Der Stehaufmann

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Der Stehaufmann


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Vom Unternehmer zum IV-Rentner

Ein folgeschwerer Routineeingriff

Das Leben steckt voller Überraschungen. Dass nicht alle wünschenswert sind, ist selbstredend. Eduard Maag, ein zuvorkommender Mann mittleren Alters, kennt die ganze Bandbreite. Vor drei Jahren hat er sich bei Brüggli gemeldet. Vom Leben durchgeschüttelt, wollte er seinem Tag wieder Struktur geben. Er hat sie im Co-Packing gefunden, wo er halbtags arbeitet. Wer ihm auf dem Gang begegnet, fragt sich, was dieser stets mit Hemd, Pullover und passendem Schal gekleidete Herr hier eigentlich sucht. Würde er sich als Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens vorstellen – man glaubte ihm. Kein Wunder: Der gelernte Maurer führte während 16 Jahren ein Maler- und Gipsergeschäft. Bis sein Leben eine dramatische Wende nahm.

Das Familienunternehmen beschäftigte bis zu 35 Mitarbeitende und zählte namhafte Schweizer Grossunternehmen zu seinen Kunden. Eduard erinnert sich an viele spannende Projekte. Es lief gut. Dass eine routinemässig durchgeführte Operation eines Leistenbruchs daran etwas ändern sollte, war schwer vorstellbar. Am Abend hätte er wieder zu Hause sein sollen, sein Leben weitergehen wie bisher. Stattdessen verbrachte er die darauffolgenden drei Jahre in Kliniken, wo er das Gehen neu erlernte. Komplikationen bei der Teilnarkose führten zu einer Lähmung der Beine und zu starken Rückenschmerzen. Noch heute – 20 Jahre später – leidet er unter den Schmerzen und unter Gefühlsstörungen in den Beinen. Langes Sitzen ist seither ein Problem.

Völlig unerwartet gerät Eduards Leben komplett aus den Fugen.


Eine harmlose Operation hat aus dem erfolgreichen Unternehmer einen IV-Rentner gemacht.

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Nichts ist mehr, wie es war

Ein Mann der Prinzipien

Der Schicksalsschlag belastete auch Eduards Psyche. «Plötzlich wird einem bewusst, was alles weg ist, was man alles nicht mehr können wird», sagt er. Ein Totalausfall als selbständiger Unternehmer wird zudem rasch zur Bedrohung für die eigene Existenz: Löhne, Materialkosten, Kosten für die Infrastruktur fallen weiterhin an; der Schuldenberg wächst schnell. Eduard erhält juristische und psychiatrische Unterstützung. Dass er die Firma aufgeben muss, ist unvermeidbar. «Glücklicherweise haben alle Mitarbeiter wieder eine Stelle gefunden», sagt er. Die Schulden habe er allesamt begleichen können; dafür habe er gekämpft.

Eduard Maag ist keiner, der so leicht aufgibt. Er hat seine Prinzipien – Beschwerden hin oder her. Rechtschaffenheit ist ihm wichtig: Er betont, dass er noch nie betrieben worden sei. Dafür war ihm kein Verzicht zu hoch: Lieber gibt er seine Wohnung auf, bleibt eine Zeit lang ohne fixes Dach über dem Kopf und vernachlässigt die Ernährung, als Rechnungen nicht begleichen zu können. Warum hat er in Anbetracht der Umstände nicht einen einfacheren Weg gewählt? Er sei so erzogen worden. Bis er einer Beistandschaft zustimmt, die ihn in finanziellen und administrativen Angelegenheiten entlastet, muss es in seinem Leben nochmals drastisch bergab gehen.

Lieber stellt er die eigenen Bedürfnisse zurück, als Rechnungen nicht begleichen zu können.


Sanfter Wiedereinstieg Eduard wusste, dass seine Gesundheit keine körperlichen Belastungen mehr zulassen würde. Damit war auch ein Wiedereinstieg in seinen erlernten Beruf ausgeschlossen. Mithilfe der IV liess er sich umschulen und absolvierte ein Bürofachdiplom. Das ermöglichte ihm, mit einem kleinen Arbeitspensum beruflich wieder Fuss zu fassen: als Finanzsachbearbeiter. Anschliessend arbeitete er ein Zeit lang als Hauswart mit Aufgaben, die auf seine gesundheitliche Situation zugeschnitten waren.

