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Histoire des représentations de l’espace: textes, images

History of the Representation of Space in Text and Image

Die ‚Genuesische Weltkarte‘ von 1457

bild und stimme einer ambiguen welt

(Portolano 1 der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz)

Gerda Brunnlechner

Die ‚Genuesische Weltkarte‘ von 1457

BILD UND STIMME EINER AMBIGUEN WELT

(PORTOLANO 1 DER BIBLIOTECA NAZIONALE CENTRALE IN FLORENZ)

Kapitel Eins: Grundlagen

I. Kartographiegeschichtliche Grundlagen

II. Die ‚Genuesische Weltkarte‘— Beschreibung und Forschungsstand

Kapitel Zwei: Kartenmachende — Annäherung an den Handlungsraum

I. Erstellungsprozess der ‚Genuesischen Weltkarte‘: routinisiertes Können oder Medieninnovation?

Kartenmachende

Kapitel Drei: Kartenbild — Strukturen der dargestellten Welt

Kapitel Vier: Kommunikation — Stimmen der Kartenmachenden im Kartenbild

Expliziter Wahrheitsanspruch

Umgang mit Widersprüchen

Anhang I. Erläuterungen, Transkriptionen und Übersetzungen zu den Kartenzeichen der ‚Genuesischen Weltkarte‘

Anhang II. Liste der Vergleichskarten

Anhang III. Vergleich die ‚Genuesischen Weltkarte‘ mit den Koordinaten des Ptolemaios

Inhaltsverzeichnis

GRUNDLAGEN

Um die leitende Fragestellung nach der kommunikativen Einbettung der ‚Genuesischen Weltkarte‘ bearbeiten zu können, sollen zunächst die kartographiehistorischen und die methodischen Grundlagen geklärt werden. Dazu wird zunächst der zugrunde liegende Kartenbegriff unter Einbezug des zeitgenössischen Kartenverständnisses erarbeitet. Anschließend wird erläutert, warum in dieser Arbeit der Begriff ‚Übergangskarten‘ abgelehnt und kartentypenübergreifend vorgegangen wird, und der kartographiehistorische Forschungsstand dargelegt. Im nächsten Schritt wird die ‚Genuesische Weltkarte‘ und der Forschungsstand zur Karte vorgestellt. Auf dieser Basis wird die Fragestellung präzisiert, das leitende soziologische Modell vorgestellt und die daran angelehnte Vorgehensweise dieser historiographischen Untersuchung erläutert.

I. Kartographiegeschichtliche Grundlagen

1. Kartenbegriff

Kartenbegriff in der Forschung

Die moderne Forschung zur Geschichte der Kartographie begann sich im xix. Jahrhundert herauszubilden.1 Die ersten Forscher waren stark von der Wissenschaftsgeschichte und der sich ausprägenden Disziplin der Geographie beeinflusst. Sie waren, wie auch die meisten von modernen Dienstleistungsgesellschaften geprägten Menschen heute, an mathematisch durch Projektion konstruierte, maßstäbliche Karten gewöhnt. Die oft reich bebilderten und beschrifteten mittelalterlichen Karten, die weder nach einem kartographischen Maßstab im modernen Sinn konstruiert wurden noch ihren Vorstellungen von akkuraten Verortungen entsprachen, schätzten sie gering, bis hin zur Frage, ob es sich überhaupt um Karten handele.2 Erst im Laufe der 2. Hälfte des xx. Jahrhunderts lernte man diese Karten als Produkte ihrer Zeit

1 Das Wort Kartographie geht auf griech. chartes, ein Blatt Papier oder Papyrus, zurück und wurde von Manuel Francisco de Santarem 1839 erstmals für das Studium früher Karten verwendet, vgl. John Brian Harley/ David Woodward, „Preface“, hg. von J. B. Harley/D. Woodward, History of Cartography, S. 15–21, hier S. xvii; John Brian Harley, „The Map and the Development of the History of Cartography“, hg. von J. B. Harley/D. Woodward, History of Cartography, S. 1–42, hier S. 12.

2 Vgl.  Beispiele bei David Woodward, „Reality, Symbolism, Time, and Space in Medieval World Maps“, in Annals of the Association of American Geographers, Bd. 75, H. 4, 1985, S. 510–521, hier S. 512; Alessandro Scafi, Mapping Paradise A History of Heaven on Earth, London, 2006, S. 20. Zur Kontinuität dieser Geringschätzung vgl. Margriet Hoogvliet, Pictura et Scriptura. Textes, images et herméneutique des ‚Mappae mundi‘ (xiiie –xvie siècle), Turnhout, 2007 (Terrarvm Orbis 7), S. 10. Kritik an dieser teleologischen Perspektive vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, Kartographische Quellen. Welt-, See- und Regionalkarten, Turnhout, 1988 (Typologie des sources du moyen âge occidental 51), S. 20. Zum Beginn der Historiographie der Kartographie und zur Aufarbeitung des frühen Forschungsstands vgl. J. B.  Harley, „Map and Development“, S. 12–36; D.  Woodward, „Medieval Mappaemundi“, S. 292–294; Patrick Gautier Dalché, „‚Mappae mundi‘ antérieures au xiiie siècle dans les manuscrits latins de la Bibliothèque nationale de France“, in Scriptorium, H. 52, 1998, S. 102–162, hier S. 103–109.

Grundlagen

ernst zu nehmen und zu schätzen.3 In der Folge weitete sich der Kartenbegriff. Insbesondere die Forschungen zum Zusammenhang zwischen Raum und Gedächtnis4 sowie zu kognitiven Karten5 konnten — unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit letzterer zur Analyse mittelalterlicher Karten — den Blick öffnen für die Vielfalt der möglichen Raumrepräsentationen, welche, über eine rein topographische Basis hinausgehend, komplexe Vorstellungswelten verarbeiten. Unter Hinzuziehung kommunikationswissenschaftlicher Ansätze hatte man bereits in den 1970er Jahren begonnen, Karten als Medien zu verstehen.6 Darauf aufbauend führte der Geograph John B. Harley mit dem ersten Band des Grundlagenwerkes ‚The History of Cartography‘ einen richtungsweisenden Kartenbegriff ein: Karten als interpretationsbedürftige, zweidimensionale graphische Repräsentationen, die mittels einer komplexen Sprache Wissen über die menschliche Welt räumlich vermitteln.7 Diese Definition fand breite Akzeptanz, wurde aber auch dafür kritisiert, dass sie zu stark vom Bezug zum geographischen Raum abstrahiere.8 Außerdem ist die Frage, wie weit der Kartenbegriff in der Abgrenzung zu anderen Medien

