Borderline

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BORDERLINE


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INHALTSVERZEICHNIS

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WIE ALLES BEGANN

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D E R A N FA N G D E R H Ö L L E

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EINE DUNKLE ZEIT IN MEINEM LEBEN

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EIN VERMEINTLICHER LICHTBLICK

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MEINE PERSÖNLICHE BESTLEISTUNG

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ERSTE THERAPIEVERSUCHE

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DER NÄCHSTE UMZUG

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D E R A N FA N G M E I N E R H E I L U N G

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ABSTURZ

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EIN STEINIGER WEG

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DER LANGSAME AUFSTIEG

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ERSTE WOCHE AUSSERHALB DER KLINIK

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BRÜGGLI

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K A R AT E

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MEINE ZUKUNFT

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IMPRESSUM

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WIE ALLES BEGANN

Am 24. März 1986 gebar mich meine Mutter in einem kleinen Dorf in der Nähe des Bodensees. Mein Vater freute sich sehr über meine Geburt und feierte tüchtig. Allerdings betrank er sich am selben Abend ziemlich stark. Mein jüngerer Bruder kam zwei Jahre nach mir auf die Welt. Durch eine Drehung des Körpers schlang sich seine Nabelschnur zweimal um den Kopf. So wurde er mit akutem Sauerstoffmangel geboren, was die Krankheit ADS auslöste – vielleicht besser bekannt unter dem Namen POS oder Hyperaktivität. Meine Eltern waren beide noch sehr jung und wohl auch gerade deshalb etwas überfordert mit zwei Kindern. Auch an meine beiden Kindergartenjahre kann ich mich kaum erinnern. Die meisten Momente, die mir geblieben sind, haben mit Einsamkeit und Angst zu tun. Durch die vielen Umzüge viel es mir schwer, in der Schule eine wirkliche Freundschaft zu schliessen. Als ich in der dritten Klasse war, zogen wir ein weiteres Mal um, weil die Wohnung mit der Geburt meiner kleinen Schwester zu klein wurde. Meine beiden Hasen, die damals meine besten Freunde waren, musste ich weggeben. Ich weinte über den Verlust der Tiere sehr lange. Damals ahnte ich noch nicht, welche schwerwiegenden Folgen dieser Umzug für mich haben würde. Mein Bruder und ich waren wilde Kinder. Meistens waren wir in unserer Freizeit im Wald anzutreffen. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Lesen. Ich verkroch mich während Stunden, ja manchmal sogar ganze Nächte lang in Bücher, um mich vor der Welt zu verstecken.

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D E R A N FA N G D E R H Ö L L E

In der fünften Klasse fing die Welt an unterzugehen. Meine Eltern gehören einer etwas aussergewöhnlichen Religion an. Meine Lehrerin stand mit den Anhängern dieser Religion auf Kriegsfuss, was mir die nächsten zwei Jahre zur Hölle machen sollte. Ich wurde regelmässig vor allen Schülern gedemütigt und blossgestellt. Ich verkroch mich immer mehr in Tagträume, um mich vor ihrer Bosheit zu schützen. Gleichzeitig entwickelte ich ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl. Ich begann meinen Körper von meinem Geist zu trennen. Ich fing an ihn zu hassen. Ich fing an mein Essen regelmässig zu erbrechen und nahm damit rapide ab. Innerhalb eines halben Jahres hatte ich fast 30 Kilo abgenommen. Ich fühlte mich mit meinem Leben so hilflos. Vor Angst, man könnte mir etwas anmerken, habe ich über ein Jahr lang nur weite Kleidung getragen. Ich fühlte mich sehr alleine und hatte das Gefühl, ich sei verrückt. Etwa zu dieser Zeit wurden meine bisher angenehmen Tagträume zu richtigen Alpträumen. Ich sah lauter schreckliche Dinge, die mir oder anderen Personen passieren würden. Mit der Angst wuchs auch der Wunsch nach Sicherheit. Ich wollte lernen mich zu verteidigen – nicht nur körperlich, auch geistig. Ich fragte meine Eltern, ob ich in eine Karateschule gehen dürfe. Doch meine Eltern waren dagegen. Durch meine immer grösser werdenden psychischen Belastungen waren meine Noten nicht besonders gut. So kam ich nach der sechsten Klasse in die Realschule – also in die tiefere Stufe der Oberschule. Hier begann ein Zeitabschnitt, auf den ich nicht gerade stolz bin.

