ADHS

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Dominik, der

Mein Leben mit ADHS

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Vorgedanken Die Geschichte vom Zappelphilipp Meine erste Zeit Kindergarten und Primarschulzeit Kindheit zu Hause Sport als Ventil Sekundarschulzeit – Zeit der Wechselbäder Therapien Lehre – Abbruch – wie weiter? Im Strudel der Arbeitslosigkeit Zweite Chance im Brüggli Meine Zukunft Begriffe – Definitionen

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Hätte ich früher gewusst, dass grosse Menschen der Vergangenheit wie Wolfgang Amadeus Mozart oder auch Albert Einstein an ADHS litten, so wäre ich vielleicht stolz auf diese Verhaltensauffälligkeit gewesen. Weil ich davon als Kind aber natürlich keinen Schimmer hatte, wehrte ich mich immer vehement gegen jede Aussage von Dritten, ich sei ein auffälliges Kind.

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So stand ich schon ab dem Kindergartenalter mit meinen Erziehern oder Lehrern auf Kriegsfuss, weil ich selber jederzeit das Gefühl hatte, ich sei wie alle anderen Kinder auch. Der Unterschied war höchstens, dass ich grundsätzlich nie müde wurde.

Heute weiss und begreife ich natürlich viele Zusammenhänge und kann damit Aktionen sowie Reaktionen von meinen Mitmenschen klarer einordnen. Nicht zuletzt hilft mir dabei die Reflexion der Vergangenheit. So bin ich überzeugt, dass auch das Erstellen dieser Broschüre und das Nachdenken über meine bisherigen 22 Lebensjahre dazu beitragen, dass ich die Zukunft noch besser und zielstrebiger in den Griff bekomme. Denn eines ist mir heute klar: mein Turbomotor, der mich zum Zappelphilipp werden lässt, ist mit all seinen Nebengeräuschen eine unbändige Energiequelle, die mich auch zu grossen Taten antreiben wird. Ich muss ihn nur richtig nutzen. Und das werde ich! Und noch etwas: Es ist mir ganz klar, dass ich meinen bisher oft sehr schwierigen Weg vor allem dank der Liebe und dem Verständnis meiner Mutter und meiner Schwester gehen konnte. Hätte ich diese Menschen nicht gehabt, die jederzeit an mich glaubten und glauben, so wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Deshalb freut es mich ganz besonders, dass diese Broschüre nicht nur auf Interviews mit mir, sondern auch auf Aufzeichnungen meiner Mutter und einer Diplomarbeit meiner Schwester Romina basiert.

ALLTAG Des Alltags beste Meisterung ist menschliche Begeisterung!

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1. Die ursprüngliche Geschichte vom Zappelphilipp Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann beschrieb 1845/46 im Buch „Der Struwwelpeter“ den Zappelphilipp folgendermassen: „Ob der Philipp heute still Wohl bei Tische sitzen will?“ Also sprach in ernstem Ton Der Papa zu seinem Sohn, Und die Mutter blickte stumm Auf dem ganzen Tisch herum. Doch der Philipp hörte nicht, Was zu ihm der Vater spricht. Er gaukelt Und schaukelt, Er trappelt Und zappelt Auf dem Stuhle hin und her. „Philipp, das missfällt mir sehr!“

Nun ist der Philipp ganz versteckt, Und der Tisch ist abgedeckt, Was der Vater essen wollt‘, Unten auf der Erde rollt; Suppe, Brot und alle Bissen, Alles ist herabgerissen; Suppenschüssel ist entzwei, Und die Eltern stehn dabei. Beide sind gar zornig sehr, Haben nichts zu essen mehr.

Seht, ihr lieben Kinder, seht, Wie‘s dem Philipp weiter geht! Oben steht es auf dem Bild. Seht ! Er schaukelt gar zu wild, Bis der Stuhl nach hinten fällt; Da ist nichts mehr, was ihn hält; Nach dem Tischtuch greift er, schreit. Doch was hilfts? Zu gleicher Zeit Fallen Teller, Flasch‘ und Brot. Vater ist in großer Not, Und die Mutter blicket stumm Auf dem ganzen Tisch herum.

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SELBSTEINSCHÄTZUNG Wie oft sind wir im irren Glauben, wir schenkten andern Kraft und Mut, derweil wir ihnen Nerven rauben. Ein Schnarcher selbst schläft ja auch gut!

