neue Folge BanD 26
DenkmÄler D e r Tonkuns T in Bayern
n eue Folge
veröffentlicht von der gesellschaft für Bayerische musikgeschichte
BanD 26
g iovanni Ferran D ini
C a T one in u T i C a (1753)
DenkmÄler D er Tonkuns T in Bayern · n eue Folge · Ban D 26
g iovanni Ferran D ini
(170 9– 1791)
C a T one in u T i C a ( m ünchen 1753)
herausgegeben von s abine k urth
Editionsleitung
Beirat der Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte e.V. Redaktion: Dr. Stephan Hörner
Bestellnummer: SON 256 ISMN 979-0-004-80420-9
Notengrafik: Arion, Baden-Baden
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
© 2024 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
Breitkopf & Härtel KG Walkmühlstraße 52 65195 Wiesbaden, Germany info@breitkopf.com www.breitkopf.com
Printed in Germany
III
(Marzia, Cesare):
V
Scena VI
(Catone, Arbace, Marzia, Emilia): In mezzo al mio
Scena VIII
Scena IX
Scena X Recitativo (Cesare, Catone): Cesare, a me son troppo preziosi
Scena XI
(Marzia, Cesare, Catone): Cesare, e dove?
Aria di Cesare: Se in campo armato
Scena XII
Recitativo (Catone, Marzia, Emlia): Ah signor, che facesti?
Scena XIII
Recitativo (Arbace, Catone, Marzia, Emilia): Signor, sò che a
Recitativo (Marzia, Emilia, Arbace): Sarete paghi al fin
Aria di Marzia: Sò che godendo vai
Scena XV
Recitativo (Emilia, Arbace): Udisti, Arbace?
terzo
Scena I
Scena V
(Cesare,
(Cesare):
(Emilia):
Scena VII
(Catone, Cesare, Emilia): Olà fermate
Scena VIII Recitativo (Catone, Cesare): Lascia che un’alma grata
Scena IX
Recitativo (Emilia, Catone, Cesare): Siam perduti
Scena
(Emilia):
Scena XI
Recitativo (Catone): Vincesti, inique stelle
Scena XII
Recitativo (Marzia, Arbace, Catone): Padre Signor T’arresta
30. Aria di Catone: Per darvi alcun pegno
Recitativo (Marzia, Arbace): Seguiamo i passi suoi
Scena XIII
Recitativo (Cesare, Fulvio): Il vincer, o compagni
Scena ultima
Recitativo (Marzia, Emilia, Cesare, Fulvio): Lasciatemi, o crudeli
VORWORT
Die vorliegende Edition der Oper Catone in Utica von Giovanni Ferrandini in den Denkmälern der Tonkunst in Bayern verdankt ihre Entstehung den Feierlichkeiten zum 250-jährigen Jubiläum der Eröffnung des durch François Cuvilliés errichteten Münchener Residenztheaters am 12. Oktober 2003, dem Namenstag des 1753 regierenden bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph. Das seit 1754 vergessene, für das neue Theater komponierte Bühnenwerk kam an diesem Abend unter der Leitung von Christoph Hammer mit der Neuen Hofkapelle München und der Regie von Peer Boysen in einer Produktion durch das Staatstheater am Gärtnerplatz wieder auf die Bühne seiner Uraufführung. Die Produktion und auch die Edition des Werkes wurde von Dr. Hermann Neumann, Oberkonservator der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen ermöglicht, maßgeblich gefördert und weit über die Aufführungen hinaus begleitet. Ihm und den Künstlern und Künstlerinnen gilt der besondere Dank, durch ihr tatkräftiges Engagement ein nachhaltiges Interesse an Giovanni Ferrandini und seinen musikalischen Werken initiiert zu haben.
Um das Gelingen des Vorhabens editorisch dauerhaft abzusichern, bezog die Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte e.V. Catone in Utica als Fixpunkt der Operngeschichte in Bayern in den Editionsplan ihrer Reihe Denkmäler der Tonkunst in Bayern / Neue Folge ein und ermöglichte dadurch dankenswerterweise eine nach wissenschaftlichen Grundsätzen erstellte Ausgabe. Herrn Dr. Stephan Hörner, der als Redakteur der Denkmälerausgabe diesen Band mit unendlicher Geduld und Akribie begleitet und zum erfolgreichen Abschluss verholfen hat, gilt mein herzlichster Dank.
Die Herausgabe des Notenbandes war von vielen Ungewissheiten begleitet, denn an Ferrandinis langjährigem Wirkungs- und Sterbeort München haben sich von seinem umfangreichen musikalischen Schaffen keine autographen und nur wenige der von professionellen Kopisten angefertigten handschriftlichen Quellen erhalten, sein Nachlass ist unbekannt.
Mein großer Dank gilt den Personen und Institutionen, die den Zugang zu den verstreuten musikalischen und textlichen Quellen der Edition, aber auch zu den wichtigen Akten des fürstlichen Hoftheaters und seines Personals ermöglichten oder dies versuchten: Herr Dr. Karl Wilhelm Geck, früherer Leiter des Referats Musikalien und Musikliteratur der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek in Dresden; der Universitätsbibliothek Bibliotheca Albertina in Leipzig; Herrn Dr. Jürgen Neubacher, früherer Leiter der Musiksammlung an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky und seiner Nachfolgerin Frau Dr. Mirijam Beier, sowie dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Bibliothèque du Conservatoire royal de Liège. Dank gebührt ferner Herrn Siegfried Schießl für den Notensatz, Herrn Alexander Heinzel für die Einrichtung des Textteiles sowie Herrn Andreas Jac obsen vom Verlag Breitkopf & Härtel für die Betreuung des Bandes. Wertvollen Rat und Hilfestellungen verdanke ich dem verstorbenen Leiter der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, Dr. Robert Münster, der langjährigen Leiterin der RISM-Arbeitsstelle in Dresden, Dr. Ortrun Landmann, Dr. Gertraut Haberkamp und ihren Kollegen von der Münchener Arbeitsstelle des RISM, Dr. Helmut Hell, Prof. Dr. Barbara Wiermann, Philippe Gilson, Olga und Dr. Michael Raab, Prof. Dr. Sergei Lebedev, Prof. Dr. Wolfgang Rathert, Dr. Ingo Kolasa u nd meinem Mann Dr. Bernhold Schmid.
München, im September 2024 Sabine Kurth
EINLEITUNG
Zu Leben und Bühnenwerk von Giovanni Ferrandini
Die Biographie des Venezianers Giovanni Ferrandini wies über zwei Jahrhunderte hinweg in allen nicht archivalisch belegten Le bensstationen Lücken und Mutmaßungen auf. Mit dem Erscheinen von Paolo Cattelans Monographie Mozart. Una mese a Venezia 1 und seinem separat veröffentlichten Beitrag „Giovanni Ferandini, musicista ‚Padovano‘“, der sich auch der Familiengeschichte der Ferrandini widmet, wurde die „italienische“ Biographie Ferrandinis bis hin zu den Vornamen des in München wirkenden Komponisten mit evid enten Daten korrigiert und ergänzt:
Giovanni Ferrandini war der erste Sohn des aus Friaul stammenden Stefano Ferrandini. Im Jahr 1704 nach Venedig eingewandert, arbeitete Stefano Ferrandini inmitten eines Stadtteils, in dem die Textilindustrie florierte, zunächst als Schuster. Aus seiner Ehe mit Elisabetta Catterina Carrin gingen acht Kinder hervor, von denen sieben mit Geburtsdaten im Taufregister der Kirche San Marcuola vermerkt sind 2: Giovanni Domenico wurde am 12. Oktober 1709 geboren; danach folgten 1710 und 1712 zwei weitere Söhne, Francesco Nicolò und Giovanni Battista, die innerhalb ihrer ersten Lebensjahre starben, sowie vier Schwestern, Anzola Maddalena, Antonia Maddalena, Maddalena Pasqua und Eleonora Ludovica Caterina (1721), als deren Taufpate Conte Carlo Ludovico Colloredo, Sohn des Kaiserlichen Gesandten in Venedig und Mäzen für Musiker, fungierte 3 Mit diesem Paten eröffnete sich für den selbst Oboe spielenden Vater Stefano Ferrandini ein neuer Lebensweg, denn Colloredo war Mitglied der Accademia Filarmonica in Bologna und stand im Briefwechsel mit Padre (Giovanni Battista) Martini.
Ob und wie lange Giovanni Ferrandini tatsächlich im Venezianischen Conservatorio dei Mendicanti unter Leitung von Antonio Biffi eine frühe Musikausbildung erhielt – er also den Chor besuchte oder Musik studierte – ist nicht belegt, aber Hinweise darauf finden sich bereits in frühen Lexika, wie etwa bei Gerber 1790 und Lipowsky 1811 4
Seine künstlerischen Leistungen waren als Kind aber bereits so bemerkenswert, dass sich sein Vater Stefano mit dem Zwölfjährigen auf die Reise machte, um ihn am kurfürstlichen Hof in München vorzustellen. Am 15. Mai 1722 trat Giovanni Ferrandini am kurbayerischen Hof in München eine Stelle als Oboist 5 an; zunächst in der Kapelle des Herzogs Ferdinand Maria Innozenz von Bayern (1699 – 1738, Generalfeldmarschall, Sohn des Kurfürsten Max Emanuel), ab 1723 zusammen mit seinem Vater Stefano zusätzlich in der Hofkapelle. Die Ausbildung setzte sich dort fort: Die Lehrer für theoretischen Unterricht und Cembalo waren Hofkapellmeister Giuseppe Antonio Bernabei (1649 – 1732) und Kammermusikdirektor Pietro Torri (ca. 1650 – 1737) 6, dessen Position Ferrandini schließlich erlangen sollte. Zusätzlich war der Konzertmeister Evaristo Felice Dall’Abaco (1675 – 1742) die unmittelbare Bezugsperson im beruflichen Umfeld des jungen Oboisten. Bereits bei den Vorschlägen zu Gehaltskürzungen der Hofmusiker, die Bernabei im Juli 1726 für den Kurfürsten erstellten musste 7, gehörte Giovanni Ferrandini nicht nur zu den fünf Musikern mit dem höchsten Gehalt 8, vielmehr wurden weder er noch sein erheblich geringer besoldeter Vater Stefano mit Kürzungen bedacht – wegen fehlender fiskalischer Zuständigkeit der „Churfürstlichen Musik“, d.h. der Hofkapelle; die Oboisten zählten zum Militär. Durch fehlende Akten ist es schwierig, Giovanni Ferrandinis beginnende Karriere als Komponist tatsächlich nachzuzeichnen. Die exzellenten Sängerinnen und Sänger der Münchener Hofkapelle, die als Virtuosen entweder eine feste Anstellung bekleideten, wie (bis 1724) der
1 Paolo Cattelan, Mozart. Un mese a Venezia, Venedig 2000. Darin insbesondere die Kapitel „L’altra Dolfina. Una famiglia in carriera“, S. 47 – 60, „L’empia compagnia di Tartini‘. Grafie, Biografie, Mani II (Giovanni Ferrandini)“, S. 149 – 168. Die grundlegenden biographischen Aussagen des Textabschnitts sind hier im folgenden wiedergegeben. Gezielt mit Giovanni Ferrandini befasste sich Paolo Cattelan in seinem Konferenzbeitrag „Giovanni Ferandini, musicista ,Padovano‘ “, in: Mozart, Padova e la Betulia Liberata. Committenza, interpretazione e fortuna delle azioni sacre metastasiane nel ‚700. Atti del convegno internazionale di studi 28 – 30 settembre 1989, a cura di Paolo Pinamonti, Florenz 1991, S. 217 – 244. Die bisweilen abweichende Schreibung des Nachnamens als „Ferandini“ beruht auf dialektalen Einflüssen.
2 Cattelan, wie Fn. 1, S. 49, Fn. 5, nennt die Daten für sieben Kinder aus zwei Taufregistern (Venedig, Archivio della Parrocchia di SS. Fortunato ed Ermagora).
3 Insbesondere die beiden jüngsten Schwestern, Maddalena und Eleonora, verfolgten für mehrere Jahre Karrieren als Sängerinnen. Paolo Cattelan, Mozart, wie Fn. 1, S. 55 – 60.
4 Ernst Ludwig Gerber, Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, Leipzig 1790, Band 1: A – M, Spalte 405. Felix Joseph von Lipowsky, Baierisches Musik-Lexikon, München 1811, S. 80 – 81.
5 Instrumentalisten in Hofkapellen waren äußerst vielseitig, wie Norbert Dubowy betont: „Holzblasinstrumentenspieler beherrschten wohl generell mehrere Musikinstrumente“; vgl. Norbert Dubowy, „Italienische Instrumentalisten in deutschen Hofkapellen“, in: The Eighteenth-century diaspora of Italian music and musicians, hrsg. von Reinhard Strohm, Turnhout 2001 (Speculum musicae, 8), S. 81. Dies könnte auch begründen, dass Giovanni Ferrandini mehrere Werke für Flöte schrieb. Für Giovanni Ferrandini werden von verschiedenen Autoren – abgesehen von Gesang, Tasteninstrument (Cembalo) und Oboe – die Instrumente Violine und Gambe genannt.
6 Hans-Joachim Nösselt, Ein ältest Orchester. 1530 – 1980. 450 Jahre Bayerisches Hof- und Staatsorchester, München 1980, S. 86 und Fn. 19. – Eine vollständige Darstellung der Münchner Hofkapelle veröffentlichte Robert Münster in seinem Beitrag „Die Münchner Hofmusik bis 1800“, in: Silke Leopold, Bärbel Pelker (Hrsg.), Süddeutsche Hofkapellen im 18. Jahrhundert. Eine Bestandaufnahme, Heidelberg 2014 und 2018, S. 367 – 408.