Berg- und Talfahrt Es ging sachte bergauf und Eduard Maag fand schliesslich eine Stelle, die seinen Fähigkeiten als ehemaligem Unternehmer Rechnung trug. In einem Gipsergeschäft leitete er während sieben Jahren den Kundendienst, führte neun Mitarbeitende und betreute jährlich bis zu 250 Liegenschaften. Eduard kommt ins Schwärmen, wenn er davon erzählt. Die Abwechslung habe ihm gutgetan und natürlich der gute Lohn, der half, die Schuldenlast weiter zu minimieren. Von einigen körperlichen Einschränkungen abgesehen,

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Eduard hat vieles verloren, nicht aber seinen Humor.


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denen das Jobprofil Rechnung trug, herrschte so etwas wie Normalität. Mit dem Erfolg stiegen allerdings auch die Anforderungen. Körperliche und psychische Beschwerden nahmen wieder zu und es folgte der totale Zusammenbruch.

psychischen Symptome bedingen, wo sich der Auslöser befindet. Heute fühlt er sich einigermassen stabil; mehr als ein Dutzend verschiedene Medikamente helfen ihm, den Alltag zu bewältigen.

In der Klinik

Erblich vorbelastet

Solche Krisen, in denen gar nichts mehr geht, hat er viele erlebt; die psychischen Beschwerden begleiten ihn bis heute. Unzählige Spitäler und Kliniken waren temporär sein Zuhause; die Odyssee ist nur schwer rekonstruierbar. Mit der Zeit liess sich auch nicht mehr ergründen, wie sich die körperlichen und die

Die Beziehung zu seinen Eltern war stets ein wichtiger Pfeiler in seinem Leben. Sie unterstützten ihn, wo sie konnten. Dementsprechend hart traf es ihn, als beide innerhalb eines Jahres an Herzproblemen starben. «Der Verlust meiner Eltern hat mich am meisten geprägt und verändert.» Als sein Vater an Silvester einen Herzinfarkt erlitt und nicht mehr reanimiert werden konnte, war er dabei. Bilder dieses schweren Moments tauchen bis heute immer wieder auf. Eduard wusste um die familiäre Vorbelastung und ging regelmässig zum Herzuntersuch. Trotzdem liess sich das Unvermeidbare nicht vermeiden: Er erlitt einen schweren Herzinfarkt und hatte Glück im Unglück: Als es passierte, war er im Auto, die Praxis des Hausarztes nicht weit entfernt.

Früher war er Leistungssportler, heute machen ihm sogar kurze Gehdistanzen zu schaffen.


Sieben Herzoperationen musste er über sich ergehen lassen.

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Auf das Schlimmste gefasst

etwa langes Gehen, bereiten ihm Schwierigkeiten.

Nach zwei grossen Operationen hat ihn sein Herz fünf weitere Male auf den Notfall geführt. Acht Stents wurden ihm mittlerweile in den Herzkranzgefässen gesetzt. Sie stellen einen ungehinderten Blutfluss sicher. Eduard rechnet damit, dass es noch mehr werden. Das Vertrauen in sein Herz ist noch

Schwer vorstellbar, dass er einst den Militärdienst

nicht zurückgekehrt. Körperliche Betätigungen, wie

einmal Bronze an einer Europameisterschaft.

als Panzergrenadier absolvierte und in seiner Freizeit Leistungssport betrieb. Für das Hockeyspielen, seine sportliche Leidenschaft, die er mit seinem Vater und seinem Sohn teilte, war er oft auf Reisen. Der Erfolg blieb nicht aus: mehrfach Schweizer Meister und


Humor als Ausgleich Bei Brüggli startete Eduard Maag in der Gastronomie Usblick. Das war ihm dann aber zu viel: zu viel Hektik und zu viel Zeit auf den Beinen. Er habe damals seine Aktivitäten mit einer Uhr überwachen müssen: Viereinhalb Kilometer lege man an einem normalen Tag im Usblick zurück. Ausserdem – und das

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«Brüggli ist für mich ein Zufluchtsort. Ohne Brüggli hätte ich nichts.»

sagt er mit einem Augenzwinkern – habe das Personal dort fast nur aus Lernenden bestanden: «Viele waren so alt wie mein Sohn. Ich hätte ihr Vater sein können». Eduard ist schon seit vielen Jahren geschieden. Mit seiner Ex-Frau verstand er sich immer gut. Auch mit dem gemeinsamen Sohn, der mittlerweile erwachsen ist, hielt er stets Kontakt. Dank ihm sei er immer wieder aufgestanden – wie der Teleboy, die Stehauf-Figur aus Kurt Felix’ Fernsehshow der 70er-Jahre. «Mein Sohn hat mir die nötige Kraft dazu gegeben.»