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3. Meine erste Zeit Da ich meine Babyzeit ja nur vom Hörensagen her kenne, bin ich froh, wenn meine Mutter erzählt: Dominik wurde als mein erstes Kind am 15. März 1985 geboren. Die ersten Monate entwickelte er sich wunderbar. Als mein Sohn fünfeinhalb Monate alt war, fiel mir auf, dass Dominik überaus oft weinte. An einem Montag, als ich ihn anziehen wollte, war sein Hals steif. Erschrocken rief ich den Arzt herbei. Dieser reagierte schnell und wies uns als Notfall in das Kinderspital St. Gallen ein. Nach etlichen Untersuchungen und einer Rückenmarkpunktion lautete die Diagnose auf Hirnhautreizungen. Und zwar als Folge einer schweren Harnwegentzündung, welche er eventuell bei der Geburt von mir aufgelesen hatte. An diese Abklärungen in St.Gallen erinnere ich mich, so erstaunlich das auch klingen mag, noch gut. Ich musste einen ganzen Tag lang spielen und wurde beobachtet. Von Mutter, Vater und der Fachperson. Und da wurde mir ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom plus Hyperaktivität) und POS (Psycho-organisches Syndrom) prognostiziert. Danach war alles anders: Dominik ass schlecht, schlief wenig und weinte viel. Ich bemerkte, dass er auch in der Entwicklung hinter Gleichaltrigen herhinkte. Er war ein schönes Kind mit tiefblauen Augen. Und er begnügte sich mit wenigen Spielsachen und konnte sich mit diesen intensiv beschäftigen. Als er gerade drei Jahre alt war, wurde unser zweites Kind, Romina, geboren. Überaus liebevoll ging Dominik mit diesem kleinen Wesen um. Man konnte ihn auch mit gutem Gewissen mit ihr alleine lassen. Er schien seine kleine Schwester über alles zu lieben. Dominik war immer sehr lebhaft, schlief wenig und hatte das Leben von sieben Kindern. Mit fünf Jahren ging er in den Kindergarten. Wir wohnten damals in Widnau.

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4. Kindergarten und Primarschulzeit Wie eingangs schon erwähnt, fühlte ich mich zur Kindergartenzeit nicht als auffälliges Kind. Mir wurde aber von der Erwachsenenwelt immer wieder gesagt, ich sei insofern auffällig, dass ich oft hereinschwatze, immer in Bewegung sei, ständig andere Menschen nachäffte und mich Kameraden gegenüber aggressiv verhielt. Und vor allem wurde ich nie müde. Wenn mir eine Sache langweilig erschien, dann habe ich irgendetwas unternehmen müssen. So schoss ich mit Spuckröhrchen Kügelchen herum – und war eigentlich der Meinung, das sei für einen Jungen in meinem Alter absolut normal. Ich lebte irgendwie in meiner eigenen Welt. Und in dieser, meiner Welt, schienen die Normen etwas anders zu liegen als in der „Restwelt“ der anderen. Im Kindergarten wurde Dominik von der IV abgeklärt. Er wurde in die Einführungsklasse eingeschult und machte somit die erste Klasse in zwei Jahren. Er war ein liebes Kind, störte aber durch sein auffälliges Verhalten den Unterricht immer wieder. Oftmals wurde ich benachrichtigt und musste mich mit den Lehrern in Verbindung setzen. Auch zu Hause war er sehr lebhaft. Das hat mich aber nicht gestört. Während der Schulzeit hatte meine Mutter andere Menschen, mit denen ich Kontakt pflegte, regelmässig über meine Krankheit informiert. Das machte mich stets sehr aggressiv, weil mich danach diese Menschen ganz anders behandelten. Ich wurde nicht mehr als Dominik wahrgenommen, sondern als verhaltensauffälliger POS-ler, der sofort, wenn er etwas anstellte, vor die Türe geschickt oder gemassregelt wurde. Man liess mir manchmal auch eine Sonderbehandlung zukommen, als wenn ich ein Gebrechen hätte. Und das wollte ich nicht.