7 Ediert von Nösselt, siehe Fn. 6, S. 80 – 85. Ferdinand Maria musste laut Nösselt, S. 79, einen riesigen Schuldenberg von 32 Millionen Gulden mithilfe von Ausgabenstreichungen und Steuern tilgen.
8 „Giovanni Ferrandini 400 fl, Stefano Ferrandini 240 als ,Oboist und Violinist‘ “, Hans-Joachim Nösselt, wie Fn. 6, S. 80.
einflussreiche Sänger (Alt) und Komponist Antonio Bernacchi, später Leiter der Accademia Filarmonica di Bologna, oder auch in Gastspielen auftraten, wie Faustina Bordoni, die Kastraten Carlo Broschi (1728) und Giovanni Carestini, werden Ferrandinis Idealbild der Gesangsstimme und das hohe Maß ihrer Leistungsfähigkeit geprägt haben, das sich in seinen Kompositionen abbildet.
Bereits früh, im Sommer 1729, erhielt Ferrandini im Schloss Nymphenburg, das über ein kleines Komödientheater und ein Heckentheater im Schlossgarten verfügte, die Gelegenheit zur Aufführung zweier kleinerer musikdramatischer Werke 9, die eindeutig Ferrandinis Autorschaft benennen: Il sacrificio invalido auf einen Text von Perozzo de Perozzi 10 (am 10. Juli 1729) und die Serenata Colloquio pastorale 11 (am 6. August 1729). Sie waren offensichtlich seine frühesten in Szene gesetzten Bühnenwerke, denen mehrere große Opern folgten. In beiden Libretti wird Giovanni Ferrandini als „Sr. Giouanni Ferrandini Virtuoso di Camera d’Oboe, di S. A. S. E.“ benannt. Sein späteres Wirkungsfeld – Oper und Kammermusik – konnte er bereits zu dieser Zeit aus der Perspektive des Orchestermusikers erproben. Im Karneval des Jahres 1730 (5. Februar) folgte das Dramma per musica Berenice 12 (Libretto: Leopoldo de Villati). Mehr noch wog das Dramma per musica Scipione nelle Spagne in drei Akten auf das Libretto von Apostolo Zeno, das im Karneval 1732 uraufgeführt wurde. 13
Nach dem Tod Giuseppe Antonio Bernabeis am 9. März 1732 ging die Leitung der Hofkapelle auf Pietro Torri über und Kurfürst Karl Albrecht ernannte Giovanni Ferrandini zum „Kammer-Compositore“. Dadurch konnte Ferrandini auch offiziell Aufgaben für die Oper und deren Sänger übernehmen, wie zum Beispiel die Adaption der Partitur des 1735 aufgeführten Dramma per musica Alessandro nell’Indie von Leonardo Vinci, zu der Ferrandini ergänzende Arien für die in München verfügbaren Sängerinnen und Sänger komponierte. 14 Das italienische Libretto der Münchner Aufführung 15 benennt keinen Komponisten. Ab dieser Adaption berücksichtigte Ferrandini mit Ausnahme der Talestri (1760), gedichtet und komponiert von der Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis von Bayern, (1724 – 1780, ab 1747 Kurfürstin von Sachsen, der Schwester des bayerischen Kurfürsten) bei der Wahl der Opernlibretti ausschließlich die Dramen Metastasios. Als erstes eigenständiges Werk vertonte er das Dramma per musica Adriano in Siria, „in der Faßnacht-Zeit des 1737.ten Jahrs vorgestellet“ 16, in dem seine Schwester Maddalena Ferrandini die Rolle der Sabina sang.
Nach dem Tod Pietro Torris am 6. Juli 1737 wurde Ferrandini rasch zum Direktor der Kammermusik und Kurfürstlichen Rat ernannt und übernahm damit auch eine Verpflichtung zur Vermittlung von italienischen Musikern an den Münchener Hof, gegen die herausragende Besoldung mit 1.200 Gulden. Der Venezianer Giovanni Porta (1675–1755) folgte Torri im Amt des Kurfürstlichen Kapellmeisters nach. Ferrandinis zweites Dramma per musica mit Libretto von Metastasio ist Demofoonte, aufgeführt am 22. Oktober 1737 17, dessen musikalische Quellen nicht mehr nachweisbar sind.
Der Beginn von Ferrandinis über 13 Jahre hinweg ausgeübten Musikunterrichts für die Kinder des Kurfürsten, den Prinzen Maximilian Joseph (1727 – 1777) und seine ältere Schwester, Prinzessin Maria Antonia Walpurgis muss in den frühen Jahren seiner Kammermusikdirektion liegen.
9 Viele Daten und Werkzuschreibungen an Giovanni Ferrandini sind auch heute noch zweifelhaft oder falsch. Ob Ferrandini Komponist des Dramma per musica Gordio ist, das zum Geburtstag der Kurfürstin Maria Amalia am 22. Oktober 1727 aufgeführt wurde, ist aufgrund einer fehlenden Komponistenangabe im Libretto nicht belegbar: Ferrandinis Name wurde von Felix von Lipowsky benannt, aber bereits 1865 von Franz Michael Rudhart in der Geschichte der Oper am Hofe zu München 1. Die italiänische Oper von 1654 – 1787, Freising 1865, S. 114, gerade gerückt. (Libretto in der Bayerischen Staatsbibliothek, Signatur: Bavar. 4015-7,1/7#Cah.1.) Giovanni Ferrandini wird zudem häufig mit dem aus Neapel stammenden Komponisten Antonio Ferrandini/Ferradini (1718 – 1779) verwechselt, der zunächst als Kirchenkomponist in Neapel belegt ist, später in Oberitalien und Spanien mit ernsten und komischen Opern reüssierte (z.B. mit der einzigen zeitgenössischen Vertonung von Carlo Goldonis Komödie Il festino, uraufgeführt 1756 in Parma) und für einen ungeklärten Zeitraum nach Prag zog, wo er 1779 verstarb. Siehe Panja Mücke, Artikel „Ferradini, Antonio“ in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016ff., zuerst veröffentlicht 2001, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/23576
10 Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Bavar. 4015-23,1/5#Cah.5. Dieses und die nachfolgend genannten Libretti der Bayerischen Staatsbibliothek sind digital verfügbar.
11 Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Bavar. 4015-23,1/5#Cah.4.
12 Libretto: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Bavar. 4015-36,7.
13 Libretto: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Res/Bavar. 4015-12,1; Musikhandschrift im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien, Signatur IV 8749 (Q 1368).
14 Hinweis darauf bei Cattelan, wie Fn. 1, S. 50 und in Fn 8. Ein Exemplar des Münchener Librettos ist in der Schatz-Collection der Library of Congress nachgewiesen; der Titel nennt weder Vinci noch Ferrandini. Die Münchner Kopistenabschrift von Leonardo Vincis Alessandro nell’Indie, Signatur D-Mbs Mus.ms. 169, wurde zusammen mit den in der British Library überlieferten, mutmaßlich autographen Einlagen von Giovanni Ferrandini, Signatur Gb-Lbl R.M.23.c.8-10., faksimiliert bei Garland herausgegeben (Leonardo Vinci et al, Alessandro nell’Indie. Arranged by Giovanni Battista Ferrandini? Introduction by Howard Mayer Brown, New York, London 1984, Italian Opera 1640 – 1770, [S. 72]). Darüber hinaus sind mehrere in München aufgeführte Bühnenwerke der fraglichen Jahre 1727 bis 1737 lediglich d urch Libretti belegt, die keine Komponisten benennen. Sie pauschal Giovanni Ferrandini zuzuschreiben, würde den Sachverhalt verkürzen. Neben Gordio (1727, siehe Fn. 9) ist auch das Dramma per musica Ipermestra (Libretto von Giovanni Salvi, 1736) in der Autorschaft ungeklärt. Die Libretto-Datenbank Corago der Universität Bologna (http://corago.unibo.it/collezioni) weist Textbücher in der Vertonung von Geminiano Giacomelli, Giuseppe Ferdinando Brivio, Antonio Vivaldi, Ferdinando Feo, Antonio Vivaldi, ohne Nennung des Komponisten und von Giovanni Ferrandini von 1724 bis 1736 nach.
15 Pietro Metastasio, Lbt, et al. Alessandro nell’Indie: dramma per musica ; da rappresentarsi nel Teatro di S.A.S.E. di Baviera nel carnevale dell'anno [In Monaco: appresso Giovanni Giacomo Vötter stampatore degli stati di Baviera provincia, 1735] Image. Retrieved from the Library of Congress, https://www.loc.gov/item/2010665373/
16 Auch dieses Libretto liegt in einer deutschen Übersetzung als Adrianus in Syrien vor; Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur Res/4 Bavar. 3007,I,22. Die Libretto-Datenbank Corago weist mehrere italienischsprachige Exemplare nach, darunter in der Universitätsbibliothek Bayreuth, Signatur 73/LQ 43100 F372 A2.2006 A2.
17 Überliefert als deutschsprachiges Libretto Demofoontes, Bayerische Staatsbibliothek München, Signaturen: Bavar. 4015-35,2 und Slg.Her 2081. Die Libretto-Datenbank Corago weist zwei Exemplare des italienischen, bei Vötter erschienenen Librettos nach, darunter in Durham, NC Duke University Libraries, David M. Rubenstein Rare Book & Manuscript Library, Signatur ML50.2.A78 V 563 1730 c.1.
Maria Antonia Walpurgis, deren Musikunterricht ab 1739 belegt ist 18 , erhielt Gesangunterricht; Maximilian Joseph erlernte bei mehreren Musiklehrern Klavier, Violine, Violoncello und Gambe. 19 Ob und in welchem Umfang Ferrandini auch Unterricht in Komposition erteilte, kann man aufgrund der nicht in den Abrechnungen des Hofzahlamtes dokumentierten, unbezahlten Verpflichtung nicht mehr nachvollziehen.
Wiederum zum Geburtstag der Kurfürstin Maria Amalia von Österreich (1701 – 1756), am 22. Oktober 1739, wurde das Dramma per musica Artaserse in Szene gesetzt. Diese Oper markiert insofern eine Wende in Ferrandinis Schaffen, als mit Giovanni Porta und dem Cellisten im Amt des Konzertmeisters, Bernardo Aliprandi (1747 – 1801), zwei Komponisten mit dominantem Interesse an musikdramatischen Werken ab 1737 die Leitung der Opernaufführungen übernommen hatten. Artaserse gilt als gemeinsame Arbeit von Giovanni Porta und Giovanni Ferrandini, jedoch weisen alle Quellen nur Ferrandinis Namen aus. 20
Im kompositorischen Schaffen konzentrierte sich Ferrandini in den Folgejahren tendenziell auf kleiner besetze Werke und Instrumentalmusik. Der Anteil der geistlichen Werke darunter ist gering, aber gewichtig und beschränkt sich auf die nicht-liturgischen Gattungen Oratorium, geistliche Kantate vor allem für die Fastenzeiten und die Passionszeit und geistliches Spiel. Ferrandini ist in der im Druck veröffentlichten Perioche als Komponist einer Meditation für den ersten Fastensonntag Quadragesima im Jahr 1738, mit dem Titel Prima ad caelum via per innocentiam 21 als Komponist genannt. Fastenmeditationen wurden im Zuge der Gegenreformation zur Verbreitung des Marienglaubens als Mittel der Besinnung und Selbstreflexion der Gläubigen von den Jesuiten eingeführt. Jeder Jahrgang stand unter einem bestimmten Thema, das in drei bis fünf musikbegleiteten Spielen aus der Feder eines Textautors ausgeführt wurde. Die Vertonung wurde verschiedenen Komponisten übertragen und von den Marianischen Kongregationen – in München der Lateinischen Kongregation (Maior Congregatio Beatae Virginis Mariae Matris Propitiae ab Angelo Salutatae) – an den Fastensonntagen oder deren Vortagen in München zur Aufführung gebracht. Ferrandinis Komposition ist vermutlich in einer Partitur im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien überliefe rt. Unter weiteren Passionskantaten ragt Il Pianto di Maria hervor, ein Klagegesang am Grab Jesu, der bis 1991 (verifiziert durch Paolo Cattelan) fälschlich Georg Friedrich Händel zugeschrieben war. 22
Einen besonderen Charakter trägt die Sammlung von 36 Kantaten (Arien) auf italienische Liebesdichtung für den Habsburger Kaiser Karl VI., die sich einschließlich des vorgebundenen, ausführlichen Widmungsbriefes vom 3. Juli 1739 in der Österreichischen Nationalbibliothek als Mus.Hs.19028 erhalten hat. 23 Die Absicht, welche Ferrandini mit der in Wien verfassten Dedikation verband, ist unklar, nicht jedoch der Anlass für seine Reise: Er nahm als einer der Erzieher des bayerischen Prinzen und der Prinzessinnen im Juni/Juli 1739 an einer Reise des kurfürstlichen Hofes in das niederösterreichische Stift Melk teil, die im späteren Verlauf auch ein Zusammentreffen des Kurfürsten Karl Albrecht mit Kaiser Karl VI. ermöglichte. 24
Erst drei Jahre später trat Ferrandini unter veränderten politischen Umständen wieder mit einer größeren Komposition hervor, nämlich dem Componimento dramatico per l’incoronazione di Carlo VII anlässlich der Kaiserkrönung des Bayerischen Kurfürsten Karl Albrecht am 12. Februar 1742 in Frankfurt am Main. Die Wahl löste erhebliche politische Konflikte, den Österreichischen Erbfolgekrieg (1742 – 1744), aus: Eine sofortige Besatzung Bayerns durch Maria Theresias habsburgische Truppen und die erzwungene Regierungsuntätigkeit des bis 1744 in Frankfurt am Main mit seinem Hofstaat residierenden Regenten unterdrückten in München unmittelbar die Pflege der Musik. Insbesondere waren davon die Oper und deren Personal betroffen, denn bis 1747 wurden in München keine neuen Opern in Szene gesetzt. Nach wiederholten militärischen Rückschlägen und Siegen kehrte Karl VII. schließlich im Oktober 1744 nach München zurück und verstarb dort am 20. Januar 1745. Thronfolger wurde sein für volljährig erklärter ältester Sohn, Kurfürst Maximilian III. Joseph, dessen wichtigste Aufgaben der Friedensschluss mit Kaiserin Maria Theresia, die Wiederherstellung der Herrschaftsverhältnisse und eine umfassende Verwaltungsreform waren.
