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Der Sand der Gezeiten
by Brillux
UNAUFHÖRLICH RINNT DER SAND DURCH DIE UHR. KORN FÜR KORN. EIN STROM DER ZEIT, BEI DEM DAS ENDE STETS IM BLICK VERBLEIBT. EIN URALTES SEDIMENT, DAS FÜR UNS VIEL MEHR ALS NUR VERGANGENE SEKUNDEN FESTHÄLT.
Echte Sanduhren sind heute anachronistische Überbleibsel und zumeist eine Mahnung für gründliches Zähneputzen. Ihr „Laufwerk“ kann aber genauso gut an den traumhaften Strand des letzten Urlaubs erinnern. An das Gefühl, die Zehen in den warmen Sand zu bohren und zwei Wochen später die letzten Körner wehmütig zu Hause aus dem Koffer zu schütteln. Sand ist so vielfältig. Das mineralische Material ist Rohstoff, Lebensraum und Symbolträger – der Sandmann lässt grüßen.
Was bleibt, ist Quarz
Sand ist nicht gleich Sand. Die mineralische Zusammensetzung unterscheidet sich von Ort zu Ort. Zahlreiche der weltweiten Sandvorkommen bestehen jedoch zu großen Teilen aus Quarzkörnern, da das – auch Siliziumdioxid genannte – Mineral besonders widerstandsfähig und verwitterungsbeständig ist. Somit bleiben von ihm, nachdem anfälligere Bestandteile im Laufe der Zeit längst zermahlen wurden, sichtbare Körner übrig. Sande können tatsächlich Millionen von Jahren alt sein. Ihre Korngröße beträgt zwischen 0,063 mm und 2 mm. Alles darüber wird in der Regel als Kies, alles darunter als Schluff bezeichnet, es gibt jedoch auch alternative Eingrenzungen.
Sand in der Zahnpasta? Sicher.
Sand ist ein Alleskönner in der Industrie. Er ist der Grundstoff für die Glasherstellung, wird für Zement und Beton benötigt und findet sich als Silizium in Mikrochips und als Putzkörper in Zahnpasta wieder. So unglaublich verfügbar er scheint, ist er doch eine endliche Ressource und deshalb weltweit begehrt. Das liegt auch daran, dass sich nicht jede Sorte Sand als Rohstoff eignet. Wüstensand ist beispielsweise zu fein, um der Betonherstellung zu dienen, und ist daher für Bauwerke ungeeignet.
Kunst aus der Wüste
The Foundry, eine Kreativgemeinschaft des in Dubai ansässigen Designstudios Tinkah, hat eine besondere Verwendung für diese Art von Wüstensand erforscht. Inspiriert von den umgebungstypischen Wanderdünen, haben die Designer ein neues Material mit dem Namen „Ramel“ entwickelt, das die Eigenschaften von Wüstensand in ein formbares Medium verwandelt. The Foundry hat daraus Kaffeebecher kreiert, die die traditionelle Kaffeegeschichte der Region aufgreifen und dem allgegenwärtigen Sand eine neue Rolle zuweisen.
In den Sand gesetzt
Allgegenwärtig ist Sand auch in unserer Sprache. Was im Sande verläuft, wird nichts Konkretes mehr. Wer den Kopf in den Sand steckt, verschließt sich vor der (empfundenen) Realität. Was es wie Sand am Meer gibt, kann nichts Exklusives sein. Positiv aufgeladene Redewendungen sind selten, was überrascht, da Sand als Naturmaterial – und Farbe – häufig als harmonisch, einladend und beruhigend empfunden wird.
Gigantische Bilder am Strand Harmonische Strukturen finden sich auch in den Strandkunstwerken von Andres Amador. Der in San Francisco lebende Künstler harkt bei Ebbe geometrische, manchmal mehr als ein Fußballfeld umspannende Muster in den Sand. Seine Kunstwerke hat Andres Amador bereits an Stränden in der ganzen Welt kreiert, hauptsächlich entstehen seine „playa paintings“ aber im Norden Kaliforniens. Er genießt es, Menschen mit ihnen zu begeistern und an den Wert des Augenblicks zu erinnern. Denn nach etwa zwei Stunden Arbeit kommt unwiderruflich die Flut und löscht seine Bilder wieder aus. Für ihn ein konstantes Memento, die Gegenwart zu schätzen, während sie geschieht. Die Planung für seine „Gemälde“ ist komplex, die Ausführung letztendlich jedoch minimalistisch: Seil, Harke und sich selbst, mehr braucht Amador nicht.
Winziges Leben zwischen den Körnern
Die riesigen Kunstwerke könnten größentechnisch nicht im stärkeren Gegensatz zu den Lebewesen stehen, die den Sand derweil bevölkern. Denn in den Lücken zwischen den Körnern wohnen tat- sächlich Tausende Arten mikroskopisch kleiner, teils bizarrer Lebensformen – die Sandlückenfauna. Wer hier lebt, ist widerstandsfähig. Denn extreme Temperaturschwankungen und Wechsel zwischen Nässe und Trockenheit sind völlig normal. Bärtierchen, Plattwürmer und viele andere Bewohner haben sich daran angepasst. So winzig sie sind, ihre Bedeutung für das Ökosystem ist enorm. Ohne ihre Fressleistung würden Strände an organischem Material „ersticken“.
Gnomenhaft und monumental – Industrie und Kunst – Zeit und Raum – Sand vereint Gegensätze. Er beeinflusst große Teile des Lebens, oft völlig unbemerkt. Und manchmal eben doch ganz bewusst als realer, aber auch mentaler Rückzugsort. In diesem Sinne: schöne Fünf-Minuten-Auszeit am Gedanken-Strand – mit oder ohne Sanduhr.