GLÜHWURM Der Glühwurm sprach bei sich zu Haus: „Mein Gott, seh’ ich heut blendend aus!“

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Was ich aber absolut genoss, war, im Mittelpunkt zu stehen. Ich spielte den Clown, zog die Aufmerksamkeit auf mich, machte Faxen, äffte andere Personen nach, gab auch anderen oft die Initialzündung zu irgend einem Unfug und lebte einen totalen Aktivismus, um auch wirklich der Mittelpunkt eines jeden Moments zu sein. Ohne Aufmerksamkeit der anderen fühlte ich mich leer und alleine. Natürlich war dieses zwanghafte Aktivsein auch ein gewisser Stress. Zum einen wandten sich Kameraden von mir ab, wenn ich einmal einen Tag nicht wollte und keine aufmerksamkeit-erheischenden Aktivitäten bot. Und zum andern bestand der Stress natürlich darin, dass ich fast jeden Tag bei den Lehrern anzutraben hatte und im Lehrerzimmer erklären musste, warum ich heute wieder einen so verhaltensauffälligen Tag hatte und warum ich dieses oder jenes tat. Und so wurde auch meine Mutter von der Schule immer wieder zu Gesprächen aufgeboten – und ich musste daheim nochmals über das Vorgefallene sprechen. Dies bedeutete erneuten Stress für mich. Vor allem, weil ich damals kaum begriff, was das ganze Theater soll, weil ich ja nicht wahrnahm, dass ich wirklich auffällig wirkte.

MÜTTER… Will man diesem Wortspiel glauben, ist’s im Leben wie bei Schrauben:

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5. Kindheit zu Hause

Wenn ich von der Schule nach Hause kam, so habe ich oft erst zwei-drei Stunden mein Bett in ein Trampolin verwandelt und bin auf ihm herumgehüpft und -gesprungen. Ich unterhielt die ganze Familie, machte Scherze, rannte von einer Hausecke in die andere, verzog mich zwischendurch auf den Fussballplatz, wo ich einige Zeit „tschuttete“ und kehrte dann wieder ins Haus zurück, um herumzuturnen. Ich genoss es auch hier, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein. Wenn ich aber einmal müde war, so schlief ich eigentlich gut. Bei der Erziehung eines Kindes, das unter ADHS leidet, braucht es sehr viel Kraft und eine gerade Linie. Weicht man nur einen Millimeter ab, nutzen die Kinder einen sofort aus. Mit viel Gottvertrauen und grosser Liebe hatten wir es trotz allem sehr schön miteinander. Obwohl Romina, seine kleinere Schwester, oft zurückstecken musste, liebte sie Dominik über alles. Wir hatten sehr viele schöne und lustige Momente miteinander erleben dürfen. Meine Mutter stand immer hinter mir. Obwohl sie es nicht leicht hatte, da sie mich nach die Trennung von meinem Vater allein erziehen musste. Sie war für mich ab dem 8. Lebensjahr Vater und Mutter in einer Person. Das war sicherlich nicht einfach für sie.

Wie sie sich auch immer winden, durchdrehn oder übertreiben: wenn sie keine Mutter finden, werden sie stets haltlos bleiben.

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6. Sport als Ventil

Als Achtjähriger begann ich organisiert Sport zu betreiben. Das war damals, als wir von Widnau nach Lüchingen zogen. Für mich hatte der Sport einen sehr grossen Stellenwert. Ich konnte mich im Fussballspiel wunderbar abreagieren. Hier durfte ich alle meine überschüssigen Kräfte ausleben und ich steckte meine Energie in den Ball, statt in Auffälligkeiten. Hier war ich als derjenige, der nie müde zu werden schien, sehr gefragt. Dominik ging regelmässig in den Fussballclub. Er war ein guter Spieler. Auch das Asthma war bei ihm auf diese Weise ziemlich unter Kontrolle. Noch heute bedeutet mir der Sport enorm viel. Leider kann ich im Winter durch eine Fussverletzung kein Training besuchen, solange dieses in der Halle stattfindet. Das ist für mich eine schwierigere Zeit, weil mir der Ausgleich fehlt. Ich freue mich umso mehr auf die wärmere Jahreszeit, wo ich im Freien wieder dem Ball nachjagen darf. Ich habe aber gelernt, in meinen Tagesablauf kleine Bewegungseinheiten einzubauen, sobald ich merke, dass ich Energie ablassen muss. So hilft es mir zum Beispiel schon, wenn ich in einer Arbeitspause dreimal um die Industriegebäude marschiere. Anschliessend bin ich wieder ruhiger und konzentrierter.

DER FUSSBALLSTAR Der Tausendfüssler Theophil muss sieben Stunden vor dem Spiel in der Kabine sich einfinden: Man muss ihm noch die Schuhe binden...

