbild für die ländliche Be­ völkerung, sondern als setze sich im Gegenteil ein „länd­ liches“ Ernährungsmodell bei der Stadtbevölkerung durch.

Bauer und Wirt Karl Mair in der Käsekammer des Bauernhofes, die sich im unter­ irdischen Kellerteil befindet.

mindest in ländlichen Räumen, die von der Urba­nisierung und den Einflüssen der Globalisierung noch aus­reichend verschont geblieben sind: in solchen folglich, in denen ein lokaler, auf die regionale Bevölkerung abge­stimm­ter Markt überlebt hat und von Erzeugern aus dem Umfeld versorgt wird. Dass solche Situationen und Märkte in Zukunft immer weniger werden, kann leider schon jetzt mit Gewissheit gesagt werden. Und zwar einerseits weil in ­Europa wie an­derenorts die Urbanisierung des ländlichen Rau­ms voranschreitet, und andererseits weil die inter­nationale Lebens­mittelindustrie ständig auf der Suche nach neu­en Absatz­märkten ist und ihr gewachsene, regionale Strukturen da­bei nur im Weg stehen können. Um also das Überleben ­regionaler Haustierrassen, re­gionaler Pflanzensorten und regionaler Herstellungs­­tech­niken (etwa im Bereich

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Doch ist dabei auch zu bedenken, dass diese Vorstellung von ländlicher Ernährung nur allzu oft auf Nostalgie und auf einer verklärten Erinnerung an eine längst verloren ­gegangene, bäuerliche Vergangenheit beruht. „Meistens handelt es sich doch um städtische Werte“, sagt der Historiker Montanari, „denn den Luxus, die Armut wertzuschätzen, kann sich doch nur eine sehr reiche städtische Gesellschaft erlauben.“

Georges Desrues (*1966), Absolvent der Universität für Gastronomische Wissen­ schaften in Pollenzo, freier Journalist („Der Standard“, „Profil“, „Die Welt“) im Piemont. Mitherausgeber des Buches „Slow Food Guide Österreich“ (Brandstätter, 2011).

D e r H u n g e r d e r S ta d t


Bäuerin und Köchin Ulrike Mair bereitet gefüllte Teigtaschen zu. Eine Speisekarte gibt es am Pretzhof allerdings nicht: Es wird alles verwertet, was am Hof zur jeweiligen Jahreszeit gerade hergestellt wird.

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Georges Desrues


I s a b e l T e u ff e n b a c h

Schöne neue Arbeitswelt Illustrationen: Simone Vollenweider

Die Zeiten der lebenslangen Vollzeitanstellungen, der fixen Schreibtische und geregelten Arbeitszeiten sind vorbei. Wenn Mitarbeiter heute von ihrem Arbeitsplatz sprechen, dann meinen sie häufig ihr Notebook. Sie arbeiten während der Zugfahrt, auf dem Flughafen oder von zu Hause aus. Der mobile und flexible Wissensarbeiter ist zunehmend gefragt, denn Arbeiten wird in Zukunft noch stärker zum selbst­verantwortlichen Planen und Agieren sowie zum ständigen Neulernen auch außerhalb von Bürogebäuden und Bürozeiten. Dem war nicht immer so. In vielen Köpfen ­st­eckt noch immer eine Arbeits- und Lebenskultur, die sich seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert entwickelt hat und vor allem die Nachkriegsgeneration prägt: vornehm­lich männliche Mitarbeiter, die ihre Arbeitskraft ein Leben lang ein und demselben Unternehmen widmen und ausschließlich geregelte Arbeitsabläufe kennen, und Frauen mit Kindern, die — wenn überhaupt — ihren erlernten Beruf zeitweilig unterbrechen oder nur in Teilzeit ausüben. Mit die­­sem Modell, das Familien Sicherheit bot, war die räumliche und zeitliche Trennung von Beruf und Privatleben ­verbunden. Der Vater ging nach Feierabend noch zum Kegeln oder Fußball, die bis zum Mittag arbeitende Mutter holte die Kinder von der Schule ab und betreute sie bis zum Schlafen­gehen. Wissensarbeiter „Dieses Konzept entspricht nicht mehr der Realität“, sagt Daniel Dettling, geschäftsführender Gesellschafter der unabhängigen Denkfabrik „re:publik — Institut für Zu­ kunfts­­politik“. „Wir befinden uns heute inmitten einer Umbruchphase von der Industrie- zur Wissensgesellschaft mit all ihren Auswirkungen auf Arbeitskultur und Familienleben.“ Zwar entwickelten sich mit der Schicht- und Nachtarbeit schon in 1970er-Jahren neue Formen der Arbeitsund Betriebsorganisation heraus, die sich durch ein höheres Maß an Flexibilität auszeichneten, doch waren diese vor­ neh­mlich noch von der Körperkraft geprägt. Die Arbeitskultur der ­Zu­kunft greift dagegen auf die Rohstoffe Wissen und Kre­a­tiv­ität zurück. Vor 60 Jahren war der Großteil der Besch­­­äftigten im Industriesektor tätig. Heute arbeiten bereits zwei Drittel im Dienstleistungsbereich; besonders die personen- und wissensbezogenen Dienstleistungen in den

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Von der Industrie- (links) zur Wissensgesellschaft (Quelle: Daniel Dettling, Zukunftsinstitut)

Bereichen Bildung, Gesundheit oder Pflege gelten als Beschäftigungsmotor par excellence. Die Berufe heißen Lernberater, Altenpfleger oder operationstechnischer Assistent. Ein Grund für diesen Trend liegt mitunter in einer immer älter werdenden Gesellschaft, der eine schwache Geburtenrate gegenübersteht. „Dieser demografische Wandel ist für den Fachkräftemangel in Europa verantwortlich, der auch nicht durch Zuwanderung wettzumachen ist“, weiß Dettling. Es ist ein ­wissensbasierter Arbeitsmarkt im Anmarsch, der nicht mehr unbedingt ein Produkt hervorbringt, sondern sich zunehmend mit Problemlösungen beschäftigt — und auf dem im­mer mehr Frauen gebraucht werden. „Diese sind in vielen Be­­reichen fachlich und sozial kompetenter und komm­­u­nikativer als ihre männlichen Kollegen.“ Aber was bedeutet der Übergang in die Wissensgesellschaft für die Arbeitneh­­mer und Arbeitgeber der Zukunft noch? „Der Wandel bringt ganz neue Arten von Arbeits- und Beschäftigungs­verhältnissen hervor“, sagt Dettling. „Beschäftigte können ihre Arbeitszeit und den Arbeitsort zunehmend selbst de­finieren.“ Internet und Handy machen es möglich, überall und jederzeit zu arbeiten. Der Wissensarbeiter von morgen ist mit Kunden und Kollegen virtuell verbunden, wichtige Dokumente werden nicht mehr ausgedruckt, sondern in die Firmendatenbank hochgeladen. Als erstes Großunterneh­­men trennte sich IBM noch vor der Jahrtausendwende von Papier und festen Arbeitsplätzen. Die Mitarbeiter treffen sich nicht mehr zum Informationsaustausch an der Kaffeemaschine, sondern im Chatroom des Betriebs. „Mehr Fle­x­ibilität muss allerdings nicht automatisch mehr Autonomie für die Arbeitnehmer bedeuten“, schränkt die Arbeits­expertin Ursula Holtgrewe ein. Flexible Arbeitsmodelle wer­­den überwiegend nach betrieblichen Überlegungen eingeführt. „Die Wünsche der Beschäftigten sind da zweit­rangig“, so die Teamleiterin für „Arbeit, Organisation, Internationalisierung“ der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) in Wien. Demnach wird sich auch die Arbeit der Zukunft nicht vollkommen von Raum und Zeit lösen.