3 Grundlegend vgl.  Gerald Roe Crone, Maps and their Makers An Introduction to the History of Cartography, Folkestone, Hamden, Connecticut, 51978 [1951]; J. B.  Harley, „Medieval Mappaemundi“, S. 26. Dies beendete jedoch nicht die gelegentliche Abwertung der mittelalterlichen Karten: So bezeichnete Uta Lindgren mittelalterliche Karten noch vor einigen Jahren als „kartenverwandt“, vgl. Uta Lindgren, „Kartographie“, hg. von Friedrich Jaeger, Enzyklopädie der Neuzeit Online, Stuttgart, 2005–2012, Sp. 407–421, hier Sp. 407–408.

4 Zur Ausprägung religiöser Topographien vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart, 1967 [1950 (frz.)], S. 159. Zur Weiterentwicklung von Halbwachs’ Konzept des kulturellen Gedächtnisses, vgl. Pierre Nora, „Le modèle des ‚Lieux de mémoire‘“, hg. von Etienne François, Lieux de mémoire, Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand, Berlin, 1996 (Les travaux du Centre Marc Bloch 6), S. 13–17; Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, Frankfurt am Main, 1988; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München, 2003 [1999] (C.H. Beck Kulturwissenschaft).

5 Kognitive Karten sind im Vergleich zu maßstäblichen Karten verzerrt, schematisiert, gleichzeitig unvollständig und erweitert, sie sind individuell und gruppenspezifisch geprägt, vgl. Roger M.  Downs/David Stea, „Kognitive Karten und Verhalten im Raum. Verfahren und Resultate der kognitiven Kartographie“, hg. von Harro Schweizer, Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Ein Arbeitsbuch für das Lehren von Forschung, Stuttgart, 1985, S. 18–43, hier S. 19, 31–36; Kevin Lynch, zitiert in Jörg Dünne, „Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums“, hg. von Jörg Döring/Tristan Thielmann, Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld, 2008, S. 49–69, hier S. 53. Einen Überblick zum interdisziplinären Forschungsstand bietet Frithjof Benjamin Schenk, „Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung“, hg. von Christoph Conrad, Mental Maps, Göttingen, 2002 (Geschichte und Gesellschaft 28/3), S. 493–514, hier S. 494–497. Kritik an der kontextlosen Annahme der Beteiligung kognitiver Karten an Denkvorgängen vgl. Jörg Dünne, Die kartographische Imagination Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München, 2011 (periplous), S. 32.

6 Vgl. mit weiteren Literaturangaben J. B. Harley, „Map and Development“, S. 36.

7 Vgl. J. B. Harley/D. Woodward, „Preface“, S. xvi–xvii; vgl. J. B. Harley, „Map and Development“, S. 3.

8 Harleys Definition ist in den Geschichtswissenschaften etabliert, so verwendet etwa Bettina Schöller, Wissen speichern, Wissen ordnen, Wissen übertragen Schriftliche und bildliche Aufzeichnungen der Welt im Umfeld der Londoner Psalterkarte, Zürich, 2015 (Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen 32), S. 23, diese Definition als Arbeitsgrundlage ihrer Dissertationsschrift. Von J. Dünne, Kartographische Imagination, S. 33, und Winfried Nöth, „Medieval Maps: Hybrid Ideographic and Geographic Sign Systems“, hg. von Ingrid Baumgärtner/Martina Stercken, Herrschaft verorten. Politische Kartographie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Zürich, 2012 (Medienwandel–Medienwechsel–Medienwissen 19), S. 335–353, hier S. 336, dagegen wird die Definition kritisiert, weil sie zu sehr vom geographischen Raum abstrahiere.

Kapitel Eins

Weiter ausgreifend verstand der Althistoriker Christian Jacob Karten nicht nur als vermittelnde Sprache, sondern als kreatives Mittel, um durch Auswahl und Anordnung bestimmter Elemente eine neue Welt zu (re)konstruieren und damit erst denk- und sichtbar zu machen.10 Allerdings blieben weitere Forschungen zum Teil hinter diesem weitreichenden Kartenverständnis zurück.11 Insbesondere aus geographischem oder kartographischem Blickwinkel werden Karten manchmal immer noch als objektive Wiedergaben geographischer Gegebenheiten verstanden.12 Insgesamt aber änderte sich seit den 1970er Jahren der Blick auf Karten: der Repräsentationscharakter und die Konventionsgebundenheit mittelalterlicher genauso wie moderner Karten wurde erkannt.13

9 Emmanuelle Vagnon, Cartographie et Représentations de l’Orient méditerranéen en Occident (du milieu du xiiie à la fin du xve siècle), Turnhout, 2013 (Terrarvm Orbis 11), S. 10, schließt aus ihrer Untersuchung zu Karten alle nicht figürlichen, nicht planen oder völlig textlosen Repräsentationen aus, wobei unklar bleibt, was unter ‚figürlich‘ zu verstehen ist, und Karten, wie die textlose Douce-Karte, ausgeschlossen werden, Oxford, Bodleian Library, MS Douce 319, fol. 8r; allgemein zur Douce-Karte, vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, „Europa um 1320 auf zwei Weltkarten süditalienischer Provenienz. Die Karte zur ‚Chronologia magna‘ des Paulinus Minorita (BnF Lat. 4939) und die Douce-Karte (Bodleian Douce 319)“, hg. von Ingrid Baumgärtner/Hartmut Kugler, Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte, Berlin, 2008 (Orbis Mediaevalis 10), S. 157–170; Anna-Dorothee von den Brincken, „Die stumme Weltkarte im Bodleian Douce 319 — ein arabisches Dokument in einer abendländischen Handschrift?“, hg. von Thomas Szabó, Studien zur Universalkartographie des Mittelalters, Göttingen. 2008 [2006], S. 719–731/791–804, hier S. 727. Die Abgrenzung zwischen Karten und anderen Medien loteten P.D.A. Harveys und Thomas Wozniaks Interpretationen räumlicher Darstellungen auf Siegeln bzw. in der Subscriptio von Urkunden als Karten in Vorträgen in einer von drei Mapping Sessions anlässlich des IMC 2012 der University of Leeds, UK, aus, was kontrovers diskutiert wurde: P.D.A. Harvey, Session 704: Mappings, III: Map Questions: Local Maps on Medieval Seals, Leeds, 10.07.2012 (International Medieval Congress); Thomas Wozniak, Session 704: Mappings, III: Map Questions: Maps on Ottonian Charters? Unnoticed 10th-Century Drafts, Leeds, 10.07.2012 (International Medieval Congress). Ein Anriss des Problems bereits bei David Turnbull, Maps are Territories. Science is an Atlas A portfolio of exhibits, Chicago, 1993 [1989] (Imagining nature 5), S. 13–17.