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7. Sekundarschulzeit – Zeit der Wechselbäder

Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarschule brachte viele Neuerungen mit sich. Eigentlich war ich ja ein guter Schüler, aber irgendwie bescherte mir die Schulzeit auch immer Schwierigkeiten. Mein Verhalten entlockte den Lehrern oftmals Massnahmen, die ich damals nicht verstand. Ich musste immer und immer wieder antraben, mich für dies oder jenes rechtfertigen und verantworten und kannte bald jede Strafmassnahme aus eigener Erfahrung. Das alles konnte aber mein Verhalten in keiner Art und Weise beeinflussen. Natürlich hat auch meine Mutter während dieser Zeit sehr gelitten, da sie ebenfalls immer wieder zu den Lehrern zitiert wurde. Dominik kam mit einem guten Notendurchschnitt in die Sekundarschule. Doch schon nach 6-8 Wochen hatte er stets Atemnot. Ich kannte ihn als Vollasthmatiker und wusste, dass er irgendwie überfordert war. Er schaffte die Probezeit nicht und wechselte in die Realschule. Dort akzeptierte man ihn nicht und er litt sehr unter den Hänseleien. Nun gut, auch diese Zeit ging vorüber und nach einem Jahr wechselte er wieder in die Sekundarschule. Wir wohnten damals in Lüchingen; die Oberstufe besuchte er in Altstätten. Es gab in Dominiks Verhalten grosse Schwierigkeiten. So dauerte der Aufenthalt in der Sekundarschule wiederum nur

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ein Jahr, danach stand erneut ein Wechsel in die Realschule an. Diese besuchte er dann noch zwei Jahre. Blicke ich heute auf diese Schulzeit zurück, so kann ich die Lehrpersonen, welche sich an mir ihre Zähne beinahe ausbissen, besser verstehen: ich verhielt mich meist neben der Norm und konnte viele ihrer Erwartungen nicht erfüllen. Wenn ich aus heutiger Sicht den Lehrern raten könnte, wie mit einem ADHS-Schüler umgegangen werden müsste, so wäre wohl das Wichtigste, dem Schüler zu zeigen, dass man an ihn glaubt. So nach dem Motto: Wir zusammen schaffen das! Ich hätte für mich einfach etwas mehr Verständnis erwartet. Nicht, dass ich anders behandelt werden wollte. Im Gegenteil. Aber ich hätte mir klare Abmachungen mit einer Verwarnung gewünscht, statt immer beim ersten Ausrutscher meinerseits das Telefon nach Hause zu haben. Vielleicht hätten mir auch kleine Pausen genutzt: ich benehme mich daneben – also muss ich aus dem Klassenzimmer, zwei-drei Mal um das Schulhaus rennen, mich auf diese Weise abreagieren und kann nach einer kurzen Pause wieder hereinkommen. Vielleicht hätte das genutzt. Aber ich möchte den Lehrern hier keinen Vorwurf machen, denn ich weiss, wie schwierig es ist, wenn ADHS und die ohnehin nicht einfache Zeit der Pubertät zusammenkommen.


Und diese Zeit war bei mir auch wirklich schwierig. Ich nahm mir immer tolle Vorsätze, wollte Schule und Freizeit erfolgreich gestalten… aber ich habe mich an nichts gehalten. Damals begann ich zu stehlen. Zu Hause, in Warenhäusern und Läden. Ich kaufte unsinnige Dinge, wie eine Luftpistole, um Vögel abzuschiessen, verkaufte diese Gegenstände dann spottbillig an andere weiter, hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen – und tat Ähnliches dann doch wieder. Bis ich eine Therapie gegen Diebstahl machen musste. Und diese wirkte. Seither habe ich nie mehr etwas Fremdes angefasst.

SCHULE Es ist der Schüler in der Schule oft so wie eine Fadenspule: Er dreht sich nur im Kreise und

Und manchmal sagte ich mir selber, dass ich heute den Unterricht nicht besuchen werde… und das tat ich dann auch nicht. So musste ich nach der zweiten Realklasse eine Lehrstelle finden, wollte ich nicht auf der Strasse stehen.

spricht stolz, es laufe alles rund.

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Er glaubt durch geist‘ges Lehrbuch-Pickeln sich lebensnahe zu entwickeln. Stattdem verliert auf solchen Pfaden entwickelnd er den Lebensfaden!...

