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Höhle und Bühne

Zwei Innenraumtypen wie Tag und Nacht

Stellen Sie sich vor, Sie suchen Schutz, vor der Kälte und dem Regen, vor wilden Tieren oder Menschen, die Ihnen nicht wohlgesonnen sind.

Sie mögen sich nicht länger den Blicken anderer aussetzen, wollen Ihre Angst verlieren, sich unbedroht fühlen, Stress abbauen oder zu sich selbst finden. Wie sollte der Raum aussehen, der Sicherheit suggeriert und als Refugium dienen kann? Welche Farben und welchen Charakter sollte er aufweisen?

Während des Historismus wurde die eigene Wohnung, wenn möglich, als ein Hort des Sicherheitsbedürfnisses gestaltet, getreu dem Motto: „My home is my castle.“ Draußen herrschten die Wolfsgesetze des Kapitalismus. Dort musste man kämpfen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern und den eigenen Status zu behaupten. Mit den Worten Schillers gesagt: „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben.“ Der private Raum der Wohnung war dagegen weiblich konnotiert. Im trauten Heim traf der vom Daseinskampf ermattete Mann auf seine liebende Gattin und die wohlerzogenen Kinder. Dort konnte er sich zur Entspannung den Musen widmen. Damit habe ich zwar ein recht überholtes Rollenbild beschrieben, aber es geht ja um vergangene Zeiten. Selbst Matisse meinte noch, dass seine Bilder den müden Geschäftsmann nach Feierabend so erquicken würden wie ein guter Lehnstuhl.

Wir müssen uns nicht lange den Kopf zerbrechen, wie solche Räume, die Schutz und Sicherheit verheißen, auszusehen haben. Wir können stattdessen historische Wohnbereiche und Örtlichkeiten vom hortus conclusus (der umfriedete Garten der Mariensymbolik) über die Kemenaten der Burganlagen und die Studiolos der Renaissance bis hin zu den

Interieurs des Historismus und Jugendstils studieren. Dabei sollten Farbfragen möglichst empirisch betrachtet und geschaut werden, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Kulturen Lösungen für Probleme gefunden haben, die uns bis heute beschäftigen.

Der Raum als sicherer Schutz

Aber zurück zu den Refugien. Es herrschten, wie in diesem Bild von Rudolf Ritter von Alt aus dem Jahre 1881, welches das Büro des Grafen Lanckoronski wiedergibt (Abb. 1), eher warme, rötliche und bräunliche Farben vor, die den Raum enger und nahsichtiger machen. Die Außenwelt ist dabei weitgehend ausgeschlossen. Fenster werden mit vielen Schichten von Vorhängen verdeckt und es herrscht eine stimmungsvolle Dunkelheit. Die vier Wände sind farblich ähnlich gestaltet, sodass sie einen einheitlichen Raum suggerieren. Ihre Buntheit ist gedämpft, ausgewogen und vereinheitlicht. Was ihren Hell­Dunkel­Wert betrifft, bewegen sie sich auf einer mittleren Ebene. Die Objektgrenzen verschwimmen, die Kontraste sind gering und eine Fülle kleiner Glanzlichter erschwert die Wahrnehmung des Gesamtraums. Auffällig ist, dass diejenige Farbe fast völlig fehlt, die an den Wänden unserer heutigen Räume dominiert, nämlich das Weiß.

Es kommt hier, wie auch sonst, nicht so sehr auf die genaue Bestimmung einer Farbnuance an, sondern darauf, was die Farbe in der gegebenen Situation tut. Weiß würde zu sehr das grelle Tageslicht evozieren. Würde man sich sicher fühlen? Die Wände sollten stabil erscheinen und eine gewisse Undurchdringlichkeit und Stärke ausstrahlen. So überwiegen „warme“ Materialien wie Holz oder gewebte Stoffe. Die Formen greifen einander auf und wiederholen sich. Selbst die Geräusche werden durch das Übermaß an Stoffen, Teppichen etc., die die kahlen Oberflächen überziehen, gedämpft. Der Raum sollte auch nicht zu groß sein. Vielmehr wird ein Kokon, eine schützende Umhüllung gewünscht.

Höhlen: Das Urbild eines schützenden Raums mit stabilen, „warmen“ Materialien und Farben, in den man sich zur Erholung und Genesung zurückzieht.

Das Urbild eines schützenden Raums ist offenbar die Höhle, in die man sich zur Erholung und Genesung verkriecht. Die Tendenz, sich bei Schwierigkeiten und Verletzungen in einem für Feinde unzugänglichen Bau zu verstecken, teilt der Mensch mit sehr vielen Tieren.