S c h ö n e n e u e A r b e i t sw e lt


Mit dem Mehr an Autonomie und Gestaltungsspielräumen steigen allerdings die Anforderungen, die Arbeit wird anspruchsvoller und stressiger. Der Druck steigt. Für Partnerschaften wird es noch stärker als bisher zur Herausforderung, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen. Nicht mehr nur Frauen werden in Zukunft ihre Berufskarriere unterbrechen, sondern vermehrt auch Männer. Zum anderen berichten Arbeitspsychologen von Mitarbeitern, die ohne einen festen Arbeitsplatz und feste Arbeitszeiten nicht klarkommen. Dies gilt vor allem für solche, die allein leben, denn ihr Arbeitstag zu Hause endet oft erst nach 15 und mehr Stunden. Sie treffen keine Freunde mehr oder gehen nicht mehr einkaufen. Burn-out ist häufig die Folge. Der mobile und flexible Wissensarbeiter von morgen trägt also nicht nur mehr Verantwortung für den Betrieb, sondern vor allem für sich selbst.

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Teilzeitarbeitskräfte in Prozent aller Beschäftigten nach Geschlecht — regionaler und inter­nationaler Vergleich, 2008. (Quelle: Eurostat, SAKE).

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Veränderungen der Arbeitswelt sind kein ausschließ­ liches Merkmal moderner Gesellschaften. In seinem Roman „Wahlverwandtschaften“ schreibt Johann Wolfgang von Goethe: „Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen, wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.“ Der Dichterfürst nahm das vorweg, was die heutige Wissensgesellschaft auszeichnet. Wissen ist das Kapital, das der Arbeitnehmer am Markt anbietet und mit dem er seine Existenz sichert. Für sein Fortkommen sind lebens­langes Lernen und ständige Weiterbildung in al­ len Lebensphasen überlebenswichtig. Kluge Unternehmen in­­ves­tieren schon jetzt in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter, wobei sie noch viel mehr tun können, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. „Es sind sicherlich bessere Gesundheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz sowie zeitliche und räumliche Freiräume für die Mitarbeiter dafür notwendig“, so Zukunftsforscher Dettling. Dabei könnten etwa von kürzeren Arbeitszeiten Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen profitieren, weil damit Leerläufe eingespart und die Arbeit sinnvoller verteilt werden kann. Arbeitende Eltern erhalten damit mehr Spielräume für eine bessere Aufgabenteilung. „Außerdem sind Teilzeitarbeitskräfte produktiver als Vollzeitbeschäftigte“, sagt Holtgrewe. Zwar nicht weniger, aber zumindest zwei bis drei Tage von zu Hause aus könnten Fernpendler arbeiten. Damit fallen anstrengende Anfahrten weg, der Arbeitgeber spart Raum und Betriebskosten, der Mitarbeiter ist in der Regel motivierter und leistungsfähiger. Unterm Strich kommt diese Telearbeit wiederum Familie und Betrieb zugute, der dem Mitarbeiter sein Vertrauen schenkt. Innovative Unternehmen setzen überdies auf heterogene Mitarbeiter-Teams, die aus Frauen und Männern sowie jungen und älteren Beschäftigten bestehen, denn diese sind laut Arbeitspsychologen erfolgreicher als homogene Teams. Überhaupt wird es in Zukunft sehr stark auf eine Betriebskultur des Vertrauens ankommen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Erfolge einzufahren. „Unter Druck und ohne Gestaltungsmöglichkeiten ist es unmöglich, auf Dauer professionell zu arbeiten“, ist sich die Arbeits­ expertin Holtgrewe sicher.

Isa b e l T e u ff e n b a c h


Chancen nutzen

beitsvertragsformen, in Italien gibt es davon 46 ver­ schiedene Varianten. Die Dominanz des Dienst­leis­ tungs­bereiches, des Handels und der touristischen Dienst­leistungen führt zu einem Anstieg der so­ genannten High-touch-Tätigkeiten, die Menschen mit hohen fachlichen und menschlichen Fähigkeiten vor allem in diesen personenbezogenen Dienstleis­ tungsbe­reichen ausüben. Mit dem demografischen Wandel kommt es auch hierzulande zu einer Verknappung des Arbeitskräfteangebotes. Es ist deshalb äußerst wi­chtig, dass die Beschäftigten in den arbeits­ inten­siven Branchen wie etwa den personenbe­zo­ genen Dienstleistungen im Wellness- und Gesundheitsbereich oder im produzierenden Gewerbe ­langfristig arbeits- und leistungsfähig bleiben. Dafür muss die Arbeitsorganisation in Südtirols Betrieben verbessert werden. IT: Was stellen Sie sich unter einer verbesserten Arbeitsorganisation vor? WP: Ich denke an autonome Handlungsspielräume für Beschäftigte, umfassende Weiterbildungsmöglichkeiten und ausreichend Spielraum für Kreativität. Die Work-Life-Balance der Mitarbeiter muss durch flexible Arbeitszeiten gefördert werden. Denn es kommt nicht darauf an, wie viel, sondern wie gut ­gearbeitet wird, welche Wertschöpfung und Qualität ­erzielt werden. Hier kommt der Qualität der Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine zentrale Funktion zu. In Südtirols Betrieben fehlen gesetzliche Mitwirkungsrechte der Beschäftigten, wie sie in anderen mitteleuropäischen Ländern seit ­Langem verankert sind. Dies ist eine strukturelle Schwäche. Es wäre ein wichtiger Beitrag zur Verbes-

Die Veränderungen am globalen Arbeitsmarkt machen auch vor Südtirol nicht halt. Werner Pramstrahler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsförderungsinstitut AFIIPL in Bozen, über die Entwicklung der Südtiroler Arbeitswelt im Rahmen der Wissensgesellschaft. Isabel Teuffenbach: Die Arbeitswelt ist im Umbruch. Hat sich der Trend zur Dienstleistungs-, Informations- und Wissens­ gesellschaft auch in Südtirol vollzogen? Werner Pramstrahler: Die Transformation der Arbeitswelt, die sich auf globaler Ebene abspielt, beeinflusst natürlich auch Südtirol. Allerdings lassen sich diese Veränderungen auf regionaler Ebene nicht in derselben Intensität feststellen. Südtirol erfüllt nach wie vor fast alle Lissabon-Kriterien und liegt mit einer Ge­samtarbeitslosenquote von 3,3 Prozent und einer geringen Jugend­arbeitslosigkeit im Jahr 2011 nicht nur im italienischen, sondern durchaus im europäischen Spit­zenfeld. Am Strukturwandel ist der Umbruch am deutlichsten sichtbar: Der produzierende Bereich (ca. 25 Prozent) nimmt tendenziell ab, ebenso der Ber­eich der Land- und Forstwirtschaft, obwohl in diesem Sektor nach wie vor fast 7 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt sind. Wie auch global gewinnt der wissens- und personenbezogene Dienstleistungsbereich an Bedeutung. Prozent, 1993 = 100 %

Dienstleistungen

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Landwirtschaft

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Entwicklung der Anzahl der Erwerbstätigen nach Wirtschaftssektoren (1993–2010) (Quelle: ISTAT, ASTAT).

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IT: Wie wirken sich diese Veränderungen auf Süd­tirols Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus? WP: Gerade innerhalb des Dienstleistungsbereiches spielen sich die prägendsten Entwicklungen ab: ­Befristete Arbeitsverhältnisse nehmen zu und somit die soziale Sicherheit dieser Beschäftigten ab. Dafür werden zunehmend Migranten und Frauen ange­stellt. Außerdem kursieren die unterschiedlichsten Ar­

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serung des Standorts Südtirol, wenn es innovative kollektiv­ver­tragliche Regelungen über die Mitwirkungsrechte der Beschäftigten gäbe. IT: Diese Entwicklungen spielen sich innerhalb eines Wirt­ schaftsgefüges ab, in dem Kleinst- und Familienbetriebe dominieren. Was bedeutet es für Kleinbetriebe, sich diesen veränderten Beschäftigungsmodellen anzupassen?

S c h ö n e n e u e A r b e i t sw e lt


Häufige Durchführung komplexer Tätigkeiten

WP: In diesem Bereich besteht in Südtirol zweifellos Nachholbedarf. Gerade Kleinbetriebe, die in den Be­­ reichen Tourismus, Handel und Handwerk tätig sind, stehen bei neuen Formen der Arbeitsgestaltung vor Problemen. Sie alle werden wohl innovative ­Wege ­be­schreiten müssen, wenn sie sich auch in Zukunft fach­­­lich qualifizierte Arbeitskräfte sichern ­wollen. IT: Welche Potenziale hat Südtirol in der neuen Wissens­­ gesellschaft? WP: Südtirol muss eigene Wege einschlagen, wenn das „Wissen“ zum primären Rohstoff der Erwerbsgesellschaft werden soll. Südtirols Reichtum sind seine Viel­falt und seine Brückenfunktion zwischen dem deutsch- und italienischsprachigen Raum. Eine Festigung der Zweisprachigkeit und die Erweiterung in Richtung Mehrsprachigkeit sind unbedingt notwendig und müssen als Standortvorteil begriffen werden. Süd­tirol bietet eine hervorragende Lebensqualität, die Steigerung der Qualität der Arbeit für alle Beschäftigten ist die nächste Herausforderung.