18 Umfassend dargestellt von Christine Fischer, Instrumentierte Visionen weiblicher Macht – Maria Antonia Walpurgis’ Werke als Bühne politischer Selbstinszenierung, Kassel u.a. 2007 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung, 7), im Kapitel „Stilvorbilder I: Lehrerverhältnisse und Spielpläne“, insbesondere der Abschnitt zu Ferrandini und Porta, S. 147 – 150. Fischer dokumentiert auch mehrere persönliche Treffen in späterer Zeit.
19 Franz Michael Rudhart, Geschichte der Oper am Hofe zu München …, wie Fn. 9, S. 129 – 130. Rudhart benennt als Lehrer für den Instrumentalunterricht Francesco Peli und Giovanni Ferrandini; für den späteren Kontrapunktunterricht Andrea Bernasconi.
20 Vgl. die sehr detaillierten Beschreibungen der musikalischen Quellen in der SLUB Dresden (D-Dl) in den Erschließungsdatensätzen des Répertoire International des Sources Musicales, RISM: RISM-A/II, ID No. 212008863 (Kurzpartitur) und No. 212008893 (Violinstimme).
21 Christine Fischer (vgl. Fn. 18; dort Fn 185, S. 138) verweist auf die maßgebliche Arbeit von Robert Münster, „Die Münchner Fastenmeditationen von 1724 bis 1774 und ihre Komponisten“, in: Quaestiones in musica. Festschrift für Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag, hrsg. von Friedhelm Brusniak und Horst Leuchtmann, Tutzing 1989, S. 413 – 443. Zahlreiche Exemplare der Perioche in der Bayerische Staatsbibliothek München, darunter die Signaturen 4 Hom. 127#Beibd.1; 4 Asc. 496#Beibd.4. Ferrandini wird darin als „Praenob. & Gratios. D. Joan. Bapt. Ferrandini, Sereniss. Elect. Bavar. Consil. & Musicae Camerar. Director.“ benannt. Der Katalog des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien (A-Wgm, http://www.katalog.a-wgm.at/) weist eine anonyme, möglicherweise von Giovanni Ferrandini stammende Vertonung unter der Signatur III 643 (Q 1801) nach.
22 Juliane Riepe, Carlo Vitali, Antonello Furnari und Benedikt Poensgen, „,Il Pianto di Maria‘ (HWV 234). Rezeption, Überlieferung und musikwissenschaftliche Fiktion“, in: Göttinger Händel-Beiträge, 5 (1993), S. 270 – 307.
23 Im RISM-A/II-Datensatz ID No. 600141982 betitelt mit Sammlung von Werken für Solo-Stimme und Cembalo. Enthalten sind 35 als „Kantaten“ bezeichnete Arien für verschiedene Stimmlagen, da die zweite Kantate fehlt. Vgl. Elisabeth Th. Hilscher „ ,… DEDICATA ALLA SACRA CESAREA MAESTÀ …‘ “ in: Studien zur Musikwissenschaft, vol. 41, 1992, S. 95 – 177, http://www.jstor.org/stable/41467169 – aufgerufen am 8.12.2023. Der Beitrag geht aus der Perspektive von Widmungswerken an das Kaiserhaus mehrfach auf Ferrandini ein und enthält eine Übertragung des Widmungstextes.
24 Nach Fischer, Fn. 18, Reisebericht von Sebastian Brunner (Hrsg.), Die „höchst vergnüglichste Raiß“ des Churfürsten Carl Albrecht von Bayern nach Mölk 1739: ein heiteres u. getreues Bild d. dt. Hoflebens u. Hofceremoniells im 18. Jh. nach einer Handschrift. d. Münchener Hof- u. Staatsbibliothek; mit einer historischen Einleitung, Wien 1871.
Ein weiterer Rückschlag war ein verheerender Brand in der Residenz (der Neuveste), der im März 1750 unter anderem die Rokokobühne im St.-Georgs-Saal und einen beträchtlichen Anteil der Musikinstrumente zerstörte 25 und den Entschluss zum Bau eines neuen Opernhauses in München ab 1751 beflügelte. Erst die Eröffnung des von François Cuvilliés erbauten Residenztheaters am 12. Oktober 1753 bot Ferrandini Gelegenheit, mit Catone in Utica wieder eine große Opera seria zu komponieren und aufzuführen, obwohl sein Amt als Direktor der Kammermusik die Aufgaben des für die Oper verantwortlichen Hofkapellmeisters (Giovanni Porta bis zu seinem Tod im Jahr 1755) nicht mit einschloss.
In den fraglichen Jahren 1751 und 1752 konnte der Kurfürst auf keine anderen bereits im Dienst des Bayerischen Hofes stehenden Opernkomponisten zurückgreifen.
Ferrandinis Nobilitierung drückt sich bereits 1753 in den gedruckt veröffentlichten Libretti und auch bei den Autorenangaben in den Titeln bzw. Titelprägungen musikalischer Werke oder Sammlungen aus: Dort erscheint die Namensform „Giovanni/Johann de Ferrandini“, die in den bayerischen Hofkalendern 26 jedoch dauerhaft ignoriert wurde. Ferrandini gehörte angesichts seiner Verdienste wohl zum bayerischen „Verdienst- und Amtsadel“, der persönlich verliehen wurde 27
Dennoch war Ferrandini im Jahr nach der Uraufführung von Catone in Utica über die Wertschätzung seiner Leistungen durch den bayerischen Hof desillusioniert. Ein beredtes Zeugnis davon legt sein am 12. August 1754 an den Kurfürsten Max III. Joseph gerichtetes Entlassungsgesuch ab, das er mit gesundheitlichen Einschränkungen begründete. Mit Verweis auf seine 33 Jahre währenden Dienste ab seinem 10. Lebensjahr (diese Untertreibung mochte der Dringlichkeit des Anliegens geschuldet sein), „da sond(er)heitlich noch anbey in gnädigste consideration gezogen werden will, daß man wehrend solcher Zeit 13. Jahr lang zwey königliche Hochheiten in der Music zu instruiren mir zwar gnädigst übertragen: aber dieserwegen nicht das mindeste zur Belohnung gleich and(eren) Meistern ausgeworffen“, beklagte er die deutliche Differenz zwischen der erheblich höheren Besoldung seines Amtsvorgängers Pietro Torri und seinem eigenen, auf 1.200 Gulden stagnierenden Gehalt. 28 Bereits 1753 war Andrea Bernasconi (1706 – 1784), möglicherweise in Venedig vermittelt durch Giovanni Ferrandini 29, dem betagten Giovanni Porta als „Vice-Kapellmeister“ an die Seite gestellt worden; im Jahr 1755 verstarb Porta und Bernasconi rückte in das Amt des Kapellmeisters nach. Ebenfalls im Jahr 1755 wurde Ferrandini zum Truchseß des Kurfürsten Max III. Joseph ernannt. Die Angelegenheit der im Kündigungsschreiben angesprochenen Pension wurde erst im April 1755 entschieden, als Ferrandini vermutlich schon mit seiner Familie nach Italien zurückgekehrt war.
Weiterhin mit einem Gehalt ausgestattet, übersiedelte er mit seiner Familie nach Padua, von wo aus er als musikalischer Agent in der Vermittlung italienischer Sänger und Komponisten für den Münchner Hof tätig wurde und weiterhin Bühnenwerke komponierte, die in München aufgeführt wurden. Zunächst war dies die Serenata Diana placata (Libretto: Pietro Pariati), die am 17. August und 3. September 1755 zu Ehren des Kurfürsten Clemens August von Köln und Johann Theodor von Bayern, Fürstbischof von Regensburg, aufgeführt wurde. 30
Im Jahr 1758 folgte wieder ein Metastasianisches Dramma per musica, Demetrio, zu dem es keine italienische Partitur und auch kein Libretto der Aufführung gibt. Eine außergewöhnliche Quelle ist in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek mit Signatur Mus.3037-F-5 dazu überliefert 31: Die Partitur der geschlossenen Nummern aus Demetrio mit dem Titel „Opera francese“, denen Ferrandini eigenhändig eine französische Übertragung der Texte unterlegte. Metastasios Libretto war von Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis ins Französische übertragen worden. Sie gab Ferrandini den Auftrag, dazu italienische Musik zu komponieren – möglicherweise ein früher Versuch zur Adaption von Bühnenwerken an unterschiedliche nationale Gattungskonzepte. Die Oper wurde von fürstlichen Herrschaften und Personal des Hofstaates einstudiert und als Liebhaberaufführung im geschlossenen Kreis des Hofes aufgeführt. 32
25 Eine Zusammenstellung nachweislicher Wiederbeschaffungen und Reparaturen publizierte Hans-Joachim Nösselt, wie Fn. 6, S. 94 – 95.
26 Der jährlich erscheinende Chur-bayrische Hof-Calender und Schematismus
27 Reinhard Heydenreuter, „Zur Rechtsstellung des landsässigen Adels im Kurfürstentum Bayern zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert“, S. 46: „Wer zum Adel gehörte, bestimmte im Herzogtum Bayern allein der Landesherr“ – eine historisch begründete Ausnahmeregelung, die die Adelserhebung von der kaiserlichen Zustimmung loslöste. In: Adel und Adelskultur in Bayern, hrsg. von Walter Demel und Ferdinand Kramer, München 2008, S. 43 – 105.
28 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, BayHStA HR Fasz. 466/434, datiert von anderer Hand mit p: a: m: S. den 12ten. Augs. 1754. : „[…] Zumahlen nun aber, und ob ich schon aller Ergetzlichkeit für obgemelt 13. jährige instruction zweyer königl: Hochheiten mich völlig enteissert: wie nicht weniger zu meiner immerwehrenden Gemüths folter sehen müssen, daß gedacht mein antecessor Torri jährl. 2000 f. Besoldung, sohin um 800. f. mehr als ich gezogen; jedanoch meine dienst functiones mit menschenmöglichsten Eifer auf das vollkomenste so lang gehorsamst praestirt habe, bis mich endlichen das Tag: und Nacht angedauert: unermüdete studium in der Music, und composition dermassen ausgegeistert, daß hierdurch meine Gesundheit, und Naturs Kräften totaliter zu scheitern gegangen, und außer Stand gesetzt worden sind […]“. Dennoch gibt Ferrandini deutliche Hinweise darauf, dass er eine bestimmte Gesandtenstelle bekleiden möchte.
29 So dargestellt von Daniela Sadgorski, Andrea Bernasconi und die Oper am Münchner Kurfürstenhof 1753 – 1772, München 2010 (zugleich: Diss. Regensburg 2008), S. 53.
30 Daniela Sadgorski, siehe Fn. 29, S. 67. Der größte Ferrandini-Bestand mit Abschriften und Autographen der musikalischen Werke hat sich vorwiegend aus der „Königlichen Musiksammlung“ in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) erhalten, deren Zweitstücke an die Leipziger Universitätsbibliothek abgegeben wurden. Zahlreiche Notentexte sind ausschließlich in den Dresdener Quellen überliefert, da andere Quellen, wie zum Beispiel die Notenbestände des Alten Residenztheaters in München, weitgehend verloren sind. Überdies sind die Widmungshandschriften mit Kantaten- oder Ariensammlungen physische und inhaltliche Einzelstücke.
31 Vgl. RISM A/II ID No. 212008862
32 Diese Hinweise folgen der detaillierten Beschreibung, die Robert Münster in seiner Monographie Herzog Clemens Franz von Paula von Bayern (1722 – 1770) und seine Münchener Hofmusik, Tutzing 2008, S. 36 – 37. Dazu ergänzend Paolo Cattelan (wie Fn. 1), S. 204. Dazu auch Christine Fischer, wie Fn. 18, S. 87 – 91.
XV
Ferrandini, selbst ein guter Sänger, war ein Gesangslehrer von internationalem Ruf. Einer seiner bedeutendsten Schüler war der Sänger Anton Raaff, der möglicherweise bei seinem Abschied von München 1737 die Partitur der Kantate Il Pianto di Maria seines Lehrers Giovanni Ferrandini nach Italien mitnahm, wo sie durch Abschriften verbreitet wurde 33 und der andererseits in der Münchener Uraufführung von Mozarts Idomeneo (1781) seine letzte Hauptrolle verkörperte.