10 Vgl. Christian Jacob, L’empire des cartes. Approche théorique de la cartographie à travers l’histoire, Paris, 1992 (Bibliothèque Albin Michel Histoire), S. 49–51, 54, 136–138.

11 So sieht z.  B. John Rennie Short, Making Space. Revisioning the World, 1475–1600, Syracuse, N.Y., 2004 (Space, Place, and Society), S. 70, Karten des xvi. Jahrhunderts als rein bildliche Repräsentationen der Welt.

12 Beispielsweise versteht der Kartograph Peter Mesenburg, „Zur Genauigkeit mittelalterlicher Portolane“, hg. von Michael Bischoff/Vera Lüpkes/Wolfgang Crom, Kartographie der Frühen Neuzeit. Weltbilder und Wirkungen, Marburg, 2015 (Studien zur Kultur der Renaissance 5), S. 37–43, hier S. 37, Karten zwar als Kommunikationsmittel, erklärt aber gleichzeitig die Genauigkeit der Darstellung zu ihrer primären Funktion, was die Vielschichtigkeit des Mediums vernachlässigt.

13 Zur Konventionalität von Karten vgl.  John Brian Harley, „Silences and Secrecy. The Hidden Agenda of Cartography in Early Modern Europe“, in Imago Mundi, H. 40, 1988, S. 57–76, hier S. 65–66; P. Gautier Dalché, Descriptio mappe mundi, S. 120–121; D. Turnbull, Maps are Territories, S. 5–11, 15, 20, der auf die Wirkmacht symbolischer Karten verweist; Patrick Gautier Dalché, „Un problème d’histoire culturelle: perception et représentation de l’espace au Moyen Âge“, in Médiévales, H. 18, 1990, S. 5–15, hier S. 6; M. Hoogvliet, Pictura et Scriptura, S. 14. Auf den repräsentativen Charakter von Karten hatte bereits Alfred Korzybski, Science and Sanity An Introduction to non-Aristotelian Systems and General Semantics, Brooklyn, N.Y., 52005 [1933], S. 58, verwiesen; vgl. auch Gerhard Hard, „Der ‚Spatial Turn‘, von der Geographie her beobachtet“, hg. von J. Döring/T. Thielmann, Spatial Turn, S. 263–315, hier S. 289; Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in KulturPoetik, H. 2,2, 2002, S. 151–165, hier S. 153. Kürzlicher Beleg für die Relativität

Grundlagen gesetzt werden kann, immer noch umstritten und kann und will auch hier nicht beantwortet werden, da sie das Thema der Arbeit überschreitet.9

Detail: nummerierte Kartenzeichen 1–10

Tafel 1: ‚Genuesische Weltkarte‘, 1457, 39,5 x 79,5 cm, Florenz, BNC, Portolano 1

Kommentar zu Fazio degli Ubertis ‚Il dittamondo‘ über die Vorstellung eines prinzipiell verbundenen und daher befahrbaren, aber dennoch eingeschlossenen Ozeans die beiden Ansätze zu vereinen.319 Sozomeno da Pistoia (1387–1458) dagegen, Protegé des Poggio Bracciolini, stellte die beiden Autoritäten ohne Abgleich nebeneinander, als er mit seiner Chronika eine Zusammenfassung der ‚De chorographia‘ verfasste, die er mit Regionen- und Ortslisten aus der Geographie anreicherte.320 Die ‚Genuesische Weltkarte‘ lässt sich in diese Folge humanistischer Auseinandersetzungen mit den beiden Autoritäten einreihen. Wie gezeigt, nutzten ihre Kartenmachenden die Werke von Ptolemaios und Pomponius intensiv, um ihr Bild der Welt zu schaffen: Sie versuchten ansatzweise die ptolemäische Methode umzusetzen, waren sich mancher Widersprüche bewusst und versuchten, verschiedene Wissensstränge zu adaptieren und zu verbinden.321

Im Unterschied zu den gerade genannten Werken war die ‚Naturalis historia‘ des Plinius zwar über das gesamte Mittelalter hinweg rezipiert worden, jedoch mit abnehmender Intensität, weil das Werk zunehmend kritisch gesehen wurde. Wieder war es Francesco Petrarca, der eine Wende einleitete, indem er Plinius zum unsterblichen Schreiber aufwertete, dessen Werk zwar über das Mittelalter hinweg entstellt worden war, dessen authentischer Wortlaut aber entscheidender Vermittler zum Verständnis von Natur und Geschichte sein konnte.322 In der Folge nahm von Italien ausgehend die Zahl der Handschriften kontinuierlich zu und verbreitete sich über Lateineuropa. Und in Ferrara, als das Konzil von Ferrara-Florenz dort tagte, unterstützte der gerade erwähnte Guglielmo Capello den Gelehrten Guarino Guarini Veronese (1374–1460) bei der Vorbereitung einer neuen Ausgabe des Werks.323 Auch wenn die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ Plinius nur punktuell nutzten und vermutlich nur auszugsweise kannten, deutet auch diese Quelle auf humanistische Interessen hin.