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EINE DUNKLE ZEIT IN MEINEM LEBEN

Es ging keine drei Wochen, bis ich in der Realschule anfing Zigaretten zu rauchen. Einen Monat später griff ich dann zum ersten Mal zu Drogen. Es fing sehr harmlos an mit schwachen Drogen. Sie wurden jedoch immer härter und manchmal war ich richtig weggetreten. Es war mir egal, was meine Eltern sagten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Meine Welt teilte ich unbewusst in zwei Hälften: weiss und schwarz. Weiss waren alle Tiere und meine beiden Geschwister. Schwarz waren meine Eltern und der Rest der Welt. Auch mich teilte ich in die schwarze Hälfte ein. Ich empfand mich selbst als böse. Ich wollte auch dunkel und böse sein. Ich wollte aus diesen starren Regeln ausbrechen, in denen ich gefangen war. Durch eine Kollegin in meiner Klasse erfuhr ich, dass es in einer nahegelegenen Stadt eine «Mystikgruppe» gab. Ich ging dorthin, ohne meinen Eltern etwas davon zu sagen. Das erste, was ich fühlte, als ich den Raum betrat, war Macht. Der Leiter lud mich zu einem weiteren Treffen ein und versprach mir die Lösung meiner Probleme. Das klang sehr verlockend, denn bisher hatten andere gar nicht viel von meinen innerlichen Schmerzen mitbekommen. Ich schlich mich also nachts heimlich aus dem Haus und ging zum ersten Mal zu einem geheimen Treffen dieser Satanistengruppe. Danach ging ich über ein halbes Jahr lang regelmässig an diese Treffen. Ich nahm zu dieser Zeit sehr viele Drogen und bestand eine Prüfung nach der anderen in dieser Gruppe. Mit 13 Jahren war ich, glaube ich, die Jüngste in unserem Zirkel. Doch vor der letzten Prüfung hatte ich Angst. Ich fühlte mich definitiv zu jung dafür. Die letzte Prüfung bestand darin, sich mit dem Meister zu vereinigen.

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Ich haute ab und ging ab diesem Moment nicht mehr an die Treffen. Durch diese Erfahrung wurden meine Tagträume immer schlimmer. Ich fing dann an, mich selbst zu verletzen. Am Anfang tat ich dies mit einfachen Messern, mit denen ich mir kleine Schnitte zufügte. Ich tat dies, um die Realität und meinen Körper zu spüren. Im Februar im gleichen Jahr holte mich mein Vergehen ein, dass ich mich dem Bösen zugewandt hatte. Mein alter Meister wartete an einem Sonntag auf mich, als ich vom Reiten auf dem Weg nach Hause war. Er redete auf mich ein, dass ich doch die letzte Prüfung machen solle, damit ich vollends die Macht des Bösen besitze. Doch ich hatte mich entschieden, nicht mehr böse zu sein. Ich wollte wieder Vertrauen in die Welt gewinnen. Daraufhin versuchte er mich zu vergewaltigen. Ich verlor das Bewusstsein. Die Welt in meinem Herzen war untergegangen. Ich redete mit niemandem über das Geschehene. Nicht einmal mit meiner Mutter. Wie sollte ich ihr das auch erklären? Ich konnte nicht. Jetzt erst, fast fünf Jahre später, weiss ich dank der Hilfe von lieben Ärzten, dass es der Mann nicht geschafft hat, mich zu beflecken. Sie vermuten, er hätte wohl gedacht ich sei tot, hätte es dann trotzdem versucht – daher die Schmerzen – es aber nicht geschafft.

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EIN VERMEINTLICHER LICHTBLICK

Obwohl ich rauchte, mich schnitt und weiterhin mein Essen erbrach, wurden meine Schulleistungen besser. Nach einem Jahr schaffte ich sogar den Übertritt in die Sekundarschule. Anfangs lief es recht gut. Doch im Herbst kam mir zum ersten Mal in meinem Leben der Gedanke, mich umzubringen. Ich hatte einfach zuviel erlebt. Ich konnte nicht mehr. Soviel hatte ich durchgestanden, doch niemand gab mir Hilfe. Nachdem ich diesen Gedanken in Drogen, Rauchen und Kotzen ertränkt hatte, tauchte er zwei Wochen später wieder auf. Ich wusste, dass meine Mutter in ihrem Zimmer viele Medikamente hatte. Ich nahm wahllos irgendwelche Schachteln und schluckte alles runter. Daraufhin schlief ich zwei Tage lang. Meine Mutter allerdings glaubte, ich hätte eine Grippe und liess mich schlafen. Sie bemerkte also meinen Selbstmordversuch nicht einmal! Weihnachten kam und ging. Mein Gewicht war über die Feiertage bei 38 Kilo angelangt. Und noch immer hatte niemand etwas von meiner Essstörung bemerkt. Schliesslich wahr ich Meister geworden im «Schein wahren». Ich lernte, mir nicht anmerken zu lassen, wie es mir ging. Meine Schulleistungen waren nicht überragend, aber sie genügten, um nicht durchzufallen. Mein Körper versagte mir immer öfters den Dienst. Meine Tagträume wurden schlimmer. Sie verwandelten sich in richtige Horrorfilme. Obwohl ich nie zuvor tote Menschen oder stark verletzte gesehen hatte, war mein Kopf voll von solchen Bildern!