Verhältnis von Mensch und Raum

In den Wohnungen des Historismus (und darüber hinaus) gibt es häufig einen Kamin, was in nördlichen Breiten wohlige Wärme suggeriert, sowie sinnliche Texturen, die zur Berührung einladen, und vielerlei kleinteilige Muster und Objekte. Die Sitzgelegenheiten bestehen aus bequemen Sofas und Sesseln. Man kann sich entspannen, sich sammeln, ein gutes Buch lesen oder die Kunstwerke an den Wänden betrachten, die im Idealfall von Künstler/-innen stammen, mit denen man persönlich bekannt ist – genauso, wie man eigentlich mit allen Objekten des Raums vertraut ist. Erst hier können die empfindsamen Bewohnenden sich ihres Besitzes erfreuen. Anscheinend soll von der Wohnumgebung eine therapeutische Wirkung ausgehen. Es scheint, dass wir unseren Einrichtungsstil häufig als Kompensation für erlebte Traumata nutzen. An dieser Stelle muss auch der Aspekt der Dimensionierung erwähnt werden. So gibt es auch höhlenartige Räume in sehr großen Dimensionen, die einen ebenfalls allseits umgeben und in die man eintauchen soll, wobei man sich dann allerdings klein fühlt. Man denke etwa an die Hagia Sophia in Istanbul. Auch dort herrscht vorrangig Dunkelheit und es gibt keine visuelle Verbindung zur Außenwelt. Selbst in diesem Fall fühlt man sich geborgen, wenn auch nicht so sehr als Individuum denn als Glied einer Gemeinschaft.

Öffnung zur Außenwelt

Geht man im Gegensatz zum Erläuterten davon aus, dass es einem irgendwann in der Schutz bietenden Geschlossenheit der Höhle zu viel wird, entsteht eine andere Situation. Die schützende Höhle fühlt sich dann wie ein Bunker oder ein Gefängnis an, sodass sich sogar Gefühle von Klaustrophobie einstellen mögen. Welche Räumlichkeiten würde man dann vorziehen? Wie sollten diese gestaltet sein und welche Farbgebung würde man wählen? Und was sollte die Farbe in diesem Fall leisten? Wenn für ein Gefühl von Schutz die Farbe vereinheitlichen soll, uns umhüllen und die Raumwahrnehmung auflösen soll, so kann man annehmen, dass sie im gegensätzlichen Fall gliedern, trennen und aufbrechen soll. Damit wären stärkere Stimuli, das heißt entschiedenere und stärkere Farbkontraste erwünscht. Ein oder mehrere Durchlässe, großzügige Fenster, die den Blick nach außen erlauben, Frischluft und pralles Sonnenlicht sind dann mehr als nur willkommen. Auch hier können wir uns auf historische Beispiele beziehen. Bereits der Jugendstil bringt gegenüber dem Historismus eine gewisse Öffnung mit sich. Als uns näherliegende Beispiele einer Wohnumgebung, die sich um Öffnung zur Außenwelt bemüht, können wir das Meisterhaus für Kandinsky und Klee in Dessau aus dem Jahre

1925, aber auch Le Corbusiers Doppelhaus in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart oder das Schröder-Rietveld-Haus in Utrecht heranziehen. Die starkfarbigen Wände zerstören in diesen Beispielen den einheitlichen Raumeindruck. Er wird auch dadurch unterlaufen, dass dreidimensionale Elemente wie Pfosten, Träger oder Treppenstufen unterschiedlich helle Seiten aufweisen, die der Beleuchtungssituation entgegenwirken. Statt Abschirmung herrscht größtmögliche Transparenz und die Außenwelt wird, wie auch ein von Moholy-Nagy gestaltetes Titelblatt von 1931 zeigt, über riesige Fenster hereingeholt. Beim Aufbrechen der Höhle (oder Schachtel, wie Frank Lloyd Wright es nennt) sind demnach starke Stimuli, Kontraste und Brüche willkommen. Die kahlen, nackten Wände müssen nicht mehr verkleidet werden. Materialien wie Glas und Metall strahlen Kühle aus. Entsprechend herrschen bläuliche, grünliche und vor allem helle Farben vor, was die Räume optisch weiter werden lässt und einen Außenbereich suggeriert. Häufig werden sie auch transparent aufgetragen oder als starke Signale großflächig auf gegeneinander abgesetzte Flächen verteilt. Das erzeugt wiederum Dynamik. Statt Stabilität und Festigkeit wird so Leichtigkeit, Beweglichkeit und Offenheit angestrebt. Die weitgehend leeren Räume gehen dann fließend ineinander über, wie es insbesondere der Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe zelebriert.