Nur auf den ersten Blick zu denken gibt, dass die Kartenmachenden an genau der Stelle, an der sie sich ausdrücklich auf Plinius beriefen, nicht Plinius, sondern Isidor zitierten, zumal Isidors Ansehen in humanistischen Kreisen abnahm und er auch insgesamt im xiv./xv. Jahrhundert insbesondere als Autorität zu naturwissenschaftlichen Fragen weniger zitiert wurde. Speziell italienische Humanisten kritisierten ihn harsch und verweigerten seine Rezeption.324

319 Vgl. P. Gautier Dalché, Géographie de Ptolémée, S. 190–191; Bettina Bosold-DasGupta, „Enzyklopädische und subjektive Topographie im ‚Dittamondo‘ des Fazio degli Uberti“, hg. von Rudolf Behrens/Rainer Stillers, Orientierungen im Raum. Darstellung räumlichen Sinns in der italienischen Literatur von Dante bis zur Postmoderne, Heidelberg, 2008 (Studia Romanica 140), S. 45–62, hier S. 46; s. Kap. Zwei: Anm. 94.

320 Vgl. P.  Gautier Dalché, Reception of Ptolemy, S. 296; ein kurzer biographischer Abriss zu Zomino di ser Bonifazio da Pistoia, genannt Sozomeno vgl. Irene Ceccherini, Sozomeno da Pistoia (1387–1458) Scrittura e libri di un umanista, Firenze, 2016 (Biblioteca dell’‚Archivum Romanicum‘431), S. 1–2.

321 Abweichend versteht Cattaneo die Karte als enzyklopädische Zusammenstellung des verfügbaren Wissens, vgl. A. Cattaneo, Mappa Mundi 1457, S. 109.

322 Vgl. Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg, 1994 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse), S. 306–307.

323 Vgl. P. Gautier Dalché, Géographie de Ptolémée, S. 189.

324 Vgl. Jacques Elfassi/Bernard Ribémont, „La réception d’Isidore de Séville durant le Moyen Âge tardif (xiie-xve s.)“, in Cahiers de recherches médiévales et humanistes, H. 16, 2008, S. 1–5, hier S. 2–3, die aber auch anführen, dass bei allem Autoritätsverlust etwa Brunetto Latini die Etymologien nutzte und auch die italienischen Humanisten, obwohl sie versuchten sich von Isidor zu distanzieren.

Kapitel Zwei

Aber obwohl Isidors Schriften langsam an Ansehen verloren, waren sie auch im Spätmittelalter immer noch eine unvermeidliche Wissensquelle: Selbst die italienischen Humanisten konnten bei aller Kritik teilweise nicht vermeiden, sich auf sie zu stützten.325 So hatte etwa Niccolò Niccoli (c. 1364–1437) Poggio Bracciolini für die Nutzung Isidors kritisiert, wogegen sich Poggio damit verteidigte, dass Isidor sich gut eignete, um Klerikern, die ihn täglich läsen, etwas zu verdeutlichen.326 Demnach ist es durchaus stimmig, dass die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ humanistisch interessiert waren und gleichzeitig Isidor nutzten, aber nicht nannten. Auch war der genannte Rückgriff auf Isidor kein Einzelfall, denn der Einfluss von Isidors Schriften ist an vielen verschiedenen Stellen der ‚Genuesischen Weltkarte‘ spürbar, auch wenn sich ein direktes Zitat nur am bereits behandelten Beispiel des Sägefisches mit großer Sicherheit nachweisen lässt.327

Es gibt über allgemeine humanistische Interessen hinaus, wie bereits gezeigt, auch Anzeichen dafür, dass die Kartenmachenden dem weiteren Umfeld des Poggio Bracciolini verbunden waren. Die Hauptquellen der ‚Genuesischen Weltkarte‘ zu Südostasien, die von Poggio verschrifteten Reiseberichte im vierten Buch der Nikolaus V. gewidmeten Abhandlung ‚De varietate fortunae‘, wurde wohl vorrangig in Poggios weiterem Umfeld verteilt, also an humanistisch interessierte Mitglieder seines Familien- und Freundschaftskreises sowie der Kurie.328 Da wir wissen, dass Fra Mauro und Enea Silvio Piccolomini Inhalte daraus für ihre eigenen Werke nutzten, rücken, wie bereits erwähnt, zudem die humanistischen Kreise um die beiden Kamaldulenserklöster in Florenz und Venedig als mögliche Vermittlungsorte der Schrift in den Blick. Und auch die Umsetzung eines Motivs aus Pausanias ‚Beschreibung Griechenlands‘ auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ lässt an die humanistischen Kreise Poggios denken. Wir wissen, dass 1418 eine Handschrift im Besitz des Florentiner Humanisten Niccolò Niccoli war, wobei Niccolò zu unbekannter Zeit versprach, eine Handschrift dem venezianischen Humanisten Francesco Barbaro (um 1390–1454) nach Venedig zu senden, und dass der Veroneser Humanist Guarino Guarini, wahrscheinlich in Padua, eine Abschrift gelesen hat. Ferner ist bekannt, dass Niccolòs Handschrift 1437 mit seinem Vermächtnis an die Bibliothek San Marco in Florenz ging und dass der griechischstämmige Franziskaner und Humanist Bessarion (1403–1472) der

325 Vgl. Franz Josef Worstbrock, „Isidor von Sevilla“, hg. von de Gruyter, Nachträge und Korrekturen, Tubingen, 2011 (Verfasserlexikon / Die deutsche Literatur des Mittelalters), Sp. 721; Jean-Frédéric Chevalier, „Remarques sur la réception des Étymologies d’Isidore de Séville au Trecento“, in Cahiers de recherches médiévales et humanistes, H. 16, 2008, S. 7–16, hier S. 15.

326 Brief Poggio Bracciolinis an Niccolò Niccoli vom 10 Juni 1429, Poggio Bracciolini, Epistolarum liber ad Nicolaum Nicolum, hg. von Helene Harth, Firenze, 1984 (Carteggi umanistici), S. 3–230, hier S. 116; vgl. E. Walser, Poggius Florentinus, S. 133.