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8. Therapien Ich hatte natürlich einige Therapien zu besuchen. Oftmals glaubte ich nicht an die Wirkung dieser Behandlungen – und so hatten sie auch keine. Eigentlich war es immer meine Mutter, die auf der Suche nach irgendwelchen Therapien war. Ich selber sträubte mich gegen alles. Als ich – auf Drängen der Schule – Ritalin verordnet bekam, stellte ich mit Schrecken Veränderungen meiner Persönlichkeit fest. Ich war nicht mehr mich selber! Ich schien mein ICH zu verlieren. Ich war wie betäubt, sass quasi in Trance da und war absolut bewegungsgehemmt. Und am Abend, wenn die Wirkung nachliess, sass ich nur noch auf meinem Bett, hatte Depressionen, weinte und wusste mir kaum zu helfen. Also habe ich diese Medikamente eigenmächtig abgesetzt und mich geweigert, sie weiterhin zu nehmen. Und ich persönlich würde heute jedem und jeder vom Gebrauch von Ritalin abraten. Meine letzte und erfolgreichste Therapie war bei Frau Andrea Fontanil aus Wil. Sie hat selber ein Kind, welches ADHS hat – und es heisst wie ich: Dominik. Vielleicht war dies ein gutes Omen für mich, auf alle Fälle glaubte ich an die Wirkung der Hilfe dieser Frau. Und sie hat mir enorm geholfen. Sie hat an mich – und ich an sie – geglaubt. Sie nahm mich ernst und zeigte mir auf, dass ich als erstes mein Denken, meine Einstellung, mein ICH in den Griff bekommen müsse, damit ich mich selber verstanden fühle. Natürlich arbeite ich noch heute an mir. Es würde den Rahmen dieser Broschüre sprengen, hier all die angebotenen Therapiemöglichkeiten aufzuzählen. Ich möchte aber doch einige wenige Möglichkeiten antönen: Spieltherapie

Eine Möglichkeit, Kindern mit wenig Selbstvertrauen, mit Anpassungsstörungen, Ängsten oder fehlender emotionaler Ruhe zu helfen. Im Spiel kann sich das Kind frei bewegen, das Wahrnehmungssystem trainieren und Selbstvertrauen gewinnen.

Familientherapie

Diese Therapieform geht davon aus, dass in der Familie Probleme bestehen. In Gesprächen werden Sichtweisen besprochen, Konflikte geklärt und Möglichkeiten geboten, Meinungen zu äussern.

KinderpsychoTherapie

Durch ausführliche Gespräche bringt ein Psychologe verborgene Störungen ans Licht. Solche Probleme können malend und spielend verarbeitet werden.

RATSCHLAG Ein Ratschlag, der auch wirklich schlägt, zur Lösungsfindung nichts beiträgt. 1 16


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Ergotherapie

Wird dort eingesetzt, wo Kinder in der körperlichen oder emotionalen Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen zurückgeblieben sind. Schwächen und Defizite werden ermittelt und die Persönlichkeit der Kinder wird in die Therapie miteinbezogen. Teilleistungsschwächen sowie die Umsetzung der Feinmotorik können zusätzlich mit speziellen Methoden behandelt werden.

Sprachtherapie

Wird in schweren Fällen eingesetzt, in denen die Kinder den Spracherwerb nicht vollziehen.

Psychomotorik

Ungeschicklichkeit, Gehemmtheit, Koordinationsschwäche oder Unruhe werden angegangen.

Medikamentöse Therapie

Nach wie vor ist Methylphenidat (Ritalin) das Mittel erster Wahl bei der medikamentösen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADS/ADHS. Es wirkt für Stunden, kann aber keine Heilung der Störung erzeugen. Methylphenidat bewirkt, dass das Gehirn Reize aufnimmt, wozu es sonst nicht fähig wäre (z.B. bessere Aufmerksamkeit, gesteigerte Konzentration). Ich selber habe dieses Medikament nicht ertragen. Die Veränderung meiner Persönlichkeit hat mich erschreckt.