Arbeit häufig eintönig

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Isabel Teuffenbach (*1976), Betriebswirtin in Wien, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin an Wirtschaftsforschungsinstituten in Südtirol.

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Komplexe versus eintönige Tätigkeiten nach Wirtschaftszweigen  (Quelle: Arbeitnehmersurvey, AFI-IPL 2010).

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Schul-, Sozial- u. Gesundheitswesen

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Andere öffentliche u. soziale Dienste, Hausangestellte Informatik, Forschung, Dienstleistungen für Unternehmen Finanzvermittlung, Versicherungen, Immobilengeschäfte Verkehr u. Nachrichtenvermittlung

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Handel Baugewerbe

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Andere Zweige des produzierenden Gewerbes Landwirtschaft

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Erwerbstätige nach Wirtschftszweigen in Südtirol (Quelle: AFI-IPL 2010).

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Isa b e l T e u ff e n b a c h


C h r i stian F e lb e r

T e i l e n s tat t T r e nn e N — Vo n d e r K o n t r a k u r r e n z z u r K o o p e r at i o n

Wettbewerb ist heute zum höchsten Wert aufgestiegen. Nur wer „wettbewerbs­ fähig“ ist, kann in der globalisierten Wirtschaft „überleben“, liest man häufig in der einschlägigen Literatur. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes ist zur Maxime nicht nur der Wirtschaftspolitik, sondern der gesamten Politik aufgestiegen. Die Bildungsund Sozialpolitik, die Finanz-, Budget- und selbst die Regionalpolitik zielen darauf ab, dass die Konkurrenzfähigkeit des „Stand­ ortes“ (früher war das die Region als demo­ kratisches Gemeinwesen) nicht gefährdet und möglichst gesteigert wird. Im Koali­ tionsvertrag der amtierenden deutschen Bundes­regierung kommt der Begriff „Wettbewerb“ 83-mal vor, der Begriff „Solidarität“ sechsmal und „Menschenwürde“ ­dreimal. Was bedeutet aber Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Wirtschaft? Der „Freihandel“ der Welthandelsorganisation WTO ist frei von allen anderen Politik­ zielen. Es gibt keine Regeln zum Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten sowie von Umwelt und kult­ureller Vielfalt, für soziale Sicherheit und zur Verhinderung von Steuer­wettbewerb und Steuerflucht, für Finanzmarktstabilität oder gegen Monopolbildung. In der WTO gibt es nur den blinden Freihandel. Dieser hat zur Folge, dass mächtigere, skrupellos und asozial agierende Unternehmen gegen lokale, ethisch und ökologisch handelnde Betriebe in freie Konkurrenz treten dürfen und sich im Regelfall gegen diese durchsetzen. Das muss nicht so sein. So ist beispi­elsweise im Parteiprogramm der Südtiroler Volkspartei von 1993 von „angemessenem Wettbewerb“ die Rede, der dazu dient, das Potenzial einer Ge­ meinschaft „zum Wohl aller“ auszuschöpfen. Wet­­tbewerb war ein Mittel, Gemeinwohl das Ziel. In der WTO ist es heute umgekehrt. Wie könnten die globalen Handelsregeln anders gestaltet werden? Es wäre möglich, menschenrechtliche, soziale, ökologische, kartellpolitische und steuerflucht-

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verhindernde Regulierungen als Voraussetzung für den internationalen Handel zu definieren. Die EU könnte, wenn sie wollte, vorausgehen und eine Fairhandelszone ins Leben rufen: Wer mitmacht, darf frei handeln. Wer weiterhin darauf besteht, dass Menschenrechtsverletzungen durch Kon­ zerne nicht geahndet werden, dass es keine verbindlichen Umweltschutzgesetze, Sozialund Arbeitsstandards und keine koordinierten Steuerregeln gibt, dessen Eintritt in die Fairhandelszone wird mit entsprechenden Zöllen verteuert — zum Schutz der Unternehmen, die sich an die gemeinschaftsschützenden Regeln halten. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass bei einem solchen Modell Un­­­ternehmen aus armen Ländern keine Cha­n­ce hätten. Der Druck zum regellosen Freihandel kommt von den größten EUund US-Konzernen, die umso höhere Gewinne machen, je steiler das Regulierungsgefälle ist. Der „Faire Handel“ ist hingegen eine Kooperation mit Unternehmen aus den ärm­sten Ländern. Mir ist noch keine Gewerkschaft aus dem globalen Süden untergekommen, die sich für Hungerlöhne, Kinderar­beit oder 12-Stunden-Arbeitstage engagiert ­hätte. Es ginge aber noch präziser: Der Zolltarif richtet sich nach der Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens. Diese misst genau das, was in „reifen“ Demokra­ tien hohe Werte sind: die Qualität der Arbeitsplätze, ökologische und regionale Produktion, gerechte Verteilung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Mitbestimmung. Wenn ein Unternehmen eine gute Gemeinwohl-Bilanz aufweist, entfällt der Zoll; je schlechter die Ge­­meinwohl-Bilanz, desto höher der Zoll. Der Effekt: Fair erzeugte und gehandelte Produkte würden billiger als unfaire, ökolo­gische billiger als konventionelle, regionale billiger als globale Erzeugnisse. Mit der Gemeinwohl-Bilanz werden Unternehmen dafür belohnt, dass sie sich an der Lösung gesellschaftlicher Probleme beteiligen. Die Gemeinwohl-Bilanz ist das Herz­stück der wachsenden GemeinwohlÖkonomie-Bewegung, die im Oktober 2010 in Österreich ihren Ausgang genommen hat und jetzt in immer mehr Staaten Fuß fasst. 2012 werden bereits an die 200 Unternehmen unter anderem aus Italien, der Schweiz, Österreich, Deutschland und Spanien die Gemeinwohl-Bilanz erstellen. Beteiligte Unternehmen erhalten aber auch dann einen Belohnungspunkt, wenn sie anderen Unternehmen helfen — einerseits durch die Unterlassung aggressiver Ellen­ bogentech­niken wie massenmedialer ­Werbung, Sperrpatente, Dumpingpreise oder Fressübernahmen, andererseits durch aktive

TEI L E N S TA TT TRE N N E N

Hilfe wie etwa die Weitergabe von Knowhow, Arbeitskräften, Aufträgen oder zinsfreien Darlehen. Dieser Schritt ist vermutlich eine „kopernikanische Wende“ für manche Unternehmen, die sich bisher als Fressfeinde wahrgenommen haben. Und jetzt sollen sie mit ihren Kontrahenten kooperieren? Aktuelle neurobiologische Forschungsergebnisse kommen diesem Paradigmenwechsel zupass: Denn es ist nicht die Konkurrenz, die Menschen am stärksten motiviert, sondern eine gelingende Beziehung und Koopera­tion. Zwar motiviert auch die Konkurrenz, aber vor allem über die (unbewusste) Angst. Deshalb grassieren Angst-Symptome wie Stress, Burn-out, Mobbing oder psychische Erkrankungen überall dort, wo der Wett­­bewerb schärfer wird, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Angst mag kurzfristig eine sinnvolle Emo­tion sein, aber dauerhaft (chro­­nisch) wirkt sie wie ein soziales Gift. Umgekehrt setzen gelingende Beziehungen positive Energien frei: Leistung und Effi­zienz werden nicht geringer, wenn die Unternehmen vom Konkurrenz- („einander ausschließende Ziel­erreichung“) zum Kooperationsmodus („gemeinsame Zieler­reichung“) wechseln. Auch die Befürchtung, dass Kooperation sofort zu Kartellen und Monopolen führt und ­somit der Konsument den Kürzeren zieht, dürfte unbegründet sein. Der neue Ord­nungs­­rahmen würde Un­­ternehmen er­ lau­ben, klein zu bleiben und nicht wachsen (und fressen) zu müssen. Wer nicht immer größer werden muss, tut sich leichter, an­d­e­ ren etwas zu gönnen und ihnen zu helfen — so kann die Unternehmenslandschaft zu einer Lern- und Solidargemeinschaft mu­ tieren. Die Psychologie weiß schon länger: Am stärksten motiviert sind Menschen, wenn sie „intrinsisch motiviert“ handeln, al­­ so das tun, was sie am liebsten tun und wo­ rin sie Sinn erfahren. Dann strömt die Energie. Das Maximieren von Geld oder Macht ist eine „extrinsische Motivation“ und hat noch keinen Menschen glücklich gemacht. Von daher könnte 2012 ein kopernika­ nisches Jahr für die Wirtschaft werden: der beginnende Wechsel von extrinsischer zu ­intrinsischer Motivation und von Kontrakurrenz zu Kooperation.