327 Zum Zusammenspiel der Luft- und Wassersphäre s. Kap. Drei: Anm. 12, zu den Hyperboreischen Bergen s. Kap. Drei: Anm. 107, zum Leoparden und zu Hyrkanien s. Kap. Drei: Anm. 116–117, zu den Paradiesflüssen s. Kap. Drei: Anm. 51, 67, 134, zum Krokodil s. Kap. Drei: Anm. 158, zum Gott Apollon s. Kap. Drei: Anm. 147, zum Äquator s. Kap. Drei: Anm. 172, zur Arche Noah s. Kap. Zwei: Anm. 264, Kap. Drei: 230, zur Unterwelt s. Kap. Drei: Anm. 219, zu Kampfelefanten s. Kap. Drei: Anm. 75, zu Epikur s. Kap. Vier: Anm. 183, zu den Stämmen Israels s. Kap. Vier: Anm. 229. Beispielsweise wird der porcus marinus (659, 660) im Indischen Ozean zwar von Cattaneo auf Isidor zurückgeführt, Isidor von Sevilla, Etymologiarum, hg. von W. M.  Lindsay, 12.6.12, vgl. A.  Cattaneo, Mappa Mundi 1457, S. 190 Nr. 2, größere schriftliche Übereinstimmung zeigt aber Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, hg. von Helmut Boese, 7.64.

328 S. Kap. Zwei: Anm. 226–229.

Kartenmachende — Annäherung an den Handlungsraum

Republik Venedig 1468 eine Handschrift schenkte, welche auf die florentinische zurückging.329 Somit waren alle bekannten Rezipienten der Handschrift des Pausanias mit Poggio verknüpft: Niccolò, Francesco und Guarino waren enge Freunde, mit Bessarion verkehrte Poggio brieflich. Zwar ist in Realität eine weitere Verbreitung des Textes anzunehmen und zudem ist es, wie bereits gezeigt, in diesem Fall plausibler, dass das Motiv mündlich tradiert wurde, als dass die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ tatsächlich auf eine Handschrift der ‚Beschreibung Griechenlands‘ zurückgegriffen hätten. Aber auch mündliche Tradition setzt Menschen voraus, die Erzählungen aus dem alten Griechenland kannten, was auf Poggios Kreis, allerdings auch auf viele der Griechen zutraf, die zu dieser Zeit im Zuge des Vordringens der Türken nach Italien und anderen lateineuropäischen Länder migriert waren.

Auch die Hauptquelle der Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ zur Ausgestaltung von Nordostasien, der Brief des Priesterkönigs, verweist auf humanistische Interessen, das Konzil und die Kurie. Zwar wurde der Brief in einem sozial breit gefächerten Spektrum rezipiert: Er fand sich in Klöstern und in Dom-, Stifts- und Kirchenbibliotheken, wurde in Universitäten und im Umfeld der Päpste gelesen.330 Aber Wagner vermutet den Ursprung der für die ‚Genuesische Weltkarte‘ relevanten Bearbeitungsstufen des Briefes speziell im Umfeld der Papstkanzlei und sieht dort auch ein hohes Rezeptionsinteresse.331 So wurde eine Handschrift des Briefes (P11) 1439/40, also zur Zeit des Konzils, in Florenz für einen Ostiarius Eugens IV. geschrieben. Diese Handschrift wurde dann teilweise 1458 in Rom für einen Kardinal der Kurie, vermutlich Domenico Capranica († 1458), ein Freund Poggio Bracciolinis, kopiert (V9).332 V9 ist eine der vier bekannten Sammelhandschriften, welche beide Hauptquellen der ‚Genuesischen Weltkarte‘ zur Ausgestaltung Asiens enthalten — Poggio Bracciolinis viertes Buch von ‚De varietate fortunae‘ und der Brief des Priesterkönigs. Die weiteren Texte in diesen Sammelhandschriften weisen auf humanistische Interessen der Kompilierenden/Rezipierenden hin, denn sie enthalten größtenteils Schriften und Briefe von Humanisten, antike Texte sowie Berichte über das Heilige Land und die Gläubigen im Osten.

Auf das Umfeld der Päpste beziehungsweise des Konzils von Ferrara-Florenz verweist auch die oben besprochene Art und Weise der Darstellung der beiden Herrscherfiguren in Indien und Äthiopien auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ (Kap. Zwei: II.2). Die Kartenmachenden stellten, genau wie ihre Quelle, Poggio Bracciolinis viertes Buch von ‚De varietate fortunae‘, zwei verschiedene Herrscherfiguren dar, eine in Indien (723, 724) und eine in Äthiopien, identifizierten aber im Gegensatz zu Poggio den äthiopischen Herrscher ausdrücklich als Priesterkönig Johannes (643, 644). Diese Identifizierung wurde zwar durch Poggios Beschreibung nahegelegt, aber nicht ausbuchstabiert, und hing in diesem Fall wohl eher mit Vorgängen am

329 Vgl. A.  Diller, „Pausanias“, S. 94; A.  Diller, „The Manuscripts of Pausanias“, S. 169–170. Zum Briefkontakt zwischen Bessarion und Poggio Bracciolini, die sich in gegenteiligen Lagern fanden, vgl. E. Walser, Poggius Florentinus, S. 280–281, 296.

330 Eine detaillierte Aufarbeitung der Träger der Rezeption bei B.  Wagner, ‚Epistola presbiteri Johannis‘, S. 268–286.

331 Vgl. B. Wagner, ‚Epistola presbiteri Johannis‘, S. 311; zu den Sammelhandschriften s. Kap. Zwei: Anm. 253.

332 Vgl. B.  Wagner, ‚Epistola presbiteri Johannis‘, S. 211–212, zur Handschrift V9 (BAV Vat. Lat. 7317) vgl. S. 115–116, zur Handschrift P11 s. Kap. Zwei: Anm. 220; in der italienischsprachigen Tradition wurden Briefe des Priesterkönigs an die Päpste Martin V. (M) und Eugen IV. (V., N, O, P, H) adressiert oder der Papst als zweiter Adressat neben dem Kaiser (G) genannt, vgl. S. 197–198 Nr. 124.