9. Lehre – Abbruch – wie weiter? Nach der Realschule fand Dominik schnell eine Lehrstelle als Maurer. Schon sehr früh war er von dieser Arbeit begeistert. Doch es lief nicht wie geplant. Er ging leider nicht regelmässig zur Arbeit, er schwänzte und fand immer wieder Ausreden. Nach drei Monaten hatte die Lehrfirma keine Geduld mehr. Dominik konnte seine Ausbildung zum Glück bei seinem Götti in dessen Baufirma weiterführen. Es war für uns alle eine schwierige Zeit. Dominik reagierte auf alles ausfallend und frech und war wenig zu Hause. Auch die Einteilung seines Lehrlingslohnes funktionierte nicht. Er wollte immer alles sofort kaufen und begann Schulden zu machen. Er brachte mich fast zur Verzweiflung. Ich war eben allein erziehend und musste viel und oft arbeiten. Zuerst für ein Schmuckgeschäft. Ich konnte daheim tätig sein und tat dies Tag und Nacht. Ich verzichtete zugunsten meiner Familie auf Vieles – aber ich habe es nie bereut. Später habe ich in der örtlichen Raiffeisenbank als Kundenbetreuerin eine schöne, anspruchsvolle Arbeit bekommen, welche mich sehr erfüllte. Ich war glücklich und kaufte uns in Altstätten ein altes Bauernhaus. Ich wollte meinen Kindern ein zu Hause geben, das uns niemand wegnehmen kann. Dieses Haus gab und gibt uns Wurzeln und Sicherheit. Ich wollte dieses alte Haus ein wenig sanieren und umbauen. Aber mir blieb viele Jahre nichts anderes übrig, als zu verzichten und mit Dominik seine Schulden abzustottern. Das war meine härteste Zeit mit meinem Sohn. Denn Menschen, die mehr ausgeben, als sie verdienen, widerstreben mir! Nun wieder zu meinem „Sorgenkind“. Die Ausbildner von Dominik legten uns nahe, dass er die Ausbildung abbrechen müsse. Das war der härteste Augenblick für ihn.

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ARBEITSLOSIKEIT Sei froh, wenn du im Alltagsfrust dir lautstark Luft verschaffen musst, weil du dich kaum vor Arbeit rettest. Viel schlimmer: wenn du keine h채ttest!

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10. Im Strudel der Arbeitslosigkeit Da stand ich also da: arbeitslos. Obwohl ich den Beruf eigentlich gar nicht aufgeben wollte. Er hatte mir ja gefallen. Das machte es umso schlimmer. Ich hätte arbeiten wollen.

Er durfte auch im Brüggli eine Schnupperwoche machen. Es gefiel ihm sehr. Wir hofften natürlich, dass Dominik im Brüggli die Lehrstelle bekäme.

So war ich auf einen Schlag meiner Zukunft beraubt. Ich hatte keinen Tagesrhythmus mehr. Ich hatte kein Geld mehr. Ich hatte keinen Bock mehr. Auf nichts.

Es taten sich mir dann die Möglichkeiten auf, drei Schnupperlehren zu absolvieren. Nachdem ich die drei Betriebe kennen gelernt hatte, entschied ich mich fürs Brüggli. Ich war froh, irgendwo wieder neu beginnen zu können.

In dieser Zeit begann ich herumzuhängen. Zu saufen. Ich zog mit Kollegen durch die Abende. Nebst Besäufnissen gehörten Schlägereien zur Tagesordnung. Bis mir auch das auf den Geist ging. Natürlich war ich auch für meine Familie eine Belastung. So konnte es nicht weitergehen. Nach zwei Monaten begann ich mich zu bewerben. Aber es kamen alles negative Bescheide. So schwierig hatte ich mir die Lehrstellensuche nicht vorgestellt. Nun wollte ich aufgeben. Einfach irgendwo jobben. Irgend an einem Fliessband arbeiten. Ein Bekannter motivierte mich aber, weiter zu suchen und half mir, weitere Bewerbungen zu schreiben. Insgesamt erhielt ich 72 Absagen.

Zu unserer grossen Freude bekam er die Lehrstelle. Für mich ging der grösste Wunsch in Erfüllung.

Etliche Abklärungen folgten und er erhielt von der IV eine Berufsberaterin, die mit ihm arbeitete. Sie kam auch nach Hause, um uns kennen zu lernen. Er schrieb in dieser Zeit etwa 70 Bewerbungen – es kamen lauter Absagen.

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SELBSTBILD Mein Leben hat nur einen Sinn, wenn ich mit mir auch ehrlich bin. Trag ich mein Image zu poliert, ist die Entt채uschung programmiert.