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MEINE PERSÖNLICHE BESTLEISTUNG

Als ich wieder anfing zu essen, war das wie ein Energieschub. Ich fing an, Kurzstrecken von 50 bis 80 Meter zu rennen und wurde dabei immer schneller. Ich trainierte drei Stunden am Tag. Mein Ziel war es, die persönliche Bestleistung zu übertrumpfen, die ich vor einem Jahr geschafft hatte. Im Sport vergass ich meinen Schmerz, meine Trauer und meine trüben Gedanken. Ich wurde immer schneller und nach fünf Wochen hatte ich meine Bestleistung bereits übertroffen. Doch Ende Februar geschah es dann: Ich hatte mich abends wieder aus dem Haus geschlichen, um noch etwas zu trainieren. Doch schon nach 10 Minuten spürte ich einen starken Schmerz im linken Knie. Ich fiel zu Boden und Tränen liefen mir über die kalten Wangen. Ich hielt vor Schmerz den Atem an. Meine Tage wurden wieder mal schwarz. Mit Sport war es nun vorbei. Heute weiss ich, dass ich damals den Meniskus beschädigt hatte. Anfang März ging es mir immer schlechter. Irgendwie brach mein Lebensboden durch. Mein Wunsch nach dem Tod wurde wieder stärker. Ich war bereit zu sterben. Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Tag: Ich stand am Morgen auf und verabschiedete mich von der ganzen Familie. Ich legte eine kleine Blume auf mein Kopfkissen und ging. Ich verbrachte meinen letzten Tag in der Schule und ging. An der Hauptstrasse hielt ich mein Velo an und wartete, bis der erste Raser die Strasse kreuzte. Ein lautes Motorgeräusch kam näher, ich hielt die Luft an – und fuhr ...

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Nach diesem «Unfall» kam ich ins Kantonsspital. Ich hatte nur eine starke Prellung am Knie und eine Gehirnerschütterung, sowie zahlreiche Schürfungen. Irgendetwas Höheres oder Mächtigeres wollte, dass ich lebe. Doch wozu? Ich kam auf die Station im oberen Stockwerk zur Beobachtung. Ich hatte in diesem Zimmer die ganze Nacht geweint. Am nächsten Morgen kam ich in ein normales Zimmer. Dann teilte man mir mit, ich könne wieder nach Hause. Panik ergriff mich. Ich sah in einem Gang einen Rollkorpus mit ganz vielen Medikamenten. Ich öffnete meine Tasche und schmiss rein, bis kein Platz mehr übrig war. Wieder zu Hause, entschloss ich mich am nächsten Morgen, meinen Körper endgültig zu töten. Ich wartete, bis meine Eltern und mein Bruder das Haus verlassen hatten. Eigentlich hätte ich auf meine kleine Schwester aufpassen sollen, doch diese schlief noch. Ich nahm meinen Rucksack voller Medikamente, schloss mich im Bad ein und fing an zu schlucken. Es dauerte eine ganze Stunde lang, bis ich alles runtergeschluckt hatte. Da kam mir plötzlich meine kleine Schwester in den Sinn. Ich wollte nicht, dass sie mich tot finden würde. Also kroch ich wie ein krankes Tier in den Wald. Der Reithof kam immer näher, mir ging es schon richtig schlecht. Ich sehnte mich nach meinen Freunden, den Tieren. Als ich jedoch dort ankam, merkte mein Lieblingspferd Aramis, dass etwas nicht stimmte. Aramis tobte so laut, bis die Frau vom Reitlehrer kam und mich sofort ins nächste Spital brachte. Zum Auspumpen des Magens war es zu spät. Die Ärzte steckten mir eine Magensonde ein mit der sie mir Kohle einflössen konnten. So musste ich erbrechen. Nach etwa drei Stunden war ich in einem einigermassen passablen Zustand. Und dann kam meine Mutter. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. Sie rauschte in diesen Raum herein. Sie kam mir vor wie der Rachegott höchstpersönlich. Sie schrie mich an – nicht etwa, weil ich sterben wollte, sondern weil ich meine Schwester alleine zu Hause gelassen hatte. Alle im Raum erstarrten. Ein Pfleger packte dann meine Mutter und warf sie kurzerhand raus.