Kapitel Zwei

Tafel 3: ‚Genuesische Weltkarte‘ Detail: nummerierte Kartenzeichen 26–304

KARTENBILD — STRUKTUREN DER DARGESTELLTEN WELT

Nachdem der Handlungsraum der Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ grob abgesteckt wurde, soll nun der Repräsentationsraum der Karte genauer untersucht werden. In der Forschung wird häufig angenommen, dass die Anwendung des ptolemäischen Koordinatensystems den auf den Karten dargestellten Raum zunehmend homogenisiert und die möglichen Bedeutungsspektren somit stark eingeschränkt habe, wobei gleichzeitig der Raum an astronomischer Zeit ausgerichtet worden wäre, was den Ausdruck geschichtlicher Zeit verdrängt habe.1 Die Frage nach den raumzeitlichen Ordnungen auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ ermöglicht es, sich im historischen Querschnitt mit diesen aus der Längsschnittperspektive getroffenen Annahmen auseinanderzusetzen. Eine der auffälligsten Eigenheiten der ‚Genuesischen Weltkarte‘ ist die Kombination der Küstenverläufe von Küstenlinien- und Ptolemaios-Karten mit einem an die Koordinaten des Ptolemaios angelehnten Liniensystem, in das die gesamte Landmasse eingepasst wurde (Kap. Zwei: I.1). Generell ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Nutzung von Küstenlinienkarten und ptolemäischen Koordinaten die Freiräume der Kartenmachenden einschränkte, schon allein, weil sie die Größenverhältnisse und Relationen mathematisch ermittelten Vorgaben unterwarf. Damit stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die Bedeutungsvielfalt von Raum und Zeit auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ erkennbar sind. Daher wird in diesem Kapitel beleuchtet, welche raumzeitlichen Strukturen Menschen der Zeit potenziell aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Kartenelemente der ‚Genuesischen Weltkarte‘ herauslesen konnten.

I. Die Erde als Teil des Kosmos

Die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ stellten die Erde auf einem Blatt Pergament und damit einer Fläche dar. Das ist nicht als bewusste Entscheidung gegen eine Umsetzung als Globus zu interpretieren, denn flächige Karten waren das üblichere Medium. Auch wenn es wahrscheinlich bereits vereinzelte Globen gab, waren diese selbst unter Kartenmachenden wenig bekannt.2 Trotz der flächigen Darstellung steht außer Zweifel, dass die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ von einer kugelförmigen Erde ausgingen, weil das der gängigen Vorstellung von der Erde entsprach.3 Zudem war die Erde nach christlicher Vorstellung in den vom biblischen Gott in sechs Tagen geschaffenen Kosmos (Gen. 1) eingebunden, der nach dem Jüngsten Gericht am Ende der Zeit vergehen und durch einen neuen

1 S. Kap. Eins: Anm. 156.

2 Der älteste erhaltene Globus, der Globus des Martin Behaim, entstand zwar erst 1492, aber es gibt Hinweise auf die Erstellung vereinzelter früherer Globen: um 1432 durch Jean Fusoris, zwischen 1440 und 1444 durch Guilaume Hobit, vgl. Patrick Gautier Dalché, „Jean Fusoris et la Géographie“, hg. von D.  Marcotte, Humanisme et Culture Géographique, S. 161–176, hier S. 169; E. Edson, World Map, S. 220.

3 Eine Zusammenstellung der Belege zum Wissen über die Kugelform der Erde liefert Rudolf Simek, „The Shape of the Earth in the Middle Ages and Medieval Mappaemundi“, hg. von P.D.A. Harvey, Hereford World Map, S. 293–303, hier S. 294–295.

Kartenbild — Strukturen der dargestellten Welt

Himmel und eine neue Erde ersetzt werden würde (Off. 21.1).4 Entsprechend finden sich, wie im Folgenden gezeigt wird, auf der Karte Hinweise auf Vorstellungen von der Existenz nicht dargestellter, aber vorstellungsweise auf der ‚Rückseite‘ der Karte verorteter Teile der Erde, von der Einbindung der Erde in den Kosmos und von Anfang und Ende der Zeiten.

Zunächst aber soll der Blick auf die Strukturierung der Zeichenfläche gelenkt werden: Im Bereich innerhalb des mandelförmigen Rahmens zeigten die Kartenmachenden der ‚Genuesischen Weltkarte‘ eine flächige detailreiche Repräsentation eines Teils der kugelförmigen Erde, die durch einen kordelartigen Rahmen (2) von einem relativ leeren Außenbereich abgegrenzt wurde, dessen Elemente die repräsentierte Welt und die Lebenswelt der Kartenmachenden miteinander verbanden. Der kordelartige Rahmen scheint die beiden Bereiche klar voneinander abzugrenzen. Der Innenraum ist der Bereich, in dem die Oikumene und damit die bewohnte Welt repräsentiert wurde. Der Außenraum ist, wie in Kapitel Zwei: III.2 bereits angesprochen, der Ort, wo die Karte als Objekt behandelt wurde: als durch Wappen (1, 7) — zu welchem Zeitpunkt auch immer — verdeutlichtes Eigentum ihrer Besitzer, als durch Maßstäbe (3, 4, 5, 6) bekräftigte technische Beherrschung der Welt. Das Zusammenspiel zwischen den Maßstäben im Außenbereich und dem Liniensystem (8) im Innenbereich verband das Kartenbild mit der physischen Welt der Kartenmachenden, was durch die ähnliche Ausgestaltung von Maßstabsleisten und Rahmen jeweils als Kordel noch betont wurde. Der Rahmen fungierte also einerseits als Grenze des Kartenbilds und damit der repräsentierten Welt und andererseits als Verbindung zwischen dem Kartenbild und dem auf die Erfahrungswelt der Kartenmacher bezogenen Außenbereich. Dabei ist unklar, wie die Abgrenzung genau zu verstehen ist. Daher werden im Folgenden auch die Beschaffenheit des Innen- und des Außenbereichs sowie deren Unterscheidungen oder Verbindungen untersucht (s. auch Kap. Drei: II und III, Kap. Vier: IV).

1. Sphärische Welt

Auch wenn auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ die Einbindung der Erde in das kosmische Sphärenmodell nicht explizit angesprochen wurde, wurde sie dennoch als Verständnishintergrund mitgedacht. Denn es gibt auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ implizite Hinweise auf die Sphären des Wassers, der Luft und des Mondes und damit auf die Sphärenhaftigkeit der Erde. Die Vorstellung von Sphärenhaftigkeit geht auf antike Autoren zurück, denen zufolge sich der Kosmos aus Sphären aufbaut, die um seinen unbeweglichen, der zeitlichen Veränderung unterworfenen Mittelpunkt, die Erde, herum angeordnet sind: zuerst die Elementesphären — Erde, Wasser, Luft und Feuer –, danach beginnend mit der Mondsphäre die bewegten, zeitlich unveränderlichen himmlischen Sphären.5 Entsprechend sind auch Weltkarten erhalten, welche auf den Sphärenzusam-

4 Zur Begrenztheit der Zeit als gedanklichen Hintergrund in Judentum, Christentum und Islam vgl. Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, „Einleitung“, hg. von Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin, 2008 (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 16), S. 5–13, hier S. V; zum christlichen Weltbild s. auch U.  Wardenga, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘: Wandlungen, S. 13.