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11. Zweite Chance im Brüggli

So trat ich in Romanshorn an, um Logistikassistent zu werden. Meine Brügglizeit begann aber schwierig. Ich hatte in der Schule, wie auch im Lehrbetrieb, wiederum oft geschwänzt. Ich erfand Ausreden, spielte krank, nutzte Gutmütigkeiten aus und spielte meine verschiedenen Lehrmeister gegeneinander aus: Ich holte die Unterschriften jedes Mal bei einem anderen. Das flog dann natürlich irgendwann auf und ich musste im Betrieb vortraben. Da wurde mir eröffnet, ich sei mit einem Bein schon entlassen... Nun stand eine Operation meines Fusses an. Zu meinem Erstaunen hiess es vom Betrieb diesmal „Nein!“, ich könne nicht schon wieder fehlen. Man hielt mir vor die Nase, wie oft ich im Lehrbetrieb bisher gefehlt hatte. Alles schön zusammengestellt. Erst als mein Arzt und meine Mutter bekräftigten, dass diese Operation an meinem Fuss wirklich dringend nötig sei, erlaubte man den Eingriff im Spital. Die nächste Überraschung wartete auf mich: Sobald ich aus der Narkose erwachte, wurde ich vom Lehrbetrieb und der Schule zum ultimativen Gespräch aufgeboten: der Lehrbetrieb hatte von den ebenfalls immensen Schulabsenzen erfahren. So sassen meine Lehrer und Lehrmeister mit mir zusammen an den Tisch und ich musste meine vielen Absenzen erklären. Und ich wusste, dass ich eigentlich zu gehen hätte. Mir wurde heiss und kalt zugleich und zum ersten Mal so richtig bewusst, dass ich diese Chance vertan hatte. Und so war ich zutiefst dankbar, als mir Schule und Lehrbetrieb zusammen das Ultimatum stellten: ich darf seit diesem Gespräch keine einzige unentschuldigte Absenz mehr haben. Keinen einzigen Tag unbegründet fernbleiben. Fehle ich – und sei es auch am Tage vor der Lehrabschlussprüfung – so kann ich gehen. Das ist hart – aber gerecht. Und ich habe bis heute nie gefehlt. Aber es ist brutal schwierig. Nicht, weil ich nie mehr fehlen darf. Sondern viel mehr, weil ich seither weiss, dass man nicht mehr an mich glaubt. Weil ich spüre, dass ich mich immer wieder beweisen muss. Dass ich zeigen muss, dass ich es dieses Mal ernst meine. Dass ich keine Eintagsfliege bin. Und so habe ich mich um 180° verändert. Ich gebe mir Mühe, versuche meine Sache gut zu machen, will diesen Sommer einen tollen und erfolgreichen Lehrabschluss haben! Also werde ich auch weiterhin nicht fehlen. Weil ich weiss, was auf dem Spiel steht.

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DURCHHALTEKUNST Durchzuhalten ist nicht schwierig: Man beginne einfach gierig, lasse sich von nirgends stรถren und vergesse aufzuhรถren!

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12. Meine Zukunft Schaue ich heute diesen jungen Mann an, bin ich nur stolz. Tiefgründig sind diese blauen Augen, dankbar sein Blick. Ich möchte alles, was ich durch ihn lernen durfte, weitergeben. Anderen Müttern sagen, dass alles mit viel Geduld und Liebe gut wird. Man ist müde, aber unendlich stolz.

ZUKUNFT Und wenn das Schicksal unentwegt Dir Steine in die Wege legt, dann nimm Dir lächelnd Stein für Stein. So steinreich möchte mancher sein...!