Der Blick nach vorne Eduard ist froh, dass es Brüggli-intern eine andere Lösung für ihn gab. «Brüggli ist für mich ein Zufluchtsort. Eine Art Hoffnung. Ohne Brüggli hätte ich nichts». Die Arbeit im Co-Packing gefällt ihm gut. Kürzertreten, Belastungen vermeiden, Verantwortung abgeben: Aktuell ist das nötig, damit er sich auf seine physische und psychische Gesundheit konzentrieren kann. «Manchmal träume ich davon, beruflich eines Tages wieder mehr Verantwortung zu übernehmen», sagt er. Ob seine Gesundheit das je wieder zulässt? Er bezweifelt es. Als Nächstes steht eine Meniskus-Operation an; es ist bereits die zweite. Für die Durchführung müssen allerdings gewisse Medikamente abgesetzt werden können – zu riskant für sein Herz. Bis auf Weiteres muss er die Schmerzen im Knie wohl ertragen.

Es zieht sich hin, wie so manches in seinem Leben. Für die Zukunft wünscht er sich, «dass es für einmal einfach geradeaus geht und nicht mehr weiter nach unten.» An die Zeit vor der misslungenen Leistenbruch-Operation denke er nicht oft zurück. Zu viel ist seither in seinem Leben passiert. Ob er manchmal wütend sei? Er wüsste nicht, auf wen. «Es würde ja doch nichts ändern.»

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Eduard ist froh um die unkomplizierte Unterstützung von Brüggli.


Rückenschmerzen, Gefühlsstörungen, Depression, Herzinfarkt, Meniskus-Probleme, Schlafapnoe: Eduard bietet dem Schicksal die Stirn – komme, was wolle.

10 Chauffeur sein und nicht Passagier Manchmal macht ihm die Einsamkeit zu schaffen. «Um auszugehen und Freundschaften zu pflegen, fehlt mir das Geld». Wenn Eduard Maag nach der Arbeit nach Hause kommt, ist niemand da, mit dem er seine Sorgen teilen kann. Sie leisten dann über Nacht Gesellschaft und stören seinen Schlaf – oftmals stärker als die Schlafapnoe, die ihn schon seit vielen Jahren unruhig schlafen lässt. Zum Glück wird er bei Brüggli nicht nur als Arbeitskraft gesehen. Zu Katharina Nef, Leiterin der Fachstelle Betreute Arbeitsplätze, hatte er von Anfang an einen guten Draht. «Sie ist eine wichtige Person für mich. Sie hört mir zu und hat Verständnis für meine Situation.» Immer wieder

ist er froh um ihre unkomplizierte Unterstützung, zum Beispiel wenn es darum geht, beim Steueramt eine Splittung der zu bezahlenden Beiträge zu beantragen. Die angehäuften Steuerschulden verhindern ein finanziell unbeschwertes Leben. Der einzige Luxus, den sich Eduard Maag gönnt, ist sein Auto. Seit zwei Jahren begleitet ihn der dunkelblaue Touran auf seinem Weg. Eduard hängt sehr an ihm: «Am Steuerrad zu sitzen, macht mir Freude und bedeutet Entspannung.» Die ultimative Kontrolle hat er nicht über sein Leben – wer hat das schon? Als Autofahrer jedoch bestimmt er, wohin es geht.


«Ich wünsche mir, dass es geradeaus geht und nicht weiter nach unten.»

11 Möge dieses Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmung möglichst oft auf Ihr Leben überschwappen, Herr Maag. Wir bewundern Ihren kämpferischen Willen, der stets stärker war als die Schwerkraft des Lebens. Sie haben immer wieder gezeigt, dass Liegenbleiben keine Option ist. Auch wenn nichts mehr geht, geht es weiter. Möge Ihnen die Zukunft Verschnaufpausen gönnen und Ruhe in Ihr Leben einkehren – vom «Bergab» zum lang ersehnten «Geradeaus».


Geschichten wie die von Eduard Maag zeigen, dass eine IV-Rente kein Grund sein muss, nicht mehr zu arbeiten. Bei Brüggli gibt es unzählige Mög­lichkeiten in unterschiedlichen Bereichen: Gastronomie und Co-Packing sind nur zwei davon. Voraussetzung für eine Tätigkeit ist eine IV-Rente von mindestens 50 Prozent. Der Einstieg ist jederzeit möglich. Kontakt: Katharina Nef, 071 466 94 94, katharina.nef@brueggli.ch

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Konzept/Text: Sarina Neuhauser Gestaltung: Regina Furger Bilder: Roger Nigg Druck: Brüggli Medien Papier: Cocoon Offset Herausgeber: Brüggli Hofstrasse 5 8590 Romanshorn www.brueggli.ch

Kst. 2040 // 3000 Ex. // 03.19

Struktur und Wertschätzung


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