Räumliche Orientierung

Die beschriebene Phase der Mitte der 1920er-Jahre, bei der einzelne Wände durch starke Farbakzente den einheitlichen Raumeindruck aufbrechen, erlebt in der heutigen Zeit eine Renaissance, jedoch mit einer anderen Intention. Einzelne Wände sowie die Decke in unterschiedlichen Farben zu gestalten wurde in den 1930er-Jahren des letzten Jahrhunderts meist zugunsten einer gleichförmigen Bemalung mit Weiß aufgegeben. Damit wird die Erzeugung der Farbstimmung der beweglichen Ausstattung überlassen. Nur die Böden stechen ab. Da tagsüber die Lichtstärke unter freiem Himmel um ein Vielfaches stärker ist als in Innenräumen, suggeriert eine weiße Wandfarbe den Außenbereich und lässt die Räume größer erscheinen. Da zwischen Licht- und Schattenzonen sehr viele Abstufungen unterschieden werden können, erleichtern selbst weiße Oberflächen die räumliche Orientierung. Das Urbild dieser Art von Räumen kann dem halböffentlichen Bereich, der Galerie in der Schlösserarchitektur, der Lobby oder sogar dem öffentlichen Raum, der Straße oder dem Platz zugeschrieben werden – Orten, an denen helles Tageslicht herrscht und man sich mehr oder weniger frei bewegen kann. Man befindet sich gleichsam auch auf einer Art Bühne, sichtbar für alle anderen.

Höhle versus Bühne

Wenn wir idealtypisch die unterschiedlichen psychischen Bedürfnisse nach Schutz einerseits oder aktiven Handlungsmöglichkeiten andererseits einander gegenüberstellen, wie sie die Höhle und der halboffene bühnenartige Raum mit

Bühnen: diversen Öffnungen nach außen verkörpern, so wird klar, dass jeder Mensch je nach Tageszeit, individueller Befindlichkeit oder Aufgabenstellung andere Räumlichkeiten bevorzugen dürfte. Wer genug Platz hat, kann für unterschiedliche Bedürfnisse Räume unterschiedlich gestalten. Wem dies nicht möglich ist, der versucht wahrscheinlich innerhalb eines Zimmers verschiedene Zonen zu differenzieren oder den Raum nach seiner wichtigsten Funktion hin auszurichten.

Das Urbild halböffentlicher Bereiche, des öffentlichen Raums sowie von Galerien und Lobbys, in denen helles Tageslicht herrscht und man sich frei und sichtbar für andere bewegt.

Kriterium: Tag-und-Nacht-Rhythmus

Man kann die beiden hier vorgestellten Raumtypen nach der Polarität von privat und öffentlich oder auch nach passiv und aktiv sortieren. Sinnvoll erscheint auch eine Ordnung nach Tageszeiten, da dies die biologisch fundamentalere Kategorie ist. Die Erkenntnis, dass es im Auge neben Zapfen und Stäbchen auch spezielle fotosensitive Ganglienzellen gibt, die auf einfallendes Licht reagieren, ist relativ neu. Deren genaue Wirkungsweise wurde erst vor etwa 15 Jahren erkannt. Diese Ganglienzellen spielen eine große Rolle bei der Regulierung des Tag-und-Nacht-Rhythmus. Sie steuern über die Zirbeldrüse die Ausschüttung des Hormons Melatonin. Dieses wird bei Dunkelheit gebildet und sorgt für Schläfrigkeit. Umgekehrt wird, wenn die erwähnten Ganglienzellen helles Tageslicht empfangen, die Produktion von Melatonin unterbunden. Dies bewirkt eine Reihe anderer Veränderungen im Gehirn, in deren Folge sich der Mensch wach fühlt. Aus diesem Grund hat man inzwischen bei Bildschirmen weitgehend darauf verzichtet, sie während der Nachtzeit mit tiefblauem Hintergrund zu versehen, wie es zeitweise beliebt war. Damit soll verhindert werden, dass, wer abends am Bildschirm sitzt, nicht noch zusätzlich am Schlafen gehindert wird, weil durch das blaue Licht kein Melatonin produziert wird. Viel eher wird geraten, Blaulicht aus den bestehenden Bildschirmen herauszufiltern (Inwieweit der digitale Raum, in dem der Mensch zunehmend mehr Zeit verbringt, mit der inneren Uhr übereinstimmt, wäre eine eigene Untersuchung wert.).