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ERSTE THERAPIEVERSUCHE

Nach vier Tagen im Kinderspital mit starken Schlafmitteln fingen die Therapien an. Ich bekam Bewegungstherapie, Ergotherapie, Maltherapie und Gesprächstherapie. Doch wegen meinem Misstrauen gelang es mir nicht, mich gegenüber diesen Menschen zu öffnen. Weil die Ärzte mir hier nicht helfen konnten, wurde ich in die Kinderpsychiatrie eingewiesen. Die ersten Wochen hier waren der Horror: Ich hatte Angst, ich durfte nicht raus, bekam Therapien, die ich nicht wollte. Mehrmals versuchte ich abzuhauen, versuchte mich zu verletzen, mich umzubringen usw. Ich war so durcheinander und gab mir selbst die Schuld an allem. Ich dachte, all dieses Leid verdient zu haben. Nach und nach lernte ich mich zurecht zu finden. Doch meine Krankheit hatte sich verschlimmert. Ich sah wirklich nur noch schwarz-weiss. In dieser Zeit war alles schwarz. Irgendwann konnte ich wieder nach Hause. Ich besuchte meine alte Schule wieder. Doch mein Leben ging nicht besser weiter. Ich brach die Psychotherapie ab und kotzte wieder. Mein Gewicht ging wieder runter. Ich wog wieder nur noch 50 Kilo. Ich nahm auch wieder Drogen, um meinen Schmerz zu vergessen.

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DER NÄCHSTE UMZUG

Ende des Jahres erfuhr ich, dass wir erneut umziehen würden. Meine Eltern hatten in der Nähe meines Geburtsorts ein Haus gebaut. Es war ein sehr schönes Haus, doch ich versank ein weiteres Mal in völligem Elend. Ich war so verschlossen und krank, dass ich einfach keinen Anschluss in meiner neuen Klasse fand. Ich schwänzte den Unterricht, kotzte, rauchte und fing an regelmässig irgendwelche Medikamente zu schlucken. Innerhalb von zwei Wochen war ich total abhängig, und so kam zu allem auch noch eine Tablettensucht dazu. Meine Situation spitzte sich wieder zu. Die Anspannung mit meinen Eltern war auf dem Höhepunkt. Da die Gesellschaft mich ablehnte, hatte ich vor, für immer zu meiner Clique nach Zürich zu gehen um dort mein Leben als Junkie zu verbringen und schliesslich an den Drogen zu sterben. Zuerst wollte ich mich jedoch noch von meiner Cousine verabschieden. Es ging ihr in dieser Zeit ebenfalls sehr schlecht. Sie war im Spital auf der psychiatrischen Station – auf derselben Station, wo ich auch schon war. Ich sass bei ihr auf dem Bett und sprach mit ihr. Und dann geschah es. Mein ganzes Inneres bäumte sich auf, es wollte an die Oberfläche. Der ganze Schmerz kam hoch und ich fing an zu weinen. Keine zwei Stunden später war ich vom Besucher zum Patienten geworden und wurde auf die Station eingewiesen. Heute kann ich sagen: dies war meine Rettung.