Der Kontakt zu Maria Antonia Walpurgis, die durch eine sächsisch-bayerische Doppelhochzeit 1747 Kurfürstin von Sachsen und in Dresden Schülerin von Porpora und Hasse geworden war, brach auch nach Ferrandinis Übersiedlung nach Italien nicht ab; auch persönliche Treffen sind weiterhin dokumentiert. 34 Ferrandini sandte ihr mehrere Partituren eigener Werke, Kantaten- und Ariensammlungen zu, die bis heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) erhalten sind. Um 1760 vertonte er Maria Antonias Libretto Talestri; diese Oper wurde am 6. Februar 1760 in Nymphenburg uraufgeführt.
Padua war für Giovanni Ferrandini der Ort, an dem er als Teil eines engen musikalischen und literarischen Beziehungsgeflechtes einflussreicher Persönlichkeiten tätig wurde: als Veranstalter privater Akademien in seinem großzügigen Wohnhaus, als Lehrer, Ratgeber und Vermittler 35 Seine enge Freundschaft zu Giuseppe Tartini, der Ferrandinis Sohn Giuseppe zum Geigenvirtuosen ausbildete, während Ferrandini seine Tochter Elisabetta auf eine Karriere als Sängerin vorbereitete, seine Verbindungen zum Dichter, Kunstmäzen und Komponisten Giuseppe Ximenes d’Aragona, der ab 1765 ebenfalls in Padua residierte, zur Accademia Filarmonica in Bologna und deren Leiter Padre Giovanni Battista Martini, trugen dazu bei, dass Vater und Sohn Mozart, auf dem Rückweg von ihrer ersten gemeinsamen Italienreise im März 1771 Ferrandini in Padua einen Besuch abstatteten, der zur Komposition des Oratoriums La Betulia liberata KV 118 (74c) und Wolfgang Amadeus Mozarts Aufnahme in die Accademia führte. Ferrandini war ein fester Bezugspunkt für Musikschaffende und Kunstinteressierte in Oberitalien, obwohl er selbst in Italien als Komponist wohl kaum Bekanntheit genoss 36 Im Jahr 1778 wurde Giovanni Ferrandini pensioniert, was mit einer erheblichen Kürzung seines jährlichen Gehaltes von 1105 auf 500 Gulden verbunden war. Er kehrte 1790 in das seit dem Jahreswechsel 1777/1778 von Karl Theodor von der Pfalz und Bayern regierte Bayern nach München zurück, wo er am 25. September 1791 verstarb.
Catone in Utica : Drama, Aufführung und Musik
Catone in Utica ist eine von Pietro Metastasios frühen italienischen Operndichtungen, die noch vor seiner Berufung als Poeta Laureatus an den Wiener Hof (1730) in Italien entstanden und dort auch zur Uraufführung gelangten. Das Libretto zählt mit 40 Vertonungen 37 zu den im 18. Jahrhundert häufig verwendeten Operntexten. Metastasio konzipierte seine Tragedia per musica in drei Aufzügen für die erste Vertonung durch Leonardo Vinci – uraufgeführt 1728 im Römischen Teatro delle Dame – mit einen damals als Schock empfundenen Finale der Oper, der von zeitgenössischen Kritik heftig angegriffen wurde 38: Der Suizid Catones auf offener Bühne erstreckt sich über die letzten zwei Szenen. Die drastische Darstellung des allmählichen Sterbens fasste Metastasio in einen in sich zerrissenen, zum Teil nur einzelne Worte hervorstoßenden Monolog Catones, unterbrochen durch Kommentare der drei anderen Personen.
Metastasio schuf noch im Jahr 1728 eine alternative Fassung seiner Tragedia per musica. Während die beiden ersten Akte unverändert bestehen blieben, betraf die Umarbeitung eine Neufassung des Schlusses in den Szenen 5 bis 14 für Akt 3, in der die Sterbeszene hinter die Bühne verlegt ist und das Publikum nur noch als Botenbericht erreicht. Aus der ursprünglichen Fassung blieben darin nur Ausschnitte erhalten, andere Teile wurden neu verfasst. Metastasio milderte nicht nur das dramaturgische Konzept, sondern egalisierte auch die musikalische Struktur, indem er ein dort vorgesehenes Quartett und die Sterbeszene strich und insgesamt drei Arien und einen Chor in die Handlung einfügte. Cesares Schlusssentenz blieb jedoch über alle Fassungen hinweg erhalten. Ferrandinis Libretto verkörpert eine Mischfassung aus verschiedenen redaktionellen Stadien beider Fassungen, fußt mit gewissen Kürzungen im Verlauf des dritten Aktes aber auf der etablierten zweiten Fassung des Operntextes mit dem Verzicht auf eine offene Sterbeszene auf der Bühne.
Das Libretto der Münchner Uraufführung am 12. Oktober 1753 enthält eine synoptische deutsche Übertragung des gesamten Operntextes und einen „Nach-Bericht an den Leser“ (S. 204 – 207). Der ungenannte Verfasser, „bey dem das Feuer belebter Jugend kaum noch in der Asche glimmet, und dem auch die reine teutsche Mund-Art allerdings frembde ist“ (S. 207), bittet darin für die unter Zeitdruck entstandene deutsche Übersetzung um wohlwollende Nachsicht. Zwar beschäftigte der kurfürstliche Hof keinen Hofpoeten, aber in unmittelbarer Nähe, am Hof des
33 Diese Verbindung erläutert Juliane Riepe (wie Fn. 22), S. 276 – 279.
34 Christine Fischer (wie Fn. 18), S. 147 – 150 und S. 408 – 409.
35 Die folgenden Angaben beziehen sich aus Paolo Cattelans Mozart. Un mese a Venezia, siehe Fn. 1.
36 Dies vermutet Juliane Riepe (wie Fn. 22), S. 294: „[…] Ferrandini, etwa achtzigjährig, demodé und in Italien (abgesehen von Padua und vielleicht Venedig und Bologna) vermutlich so gut wie unbekannt, war 1790 nach München zurückgekehrt und dürfte vom Schicksal seines Pianto di Maria nie etwas erfahren haben.“
37 Franz Stieger, Opernlexikon, Teil I: Titelkatalog, Bd. 1, Tutzing 1975, S. 222 – 223.
38 So dargelegt von Alberto Beniscelli, Felicità sognate: Il teatro di Metastasio. Genua 2000 (Opuscula, 97), S. 44 – 45.
Musikförderers Herzog Clemens Franz von Paula von Bayern 39, versah der als Librettist nachgewiesene Dichter Eugenio Giunti dieses Amt (vgl. die Besoldung 1754). Als „Sprachmeister“ der bayerischen Edelknaben unterrichtete er auch am kurfürstlichen Hof. Nachweise für die Autorschaft Giuntis als Übersetzer und möglicher Bearbeiter des Catone in Utica konnten bislang nicht gefunden werden, die Eigencharakterisierung hinsichtlich Alter und fremder Muttersprache legen die Vermutung seiner Autorschaft nahe.
Zwischen Metastasios Libretto, dem Münchner Librettodruck und den drei inhaltlich übereinstimmenden musikalischen Quellen, aus denen der Gesangstext hervorgeht (D, L und H), bestehen erkennbare Unterschiede. 40
Das Katalogisat 41 für die Dresdener Partitur der Oper Catone in Utica, D-DL Mus.3037-F-3 (die Leitquelle für unsere Edition) in RISM ist ein Ergebnis des Dresdener Projektes zur Erschließung der Königlichen Privat-Musikaliensammlung. Es weist die philologische Provenienz von Rezitativen und Gesangsnummern von Ferrandinis vertontem Operntext als Mischfassung aus drei verschiedenen Editionsstadien des Metastasio-Textes differenziert nach P1 – P2 – P3 und benennt die bei Ferrandini alternativ oder zusätzlich verwendeten, nicht- metastasianischen Arientexte. Abgesehen von Setzfehlern und Kürzungen des Librettos zeigen die Texte der Arien und Rezitative eine große Texttreue gegenüber den jeweiligen Abschnitten des Metastasio-Textes.
Der Vergleich der Textschichten des Münchner Librettodrucks mit Pietro Metastasio: Catone in Utica stützt sich darüber hinaus auf die Ausgabe der Operntexte von Bruno Brunelli 42 und ergibt folgende Unterschiede:
1 Der Titel des Werkes
Metastasios Werk trägt den Titel Catone in Utica; der Münchner Librettodruck benennt die Oper jedoch als Il Catone in Utica / Cato in Utica. In den drei überlieferten musikalischen Quellen L, D und H befinden sich keine expliziten Titelblätter, die Prägung der Einbände benennt den Titel mit Catone in Utica. Nach diesen für die Edition primär relevanten Quellen wurde für die vorliegende Edition der Titel Catone in Utica gewählt. Auffallend ist das Fehlen der Gattungsbezeichnung im italienischen Titelblatt des Librettos. Nach den 1730er Jahren verliert sich
Metastasios Charakterisierung als Tragedia per musica als Gattungsbezeichnung und wird durch Dramma per musica ersetzt. Der deutsche Text akzentuiert mit der Gattungsbezeichnung „Gesungenes Trauerspiel“ den inhaltlichen Aspekt der Tragödie.
2. Vergleich der Musiknummern
Zwei Arientexte und ein Chor in Ferrandinis Oper sind nicht in Metastasios Libretti zu Catone in Utica enthalten. Da diese drei Texte ausschließlich im Münchner Libretto von 1753 Verwendung finden, dürfte ihr Autor im Kreis der Personen zu finden sein, die die textliche und dramaturgische Einrichtung für Ferrandinis Catone in Utica vornahmen.
⋅ Akt 1, Szene X, Nr. 8, Arie der Marzia: Già torna la speranza
Akt 1, Szene XII, Nr. 10, Chor: Dea del ciel
⋅ Akt 2, Szene VIII, Nr. 19, Arie des Fulvio: Salda rupe in mezzo all’onde
Der Arientext für Nr. 19 ist im Münchner Librettodruck in einem Anhang auf S. 202/203 als Alternative zum original vorgesehenen Text (Nascesti alle pene) wiedergegeben, in den musikalischen Quellen jedoch ausschließlich enthalten. Eine textliche Kontrafaktur von Salda rupe in mezzo all’onde zu Nascesti alle pene kann wegen der unterschiedlichen Versmaße ausgeschlossen werden.
Verkürzte oder wesentlich veränderte Arientexte finden sich in zwei Nummern:
Akt 1, Nr. 1, Arie des Catone: Con sí bel nome in fronte. Der Arientext der 1. Strophe stammt aus Metastasios Erstfassung (P1) des Librettos; die von Ferrandini ebenfalls vertonte 2. Strophe wurde erst in einer Werkausgabe von 1733 in Venedig veröffentlicht 43, deren Textfassung auch an anderer Stelle (Akt 3, Szene 11) im Münchener Libretto verwendet wird. Die Arie verweist bereits auf Catones Freitod als mögliches Vorbild für Arbace im Fall einer Niederlage: „Libero vivi, e quando / Tel nieghi il fato ancora / Almen come si mora / Apprenderai da me.“
39 Die wertvollen Hinweise auf Herzog Clemens und Andreas Felix von Oefele (1706 – 1780; 1746 Leiter der Hofbibliothek in München, Historiograph) verdanke ich Gesprächen mit Dr. Robert Münster, sie finden sich auch in Robert Münster, Herzog Clemens Franz von Paula von Bayern (1722 – 1770, wie Fn. 32). Zu Giunti siehe S. 38 und S. 55 – 60. Herzog Clemens und die Sächsische Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis waren zwar selbst als Librettisten und Übersetzer tätig, ihre Beteiligung an der Übersetzung des Catone in Utica ist durch das zitierte Bekenntnis einer fremden Muttersprache ausgeschlossen.
40 Tiefer gehende philologische Differenzierungen der Metastasianischen Operndichtungen in ihren zeitgenössischen italienischen Ausgaben sind durch das Projekt „Pietro Metastasio: Drammi per musica“ der Università di Studi di Padova in der Datenbank https://www.progettometastasio.it/ möglich. Die Erschließung der handschriftlichen Partituren in RISM bezieht sich auf die darin vergebenen Siglen P1, P2 und P3 für die verschiedenen Redaktionsstufen der textlichen Erstausgaben und weitere Siglen für spätere Ausgaben der Texte.
41 RISM A/II ID No. 212008865.
42 Pietro Metastasio, Tutte le opere. A cura di Bruno Brunelli, Mailand:, Band 1, 2. Mailand 1953, S. 125 – 189 und S. 1397 – 1410.
43 https://www.progettometastasio.it/testi/CATONE|B
Akt 3, Nr. 30, Arie des Catone: Per darvi alcun pegno. Wie in der textlichen Redaktionsstufe P3 fehlt die 2. Strophe auch in Ferrandinis Vertonung.
Aus Metastasios Textfassungen nicht übernommen wurden folgende Nummern:
Arie Akt 2, Szene VIII, Arie des Fulvio: Nascesti alle pene (stattdessen als Nr. 19 eingefügt: Salda rupe, s.o.)
⋅ Akt 3, Beginn der Szene XIII (nach Catones letzter Arie) der Triumphchor Già ti cede il mondo intero. Er ist durch einen als Ballett gestalteten Auftritt ersetzt.
Plakativ formuliert, erreichte Ferrandinis Catone in Utica eine rollenbezogene Balance durch die Anordnung der Arien: Catone hat das erste und letzte Wort der Oper (Arien Nr. 1 und Nr. 30); Cesare setzt den inhaltlichen und musikalischen Höhepunkt mit der Arie Nr. 20 Se in campo armato in Akt 2. In den sechs Arien des dritten Aktes schließt jede der sechs Rollen ihr eigenes Drama ab. Diese formale Disposition findet sich in keiner der überlieferten, vorausgehenden Vertonungen.