Einfluss auf die Wahrnehmung

Es dürfte einleuchten, dass man die Höhle vorzugsweise am Abend aufsucht, wenn die Melatoninproduktion in Gang kommt und man sich so die nötige Bettschwere verschafft. Was die Raumbeleuchtung betrifft, regeln wir dann das Licht herunter und bevorzugen eine eher langwellige, gelblich-rötliche Lichtquelle. Im Halbdunkel kommt es zum sogenannten „mesopischen“ Sehen, bei dem die Stäbchen (die bei geringer Helligkeit noch ein Sehen erlauben) bereits den Farbeindruck mitbestimmen und auch die Sehschärfe vermindert wird. Da die Stäbchen ihre maximale Empfindlichkeit eher im blau­grünen (statt wie die für das Farbensehen entscheidenden Zapfen im gelb-grünen) Bereich haben, kommt es zum Purkinje­Effekt, das heißt, blaue Farben wirken im Dämmerungslicht heller und rote entsprechend dunkler.

Es gibt eine Reihe körperlicher Vorgänge, die mit der Ausschüttung von Melatonin verbunden sind, wie die Stärkung des parasympathischen Nervensystems sowie eine Erholung des Immunsystems. Umgekehrt fühlen wir uns tagsüber, wenn durch die Aktivierung der entsprechenden fotosensitiven Ganglienzellen durch helles, eher blaustichiges Tageslicht die Produktion von Melatonin unterbunden ist, wach, aktiv, beweglich, fokussiert und erreichen die Höhe unserer Leistungsfähigkeit. Die Stimmung hebt sich, Dopamin wird ausgeschüttet, was für Motivation sorgt und uns anregt. Auch die Toleranz für Schmerz ist erhöht und es wird vermehrt Testosteron und Östrogen gebildet. Beim dabei gegebenen „photopischen“ Sehen erreicht die Sehschärfe ebenso ihr Maximum wie die der Raumwahrnehmung.

Die beiden skizzierten Modi unseres Körpers je nach Vorliegen oder Abwesenheit von Melatonin führt zu unterschiedlichen Bedürfnissen hinsichtlich unserer Umgebung. Sie lassen sich nicht nur im Wohnbereich, sondern auch bei anderen Bauaufgaben unterscheiden. So changiert etwa die Ausstellungs- und Museumsgestaltung zwischen der Einheitlichkeit und Geschlossenheit der sogenannten Period Rooms (Epochen- oder Stilräume), in die man möglichst als Einzelner eintauchen soll, um das Gebotene zu kontemplieren. Im Gegensatz dazu existiert auch der sogenannte White Cube (oder eine Aneinanderreihung solcher White Cubes). Die Period Rooms zeichnen sich durch einen einheitlichen Farbklang aus und veranlassen einen, sich in ihre geschlossene Welt einzustimmen (Abb. 2, Seite 29). Der offene Grundriss in Museen der 1980er-Jahre verleitet dagegen dazu, ständig von Raum zu Raum weiterzuwandern. Aber auch hier zeichnet sich inzwischen eine deutliche Veränderung ab. Man geht wieder dazu über, wie es in den älteren Museen des 19. Jahrhunderts der Fall war, die Wände farbig zu gestalten. Denn da auf einer weißen Wand sämtliche Farbwerte eines Exponats ins Dunkle verschoben werden, bildet sie keineswegs immer einen geeigneten Hintergrund.

Individuelle Unterschiede

Es geht nicht darum, die zwei Modi bzw. körperlichen Zustände gegeneinander auszuspielen. Beide haben ihre Vorzüge und Notwendigkeiten. Zudem gibt es individuelle Aspekte und Unterschiede, wie etwa das Alter, die beeinflussen, welchen mittleren Grundzustand der Mensch bevorzugt. Wichtig ist, dass eine Änderung der physischen Umgebung, wie sie durch helles Tageslicht oder stimmungsvolle Dunkelheit erreicht wird, die innere Befindlichkeit verändert. Auch umgekehrt wird der Mensch, je nach innerer Befindlichkeit und Aufgabenstellung, bestimmte physische Umgebungen bevorzugen. Dies gilt nicht nur für den Vergleich der Wachheit am Tag und am geruhsameren Abend sowie teilweise auch während des Jahreszeitenwechsels, sondern sogar während des eigentlichen Wachzustands. Selbst da wechseln sich aktivere und passivere Phasen ab.

Eine ausdrucksstarke Bühne: Das Konzept für die Ausstellung „draw love build“ im Museumsquartier M9 in Mestre 2021 von dem Architekturbüro Sauerbruch Hutton aus Berlin basiert auf einer charakterstarken Kombination aus einem großen stützenfreien Ausstellungsraum mit weißer Decke und Holzboden sowie einer Farbgestaltung, bei der jede Wand eine unterschiedlich kräftige Farbe erhält.

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