5 Einen kurzen Überblick bieten Evelyn Edson/Emilie Savage-Smith/Anna-Dorothee von den Brincken, Der mittelalterliche Kosmos Karten der christlichen und islamischen Welt, Darmstadt, 2005, S. 9–12; vgl. auch K. A. Vogel, Sphaera terrae, S. 41, 49–50.

Kapitel Drei

menhang abhoben.6 So wurde auch in einer Vatikanischen Handschrift des Gedichts ‚La sfera‘ der Brüder Dati eine der dort abgebildeten mappae mundi von konzentrisch angeordneten Sphärenringen umgeben, was bildhaft verdeutlicht, dass der breite Ringozean als Wassersphäre gedacht war (Abb. 9).7

Auch auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ gibt es Hinweise, dass die Kartenmachenden den Ozean als Wassersphäre dachten. So erwähnten sie auch über die repräsentierten Teile der Welt hinaus – in einem auf das gerade erwähnte Gedicht der Brüder Dati zurückgehenden Schriftband im westlichen Ozean – von Wasser bedeckte Bereiche, wenn auch ohne entsprechende bildliche Umsetzung auf dem Kartenbild (Tafel 9):8

Hoc mare dicitur occeanus, qui a cosmographis infinitus descriptus. Undique terram preter eius partem … hic configuratam cooperit. Quod mare a vi lunari commotus, diebus singulis lunaribus circa terram fluit et refluit, ut ait Albertus in Naturalibus (16).

Abb. 9: Weltkarte in ‚La sfera‘ von Gregorio Dati/Leonardo Dati, Text 1422 redigiert, Folio 25,4 × 17,2 cm, Vatikanstadt, BAV, Ms Urb.lat. 752 fol. 9v

Die Kartenmachenden vermittelten also, dass der durch die Kraft des Mondes bewegte Ozean die gesamte Erde bedeckte, stellten aber auf der Karte nur denjenigen Teil der Erde dar, der aus dem Ozean herausragte. Nach diesem Schriftband und der Gesamtheit des Kartenbilds zu urteilen, stellten sich die Kartenmachenden den überwiegenden Teil der kugelförmigen Erde bedeckt vor von einem immensen, dem Tagesrhythmus des Mondes unterworfenen Ozean (10), unterbrochen von nur einer einzigen zusammenhängenden Landmasse (9). Diese umgaben

6 Beispielhaft seien genannt: die Weltkarte bei Sanudo, London, BL, Add. Ms 27376* fol. 187v–188r, deren Rahmung Edson als symbolische Umsetzung der Luft- und Feuersphäre interpretiert, vgl. E.  Edson, World Map, S. 64; die Walspergerkarte, auf der die Erde in beschriftete Sphärenringe eingeordnet wurde, Vatikanstadt, BAV, Pal.Lat. 1362.pt.B, Transkription U.  Kleim, Namengut, S. 2–3 Nr. E-O; die kleinen in ein Sphärendiagramm eingeordneten mappae mundi in den beiden erhaltenen Handschriften von Benedetto Cotruglis ‚De navigation‘: nur ansatzweise ausgeführt in New Haven, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Beinecke MS 557 fol. 7r; vollständig ausgeführt in Florida, Lawrence J. Schoenberg Collection, Ms LJS 473 fol. 8r. Pierre d’Ailly gliederte um 1410 in ‚Imago mundi‘ die Erde in ein ungewöhnliches Sphärendiagramm ein: Die Erdoberfläche ragt nur auf einer Seite des Erdenrunds aus dem Wasser des Ozeans, wobei beide als exzentrische Kreise in ein ansonsten konzentrisches Sphärendiagramm eingeordnet wurden, Cambrai, Médiathèque Municipale, Ms 954 fol. 4v.

7 Die von Sphären umgebene Weltkarte in der Handschrift Vatikanstadt, BAV, Urb.Lat. 752 fol. 9v, von Gregorio und Leonardo Datis ‚La sfera‘ findet sich beim Abschnitt zu den Elementen. Noch größer als in der Handschrift wurde der Ringozean im Inkunabeldruck von 1475 umgesetzt, Gregorio Dati/Leonardo Dati, La sfera, Venezia, 1475, S. 21.

8 Zum Gedicht der Brüder Dati als Quelle dieses Schriftbands s. Kap. Zwei: Anm. 261.

sie mit mehreren kleineren Inseln, einige davon indexikalisch objektbezogen, andere ohne erkennbares Objekt arbiträr geformt. Vermutlich wurde in einem heute unleserlichen Teil des Schriftbands das Verhältnis von Wasser zu Land noch genauer eingegrenzt. Damit wird deutlich, dass die Kartenmachenden von einer von Ozean bedeckten ‚Rückseite‘ ihrer Karte ausgingen. Bestätigt wird das selbstverständliche Wissen um die Kugelform der Erde noch durch ein Schriftband (754) ganz im Süden des Indischen Ozeans (Tafel 12). Diesem Schriftband zufolge wurde im Indischen Ozean nach den Sternen des südlichen Pols gesegelt, weil die nördlichen verborgen waren, was nur bei einer kugelförmigen Erde möglich ist.