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D E R A N FA N G M E I N E R H E I L U N G Nach einem Monat auf dieser Station begann ich, mich den Therapeuten zu öffnen. Es gelang mir, über meine Essstörung zu sprechen. Zum ersten Mal erfuhr ich, dass viele Frauen eine solche Krankheit haben. Die Pfleger zeigten mir Heilungswege und nach und nach gelang es mir besser, mit der Krankheit umzugehen. Ich wurde durch die vielen verständnisvollen Menschen um mich herum immer sicherer und nach langer Zeit lernte ich, den Menschen wieder zu vertrauen. Meine Krankheit wurde zwar auch hier noch nicht richtig erkannt, doch es wurde viel getan für meine offenen Wunden in meinem Innern. Doch die Realität verschwand nicht. Es war ein sehr harter Kampf. Ich begann, mich des öfteren stark zu schneiden. Immer wieder musste ich mich selbst bestrafen und quälen. Ich dachte, ich sei Abschaum und man schäme sich für mich. Mein Selbstvertrauen war völlig zerstört. Nach über zwei Monaten kamen meine Eltern und machten ihre Ansprüche geltend. Die Vormundschaftsbehörde konnte nichts machen. Ich musste zu meiner Patentante, die sich bereit erklärt hatte, mich aufzunehmen. Es wurde vereinbart, dass ich bei ihr wohnen würde, bis in der nahegelegenen Psychiatrie ein Platz frei würde Es war eine Notlösung und ich war nicht allzu glücklich. Schon nach einigen Wochen ging es mir nicht mehr gut. Mein Patenonkel hatte ein schweres Alkoholproblem und wurde sehr schnell zornig. Er war fies zu seiner Frau. Ich schnitt mich im Durchschnitt zweimal pro Woche so tief, dass ich die Wunden nähen lassen musste. Meine Arme sahen immer schlimmer aus.

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ABSTURZ

«Es ist 14.00 Uhr. Mir geht es schon den ganzen Morgen schlecht. Meine Gedanken stürmen durch meinen Kopf und ich höre Stimmen.» «Es ist 15.00 Uhr. Die Stimmen, die ich höre, sind zu Schreien geworden. Ich habe das Gefühl, mein Kopf platzt. Ich habe jeden Bezug zur Realität verloren. Ich irre zwischen Bad und Balkon hin und her. Ich rauche eine Zigarette.» «Es ist 15.30 Uhr. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Ich habe jedes Gefühl für die Realität und meinen Körper verloren.» «Es ist 16.00 Uhr und ich habe mich im Bad eingeschlossen und eine Rasierklinge auseinander genommen. Ich habe keine Gefühle mehr für alles um mich herum. In Sekundenschnelle wird alles in schwarz und weiss eingeteilt. Gut, böse, gut, böse. Ich bin bei mir angelangt. Ich bin böse.» «Ich komme zu mir. Ich höre nichts um mich herum. Es herrscht Stille. Ich höre nichts. Sind sie weg, die Stimmen? In meinem Kopf herrscht wohltuende Ruhe. Ich wage es, die Augen aufzumachen. Im gleichen Moment spüre ich den Schmerz mit voller Macht. Was ist geschehen? Ich schaue auf meine Arme. Ein grauenerregender Anblick bietet sich mir. Ich habe mich noch niemals zuvor so tief geschnitten. Alles ist rot.»

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EIN STEINIGER WEG

Heute weiss ich, was damals passiert war: Ich erlebte einen meiner heftigsten Borderline-Schübe. Ich kam daraufhin wieder ins Spital. Willenlos liess ich alles mit mir geschehen. Ich war völlig apathisch. Die Ärzte stuften mich als schizophren ein – eine der schlimmsten psychischen Krankheiten. Im September wurde ich auf die halboffene Station der psychiatrischen Klinik S. eingewiesen. Die ersten drei Monate waren buchstäblich die Hölle. Je nach Besserung meines Zustands bekam ich mehr Freiheiten und durfte mich auch mal ausserhalb der Station bewegen. Doch ich fiel immer wieder in die unterste Stufe zurück und musste ins Isolierungszimmer. In diesem Zimmer gab es nur eine Matratze und sonst gar nichts. Ich schnitt mich, kotzte und bekam haufenweise Medikamente. Wieder einmal war ich innerlich zerbrochen und alles in mir bestand aus Hass auf mich selbst, aus Hass auf meine Vergangenheit und auf alles, was sich bewegte. Ich vertraute niemandem. Tagebuchauszug 24. November 2001: Ich bin jetzt seit zwei Wochen in einem Einzelzimmer. Am Anfang habe ich mich in jeder Ruhezeit geschnitten. Jetzt kommt es langsam wieder. Ich habe heute nichts z’ Nacht gegessen. Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Tag nichts essen. Aber irgendwie habe ich nicht die Kraft dazu.