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Ich bin jetzt auf dem Weg, meine Lehre im Brüggli erfolgreich abzuschliessen. Wie ich ja schon schrieb, muss ich dazu noch einige Zeit durchstehen, nicht nur die Lehrabschlussprüfung, sondern auch die vom Brüggli gestellten Bedingungen bestehen und zeigen, dass ich es wirklich ernst meine. All diese Herausforderungen haben ja nicht mehr direkt mit meinem ADHS zu tun, sondern mit dem Lebensstil, den ich mir durch mein ADHS-Syndrom zulegte: dass ich lernte, mich von Ausrede zu Ausrede, von gutem Vorsatz zu gutem Vorsatz und Unverständnis zu Unverständnis zu hangeln. Ich weiss, dass es für mein Umfeld nicht immer leicht ist, mich zu verstehen. Umso wertvoller sind mir die Menschen, die an mich glauben. Die mir durch ihre Liebe und Begleitung eine Zukunft ermöglichen. Denn ich bin heute überzeugt, dass mir mein ADHS keine Krankheit, sondern eine Hinderung in der Reife auferlegt hat. Mit meinen nun bald 23 Jahren habe ich aber soviel Erfahrung gesammelt, dass ich überzeugt bin, meine Ziele in Zukunft erreichen zu können. Dank Kraft und Halt von meiner Mutter, die mir, wie mein Lehrbetrieb auch, Grenzen setzt, habe ich das Gefühl, dass ich es schaffen werde. Und darauf bin ich stolz. Es ist mir ein Bedürfnis, noch einige Gedanken in die Zukunft reisen zu lassen. Denn ich möchte nicht nur meine jetzige Lehre gut abschliessen, nein, ich habe darüber hinaus Visionen: Mein grösster Traum ist es, irgendwann ins Brüggli zurückzukehren und meine gemachten Erfahrungen anderen weiter geben zu dürfen. Als Arbeits- oder Berufsagoge. Tja, irgendwann erneut hier im Brüggli zu sein, als Lehrmeister hilfsbedürftigen Menschen weiter zu helfen, ihnen zu zeigen, wie ich meine schwierigen Jahre gemeistert habe, das wäre toll. Natürlich ist der Weg bis dorthin noch weit. Ich muss mich im Beruf bewähren, zu einem Logistikleiter aufsteigen, Weiterbildungen absolvieren und mir immer wieder Ziele setzen. Aber vielleicht bin genau ich, der einen steinigen Weg hinter sich hat, prädestiniert, anderen zu zeigen, dass viele Wege nach Rom führen. Auch solche, die mit Umwegen gespickt sind...

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13. Begriffe - Definitionen Die nachfolgend aufgeführten Verhaltensstörungen treten schon im Kindesalter auf, werden aber oft erst in der Schule bemerkt, weil sie Schulleistungen sowie das Sozialverhalten beeinträchtigen. 3-5% der Schulkinder sind davon betroffen, wobei Knaben dreimal häufiger als Mädchen. Begriffsdefinitionen POS

Psycho-organisches Syndrom Diese übergeordnete Definition hat sich in der Schweiz gebildet. Ein POS-Kind hat nicht nur Aufmerksamkeitsprobleme sondern auch Defizite oder Entwicklungsrückstände in anderen Hirnteilbereichen. Heute setzt sich der Begriff ADS gegenüber POS durch.

ADS

Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom Diese in der Aufmerksamkeitsfähigkeit beschränkten Kinder sind nicht hyperaktiv. Sie sind vielfach scheue, ruhige, in sich gekehrte Personen, die als lernschwach bezeichnet werden. Oft wird dieses Syndrom erst sehr spät bemerkt und deshalb oft zu spät oder gar nicht behandelt.

ADHS

Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom plus Hyperaktivität Diese Kinder haben nicht nur Mühe mit der Konzentration. Sie heben sich auch von andern Kindern ab, indem sie überaus lebhaft und kaum zu bändigen sind. Sie können kaum alleine spielen und benötigen ständig Abwechslung.

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Symptome

(einige, die beispielhaft stehen)

ADS / POS

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Viele Flüchtigkeitsfehler Grosse Probleme mit langem Zuhören Angefangene Arbeiten nicht zu Ende führen Mühe, Aufgaben selber in die Hand zu nehmen Probleme mit längeren Konzentrationsphasen Leicht ablenkbar Vergesslich, Hausaufgaben werden z.B. nicht gemacht

ADHS

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Starke Unruhe: Zappeln mit Händen und Füssen Ständiges Aufstehen, nicht stillsitzen können Schwierigkeiten, sich mit sich selber zu beschäftigen Innere Unruhe, wie von einem Motor angetrieben sein Häufiges Reden, Dreinschwatzen Antwort geben, bevor die Frage zu Ende gestellt ist Nicht warten können, bis man an der Reihe ist Unterbrechen und Stören von Anderen


Herausgeber, Redaktion, Entstehung & Design: Brüggli, Hofstrasse 3+5, 8590 Romanshorn, www.brueggli.ch Autor & Verse © by: Christoph Sutter, Arbonerstrasse 2, 8590 Romanshorn, www.verse.ch Fotografie © by: Fotostudio Bühler, Hofstrasse 3+5, 8590 Romanshorn

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