3. Umgestaltung des ersten Aktes
Ferrandinis Vertonung des Catone in Utica stützt sich auf eine gekürzte und passagenweise im Wortlaut geänderte Textfassung des MetastasioLibrettos. Das dramaturgische Konzept der Oper wird durch eine Neufassung von Akt 1, Ende Szene 10 bis Anfang Szene 12, ab der in den Dialog Cesare-Marzia eingefügten, nicht-metastasianischen Arie der Marzia Nr. 8 Già torna la speranza und deren Abgang von der Bühne deutlich geschärft. Cesares folgender Monolog vor der Arie Nr. 9 Chi un dolce amor condanna richtet sich an die Allgemeinheit. Die nachfolgende Hochzeitsszene (Szene 11) ist neu gedichtet und kulminiert mit einem erneuten Schauplatzwechsel (Junotempel) im hinzugefügten, nicht-metastasianischen Hochzeitschor Nr. 10 Dea del ciel. Als handelnde Personen sind nur der Brautvater und die Braut, Catone und Marzia, präsent – der Bräutigam Arbace tritt erst verspätet dazu, da er sich der Zeremonie entziehen wollte. Ab diesem Punkt findet das Drama in die ursprüngliche Szene 12 zurück. Die Münchner Librettofassung dringt mit diesen Mitteln auf eine dramaturgische Zuspitzung der Hochzeitsszene, mit der das Scheitern der Heirat von Arbace und Marzia umso deutlicher als zentrale dramatische Wende des ersten Aktes sinnfällig gemacht wird.
4. Vergleich der Rezitative
Für die Edition der Oper sind die Unterschiede 44 zwischen dem 1753 gedruckten Libretto der Uraufführung und dem von Ferrandini vertonten Text entscheidend, der übereinstimmend in den musikalischen Quellen D, L und H dokumentiert ist. Sie werden im Lesartenverzeichnis aufgeführt.
Das gedruckte Libretto ist in den rezitativischen Passagen geringfügig kürzer als Ferrandinis Rezitative, die ausschließlich als Secco-Rezitative komponiert sind. Im gedruckten Libretto sind durch vorangestellte Anführungszeichen zahlreiche weitere Verse für Kürzungen vorgeschlagen 45 , deren Streichung das gesamte Werk substanziell verkleinern würde. Keine der ausgewerteten musikalischen Quellen zeigt aber Striche oder Anmerkungen an diesen Stellen.
5. Ballette
In den überlieferten musikalischen Quellen finden sich keine Hinweise auf die Kompositionen für die Ballette und ggf. auch für die Gefechtsszene Die Komponisten und Partituren sind bislang nicht bekannt 46 Das Libretto benennt drei Ballette:
Primo ballo Serio: de sequaci d’Arbace, e di Marzia
Secondo ballo Grotesco: Il Tributo dell’Affrica a Cesare Trionfante
Terzo ballo Serio: Marte Vinto dall’Amore e Vittorioso per la Gloria
44 Abgesehen von reinen Setzfehlern (der italienische Vers fehlt, die deutsche Übersetzung davon ist aber vorhanden) sind diese Unterschiede eher Hinweise auf eine Verselbständigung unterschiedlicher Librettoquellen: Für die Vertonung benötigte Ferrandini ein Exemplar des Textes, das er wohl noch während seines längeren Italien-Aufenthaltes 1753 mit sich führte, um die Vertonung abzuschließen. Ein zweites Exemplar benötigten Übersetzer und Verlag für die Übertragung ins Deutsche und das Setzen des zweisprachigen Textbuches. Zusätzlich konnte die Produktion für Übersetzung, Satz und Druck und ggf. die Vorlage des Manuskriptes bei der Zensur nicht den vollständigen Abschluss der Komposition abwarten. Andreas Felix von Oefeles Ephemerides (Schreibkalender) für 1753 erwähnen Giovanni Ferrandinis Rückkehr aus Italien mit Sängerinnen und Sängern zum 11. September 1753. Des Weiteren ist dort der Besuch einer Aufführung des Catone (notiert zum 21.10.1753) vermerkt, die den Sänger des „Cesare“, Giovanni Bellardi, hervorhebt (Bayerische Staatsbibliothek München, Oefeleana 61; Jg. 1750 – 1755).
45 Der Hinweis auf diese Praxis findet sich im RISM-A/II-Datensatz ID No. 212008865 zur Dresdener Partitur des Catone in Utica, s.o., Fn. 6.
46 Daniela Sadgorski hat in ihrer umfassenden Arbeit Andrea Bernasconi und die Oper am Münchner Kurfürstenhof 1753 – 1772 (wie Fn. 29) der Funktion des Balletts in Bernasconis Bühnenwerken ein ganzes Kapitel (S. 116ff.) gewidmet. Die sehr zeitnahen Werke Bernasconis (ab 1754, Temistocle ) wurden von denselben Personen gesungen und gespielt, choreographiert, getanzt und ausgestattet wie Ferrandinis Catone in Utica. Der Verlust der Ballettmusiken und die Namenlosigkeit ihrer Komponisten ist ein generelles Problem der Münchner Opere serie (S. 116).
Il primo, & ultimo ballo e invenzione del Sig. Dubueson de Chalandray Maestro di Balli Teatrali di S.A.S.E. Il secondo ballo è invenzione del Sig. Michele dall’Agata Maestro de balli Groteschi di S.A.S.E. di Baviera.
Die Ballette lassen sich bestimmten Szenen im ersten und dritten Akt zuordnen; sie korrespondieren mit den Aktschlüssen der Oper: Akt 1 und 2 schließen jeweils mit einer Arie; nur Akt 3 endet offen mit einem Rezitativ, das einen zusätzlichen szenischen und musikalischen Abschluss herausfordert.
Primo ballo serio: Ein gleichzeitiger Auftritt der Gefolge von Arbace und Marzia ist in der Hochzeitsszene Akt 1, Szene 12 zu lokalisieren. Die Szenenanweisung lautet dort: „Tempio consacrato a Giunone, magnificamente adornato per le nozze di Marzia, con ara nel mezzo, Sacerdoti, sacrificatori, e Giovani allievi del Tempio dell’uno e dell’altro stesso, vestiti di bianco, inghirlandati di fiori, con torce ardenti in mano.“
Secondo ballo grotesco: Das Huldigungsballett des besiegten Afrika für den triumphierenden Cäsar fügt sich inhaltlich im dritten Akt, zu Beginn von Szene 13 ein 47 Sie folgt unmittelbar nach Catones Rückkehr als Besiegter, seiner letzten Arie (Nr. 30) und dem Abgang von Catone, Arbace und Marzia. Der Münchner Librettodruck (S. 196/197) übernimmt die Regieanmerkungen Metastasios zu Beginn der 13. Szene aus der Textstufe P2: „Cesare portato da soldati sopro carro Trionfale formati da scudi, ed insegne militari secondo il costume de Romani, precedato dall’esercito vittorioso, da Schiavi Numidi, instromenti [!] bellici, e popolo. Terminata la sinfonia Cesare scende dal carro, […] / Nach geendigter Feld-Music steigt Cäsar vom Wagen.“ Ferrandinis Partitur beginnt an dieser Stelle mit dem Rezitativ des Cesare: „Il vincer[e], o compagni, non è tutto valor.“
Terzo ballo serio: Der gattungsbedingt knapper konzipierte dritte Akt umfasst aufgrund massiver Kürzungen der Rezitative aus der Editionsstufe P2 nur etwas mehr als die Hälfte der Länge von Akt 1 oder Akt 2. Gerade der dritte Akt impliziert die Möglichkeit für mehrere Ballette. Das dritte, von der eigentlichen Handlung losgelöste Ballett Marte Vinto dall’Amore e Vittorioso per la Gloria konnte eine allegorische Überhöhung der Aussage als Abschluss der Oper bilden. Es steht inhaltlich in besonderer Nähe zum ersten „Ballo serio“ (Hochzeitsszene Akt 1).
Unabhängig von den Balletten erwähnt das Libretto beim Personenverzeichnis der Sänger als weitere szenische Einlage ein offenes Gefecht nach einer Verwandlung: „Il combatimento, & Asalto della città, e invenzione del Sig: Domenico Ries Maestro d’Armi di S.A.S.E. di Baviera.“
Diesem Inhalt entspricht die szenische Vorgabe für Akt 3, Szene 11, Libretto S. 190 (entsprechend Editionsstufe P2), die den militärischen Sieg Caesars in Utica visualisiert und das Ende des Dramas einleitet: „Vista della Città d’Utica. Campo di Cesarini fuori della città con Padiglioni, Tende, e machine militari. Nell’aprirsi della scena si vede l’attacco Sopra le mura, e poi seguir la Battaglia formale, con la vittoria de Cesarini.“
6. Sz enenwechsel und Verwandlungen
Ferrandinis Catone in Utica war das erste Werk, das auf der neuen Münchner Opernbühne in Szene ging. Nicht weniger als acht verschiedene Szenenbauten und -bilder, die den Anweisungen in den Libretti Metastasios entsprechen, führten durch die Handlung.
Akt 1
Szene I: Parte interna delle mure di Utica con porta della città in prospetto, chiusa da un ponte che poi s’abbassa.
Szene IX: Fabriche in parte rovinate vicino al soggiorno di Catone.
Szene XII: Tempio consacrato a Giunone, magnificamente adornato per le nozze di Marzia, con ara nel mezzo.
Akt 2
Szene I: Allogiamenti militari su le rive del fiume Bagrada con varie isole che communicano fra loro per diversi ponti.
Szene IX: Camera con sedie
Akt 3
Szene I: Cortile
Szene V: Luogo ombroso circondato d’Alberi con fonte d’Iside da un lato, e dall’altro ingresso praticabile d’acquedotti antichi.
Szene XI: Vista della città de d’Utica da una parte diroccata. Campo di Cesarini in lontano con padiglioni, tende, e macchine militari.
47 In einer von Ferrandini passagenweise an mehreren anderen Stellen vertonten Textfassung des Catone, die 1733 in Venedig in einer Werkausgabe bei Bettinelli erschienen war (im Progetto Metastasio: Redaktionsstufe B) hatte Metastasio einen Huldigungschor „Già ti cede il mondo intero“ vorgesehen. Ferrandini vertonte ihn nicht, möglicherweise war ihm dieser Text gar nicht bekannt. https://www.progettometastasio.it/public/testo/testo/codice/CATONE|B|004
Ihre bildliche und architektonische Gestaltung war Aufgabe des aus Venedig stammenden Theaterarchitekten und Bühnenbildmalers Giovanni Paolo Gaspari (1712 – 1775) 48, der nach seiner Bautätigkeit u.a. in Bayreuth (eine Bühne im markgräflichen Redoutenhaus und das Markgräfliche Opernhaus) und Erlangen (Markgrafentheater) seit 1749 zum kurfürstlichen Hofstaat von Maximilian III. Joseph gehörte. Er wurde nach der Zerstörung der Opernbühne im St.-Georg-Saal durch einen Brand in der Residenz am 5. März 1750 49 zum konkurrierenden Zeugen bei der Entstehung des neuen Hoftheaters in München. Gasparis Entwürfe für die Dekorationen zu insgesamt elf unterschiedlichen Szenen (acht Szenenbilder, drei Ballette) und einem „Schlussbild“ sind nicht erhalten; ihre Existenz bezeugt der 1761 erfolgte Eintrag in ein Dekorationsinventar 50
Erst im Zusammenwirken von szenischer Ausgestaltung, Balletten und Kampfszenen wird die Schwierigkeit beherrschbar, Ferrandinis Oper mit ihren 29 Arien und einem Chor in den Schwerpunkten der Handlung zu profilieren und bildlich sichtbar zu machen. Der Kern der Handlung ist das Drama des Catone, das in einer Kette von Enttäuschungen, Intrigen und Niederlagen bis zum Suizid sinnfällig zu führen und abzuschließen ist, um die Gewichtung der Hauptrollen nicht zugunsten von Cesare zu verschieben.
Die Handlung findet ihren Höhepunkt in den Szenen 11 und 12 von Akt 2, einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen Catone u nd Cesare, die nach der gegenseitigen Kriegserklärung in einer triumphalen Arie des Cesare mit dem einzigen Trompetensolo der Partitur kulminiert (Se in campo armato vuoi cimentarmi ) und die Frage nach dem Sieger im Voraus beantwortet. Mit ihrer dramaturgischen Stringenz klären die beiden Szenen, dass der Kern dieses Bühnenwerks sich um eine ernste politische Grundfrage dreht: nach der Berechtigung, sich mit allen Mitteln der Macht – Krieg, Intrigen, Schmeicheleien und Liebschaften – zum Diktator über ein Imperium zu machen und die existierenden, legitimen politischen Strukturen auf dem Weg dorthin zu nivellieren 51
Die musikalische Disposition der vier Männerrollen ging mutmaßlich von anderen Gleichgewichten aus: Das wohl beabsichtigte Engagement eines weiteren Soprankastraten für die Rolle Catone im Frühjahr 1753 ersieht man aus der Schlüsselung der Arien, die zu einem größeren Anteil im C1-Schlüssel (Sopran, in Nr. 4, 21 und 30) notiert sind und zum C4-Schlüssel des letztlich zur Verfügung stehenden Tenors (in Nr. 1 und 14) wechselt. Die Rezitative verwenden für Catone ausschließlich den C4-Schlüssel.