Zudem thematisierte das Schriftband zum Ozean den Einfluss des Mondes auf die Tiden des Ozeans (Kap. Zwei: II.3). Zwar wurde dabei die sphärische Ordnung des Kosmos nicht ausdrücklich angesprochen, aber diese Vorstellungen waren im Allgemeinen eng miteinander verbunden. Das zeigen zwei Kartenbeispiele, welche die Gezeiten, die Wirkung des Mondes und die Elementesphären in Verbindung darstellen. So finden sich auf dem Katalanischen Weltatlas von c. 1375 neben einem Gezeitendiagramm, das den Gezeitenverlauf von Gibraltar bis zur Bretagne verdeutlichen sollte, ausführliche Erläuterungen zu den Elementesphären gefolgt von Ausführungen zur Abhängigkeit der Gezeiten vom Mond.9 Und Fra Mauro platzierte Erläuterungen zum Einfluss von Mond und Sonne auf die Tiden neben ein Sphärendiagramm, das deutlich zeigt, wie die Sphäre des Mondes als innerste der himmlischen Sphären die Elementesphären umschloss.10

Außerdem verweisen auf der ‚Genuesischen Weltkarte‘ Andeutungen über einen Zusammenhang zwischen dem Ozean und der Sphäre der Luft auf Vorstellungen von einer sphärenhaften Ordnung des Kosmos. In einem im äußersten Osten platzierten, auf die Inseln Sanday und Bandan (805, 806, vermutlich Region Borneo, Indonesien, Molukken) bezogenen Schriftband sprachen die Kartenmacher erneut den Ozean auf der ‚Rückseite‘ der Welt an (Tafel 12): „Ultra has insulas nulla est amplius hominibus nota habitacio neque facilis nautarum transitus, quoniam arcentur ab aere navigantes (804).“11

Demnach war das Meer jenseits der Inseln Sanday und Bandan — also der nicht dargestellte Teil des Ozeans –, so weit unter Menschen bekannt, nicht besiedelt. Die Seefahrt dort wurde als möglich, aber schwierig bezeichnet, weil die Fahrenden von der Luft abgehalten würden. Einerseits bekräftigte dies noch einmal die Aussage aus Schriftband 16, wonach der gesamte nicht dargestellte Teil der Erde vom Ozean bedeckt war und sich dort nach menschlichem Wissen keine weiteren Inseln fanden. Allerdings wurde diese Feststellung damit auch eingeschränkt, denn die Formulierung „den Menschen bekannt“ (hominibus notum) ließ Raum für zukünftige menschliche Entdeckungen und auch für göttliches Vorwissen. Darüber hinaus hob das Schriftband eine weitere Eigenheit dieses Teils des Ozeans hervor: das Zusammenspiel zwischen Wasser

9 Paris, BnF, DMS Esp. 30 Tafel 1; Transkription G.  Llompart i Moragues/R. J.  Pujades i Bataller/J. Samsó Moya, L’Atles català, S. 81 Nr. 1, S. 87 Nr. 3, S. 91 Nr. 9, G. Grosjean, Der katalanische Weltatlas, S. 38 Nr. B, S. 41–42 Nr. 3, S. 43–44 Nr. 9.

10 Venedig, BNM, Fra Mauro mappa mundi; Transkription P. Falchetta, Fra Mauro’s World Map, S. 724–726 (Nr. 2924); vgl. auch A. Cattaneo, Fra Mauro’s Mappa Mundi, S. 112–116.

11 Die Vorstellung Bewegungen verhindernder Luft findet sich auch im Gedicht ‚La sfera‘ der Brüder Dati, und zwar unmittelbar vor der Textstelle zum Ozean: „Quella aria pura in quella regione / Ripugna e non consente mutationi: / E come se patisse offensione / Quando vi giungon queste exalatione / Giù le richaccia, e per cotale ragione / Questa aria ne riceve passione, / Onde si muove forte, e questo el vento, / Che al mare e la terra dà tormento.“ Vatikanstadt, BAV, Urb.Lat. 752 fol. 11v; Transkription leicht abweichend Leonardo Dati, La sfera, hg. von G. C. Galletti, II.15.

Kapitel Drei

T ERRARVM O RBIS

General Editors of the Series Collection dirigée par Patrick Gautier Dalché et Nathalie Bouloux

Dieses Buch lenkt den Fokus auf die Rolle vormoderner Karten als potenzielle Stimmen, die Überzeugungen und Handlungsaufforderungen vermittelten. Es stellt ein neues Konzept zur Analyse vormoderner Karte vor und setzt es am Beispiel der sogenannten ‚Genuesischen Weltkarte‘ von 1457 um, einer anonymen, dem nordmediterranen Raum entstammenden Karte, von der weder der genaue Erstellungsort noch der unmittelbare Nutzungskontext bekannt sind. Im ausgehenden Mittelalter beschäftigten sich verschiedenartige Kreise intensiv mit geographischen und kartographischen Fragen. Zusätzlich zu den Zeugnissen gelehrter Mönche und Kleriker wird nun das Interesse von weltlichen Gelehrten, Fürsten, Notaren, Händlern, Seefahrern und humanistischen Zirkeln an Karten greifbarer. Angeregt wurde dieses Interesse durch das Anwachsen des Wissens über die Welt. Lateineuropäische Reisende und Gesandte aus fernen Ländern berichteten über ihre Erfahrungen aus Asien und Afrika. Frühe Humanisten fanden Handschriften fast vergessener antiker Werke wieder, so dass sich der Blick auf das Autoritätenwissen änderte. Insbesondere die spätestens 1409 fertiggestellte lateinische Übersetzung der ‚Geographia‘ des Alexandriner Astronomen Klaudios Ptolemaios machte Furore und wird in der Forschung als Anstoß einschneidender Veränderungen der Kartographie gesehen.

Der Abgleich der ‚Genuesischen Weltkarte‘ mit Karten aus über 130 Archivsignaturen zeigt, dass sie sich in mehrfacher Hinsicht von den üblichen Karten des 14./15. Jahrhunderts der nordmediterranen Region abhebt. Ihre Kartenmacher waren keine konventionellen Ersteller von Küstenlinienkarten oder Serienkarten. Vielmehr waren sie humanistisch interessiert, mathematisch gebildet und entstammten wahrscheinlich dem Umfeld der Kurie und des Konzils von Ferrara-Florenz (1438-1445). Es greift zu kurz, ihre innovative Anlehnung an Ptolemaios als Verengung des Fokus rein auf topographische Genauigkeit zu deuten, vielmehr zeichneten sie ein raumzeitliches, als kohärente heilsgeschichtliche Erzählung zu verstehendes Bild der Welt.

Die Autorin

Gerda Brunnlechner lehrt und forscht an der FernUniversität in Hagen. Die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen auf der Geschichte der Kartographie sowie der Vorstellungen über Raum- und Zeit.

Umschlagbild:

Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Portolano 1. Detail: Der König von Indien, das Grab des Apostels Thomas und die Gog. (Reproduktion mit der Genehmigung des Ministero Cultura / Biblioteca Nazionale Centrale, Firenze)

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