Christian Felber (*1972), Autor in Wien, Mitbegründer von „Attac“, Initiator der GemeinwohlÖkonomie-Bewegung. Veröffentlichungen: „Die Gemeinwohl-Ökonomie“ und „Retten wir den Euro!“­(Deuticke, 2012).

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M i c hae la S e i s e r

W e t t b e w e r b b e flü g e lt d e n W o h ls tan d

T h e m a / K O N K U R R E N Z

Mit dem Programm von Premier­ minister Mario Monti — „Salva Italia“ (Rettet Italien) — geht ein Ruck durch Italien. Er wird auch Südtirol erfassen. Nicht alle Bürger sind schon davon überzeugt: Wird ihre Heimat mit mehr Wettbewerb und Libera­lisierung lebenswerter? Oder profitiert davon nur eine kleine Gruppe? Seit die globale Fin­anzkrise den Menschen einen Schock versetzt hat, ist die Marktwirtschaft in Verruf geraten. Viele Menschen, die Freiheit, Liberalisierung und Wettbewerb lange Zeit als Bedingungen für Wohlstand befürworteten, zweifeln heute und rufen nach dem ­Staat. Fast scheint es, als würden wir zu Zeugen des marktwirtschaftlichen Zusammenbruchs, so wie wir vor fast einem Vierteljahrhundert das Ende des plan­wirt­ schaft­lichen Systems erlebt haben. Doch die ­Apologeten der These eines sterbenden ­Ka­­pitalismus irren. Es braucht keine Be­ schö­nigung der gegenwärtigen Misere, um an­zuerkennen, dass die ungestüme Wachstumsdynamik des neuen Kapitalismus viele ­Menschen aus der Armut befreit hat. Es ist wohl kein Zufall, dass zwischen 1980 und 2005, also in jener Zeit, in der die Welt die Idee freier Märkte wiederentdeckte, der Lebensstandard in vielen Ländern rund um den Glo­bus sich rasant verbesserte — auch im Land, wo die Zitronen blühen. Es sind jene Jahrzehnte, die ihre Kritiker jetzt als Per­iode des ungesunden Wachstums verurteilen. Doch zeigt sich, dass sich genau in diesem Zeitraum das Pro-Kopf-Einkommen der Weltbevölkerung inflationsbereinigt kräftig erhöht hat. Überdies haben sich Bildungschancen der Kinder und Lebenserwartung der Alten enorm verbessert; die Kindersterblichkeit sank, und es gibt viel weniger Bedürftige auf der Welt. Heute werden wesentlich mehr Staaten der Welt demo­ kratisch regiert als vor 1980. Die Ungleichheit in den Lebensstandards und Ein­ kommensniveaus zwischen den Ländern schrump­fte, wiewohl sie innerhalb einer Reihe ehemals armer Länder fortschrittsbedingt zunahm. Es war der Kapitalismus,

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der die Menschen aus der unwürdigen Welt der Geknechteten befreit hat. Seit der Entstehung des Finanzkapitalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich die Produktivität in den unterentwickelten Ländern Europas gesteigert — und mit der Globalisierung auch zunehmend weite Teile der Weltbevölkerung: Entsprechend hat die Armut in den rück­ständigen Ländern abgenommen, als diese begannen, sich an der neuen Weltwirtschaft zu beteiligen. Ausländische Direktinvesti­tionen, auch die der multi­na­ tionalen Konzerne, schaffen Beschäf­ti­ gungschancen. Die Löhne in den mit ausländischem Kapital errichteten Fabriken sind meist deutlich höher als das ortsübliche Niveau der Entwicklungs- und Schwellenländer. Deshalb sind die Arbeitsplätze dort begehrt. Während viele Länder in Asien von der Globalisierung stark profitiert haben, gibt es in Afrika, das an der Globalisierung kaum teilhat, mehr Arme. Die Kinderarbeit nimmt in den meisten Schwellenländern ab, je mehr der Lebensstandard steigt. Das beste Mittel, um Armut abzubauen, ist nach Meinung des bekannten Ökonomen Jagdish Bhagwati der Freihandel, der die Märkte öffnet und Wettbewerb zulässt. Es braucht dazu die Liberalisierung von abgeschot­teten Märkten. Nutzen daraus ziehen viele Menschen: Dass wir heute billige Flug­tickets erwerben können, ist durch die Liberalisierung der Luftfahrt möglich. Ebenso können wir heute zu günstigen Tarifen telefonieren, weil die Märkte für Telekommu­nikation geöffnet wurden. Damit der Kreislauf der wirtschaft­ lichen Entwicklung in Gang kommt und in Schwung bleibt, sind Ideen nötig: Dafür, dass Ideen entstehen und fruchtbar werden, braucht es Wettbewerb. Mehr noch: Durch Wettbewerb entstehen überhaupt erst neue Gedanken. Denn er setzt Anreize zur Kreativität. Wir brauchen den Wettbewerb als Innovationstreiber, Kostensenker und Entdeckungsverfahren für neue Techniken — letztlich um wettbewerbsfähig zu bleiben. Jedes Land, das Mitglied der Europäischen Union ist, muss seinen Beitrag leisten, um seine Wettbewerbsfähigkeit sowie jene ­Europas zu steigern. Daher muss Italien alles dafür tun, seinen Staatshaushalt zu verbessern und zu stabilisieren. Vor allem muss das Wirtschaftswachstum gefördert werden — das ist die Voraussetzung dafür, dass die Misstrauenskrise der Investoren gegenüber dem Euro überwunden werden kann. Für Monti gibt es deshalb keinen ­anderen Weg, als Italien produktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Das bringt mehr Wohlstand und auch das Ende der Zweifel am ital­ienischen Schuldenstand.