7. Personenverzeichnisse: Ein (fast) völlig neues Ensemble
Die Uraufführung von Ferrandinis Catone in Utica ermöglichte nicht nur mit der neuen Spielstätte, dem Hoftheater von François Cuvilliés, einen Neubeginn für das kurfürstliche Musiktheater. Auch das Personal der Solisten, die Ferrandini u.a. durch Reisen in Italien gewann, sowie das Ballettcorps wurde erstmals für München engagiert. Mit Ausnahme des aus Ancona stammenden und in Rom vor allem in Frauenrollen auftretenden Soprankastraten Giovanni Bellardi (Belardi), der in den Aufführungen die Rolle des Cesare als Gastspiel gab, wurden die Solisten als Sänger, „Churfürstliche Virtuosinen“, bzw. Tänzer und Tänzerinnen am Münchner Hof neu angestellt. Der Chur-bayrische Hof-Calender und Schematismus auf das Jahr 1754 ergänzt die Namen der Gesangssolisten Tommaso Lucchi (Catone, Tenor), Maria Anna von Turbert (gleichzeitig Kammerdienerin, Sopran, Marzia), Sebastiano Emiliani (Arbace, Alt), Giuseppa (Maria Josepha) Perprich (Perberich, Sopran, Emilia) und Giacomo Bertolotti (Tenor, Fulvio) zur Liste der bereits früher engagierten Sänger (S. 22/23). Hingegen ersetzten die im Libretto namentlich genannten acht „Ballarini“ und neun „Figuranten“ im Hofkalender vollständig das frühere Ballettcorps (S. 55/56). Dominicus Rieß (Riest) ist als neuer Fechtmeister für die Ausbildung der „Churfürstlichen Edelknaben“ auf S. 52 genannt.
Der Wechsel der Intendanz von Joseph Graf von Salern (1718 – 1805) 52 zu Joseph Anton Johannes Adam Dismas Graf von Seeau (1713 –1799) 53 vollzog sich parallel dazu.
Die Frage nach der Relevanz des gedruckten Librettos innerhalb der überlieferten Quellen für die Edition von Ferrandinis Catone in Utica ist wegen der zahlreichen geringfügigen Abweichungen von dem in den musikalischen Quellen übereinstimmend vertonten Text eher zu verneinen. Das gedruckte Libretto kann nicht anhand des fertig vertonten Textes erstellt oder redigiert worden sein, wie der Umgang mit Fulvios Arie in Akt 2, Szene 8 oder das Fehlen einer längeren Rezitativ passage in Akt 3, Szene 12 eindeutig zeigt.
Bei gekürzten Stellen erkennt man im Exemplar des Librettos, Bayerische Staatsbibliothek München, Bavar. 4015-16,1/4#Cah.4 ältere Eintragungen, die bereits auf einen früheren Textvergleich hinweisen, meist durch kleine in den Text eingefügte Kreuze, selten durch Stichworte. Da sie nicht datierbar sind, haben diese handschriftlichen Eintragungen für die vorliegende Ausgabe keinerlei Relevanz. Bedenkenswert ist
48 Eckehart Nölle, Die Theatermaler Gaspari. Ein Beitrag zur Geschichte des Bühnenbildes und des Theaterbaus im 18. Jahrhundert, Inaugural-Dissertation Ludwig-MaximiliansUniversität zu München, München 1966.
49 Datum entnommen aus: Sabine Heym, Das Alte Residenztheater Cuvilliés-Theater in München, München 1995, S. 16.
50 Nölle, siehe Fn. 48, S. 82.
51 Eine Erfahrung, die für Bayern mit seinem zum Kaiser gewählten Kurfürsten Karl Albrecht (Karl VII.) nach dem Einmarsch habsburgischer Truppen 1742 zur Erzwingung politischer Ziele Maria Theresias (Schlesische Erbfolge, Kaisertum) bis zum Tod Karl Albrechts 1745 vier Jahre andauernde Besetzung, Fremdbestimmung, Exilsuche des Kurfürsten und Krieg bedeutete. Catos Schicksal mag 1753 eine ganz eigene Bedeutung besessen haben.
52 Salern, Joseph Graf von, Indexeintrag: Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie.de/pnd133892166.html (aufgerufen am 30.8.2023).
53 Stephan Hörner, Artikel „Seeau, Joseph Anton Graf von“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 129 – 130 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd131919237.html#ndbcontent
jedoch, dass sich eine gewisse Verselbständigung zwischen den Fassungen des gedruckten Münchner Textbuches und der abweichenden Vertonung Ferrandinis geradezu ergeben mussten, wenn man einerseits Ferrandinis längere Abwesenheit vom Münchner Hof 1753 und andererseits die zeitlichen Anforderungen für die Vorlage eines Manuskriptes bei der Zensur, sowie die Vorbereitungen in Satz und Druck berücksichtigt.
Und die Musik?
Im Dramma per musica und mehr noch in der Tragedia per musica findet das Drama vor allem in den Rezitativen statt. Die Arien kommentieren, reflektieren oder bieten die Möglichkeit, einen gegensätzlichen Standpunkt zum vorausgehenden szenischen Geschehen auszusprec hen, wie in Akt 1, Szene 8, Emilias Rezitativ und Arie Nr. 7, O nel sen di qualche stella, im Kontrast zu Inhalt und Form der vorausgehenden Szenen mit Fulvio.
Die Oper bezieht an besonderen szenischen Kulminationspunkten Ballette, Chöre, musikbegleitete Auf- und Abtritte (wie das Gefecht und der Siegeszug im dritten Akt) sowie aufwändig gestaltete Szenenwechsel und Dekorationen ein, die – bezogen auf die vorliegende Oper – flüchtig und in vielen Fällen sicher auch austauschbar oder in anderen Kontexten nutzbar sind. Der musikalische Anteil dieser szenischen Bestandteile hat sich ausschließlich im Chor des ersten Aktes als Bestandteil der Partitur manifestiert und wurde deswegen auch überliefert.
Die Kritik an Giovanni Ferrandinis Vertonung zielt auf den dri tten, den musikalischen Beitrag zum Drama – und sie trifft wohl unbeabsichtigt auch das Drama Metastasios. Es ist der Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit, den Karl Böhmer so formuliert hat: „In der Oper fehlen formale Experimente. Noch im Catone in Utica von 1753 alternieren Recitativi semplici mit Da-capo-Arien in der hergebrachten Weise.“ 54 Tatsächlich nutzte Ferrandini keine der im Libretto durchaus vorhandenen Szenen mit der Struktur „Soloszene mit Arie“ der fünf Protagonisten Cesare, Arbace, Fulvio, Emilia und Marzia 55 (jedoch nicht Catone) für eine musikalisch stärker dramatisierte Fassung mit Accompagnato-Rezitativen –möglicherweise, um die Hauptrolle Catone musikalisch nicht in den Hintergrund zu rücken. Catones Arien erwachsen stets unmittelbar aus den Dialogen der vorausgehenden Rezitative mit mehreren Rollen; er spricht darin einzelne Personen an (Nr. 1: Arbace, Nr. 4: Emilia, Nr. 14: Fulvio, Nr. 21: Marzia) bzw. resümiert in der Schlussarie Leben und Nachruhm der eigenen Person (Arie Nr. 30). Sei n einziger Monolog, Akt 3, Szene 11 (Vinceste, inique stelle! ) wird durch das Eintreffen von Marzia und Arbace (Szene 12) unterbrochen; diese Gestaltung beruht auf der 1733 publizierten Librettofassung „B“, die ebenfalls die Selbsttötung des Protagonisten auf offener Bühne vermeidet.
Eine andere Begründung hat das Fehlen von Ensembles der Solisten: Die hierfür erforderlichen textlichen Strukturen (für das Quartett in Akt 3, Szene 9, 1728 56) waren bereits in Metastasios zweiter Fassung des Librettos nicht mehr vorhanden. Hierfür hätte es für das Libretto des Münchner Catone in Utica zusätzlicher ergänzender Eingriffe bedurft, die aber nicht vorgenommen wurden.
Um Ferrandinis Catone in Utica zu würdigen, bedarf es eines Blickes hinter die vermeintlichen Defizite, auf die Tonsprache selbst. Und dort, in den geschlossenen Nummern, tut sich hinsichtlich der Instrumentation, der Vielfalt der rollenbezogenen Charakteristika und auch im Hinblick auf die Anforderungen an den virtuosen Koloraturgesang für alle sechs Rollen eine eigene Welt auf.
Bereits die Orchestrierung der Nummern schafft dramaturgische Strukturen. An obligaten Blasinstrumenten verwendet Ferrandini jeweils zwei Flöten, zwei Oboen und zwei Hörner, die überwiegend als Corni da caccia bezeichnet werden. Diese Instrumente können auch solistisch herangezogen werden. Nur in einer Arie rückt eine Solotrompete in den Vordergrund (Cesare, Akt 2, Szene 11, Nr. 20 Se in campo armato vuoi cimentarmi ). Man kann davon ausgehen, dass im Tutti zusätzlich zu den obligat notierten Stimmen verstärkend Streicher- und Bläserstimmen hinzutraten.
Die punktuellen Eintragungen für „Fagotto solo“ im Basso der Arie der Marzia zum Aktschluss von Akt 1, Szene 15, Nr. 13 (È follia se nascondete) sind ein Hinweis darauf, dass das Orchestertutti auch die Hinzunahme von Holzblasinstrumenten, in diesem Fall das Fagott, voraussetzte. Es bestärkt aber auch, dass eine starke formale Zäsur wie der erste Aktschluss eine große Besetzung (mit obligaten Flöten und Oboen) erforderte.
Gewisse Regelmäßigkeiten zeichnen sich ab:
Die volle Orchesterbesetzung (Streicher und drei obligate Bläserpaare) ist der Sinfonia, dem Chor und einer einzigen Arie der Emilia (Akt 2, Szene XV, Nr. 23, Se sciogliere non vuoi ) vorbehalten.
54 Karl Böhmer, Artikel „Ferrandini, Giovanni Battista“ in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016ff., zuerst veröffentlicht 2001, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/15440 – noch weniger Verständnis bringt Hubertus Bolongaro-Crevenna in L’arpa festante. Die Münchner Oper 1651 – 1825. Von den Anfängen bis zum „Freyschützen“, München 1963, S. 80, dem Komponisten Giovanni Ferrandini entgegen: „[…] seinen Bühnengestalten fehlen die scharfen Umrisse. An ihm wird der mit den zwanziger Jahren in München beginnende Verfall der italienischen Musik und die verflachende Geschmacksrichtung deutlich. Für die Opernreform eines Gluck fehlte ihm das Verständnis.“ – eine Konterkarierung des Befundes aus den Partituren, die 1963 sicher schwer zugänglich waren.
55 Akt 1: Szene Nr. 3 und Arie Nr. 3 (Arbace), Szene 8 und Arie Nr. 7 (Emilia), Szene 11 und Arie Nr. 9 (Cesare), Schlussszene 15 und Arie Nr. 13 (Marzia); Akt 2: Szene 8 und Arie Nr. 19 (Fulvio), Schlussszene Nr. 16 und Arie Nr. 24 (Arbace); Akt 3: Szene Nr. 4 und Arie Nr. 28 (Cesare) sowie Szene Nr. 10 und Arie Nr. 29 (Emilia).
56 https://www.progettometastasio.it/public/testo/testo/codice/CATONE|P1|003 – Verse 1566 – 1606.
Nur in den Arien der männlichen Rollen wird der Streichersatz durch das Hörnerpaar allein bereichert. Diese Arien sind durch starke Affekte geprägt und assoziieren die in den Texten angesprochenen Topoi Naturgewalt, Jagd, Verfolgung, Sieg oder Niederlage: genannt seien der erste Auftritt Catones (Akt 1, Szene 1, Nr. 1) und sein wütender Verweis an den Legaten Fulvio in der ersten Nummer von Akt 2, Szene 2, Nr. 14 (Và, ritorna al tuo tiranno), Fulvios Arien in Akt 2, Szene 8, Nr. 19 (Salda rupe) und zu Beginn von Akt 3, Nr. 25 (La fronda, che circonda) und Arbaces letzte Arie Akt 3, Szene 3, Nr. 27 (Combattuta da tante vicende). Zu dieser Gruppe gehört auch Cesares Arie Soffre talor del vento, Akt 2, Szene 5, Nr. 16, in der Hörner- und Oboenpaar obligat besetzt sind.
Hingegen sind erweiterte obligate Streicherstimmen ohne Blasinstrumente in den Arien von Catone (Nr. 4, e-Moll, geteilte Violen) und Emilia (Nr. 7, vier Violinen) zu finden. Beide Arien nehmen auf dasselbe inhaltliche Sujet Bezug: Emilias unstillbare Trauer u m ihren ermordeten Ehemann Pompeius, die einerseits eine Ermahnung Catones provoziert, andererseits ihrer Sehnsucht Ausdruck gibt, den Ermordeten in einem Stern verkörpert zu sehen. Auch Cesares Arie aus Akt 2, Szene 1, Nr. 20, Se in campo armato , nützt die Teilung der Violen für das in jeder Hinsicht konzertierende und kontrastierende Gegenspiel zum Basso als zusätzliche Basso-Stimme.
Das Spiel mit den Konventionen gibt dem Komponisten darüber hinaus die Gelegenheit zu einem Bruch mit dem Schlusstutti, wie es der zweite Akt mit Arbaces e-Moll-Arie Che sia la gelosia (Akt 2, Szene 16, Nr. 24) beweist: Sie erfährt als Devisenarie mit Streicherbegleitung eine besonders differenzierte formale Gliederung und lässt der voll besetzten Arie der Emilia (Szene 15, Nr. 23, Se sciogliere non vuoi ) einen stillen, nachdenklichen Aktschluss folgen.
