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Alphabet des Waldes
Greussing. So verteufelte der Ortspfarrer von der Kanzel herab den Dichter Franz Michael Felder als „Ketzer“, „Freimaurer“ und „Antichristen“. Gegen die „Maigesetze“ von 1868, die die Schulaufsicht der katholischen Kirche entzogen, die Zivilehe sowie den Wechsel des Glaubensbekenntnisses ermöglichten und die Ehegerichtsbarkeit den staatlichen Instanzen zuwiesen, rief der Klerus zum Ungehorsam auf. Es verwundert also nicht, dass sich auch in Bizau der Gegenwind bemerkbar machte – zumal der Sieg der Katholisch-Konservativen bei den Landtagswahlen von 1870 das Ende des politischen Liberalismus im Bregenzerwald einläutete. Man spielte zwar weiterhin Schiller, nun auch den „Wilhelm Tell“, Lessings „Minna von Barnhelm“, Nestroys „Lumpazivagabundus“ und sogar Shakespeares „König Lear“, letzteres Stück allerdings, wie 1892 sogar im Wiener Weltblatt „Neue Freie Presse“ zu lesen war, „ … vor fast leeren Bänken. Der Pfarrer von Bizau und dessen Amtsbrüder in der Nachbarschaft konnten diesen Erfolg als den ihren bezeichnen, und da jede Aufführung Auslagen verursachte, solche aber Zuschauer heischten, wurde der Musentempel mit ‚König Lear‘ geschlossen.“ Gebhard Wölfle berichtete dem Germanisten und Historiker Hermann Sander (1840–1919), das Theater sei von „unseren Zeloten geradezu totgeschlagen worden“.
Unterkriegen ließ man sich freilich nicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die neu gegründete „Dilettanten Theatergesellschaft“ den Spielbetrieb wieder auf und führte ihn, nur unterbrochen von den beiden Weltkriegen und den ärgsten Jahren der Wirtschaftskrise, bis in die Gegenwart fort. Übrigens: 2023 steht in Bizau „Wie im Himmel“ von Kay Pollak auf dem Programm. Alois Niederstätter
Der Bregenzerwälder Reinhard Johler lehrt am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen
Im Dorf
Der Bregenzerwald weist eine charakteristische, der Natur und der Wirtschaftsweise geschuldete Form der Besiedlung auf. Eine dreistufige Grünlandbewirtschaftung, die einen intensiven Käsehandel ermöglicht: das „Heimgut“ mit Häusern und Ställen im Tal, die im Frühjahr von den Familien „befahrenen“ „Maien-“ oder „Vorsäße“ und die „Alpen“ im Hochgebirge. Vieles hat das 20. Jahrhundert verändert. Die Maien- oder Vorsäße etwa werden nicht mehr nur bäuerlich bewirtschaftet, sondern auch touristisch genutzt. Damit wird auch das saisonale Hin- und Rückübersiedeln der Bauernfamilien seltener.
Die Wege zu den zerstreut liegenden Grundstücken sind weiterhin weit, müssen aber seit langem nicht mehr zu Fuß begangen werden. Trotzdem ist die ursprüngliche Form der Besiedlung im Bregenzerwald gut erkennbar geblieben: bäuerliche Streusiedlung zum einen und sich in der Bauweise davon klar abgrenzende Dorfzentren. Das Dorfbild unterscheidet sich von Gemeinde zu Gemeinde deutlich. Grundsätzlich aber gilt: Im Hinterwald dominieren Haufendörfer, der Mittel- und Vorderwald sind Streusiedlungsgebiete, in denen das Dorfzentrum – das eigentliche „Dorf“ – eine nichtbäuerliche Kultur entwickelt. Hier waren viele vereint, die etwas zu sagen hatten: Pfarrer, Kaplan, Arzt und Bürgermeister, Gendarm, Direktor der Raiffeisenkasse, Schuldirektor und Gemischtwarenhändler.
Ebenso wichtig waren die im Dorf ansässigen Handwerker wie Metzger, Bäcker, Schmied und Wagner. Ein Dorf war nur dann ein richtiges Dorf, wenn es auch viele Gasthäuser hatte, denn im Dorf fand das soziale Leben statt: Hochzeiten und Todesfälle, Jahresfeste und Jasspartien, Jahrtage und Fastnachtsbälle. Im Dorf lebten nicht unbedingt die Reicheren, aber doch die „Besseren“. Wenn man daher, woran ich mich noch gut erinnern kann, ins „Dorf“ ging, hat man sich entsprechend gut angezogen.