M i c h a e la S e i s e r

Der Zins­auf­schlag könnte sinken und da­ mit auch die Kapitalkosten. Die Banken wären stabiler finanziert, die Unternehmen erhielten bil­­ligere Kredite. Monti könnte seine Steuer­ein­nahmen statt für Zinskosten dafür verwenden, die Sozialabgaben für Ar­beits­plät­ze zu senken. Seine Reformen wollen freie unternehmerische Tätigkeit und Initiative fördern. Im Wesentlichen fasst dieses Prinzip den Geist zusammen, der hinter jeder unternehmerischen Tätigkeit steckt. Diese neue Ausrichtung ist eine Wende des bisher vorherrschenden An­satzes, wonach nur erlaubt war, was ausdrücklich geregelt ist. Eine Ana­lyse der ­Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammen­arbeit (OECD) zeigt auf, dass ein derartiges Reformpaket das Zeug hat, das Wachstum wieder anzukurbeln und die Wettbewerbs­fähigkeit zu ­steigern. Monti hat dem ita­lienischen Protektionismus den Krieg erklärt. Zwar wird diese Kriegserklärung auch auf Südtirol durchschlagen, doch dürften die Auswir­ kungen auf die reichste Provinz Italiens nicht gravierend sein. Südtirol wird angesichts seines Autonomiestatus von ­negativen Auswirkungen weitgehend verschont bleiben. Am meisten dürfte der Handel von den Liberali­sierungs­be­strebungen betroffen sein. Doch ist das schlecht? Werden dadurch in Bozen und Meran die wunderschönen Einkaufsar­kaden zugrunde gehen und die ­Verbraucher Nachteile erleiden? Kleinen und großen Ge­­schäften soll es künftig möglich sein, Preisnachlässe zu jeder Zeit zu gewähren. Der Aufwand, die Preisnachlässe den Behörden zu melden, würde für die Betreiber künftig entfallen. Auch die Höhe der Ra­batte soll keinen Beschränkungen mehr unterliegen. Zudem sollen Tankstellen — wie in Deutschland, Österreich und vielen europäischen Ländern schon lange üblich — neben Benzin zukünftig auch andere Produkte verkaufen können und zu einer Art Mini-Markt werden. Landeshauptmann Luis Durnwalder hat die Veränderungen, die das Monti-Dekret vor allem im Handel bewirkt, als Revolution bezeichnet. Indes gibt es auch mögliche Schranken vor, die in Südtirol genutzt werden sollten: die Arbeitssicherheit etwa, die Gesundheit, den Schutz von Umwelt und Landschaft oder den Sch­utz des städtischen Umfelds. Diese Sch­ra­n­ken wird die Regierung im Entwurf einer neuen Handelsordnung nutzen, um absolute Freiheit zu verhindern. So soll auch künftig „die grüne Wiese“ geschützt werden und dort an gewerblichen Tätig­ keiten nur zugelassen werden, was auch bisher bereits erlaubt war (etwa Direktvermarktung, Gärtn­ereien sowie Geschäfte


an Golfplätzen oder Fahrradwegen). Es mag schon sein, dass manche Ertragsquellen künftig weniger ­stark sprudeln. Ungeachtet der Veränderungen dürfte es den Bewohnern zwischen Brenner und Salurner Klause aber weiterhin besser gehen als dem Rest ihrer Landsleute: Möglicherweise wird sich der Wohlstandsvorsprung gegenüber dem Durchschnitt Italiens von mehr als einem Viertel gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ver­kleinern. Viel spricht dafür, dass die Tüchtigkeit der Südtiroler auch einem erhöhten Wettbewerb standhalten wird.

To n i Vi s e nti n i

Lasst sie doch siegen Fotos: Andreas Marini

Michaela Seiser (*1968), Wirtschaftskorrespondentin der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ für Österreich und Ungarn in Wien.

Seien wir doch ehrlich: Alles wäre viel einfacher, wenn unser FC Südtirol (oder besser Südtirol /Alto Adige, wie der Verein politically correct heißt) eine richtige Fußballmannschaft wäre und nicht ein Drittligist. Ach wenn unser Klub in der Serie A spielen würde wie AC Chievo! Das ist schließlich nur der Klub eines Stadt­viertels von Ve­ rona — und wenn es die Veroneser geschafft haben, ­wa­rum sollte es nicht auch den Südtirolern gelingen? ­Kön­­nt ihr euch die Schlagzeilen vorstellen? „Südtirol schlägt Mailand 2:0“ beziehungsweise „Südtirol schießt Inter 3:0 vom Platz“. Oder noch besser: „AC Rom — FC Südtirol 3:4. Die ,Deutschen‘ erobern die Hauptstadt“. Zum Verrückt­werden! Dem ist aber leider nicht so: Der Fußball ist nicht unser Sport. Vermutlich weil wir ein Bergvolk sind, das über wenig flachen Grund verfügt, auf dem man Fußballplätze errichten und den Nachwuchs trainieren kann. Wir überlassen unseren Grund lieber der Landwirtschaft, Fußball ist schließlich ein Flachlandsport. Da wir ein Bergvolk sind, ist es nur logisch, wenn wir uns dem Wintersport auf Eis und Schnee widmen. Hier lassen wir wirklich nichts anbrennen: Wir sind die Besten, wir haben Topathleten in den un­möglichsten Disziplinen! Vorzeigesportler, Symbol­ figuren der jeweiligen Sportart, um die uns die Welt beneidet, weil sie alleine mehr Medaillen einfahren als eine große Nation. So sind wir zum Schlüsselwort gelangt: Nation. Oh! Hät­ten wir doch eine eigene Nationalmannschaft Made in Südtirol mit eigener Hymne und Fahne! Eine National­mannschaft, die nur uns gehört, mit Athleten mit Herkunfts­garantie, DOC sozusagen, die wir mit niemandem teilen oder besser niemandem „schenken“ müssen. Italien rühmt sich mit ­unseren Sportlern, um sie dann auszulachen, weil sie keine toskanische Aussprache haben und den Herrn Mameli (dazu später mehr) nicht kennen! Mit einer eigenen Natio­nalmannschaft würden wir noch bekannter in der ganzen Welt. Uns würde warm ums Herz. Wir könnten stolz sein und allen unser Mir-sein-Mir zu verstehen geben. Mit den anderen (in unserem Fall mit Italien) hätten wir nichts gemein, nur einen Unfall der Geschichte. Eine National­mannschaft also mit eigenen Athleten, eigener Fahne und eigener Hymne. Damit sind wir beim Kern des Problems: die immer wiederkehrende Polemik, die bei uns sämt­liche Sport­veranstaltungen begleitet, bei denen ­unsere deutsch­­­­sprachigen Athleten im Mittelpunkt stehen. (Die ­Ladiner, auch wenn sie viele große Sportler stellen, schei­ ­nen nicht da­runter zu leiden: Sie sind vermutlich viel

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W e t t b e w e r b b e flü g e lt d e n w o h ls tan d / L A S S T S IE DOCH S IEGE N

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„Sportler“ singen die italienische Nationalhymne: Fratelli d’Italia … (Brüder Italiens …)

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der öster­reichische Adler Federn lassen musste. Dies alles begleitet von einer fernsehge­rech­ten Träne der Rührung. Auf der anderen Seite kommt Eigenbeschuss, nämlich von den patriotischsten Südtirolern, meist von Politikern, die im Zuge des sportlichen Erfolgs auf der Suche nach ­pub­licity sind und unsere Athleten am liebsten als politische Frontkämpfer sehen würden. Wenn es nach ihnen ginge, müs­sten Südtiroler Spitzensportler nach dem Sieg einen wei­ten Bogen um die Trikolore und natürlich auch um die ­Mameli-Hymne machen. Insgeheim würden sie unsere ­At­hleten gerne als Verräter hinstellen, weil sie indirekt Ruhm für Italien bedeuten.

… L’Italia s’è desta … (… Italien hat sich erhoben …)

­ rag­matischer oder sie sind von jeher gewohnt, sich als p ­eigenes Volk zu fühlen, das für seine Identität nur die Dolomiten braucht.) Diese Diskussionen werden jedes Mal ausgelöst, vor allem wenn unsere — jawohl, unsere — Sportler bei Welt­meister­schaften und Olympischen Spielen gewinnen, also bei Ver­anstaltungen mit größtem Medien­ interesse. Die Polemik beginnt nicht etwa vor oder während des Wett­kampfs, sondern sofort danach, wenn die Sieger­ ehrung auf dem Pro­gramm steht und es ums Feiern geht. Dann stehen die ident­itätsstiftenden Symbole im Vorder­ grund, dann wird die ­Fah­­ne geschwungen und die Hymne angestimmt. Der An­griff er­­folgt von zwei Seiten und unsere armen Athleten — das kann man ruhig sagen — ­stehen im Kreuzfeuer. In bei­­den Fällen handelt es sich um friendly fire: Auf der einen Seite sind jene, die unsere Sportler am liebsten noch im Bett mit der Trikolore zugedeckt sehen würden. Oder mit der Rechten auf der Brust lauthals und mit perfekter Aus­sprache die Hymne singend, die besagter Herr Mameli getextet hat. Wobei der Text ­seltsam anmuten kann: Wer weiß schon, was es mit dem Helm von diesem Scipio (Elmo di Scipio) auf sich hat? Einige Strophen mögen für die Söhne der Altösterreicher schon fast wie Hohn klingen, wenn es etwa heißt „già l’aquila d’Austria / le penne ha perduto“ und es darum geht, wie