Weitere Arien mit obligaten Holzbläsern finden sich nur vereinzelt: In Akt 1 mit dem Oboenpaar (Nr. 6, Fulvio und Nr. 8, Marzia) bzw. mit Oboe solo (Nr. 12, Emilia). Wiederum weicht eine Arie Cesares vom Umfeld ab: Seine letzte Arie Akt 3, Nr. 8 Quell’amor che poco accende lebt von einem Wechselspiel zwischen Flöten- und Oboenpaar, das der klanglichen Disposition der beiden Arien der Frauenrollen Emilia und Marzia entspricht und weder Catones noch Fulvios Tonsprache zugehört.
Hinsichtlich der Instrumentation profitieren nur zwei Rollen von einer außergewöhnlichen instrumentalen Besetzung, die dem musikalischen Charakter von Primo uomo und Prima donna entsprechen: Cesare und Emilia.
Ein Blick auf die Tonartendisposition bestätigt hingegen die Konvention, die Durtonarten reichen dem Instrumentarium angemess en von EsDur bis E-Dur, zusätzlich gibt es zwei e-Moll-Arien von Catone (Nr. 4) und Arbace (Nr. 24) und eine Arie in d-Moll der Emilia (Akt 2, Nr. 18).
Die formale Disposition der 28 Da-capo-Arien fußt – bei Vorhandensein von mindestens zwei Textstrophen – auf dem Modell der erweiterten Da-Capo-Form (R1|A1-A2-[R]||-B-ÜR|-A1-A2-[R2]) mit konstanten formalen und tonalen Abläufen:
Das einleitende Orchesterritornell präsentiert das motivische Material des A-Teils (1. Strophe). Die Singstimme greift in der 1. Strophe (A1) das Ritornell auf, führt es tonartlich weiter (überwiegend zur Dominante bzw. zur parallelen Durtonart), ein verkürztes Binnenritornell leitet zum Wiederholungsteil über. Ausgehend von Dominant-Tonart oder paralleler Dur- bzw. Molltonart folgt eine variierte und oft mit ausgiebigen Koloratur- Passagen erweiterte Wiederholung der 1. Strophe (A2), die (ggf. auch mit einem instrumentalen Abschluss) in der Tonika endet. Der B-Teil ist dem Vortrag der 2. Strophe vorbehalten und ist tonartlich, in Taktart, Tempo und Vortrag und mit reduzierter Instrumentation kontrastierend zu den A-Teilen gestaltet. Ein verkürztes instrumentales Überleitungsritornell führt zum Dacapo des A1- und A2-Teils (1. Strophe) zurück (bei auftaktigen Themen enthält der letzte Takt der Überleitung die erste Silbe der Strophenwiederholung), das immer in der Haupttonart schließt.
Dieses stabile Grundgerüst schlägt sich auch in der Kennzeichnung der formalen Abschnitte in den Musikhandschriften nieder. Zwischen Eingangsritornell und Arienbeginn sowie nach dem letzten überleitenden Orchesterritornell sind schräge Trennzeichen als „Kopfzeichen“ („capo“) vermerkt; eine Fermate über dem letzten Orchesterakkord vor Beginn des B-Teils ist das „segno“, das in der Anweisung „Da Capo al Segno“ angesprochen wird.
Davon ausgehend entfalten sich die Arien in Catone in Utica individuell weiter:
Szenisch und gattungsbedingt begleiten die Arien das Abtreten der Akteure. In zwei Arien des ersten Aktes, der Exposition des Dramas, fehlt bei knapper formaler Disposition das instrumentale Eingangsritornell (Arien Nr. 2 , Marzia: Non ti minaccio sdegno; Nr. 5, Cesare: Nell’ ardire ch’il seno t’accende). Das gegenteilige Vorgehen betrifft insbesondere die umfangreichen Arien des zweiten und dritten Aktes. Sie beginnen mit einem großen Orchesterritornell, das an instrumentalen Gattungen wie Sinfonie oder Konzert orientiert zu sein scheint (Nr. 14, Nr. 19 – 21, Akt 3, Nr. 25 und Nr. 27).
Ein anderes Stilmittel, den Wechsel von Tempo und Agogik innerhalb eines Abschnitts der Arie, nutzt Ferrandini, um einzelne, angesprochene Affekte des Textes aus dem Kontext herauszuheben. Als Stilmittel zum Innehalten bei einzelnen, bedeutsamen Worten verhelfen zwei AdagioTakte der reflektierenden Arie von Arbace (Akt 1, Nr. 11, È in ogni core diverso amore, in beiden A-Teilen) dazu, das zentrale Wort des Trauerspiels „[quello vuol] pace“ zu isolieren und mit ihm den Fluss des Allegretto ma comodo zu durchbrechen. Dieselbe Faktur greift Ferrandini auch für die an Emilia gerichtete Arie der Marzia im zweiten Akt (Nr. 17), In che t’offende (Andantino scherzante), auf. Marzia verteidigt ihre Liebe zu Cesare als „questa sognata felicità“ (dieses erträumte Glück), aber erst in der Wiederholung der 1. Strophe hält sie beim Wort „sognata“ inne.
In beiden Arien folgenden Rollen und Sängern gemäße, ausgiebige Koloraturpassagen auf Wiederholungen derselben Verse.
Weitaus differenzierter ist die Handhabung dieser Faktur in Emilias fingierter Liebesarie Per te spero (Akt 2, Nr. 18). Beide Verse des zugrundeliegenden Arientextes enden mit einem „da se“ gesprochenen, affektgeladenen Kommentar („Ma non credo a un traditor“ und „Ma ravviso infido il cor“), die dem Largo-Lamento als kontrastierende Binnenabschnitte hastige Allegro-Abschnitte im 3/8-Takt folgen lassen, aus denen mittels des Dacapo eine Schlussstretta erwächst. Sie stellt das Verhältnis zweier Textstrophen, die in den meisten Fällen unterschiedliche Aussagen beinhalten, auf den Kopf und ermöglicht dem Komponisten, die üblichen Wege der Vertonung zu verlassen.
Arbaces Arie zum Abschluss von Akt 2 stellt als „Devisenarie“ im ersten Vers die offene Frage Che sia la gelosia? (Largo maestoso / Andantino) dominantisch mit einem Adagio in den Raum. Dieses Motto wiederholt sich wörtlich nicht nur durch die üblichen formalen Wiederholungen einer Da-capo-Arie, sondern untergliedert auch noch die überlange erste Textstrophe am Ende des dritten und fünften Verses. Das Interesse liegt in der Haltung der Erörterung eines Sachverhaltes (Eifersucht), nicht im Hervorheben von zentralen Aussagen.
Eine Sonderstellung besitzt die letzte Arie der Oper, Catones Per darvi alcun pegno. Als Abschiedsgruß des zur Selbsttötung entschlossenen, besiegten Feldherren an seine Tochter und seinen Verbündeten Arbace umfasst sie als einzige Arie der Oper nur eine Strophe mit vier Versen, da zur Gegenüberstellung eines kontrastierenden Gedankens kein Anlass mehr besteht.
Musikalische Charakteristik von Rollen: Fulvio, Arbace, Catone
Ferrandini setzt durch motivische Bezugnahmen Arienpaare in wechselseitige Beziehung: Fulvios Trost vermittelnde Arie Akt 1, Nr. 6, Piangendo ancora rinascer suole, greift direkt die inhaltliche und die musikalische Thematik aus Cesares vorausgehender, ebenfalls an Emilia gerichteter Arie auf – und nutzt es für seine Zwecke um. Auch im zweiten Akt, Szenen sieben und acht, greift Fulvio in der 2. Strophe seiner Arie Nr. 19 (Salda rupe in mezzo all’onde ), in der er seine eigene Standhaftigkeit gegenüber Liebesbekundungen preist, den lamentierenden Ton der vorausgehenden Arie von Emilia (Nr. 18, Per te spero e per te solo) auf, die ihn mit einem Liebesversprechen zu einem Anschlag auf Cesare verleiten wollte 57 Schließlich ist es Fulvios letzte Arie (Akt 3, Nr. 25, La fronda che circonda a’ vincitori il crine) die den Gestus und die Disposition von Cesares Triumpharie Akt 2, Nr. 20 imitiert. Einerseits greift das Voranstreben der komplementären Figuren zwischen Streichergruppe und exponiert agierendem Hörnerpaar innerhalb des 65-taktigen Orchesterritornells die Faktur von Cesares Arie Nr. 20 auf, andererseits stehen die Kolorature n an Umfang (mehr als 70 Töne zu einer Silbe) und Schwierigkeit dem exzentrischen Gesang Cesares in nichts nach. Diese Charak teristik der Rolle des zu Cesare übergelaufenen Legaten Fulvio geschieht rein musikalisch.
Ferrandini hat die dramaturgisch nicht prominente Rolle des Arbace (gesungen von einem Alt-Kastraten) besonders detailbewusst und feingliedrig gestaltet. Wie bei allen übrigen Rollen bedienen auch seine Arien unterschiedliche Typen der Gattung, aber Arbaces Entwicklung der Rolle vom beredt klagenden Liebhaber zum jungen Helden – darin vergleichbar mit Fulvio oder Cesare – entwickelt sich konsequent über die drei Akte hinweg. In der Aria parlante 58 Nr. 3, Szene 3 des ersten Aktes (Che legge spietata) kann sich Arbace kaum vom syllabischen Gesang befreien. Überstürzt reiht er in dichter Folge Wort- und Verswiederholungen aneinander. Seine zweite Arie, Szene 13, Nr. 11 (È in ogni core diverso amore) beginnt mit dem Gestus eines Scherzando (D-Dur, kleine Taktart, Tempo Allegretto ma comodo, lombardische Figurationen, weitgehend dreistimmiger Satz), das zweimal reflektierend unterbrochen wird (s.o.), der B-Teil wendet sich in die parallele Molltonart, denn Arbace wird sich seiner Erbarmungswürdigkeit bewusst. Die dritte, von gedämpften Streichern begleitete Arie in Akt 2, Szene III, Nr. 15 ist eine zurückhaltende, lyrische Antwort auf Marzias rüde Zurückweisung (Sò che pietà non hai ), die sich in langen Koloraturen ergeht und der Verlobten in einer verkürzten 2. Strophe die Frage nach dem Grund ihres Verhaltens stellt. Mit der Devisenarie Nr. 24 Che sia la gelosia, dem Abschluss des zweiten Aktes, gewinnt Arbace eine völlig individuelle, herausgehobene Gestalt. Bis dorthin fehlen die obligaten Bläser in Arbaces Arien. Das erste Zusammentreffen mit seinem Rivalen Cesare (der den Prinzen zunächst nicht erkennt) in Akt 3, Szene 3, verhilft Arbace, zur Rettung Marzias aufgefordert, zum Durchbruch seiner selbstbewussten Persönlichkeit: Seine Bravourarie Nr. 27 Combattuta da tante vicende, greift in Umfang, Gestus, Instrumentation (obligates Hörnerpaar) und Koloraturen den hoch virtuosen Gestus der Bravourarien Cesares, Fulvios und Catones auf und beweist damit seine ebenbürtige Rolle im militärischen Konflikt.
Catone, der Protagonist der Tragödie, bezieht aus einer unzweifelhaft bereits im Libretto angelegten rigorosen Gesetzes- und Prinzipientreue und seiner stoischen Haltung eine eigene „Tonsprache“. „Da se“ gesungene Arien gibt es bei ihm nicht, die Arien sind stets an Dialogpartner gerichtet und tragen so – außerhalb der Rezitative – zur Führung durch das Drama bei. Insbesondere seine beiden Arien im zweiten Akt, Nr. 14 und Nr. 21 sind rigorose Verweise an Fulvio (Và, ritorna al tuo tiranno) und der Fluch über seine Tochter Marzia, die offen ihre Liebe zu Cesare bekannt hat (Dovea svenarti allora – „Ich hätte dich ersticken sollen, als du zum ersten Mal die Augen geöffnet hast“). Ihre implizierten extremen Affekte setzt Ferrandini in unablässige Bewegung um, die Arien jagen fast erstarrt durch den Text. De rartige Machtworte sind Catone vorbehalten, die musikalische Faktur ebenfalls, und sie finden nur dort Halt, wo der Protagonist seine eigenen Schwächen erkennt.
57 Und auch Emilia greift auf Bekanntes zurück: Die charakteristische Motivik stammt aus dem B-Teil von Cesares E-Dur-Arie in Akt 1, Nr. 9.
58 Die Arientypen des 18. Jahrhunderts beschreibt Helga Lühning in: Artikel „Arie, 18. Jahrhundert, Affekte und Arientypen“ in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016ff., veröffentlicht Dezember 2017, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/55660
Diese skizzierten Beispiele für unterschiedliche, in einer klimaktischen Zuspitzung (Arbace) oder in einem Spannungsbogen (Cesare, Catone) angelegter Rollenkonzepte der unterschiedlichen Charaktere, vermochte Ferrandini in den Arien seiner Festoper zum Erklingen zu bringen, gleichzeitig ein Neubeginn für das Münchener Theaterwesen wie auch der Höhepunkt seiner Laufbahn in der bayerischen Residenz.