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Der Sport, vor allem jener auf höchstem Niveau, ist wahrlich eine äußerst komplizierte Welt. Nicht nur, weil es um viel Geld geht und weil sich alles irgendwie um die Lo­gik von „Brot und Spiele“ dreht; der Sport ist Opium fürs Volk und ein Kanal, in den man die patriotische Stimmung der Massen lenken kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Fußball ist international das Höchste an patriotischem Stolz. Man denke nur an Großbritannien, das zwar seine englische Nationalmannschaft hat, dann gibt es aber auch noch die Mannschaften von Schottland und Wales, so als wären dies fast souveräne Staaten. Das sind aber Aus­ nahmen, die ihren Ursprung in der Geschichte eben dieses Sports haben, der in jener Gegend erfunden wurde, und die nicht zufällig auch beim Rugby gelten. Bei allen anderen Sportarten geht der Wettkampf zwischen Staaten weiter, die internationalen Verbänden und dem Olympischen Komitee angehören. Da muss sogar der stolze Freistaat Bayern klein beigeben und auf eine eigene Hymne und Fahne verzichten. Es gibt nur Deutschland mit seiner Nationalflagge und ­seiner Haydn-Hymne. Sogar die Katalanen stehen zu ihrem Barcelona, ein in jeder Hinsicht spanischer Klub. Höchstens beherbergen sie die Motorradweltmeisterschaft mit dem Großen Preis von Katalonien, um besser die ­eigene Id­en­ ti­tät, die Wirtschaft, den Fremdenverkehr und ihre Orga­ nisationstüchtigkeit zur Schau stellen zu können. Ansonsten sind sie schlicht und einfach Spanier. Bei ­näherer Betr­ach­ t­ung gibt es jedoch ein großes Missver­ständnis, das bis­her niemand auf der Welt wirklich überwunden hat. Auch die antiken Griechen, die Erfinder der Olympischen Spiele, trugen ihre Wettkämpfe aus als … Griechen. Trotz­dem waren es Athener und Spartaner, die antraten, und sie erhielten Applaus hauptsächlich von ihrer eigenen eingeschworenen Fangemeinde. Identitäts­probleme hat es demnach im Sport immer gegeben und sie sind vermutlich ­unausweichlich. Das Missverständnis hat seinen Ur­sprung im Umstand, dass man Staat mit Nation verwechselt. Politik, internationale Verträge, Richtlinien, Krieg und Frieden, Gesetze und Justiz: dafür steht der Staat als anerkannte ­juristische Institution. Die Nation oder besser im Plural: die Nationen sind eine andere Sache, weil sie eine kulturelle und sprachliche Einheit voraussetzen, die Staaten nicht im­ mer erfüllen und auch nicht müssen. Im Gegenteil, gerade in Zeiten der Globalisierung und der großen Völker­wande­ rungen gibt es immer öfter multi­nationale Staaten mit Völkern unterschiedlicher Sprache, Kultur, Religion und Tradition. Sie sind alle vereint unter dem großen Dach des Staates mit seinen Werten wie Demokratie und Gleichheit aller Bürger, Kommunismus und Solidarität der Klassen

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… Dell’elmo di Scipio, … (… Hat mit dem Helm des „Scipio“, …)

oder Monarchie und Kirche — so in etwa wie das Habs­ burgerreich mit seinem Vielvölker­gemisch. Die National­­ staaten mit ihrer politischen, eth­nischen und kulturellen Ein­heit sind die klare Ausnahme, denn selten stimmen die geografischen Grenzen mit den ethnischen und sprach­ lichen überein. Tatsache ist, dass die Staaten sich leider unausweichlich als Nationalstaaten gebärden und danach streben, sich kulturelle, sprachliche und geschichtliche Eigenschaften aufzuerlegen, die für die Mehrheit der Bevölkerung stehen. Wenn ein Staat, wie es oft vorkommt, kulturelle und sprachliche Minderheiten hat, so müssten sich diese eben anpassen. Seit jeher kommt dies überall vor und man muss wohl davon ausgehen, dass es vermutlich auch in Zukunft so sein wird. Dies kann zu Missbräuchen und Fehlent­wicklungen auch im Sport ­führen, wenn die sport­ lichen Er­folge nicht nur dem Können und dem harten Training zugeordnet werden, sondern auch dem Nationalstaat, in diesem Fall sogar als rassische Überlegenheit seines Volkes. Wie man sieht, ist dies alles nicht neu. Es ist schon vorgekommen und kann jederzeit wieder passieren, wenn die „sportliche“ Begeisterung nicht von der Vernunft kon­ trolliert wird. In unserem Fall ist hingegen die stete Wiederkehr der Polemik interessant, welche die sportlichen Erfolge und die Siegesfeiern der Südtiroler Athleten begleitet. Das jüng­ste und möglicherweise unangenehmste Beispiel hat sich 2006 bei den Olympischen Winterspielen in Turin zu­

… S’è cinta la testa … (… Sich das Haupt ­geschmückt …)

ge­tragen. Da sie in Italien stattfanden, hat dies wohl umso mehr die patriotischen Stimmungen und ihre schädlichen Auswüchse angeregt. Dazu kam, dass gerade in jenen Jahr­en der damalige Staatspräsident Ciampi — ein guter Mann — die Sportler dazu anspornte, die Nationalhymne zu lernen und zu singen. Dies geschah nicht grundlos, und er dachte dabei sicherlich nicht an die Südtiroler Athleten, sondern vielmehr an die üblichen Verdächtigen unter den Fußballern. Es war in jener Zeit wirklich peinlich, unsere italienischen Kickerstars zu beobachten, die beim Absingen der Mameli-Hymne verträumt mit Schlafzimmerblick dastanden. Im Fernsehen sah man sie entweder vollkommen stumm oder höchstens völlig aus dem Takt die Lippen bewegend. Sie versuch­­ten wohl vorzutäuschen, dass sie den Text kannten, was bei den meisten aber nicht der Fall war! Da­rauf kann man wetten. Es waren demnach Zeiten, in denen der Staats­präsident sich richtigerweise für den Re­ spekt gegenüber Ze­remonien sowie eine gesunde Vater­ landsliebe ­einsetzte. Er hoffte, damit einem etwas aus den Fugen ge­ratenen Land ein Ideal vorzugeben.

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Kehren wir aber zurück zu den Olympischen Spielen in Turin, bei denen der Südtiroler Rennrodler Gerhard Plankensteiner zusammen mit Oswald Haselrieder die Bronzemedaille im Doppelsitzerbewerb gewinnt. Der junge Sportler ist außer sich vor Freude. Dann fragen ihn ­während der Pressekonferenz einige Journalisten, ob er die ­Mameli-Hymne kenne. Etwas aufgeregt und der italienischen Sprache nicht perfekt mächtig, antwortet er, dass er „dieses Lied“ nicht kenne. Du lieber Himmel! Bin­­nen weniger Stunden befand sich der Champion im Mittel­punkt eines medialen und parapolitischen Unwetters, das zwischen Rom und Bozen hin- und herzog. Er wurde Opfer eines überhitzten Klimas und einiger Sport­jour­nalisten, die sich auf der Suche nach scoops um jeden Preis auf Groß­ ereignisse wie die Olympischen Spiele stürzen. Diese Jour­ nalisten, die normalerweise über Fahrräder und junge Männer in kurzen Hosen berichten, die einem Ball nachlaufen, haben zum Teil eine nur beschränkte Kenntnis anderer sportlicher Disziplinen und damit wenig Kontakt mit den nördlichsten Provinzen des Landes. Für sie, wie für viele Italiener, sind Südtirol/Alto Adige und das Trentino ein und dieselbe Sache und sie verstehen gar nicht, was es bedeutet, eine nationale Minderheit zu sein. Das gilt na­ türlich auch für die Geschichte. Für viele, für zu viele, sind Trient und Triest nur zwei Schritte voneinander entfernt, man muss nur die Brücke über den Bassano nehmen — ungeschickt auswendig gelerntes Grundschulwissen. Der arme Gerhard jedenfalls wurde sogar vom großen Klaus Dibiasi kritisiert, einer Legende des italienischen Turmspringens, der mehrere Medaillen bei den Olympischen Spielen gewonnen hat, und das alles Made in Südtirol: „Ich bin stolz, Italiener zu sein, auch wenn ich in Österreich zur Welt gekommen bin. Es wäre kein Fehler gewesen, wenn Planken­ steiner sich vorbereitet hätte, die Mameli-Hymne also quasi aus Gewissenhaftigkeit oder zur Bannung des Unheils gelernt hätte.“ Etwas weiser äußerte sich Norberto Oberburger (Gold im Gewichtheben 1984 in Los Angeles, die Süd­­ tiroler Athleten sind doch nicht nur auf Eis und Schnee zu Hause!): „Die ganze Angelegenheit führt zu nichts. Sport ist Sport. Aus. Basta. Wehe, wenn man der Politik die Tür öffnet.“ Diese Tür öffnete aber der ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga mit einem Lehrstück in politischer Bil­dung: Die Mameli-Hymne gehe auf das Risorgimento ­zurück und auf eine Nation, der Plankensteiners Vorfahren ni­­­cht angehörten, da sie Tiroler und Untertanen des Habs­ burgerreiches waren. Demnach, fügte er an, sei Planken­ steiner „gewiss ein italienischer Staatsbürger, er gehöre aber nicht der italienischen Nation an“. Zum Schluss setzte er noch eine für ihn typische Provokation drauf: „Vielleicht sol­­lte man die Olympiamannschaften entnationalisieren und ausschließlich jene aufnehmen, die sich nicht nur zum ital­ienischen Staat, sondern auch zur italienischen Nation ­bekennen. Auf diese Weise zwingen wir nicht mehr ein ta­­ lentiertes und hübsches Mädchen (Cossiga bezog sich of­fen­ sichtlich auf Carolina Kostner, den Eiskunstlaufstar von Turin 2006), das dem historischen Tirol und der ,österreichischen Nation‘ angehört, in einem Stadion eine grünweiß-rote Fahne zu schwingen, auf die ihre Vorfahren für mehr als hundert Jahre geschossen ­haben.“ Den Schluss­ strich zog schließlich der gute Gustav Thöni, eine in der ganzen Welt, in Italien und in Südtirol geliebte Skilegende,