Die Handlung
Das Libretto zu Catone in Utica ist weit entfernt von historischer Faktentreue. Die Handlung um den auf seinen moralischen und politischen Prinzipien der römischen Republik bestehenden Catone, seinen politisch Verbündeten, den numidischen König Iuba (im Libretto dessen Sohn, der Prinz Arbace) und den um Alleinherrschaft kämpfenden Cesare bezieht gattungsbedingt Personen und Ereignisse ein, die es nie gegeben hat, oder die bereits in der antiken Literatur stereotyp zur Bereicherung der Erzählung herangezogen wurden. Das übliche Vorgehen bei der Veröffentlichung von Libretti ist das Voranstellen eines „Argomento“, also eines Prosatextes des Librettisten, der Hintergrund und Kernaussage des Stücks zusammenfasst. Dieser Text bleibt unabhängig von den unterschiedlichen Aufführungsfassungen der Librettodichtung in verschiedenen Vertonungen immer gleich, ebenso wie die für Metastasio-Libretti charakteristische Personenkonstellation mit sechs Rollen, darunter zwei Liebespaaren (Catone, Cesare/Arbace – Marzia und Fulvio – Emilia). Obwohl der italienische Titel von Ferrandinis Vertonung die Gattung des Bühnenwerks nicht benennt, ist der unaufhaltsam tragische Verlauf von Beginn an zu verfolgen, sodass am Ende der Protagonist tot, sein Gegner moralisch zerstört und drei weitere Personen in ungewollte Rollen gezwängt sind.
Die Witwe des ermordeten Pompeius Magnus, Emilia (Metastasio betont im Argomento, dass der Name „Cornelia“ aus musikalischen Gründen zu „Emilia“ umbenannt wurde), belebt das Libretto als rachsüchtige und zu jeder Intrige bereite Verfolgerin Cesares. Marzia, historisch die Gattin von Marcus Porcius Cato d.J., nimmt im Libretto die Rolle der zwischen Neigung und Pflicht schwankenden Tochter ein. Der römische Legat Fulvio, ein abtrünniger Gefolgsmann des Pompeius, kam wohl aus dramaturgischen Gründen hinzu, denn neben Cesare ist er als Vermittler zwischen den Fronten der wandelbarste und vielseitigste Charakter des Librettos. Der numidische Prinz Arbace beschränkt sich in den ersten beiden Akten auf die Rolle des verschmähten Liebhabers, dem die Deutung der Affekte der Protagonisten Anlass zu vier reflektierenden Arien gibt (Nr. 3 Che legge spietata! ; Nr. 11 È in ogni core diverso amore; Nr. 15 Sò che pietà non hai ; Nr. 24 Devisenarie Che sia la gelosia).
Die Gewichtung der Szenen innerhalb der drei Akte ist vergleichbar angelegt: Im Mittelpunkt jedes Aktes steht eine direkte Konfrontation zwischen Cesare und Catone, der die wechselnden und sich weiter entwickelnden Handlungsstränge der Intrigen, der unentschlossenen und scheiternden (Liebes-)Beziehungen neue Facetten hinzufügen. Catone ist unbeugsam, gegenüber der unbotmäßigen Liebe seiner Tochter als Pater familias bis zur äußersten Härte bereit (Akt 3), gegenüber Arbace opportunistisch und beherrschend, erscheint aber selbst stets als neutraler Bewahrer des Legitimen (er verhindert Emilias Mordanschlag auf Cesare).
Akt 1
In Utica.
Innerhalb der von Cesares Truppen belagerten Stadtmauern von Utica fordern Marzia und Arbace den nachdenklichen Catone zu Standhaftigkeit auf: Cesare sei auf dem Weg in die Stadt, um über Frieden zu verhandeln. Catone bezweifelt die eigene militärische Überlegenheit und vermutet, dass Cesare nicht von seinem Bestreben abzubringen sei, als Alleinherrscher die politische Macht an sich zu reißen. Er verspricht Arbace die baldige Heirat mit seiner Tochter Marzia, mit der der Prinz das römische Bürgerrecht erlangen und die Pflicht der Rettung Roms nach Catones Vorbild auf sich nehmen könne (Arie Con sì bel nome in fronte). Im Gespräch mit Marzia muss der auf Cesare eifersüchtige Arbace erkennen, dass sie seine Liebe nicht erwidert. Arbace begreift, dass Catone und Marzia ihn nur als Instrument eigener Interessen benötigen. Cesare und Fulvio erscheinen unbewaffnet bei Catone. Cesare muss sich der Frage stellen, warum er überhaupt in die freie Stadt Utica gekommen sei. Cesare bietet Catone persönliche Freundschaft an, die Catone zugunsten eines loyalen Dienstes an Rom zurückweist. Fulvio versucht, die aufkommende Kontroverse zu schlichten. Die herbeitretende Emilia unterbricht den schwierigen Dialog: Sie beschuldigt Catone, ihren Schutz zu verletzen und bezichtigt Cesare, den Mord an ihrem Mann Pompeius veranlasst zu haben. Fulvio bricht den Streit ab und vertagt das Treffen der beiden Feldherren. Catone wirft Emilia ihre mangelnde Selbstbeherrschung in ihrer Trauer und ihre unangemessenen Beschuldigungen in der Arie Si sgomenti alle sue pene vor: ein Römer kenne weder Furcht noch Erbarmen. In der direkt darauf folgenden Arie bekräftigt Cesare diese Zurechtweisung, kann den Respekt gegenüber Emilias Haltung aber nicht leugnen. Emilia fordert von Fulvio als Bedingung für ihre Zuneigung Unterstützung für den Mord an Cesare, was ihr Fulvio doppeldeutig verspricht. Alleine gelassen, offenbart sie ihre ungebroche ne Trauer um Pompeius und bittet den Toten um Vergebung für ihre fingierte Liebe zu Fulvio (Arie O nel sen di qualche stella).
Zerfallene Gebäude in der Nähe von Catones Haus.
Cesare möchte sich von Fulvio verabschieden und in sein Feldlager zurückkehren, aber Marzia erscheint. Sie gibt vor, Cesare nicht mehr zu erkennen und wirft ihm seine verlustreichen Eroberungen und die Eigennützigkeit seiner Handlungen vor. Erst auf Cesares Wort, dass er im Zweifel eher Catone als Marzia retten würde, wendet sie sich ihm zu (Arie Già torna la speranza). Cesare beschließt, sich offen zu Marzia zu bekennen.
Reich geschmückter Tempel der Iuno.
Die Hochzeitszeremonie ist vorbereitet. Catone drängt Marzia zum Altar und erbittet von Iuno den göttlichen Segen für die Ehe. Der Hochzeitschor setzt ein. Arbace erscheint, fordert aber einen Aufschub der Heirat. Im kontroversen und erniedrigenden Dialog mit Catone entpuppt sich Marzia mit ihrer Liebe zu Cesare als Urheberin der vereitelten Zeremonie. Der zur Feier eintreffenden Emilia kann sich Marzia nicht erklären, und so nimmt Arbace alle Schuld auf sich. Im Dialog der beiden Frauen über Cesares Kampf mit Pompeius und die Konsequenzen der Niederlage erkennt auch Emilia Marzias Neigung zu Cesare und warnt sie vor den drohenden Gefahren dieser Beziehung. Marzia muss sich eingestehen, dass sie unbeabsichtigt ihr Geheimnis verraten hat (Arie È follia se nascondete).
Akt 2
Soldatenwohnungen.
Catone setzt einen neuen Hochzeitstag fest. Fulvio erscheint und übergibt Catone ein Senatssc hreiben, das ihn zum Friedensschluss mit Cesare und zum Gehorsam gegenüber Volk und Diktator auffordert, andernfalls sei er ein Feind des Vaterlandes. Catone weist die Absicht des römischen Senats brüsk von sich und beschimpft Fulvio wütend (Arie Và, ritorna al tuo tiranno).
Auch in dieser Situation kann Arbace Marzia nicht für sich gewinnen und beklagt ihre gnadenlose Abweisung. Cesare und Fulvio erscheinen, da Catone aufgrund eines Volksvotums zu Friedensverhandlungen bereit ist Fulvio rät Cesare zu einer militärischen Lösung. Cesare vergleicht Catones aufbrausende Wut mit einem plötzlichen Sturm auf hoher See (Arie Soffre talor del vento).
Die Szenen fünf bis acht verleihen der Motivation der Liebesaffären ein deutlicheres Profil: Die erleichterte Marzia gewinnt den Glauben an ihre Liebe zu Cesare zurück und gesteht Emilia deren Hass auf Cesare frei zu (Arie In che t’offende). Emilia forciert in vorgetäuschter Zuneigung zu Fulvio ihr Vorhaben, ihn als Instrument ihrer Rache an Cesare zu gewinnen (Arie Per te spero e per te solo); Fulvio täuscht seine Einwilligung vor, um im Wissen um das tödliche Vorhaben Cesare vor der Intrige retten zu können.
Die Szenen neun bis 12 treiben in einer Kette von Auseinandersetzungen zwischen Cesare und Catone den politischen Konflikt zum tragischen Höhepunkt des Dramas. Catone zeigt sich nur aus Verpflichtung gegenüber den Göttern und Menschen bereit, Cesare anzuhören. Cesares Komplimente sind erfolglos. Catone fordert von ihm, die illegale militärische Befehlsgewalt und den Rang des Diktators niederzulegen und sich ins Gefängnis zu begeben. Cesare besteht darauf, dass Rom einen Alleinherrscher benötige, als Abbild der göttlichen Ordnung. Als Catone das Gespräch abbricht, bietet Cesare ihm die Teilhabe an seinen Reichtümern an, und als das nichts bewirkt, sich selbst als Schwiegersohn. Die empörte Abweisung Catones beantwortet Cesare mit einem Ruf nach den Waffen. Als Marzia interveniert, wählt Catone ebenfalls den Krieg als Entscheidungsmittel. Eine Bravourarie Cesares (Se in campo armato) schließt den Szenenkomplex ab.
Diese Wendung ins Tragische schlägt auf die Konstellation des Liebesdramas zurück: Catone mahnt die Frauen zur Flucht aus der Stadt zum Meer und verrät einen sicheren Weg bei der Quelle (dem Brunnen) der Isis. Marzia gesteht ihrem Vater nach argem Drängen von Emilia und Arbace offen ihre Liebe zu Cesare; Catone verstößt sie wutschäumend mit groben Worten (Dovea svenatri ). Arbace verfolgt weiterhin sein vermeintliches Recht auf Marzias Hand. Marzia, Emilia und Arbace loten in Abtrittsarien ihre Gefühle aus: Marzia warnt vor dem absehbaren Scheitern der Intrigen, Emilia verspottet Arbace; er versucht, das Wesen der Eifersucht zu ergründen.
Akt 3
Krieg. Vorhof.
Fulvio hält Cesare auf seinem Weg zurück in das Feldlager auf und warnt ihn vor dem von Emilia geplanten Mordanschlag. Floro, ein als Mörder gedungener, inzwischen zu Cesare übergelaufener Soldat Catones, solle Cesare an einer verborgenen Stelle an dem Brunnen der Isis treffen und aus der Stadt führen. In einer Bravourarie bekräftigt Fulvio seine Überzeugung, dass die Götter allen Schaden von den mit Sie geslorbeer bekränzten Helden abwenden würden; Fortuna selbst habe Cesare von der Wiege an begleitet und von ihm die Kriegsführung erlernt.
Auf den überrascht zurückgebliebenen Cesare trifft Marzia, die Cesare um ihrer Liebe willen zur Flucht aus Utica und zum Abschied drängt, da der erzürnte Catone sie mit dem Tod bedrohe. Dennoch bittet sie Cesare, ihren Vater im Fall seiner Niederlage im Kampf nicht zu töten. Stammelnd gibt sie in ihrer letzten Arie ihrer inneren Zerrissenheit und Angst Ausdruck (Confusa, smarrita, spiegarti vorrei ), die durch jähe Wechsel extremer Tempi und affektgeladene Sprünge versinnbildlicht sind. Sie flieht, Cesare bleibt nachdenklich zurück.
Abb. 1 Widmungsrede mit eigenhändigem Namenszug von Giovanni Ferrandini aus der Partitur D. D-Dl, Mus. 3037-F-3 (Quelle D [Leitquelle]), Band 1, Seite 1. Abbildung nach dem Digitalisat des Projektes „Königliche Privat-Musikaliensammlung digital“ der SLUB Dresden.
Abb. 2 Beginn der Sinfonia aus der Partitur D-Dl, Mus. 3037-F-3 (Quelle D), Band 1, Seite 3. Abbildung nach dem Digitalisat des Projektes „Königliche Privat-Musikaliensammlung digital“ der SLUB Dresden.
Abb. 3 Beginn der Sinfonia aus der Kurzpartitur D-Hs, M A/686 (Quelle H), Band 1, Blatt 2 recto. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek.
Abb. 4 Akt 1, Nr. 1, Aria di Catone: „Con sì bel nome in fronte“, Beginn des Orchesterritornells aus der Partitur D-Dl, Mus. 3037-F-3 (Quelle D), Band 1, Seite 28. Dynamische Angaben von anderer oder späterer Hand ergänzt. Abbildung nach dem Digitalisat des Projektes „Königliche Privat-Musikaliensammlung digital“ der SLUB Dresden.
Sinfonia
Presto assai
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Parte interna delle Mura di Utica con Porte della Città in prospetto,
sìme chiusa da un Ponte, che poi s’abbassa. sto,
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ra te in va no che ab ban do ni u na vol ta ilde ge me al suo ti ranno in brac cio: e chie dete ra gion, s’io pen so e tac cio?
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