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ein wortkarger Superathlet, der sich mit seinen Leistungen auf der Piste zu behaupten wusste: „Schon wieder diese ­Polemik?! Dabei meint man in Europa zu leben! Ich bin italienischer Staatsbürger. Mein Reisepass ist italienisch. Ich bin auch Südtiroler und Mitglied einer nationalen Min­ der­heit in Italien. Ich bestreite für Italien Rennen. Die italienische Nationalflagge ist die Trikolore und die National­ hymne jene von Mameli. Dennoch bin ich auch Südtiroler.“ Um es kurz zu machen: Lasst sie Wett­kämpfe austragen und lasst sie gewinnen. Es gibt Ruhm und Ehre für alle, für Italien und für Südtirol. Übersetzung ins Deutsche: Stefan Wallisch

Toni Visentini

(*1946), Journalist in Bozen, ehemaliger Korrespondent für „La Repubblica“ und „Corriere della Sera“, Chefredakteur der Nachrichtenagentur ANSA in Bozen und Trient.

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… Dov’è la Vittoria? (… Wo ist Victoria [die Siegesgöttin]?)

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F r an z Kรถ s s le r

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Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser

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Es ist eine größere Herausforderung als man glauben möchte, ein Land darzustellen, das vielen Besuchern als Erholungsland vertraut ist, das dem aufmerksam­eren Betrachter jedoch hinter dem idyllischen Image eine viel komplexere, auch spannendere, Wirklichkeit eröffnet. Es ist das Verdienst des Auftraggebers dieser Publikation, dass er keine Werb­e­ broschüre im Sinn hatte, sondern ein Magazin, das ein umfassendes Bild der Realität der nördlichsten Provinz Italiens vermitteln soll. Als Landesagentur, die auf Südtirol als kreativen, vielsprachigen, im wahrsten Sinne des Wortes europäischen Wirtschaftsstandort an der Schnittstelle zwischen Nord und Süd aufmerksam machen will, ging es der Business Location Südtirol um Glaubwürdigkeit. Sie strebt kein geschöntes, problemloses Bild an, sondern eines, das die Wirklichkeit widers­pi­egelt und den Vorzügen und kritischen Aspekten gleichermaßen gerecht wird. Die beschaulichen Ortschaften und Täler Südtirols, die ­milden Hügellandschaften und schroffen Gebirge, die der Meraner Kurgast Stefan Zweig schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen Städtebildern begeistert beschrieb und die Sigmund Freud zur Sommerfrische auf den Ritten bei Bozen lockten, sind vom rauen Wind der Modernisierung und Globalisierung erfasst worden. Althergebrachte ­soziale Strukturen und Wertvorstellungen werden durcheinandergewirbelt. Aus der ru­ ralen Gesellschaft ist eine zunehmend urbane geworden. Die Wissensgesellschaft erfordert hohe Qualifikation. Die Jugend zieht es an die europäischen Universitäten. Das müh­same Tagwerk auf dem Bergbauernhof als Notwendigkeit des Überlebens wird immer mehr von der Nachfrage der städtischen Konsumenten nach ökologisch vertretbarem Anbau, Landschaftspflege und gesunden, biologischen Nahrungsmitteln verdrängt. Der Tourismus verlangt nicht mehr nach grenzenloser Erschließung, sondern nach beschau­ licher Ruhe inmitten einer hektischen Welt. Südtirol hat sich der Herausforderung ­gestellt. Diese darzustellen und die Antworten darauf zu analysieren war unser Auftrag. Das hat es mir als Journalisten, dem eine kritische Distanz zu den Institut­ionen stets als unantastbares professionelles Prinzip galt, erst erlaubt, die Koordi­nation dieser ersten Ausgabe von „Nord & Süd“ zu übernehmen. Ihr sollen weitere Ausgaben folgen, unter ­anderer journalistischer Verantwortung. Mit einem engagierten Team, das ebenfalls um ­einen ungetrübten Blick auf Südtirol bemüht ist. Das konnte nur ­dadurch gelingen, dass die Sichtweisen verschie­dener Generationen zusammenflossen, manchmal aufein­ anderprallten und schließlich in das Heft mündeten, das Sie jetzt in Händen halten. Auch von der professionellen und ästhetischen Ausrichtung her war die Vielfalt der Perspek­ tiven gewährleistet. Da arbeiteten Designer, die ihre Ausbildung an der Freien Universität Bozen absolviert haben und sich zwischen hier und dem ­Piemont auf kreativ-künstle­ rischem Gebiet betätigen oder ihr Wissen an einer Universität in Deutschland weitergeben, Hand in Hand mit Herausgebern, die einen Südtiroler Verlag betreiben. Wie es sich in einem Land mit konservativem Hintergrund gehört, ist der Träger weißer Haare mit journalistischer Erfahrung zum Chefredakteur dieser ­Ausgabe bestimmt worden. Wobei im Vertrag ausdrücklich vermerkt war, dass sich ­daraus keine inhaltliche Vorrangstellung ableiten ließe — alle Entscheidungen seien im Konsens der Redaktion zu treffen. Was

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manchmal gar nicht so einfach war. Oft konnten avantgardistische ästhetische Vorstellungen nur nach langwierigen Diskussionen mit dem journalistischen Grundsatz der Verständlichkeit, Einfachheit und Klarheit in Einklang ­gebracht werden. Unsere konkrete Redaktionsarbeit wurde selbst zum Experiment, zum Abbild der Arbeit, wie sie in Zukunft immer mehr aussehen wird: Wir saßen vor unseren Computern in Bozen und Turin, in Leipzig und Wien, verbunden durch das Internet, tauschten Texte und Illustrationen über Dropbox und diskutierten in Videokonferenzen über Skype. Und trafen uns zwischendurch jenseits der virtuellen auch in der realen Welt: in einem Bauerngasthaus inmitten der Weinberge auf den Hügeln über Bozen, bei einem Glas Wein und echtem Slow-Food aus Großmutters Küche, angereichert mit mediterranem Einfluss und einer herrlich entspannenden Aussicht auf die Obstplantagen des Etschtals. „Was für ein Land!“, schwärmt die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Die Londoner Tageszeitung „The Daily Telegraph“ begeistert sich für die „Norditalienische Erfolgs­geschichte inmitten des schwankenden Vertrauens in Rom“. Wenn man, wie ich, in seiner frühen Jugend in den 1960er-Jahren ein relativ armes, sozial unausgeglichenes, zurückgebliebenes Land verlassen und sein Leben in verschiedenen Erdteilen der Welt verbracht hat und gleichsam als Gast zurückkommt in ein wohlhabendes, sozial ausgeglichenes, blühendes und selbstbewusstes Land, sind einem diese positiven Emotionen ­vertraut. Südtirol ist ohne Zweifel eine bestechende Erfolgsstory. Wer seine Wurzeln hier hat, kann aber auch zwischen den Zeilen lesen. Der rasante Fortschritt hat mitunter Werte auf dem Weg zurückgelassen, die man wohl besser bewahrt hätte und die man jetzt wieder zurückzuerobern versucht. Der materielle Wohlstand hat sich zuweilen bis an den Rand der ökologischen Verträglichkeit vorgeschoben, an dem der einzigartige Charakter des Landes, und vermutlich auch der seiner Bewohner, in Bedrängnis gerät. Dass die Vorzüge der Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens unterschiedlicher ­Kulturen den jungen Generationen wieder erklärt werden müssen, anstatt selbstverständlich als etwas Wertvolles begriffen und als internationaler Wettbewerbsvorteil genutzt zu ­werden, ruft eine gewisse Ernüchterung hervor. Ganz zu schweigen von der Liberalität und Aufgeschlossenheit fremden Kulturen gegenüber, die noch immer auf Widerstände stößt. Diese ganze Realität darzustellen war unser Ziel. In der ersten Ausgabe von „Nord & Süd“ haben wir mit einer Ortsbestimmung begonnen: Südtirol im Spannungsfeld ­zwischen Zentrum und Peripherie. Schon bald mussten wir entdecken, dass die Begriffe re­lativ sind, abhängig von der jeweiligen Perspektive. Es hat sich in Texten und Bildern ein spannender Dialog unterschiedlicher, manchmal entgegengesetzter Standpunkte ­er­geben. Eine endgültige Antwort haben wir nicht gefunden. Es gibt sie nicht. Wenn es uns mit diesem Heft gelungen ist, Ihr Interesse an Südtirol zu wecken, einem kleinen, ­schönen, kreativen und lebendigen Land zwischen Nord und Süd mit einer boomenden Wirtschaft — und, warum nicht, auch mit seinen Widersprüchen —, dann haben wir ­unser Ziel erreicht. Ihr Franz Kössler

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sehr geehrte leserin, sehr geehrter leser

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Nummer 1  −  2012  −  Nord & Süd  Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol

Biografien der beauftragten Fotografen, Illustratoren und Künstler:

Othmar Seehauser (*1955), freier Fotograf und Publizist in Bozen, arbeitete für „FF — Das Südtiroler Wochenmagazin“ und „Der Spiegel“.

Ivo Corrà (*1969), Fotokünstler aus Bozen, Mitglied des Projektteams für Vermittlung am Museum für moderne und zeitgenös­ sische Kunst in Bozen.

Simone Vollenweider (*1982), freie Grafikdesignerin in Leipzig.

Nicolò Degiorgis (*1985), Fotokünstler in Bozen, seine Arbeiten werden regelmäßig in „Financial Times“, „Le Monde“ und „Vogue“ veröffentlicht. Ausstellungen: Ring Cube Gallery, Tokyo, 2011; ar/ge Kunst, Bozen, 2009–2011. Johannes Inderst (*1967), Fotokünstler und Lehrer in Meran. Ausstellungen: Festung Franzensfeste, 2011 (50 × 50 × 50 artSüdtirol). Ika Künzel (*1978), studierte Produktdesign in Bozen und Eindhoven, Mitarbeit im Arbeitsteam von Konstantin Grcic, heute freie Illustratorin und Designerin in Berlin. Barbara Mair (*1981), Ausbildung an der Graphischen in Wien und am Inter­national Center of Photo­graphy in New York, freie Foto­grafin in Wien. Andreas Marini (*1966), Fotokünstler in Meran mit Fokus Theater­ fotografie. Daniel Mazza (*1980), Ausbildung an der Filmschule „Zelig“ in Bozen, freier Dokumentarfilmer und Fotograf in Meran. Gabriela Oberkofler (*1975), Aktionskünstlerin in Stuttgart und Jenesien. Ausstellungen: Galerie Fruit and Flower Deli, New York, 2007. Cristóbal Schmal (*1977), selbstständiger Illustrator in Berlin, seine Arbeiten erscheinen in der „New York Times“ und „Le Monde“. David Schreyer (*1982), Architekt und autodidakter Bildermacher in Tirol und Wien. Ausstellungen: Alte Schieberkammer, Wien, 2010; Galerie Anika Handelt, Wien, 2010.

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Nummer 1  −  2012  −  Nord & Süd  Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol

Redaktion

Herausgeber

Koordinierender Chefredakteur: Franz Kössler

Direktor: Ulrich Stofner

Gesamtkonzept und Kuratoren: Angelika Burtscher, Daniele Lupo (Lupo & Burtscher), Christian Hoffelner (CH Studio), Thomas Hanifle, Thomas Kager (Ex Libris Genossenschaft)

Idee & Entwicklung: Birgit Mayr

Redaktion, Lektorat, Korrektorat: Ex Libris Genossenschaft, exlibris.bz.it

Beratung Text: Bettina König

Art Direktion und Gestaltung: CH Studio, ch-studio.net Lupo & Burtscher, lupoburtscher.it

Autoren: Marco Angelucci, Michil Costa, Georges Desrues, Felice Espro, Christian Felber, Lorenz Gallmetzer, Karl-Markus Gauß, Johannes Inderst, Franz Kössler, Martin Larch, Francesca Melandri, Robert Menasse, Waltraud Mittich, Stefan Nicolini, Gabriela Oberkofler, Christian Pfeifer, Hans-Peter Riese, Michaela Seiser, Isabel Teuffenbach, Toni Visentini, Teresa Vogl, Susanne Waiz, Joseph von Westphalen, Stefano Zangrando Fotografie und Illustration: Florian Böhm, Ivo Corrà, Nicolò Degiorgis, Konstantin Grcic Industrial Design, Matteo Imbriani, Ika Künzel, Andreas Marini, Barbara Mair, Daniel Mazza, Cristóbal Schmal, David Schreyer, Othmar Seehauser, Simone Vollenweider Übersetzungen: Ex Libris Genossenschaft (Claudia Amor, Ulrich Beuttler, Selma Mahlknecht, Silvia Oberrauch, Stefan Wallisch) Bild auf dem Umschlag: Matteo Imbriani Bild auf dem Cover: Daniel Mazza Für die Organisation und die Kostüme des Beitrags „Lasst sie doch singen“ ein Dankeschön an: Michael Mair, Familie Gruber, Familie Kostner, Pro Hockey Bozen — Familie Mair, Sportler Alpin — Oliver Schenk, Sportler AG; den Models und Schauspielern: Ricarda Amberg, Walter Bàlint, Jeanpaul Frenes, Verena Hafner, Thomas Hochkofler, Jasmin Mairhofer, Lissy Pernthaler.

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Projektmanagement: Birgit Oberkofler

Auflage: 3.000 Stück

Druckvorstufe und Druck: Longo, Print and Communication; Printed in Italy

© Business Location Südtirol — Alto Adige, Bozen 2012. Alle Rechte vorbehalten. Sämtliche inhaltlichen Beiträge der Publikation sind unveröffentlichte Originalbeiträge und Auftragswerke.

Eine jährliche Publikation der Standortagentur Business Location Südtirol — Alto Adige (BLS)

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Eine jährliche Publikation der Standortagentur  BL S, Business Location Südtirol — Alto Adige

Durch Südtirols beschauliche ­Landschaft weht der Wind der ­Glo­balisierung. Am Schnittpunkt ­zwischen Nord und Süd, im Sp­an­ nungsfeld zwischen Zentrum und ­Peripherie geraten alther­gebrachte gesellschaft­liche und wirtschaft­liche Strukturen in Bewegung. Es tun sich neue Chancen auf ebenso wie neue Heraus­forderungen. Ein offener Blick auf ein Land im Umbruch. Nord & Süd  −  2012

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