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DER LANGSAME AUFSTIEG

Ich schaffte es nach fast vier Monaten völliger Dunkelheit, mich langsam auf das Licht am Ende des Tunnels zu bewegen. Nach unzähligen Selbstverletzungen und Suizidversuchen gelang es einem Pfleger, mein Vertrauen zu gewinnen. Er war Experte auf dem Gebiet der Borderline-Krankheit. Ich öffnete mich langsam wie eine Blume im Morgengrauen. Mein geknickter Stängel wurde durch die Zusammenarbeit mit Pflegern, Ärzten, durch Medikamente, Mal- und Bewegungstherapie gestützt. Nach weiteren Fortschritten kam ich auf eine offene Station. Ich hatte mit der Unterstützung meines Therapeuten viel über meine Gefühle und meine Krankheit erfahren. Es gelang mir immer besser, mich den Pflegern gegenüber zu öffnen. Einmal sass ich bei meinem Therapeuten im Zimmer. Die Last der Überlegungen zu Sterben oder zu Leben lag über mir. Die Betreuerin M. kam nach der Sitzung auf mich zu und ging mit mir ins Zimmer. Ich weinte wie ein kleines Kind. Die ganze Anspannung der letzten Monate brach aus mir heraus. Die Betreuerin hielt mich auf dem Schoss und ich heulte so fast eine Stunde lang mein Elend heraus. Dann erzählte ich ihr, dass ich ihr etwas geben müsste. Ich holte einen Sack aus der Schublade und gab ihn ihr. In diesem Sack hatte ich während Monaten Medikamente gesammelt, um mich umzubringen. Am nächsten Morgen hatte ich eine kleine Nachricht von meinem Thearpeuten auf dem Nachttisch: «Liebe J. Die Menge hätte gereicht! Ich bin froh, dass du sie abgegeben hast und ich bin stolz auf dich.» Dies war mein letzter Suizidversuch.

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ERSTE WOCHE AUSSERHALB DER KLINIK

Gegen Ende des Jahres musste ich meine Zukunftspläne definieren. Ich versuchte es mit einer Schnupperwoche im Büro und dem Wohnen in einem Wohnheim. So kam das Brüggli in mein Leben. Mein erster Tag im Brüggli begann mit einem Gespräch. Ich war übernervös und hatte einfach nur Angst. Überall Leute, die ich nicht kannte und alles war fremd. Die erste Woche war nicht einfach, aber sie ging vorbei. Ich konnte mir gut vorstellen, einen Büroberuf auszuüben. Es folgte eine dreimonatige Abklärung in der sozialen Einrichtung Brüggli. Ich war zwischen Hoffen und Bangen. Ich hoffte sehr, dass ich in dieser Firma eine Lehre beginnen durfte, denn ich wusste, dass dies mein Leben verändern würde. Nach der Abklärungszeit fand das IV-Gespräch statt. Ich hatte grosse Angst davor. Doch dann kam die grosse Überraschung: Ich durfte im Brüggli eine Lehre als Kauffrau beginnen! Ich glaubte, mein Herz würde zerspringen: Ich, jemand der psychisch krank war und in der Gesellschaft dauernd unterging, hatte eine Lehrstelle.

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B R Ü G G L I – B R Ü C K E I N D I E O F F E N E W I R T S C H A F T. FÜR MICH: BRÜCKE ZUM LEBEN

Der Beginn der Lehre im Brüggli war für mich ein Schritt in die Realität. Zwei Tage in der Woche hatte ich Schule, an den anderen drei Tagen war ich im Betrieb. Zweimal in der Woche hatte ich meine Gespräche mit dem Betreuer. In meiner Arbeit wurde ich unterstützt und nach und nach übergab man mir mehr Verantwortung. Mein Arbeitstag: «Ich stehe um 6.30 Uhr auf. Um 7.15 Uhr laufe ich los. Im Cafiti gibts zuerst mal etwas Warmes zu trinken. Um 7.45 Uhr brechen wir alle auf zu unseren Abteilungen. Ich grüsse meinen Chef mit einem Lächeln und er begrüsst mich auf die gleiche Art und Weise. Fröhlich begrüsse ich auch die anderen Mitarbeiter, die mich ebenfalls anlächeln. An meinem Arbeitsplatz starte ich den Computer auf und überlege, welche Termine ich heute habe. Ich ordne die verschiedenen Aufgaben nach Abgabetermin und bereite die erste Arbeit vor. Ich beginne mit der Datenliste für meinen zweiten Chef und erfasse dafür erst einmal 300 Hunderassen, die ich später verschiedenen Boxen zuteilen werde. Die Arbeit hat zum Ziel, die Kundenbetreuung zu erleichtern. Ich habe diesen Vorschlag an der letzten Hundemesse gemacht, die Idee fand guten Anklang. Nach und nach gehen alle in die Mittagspause. Ich freue mich darauf, meine Freunde zu treffen. Wir haben eine ganze Stunde Pause, was mir meistens sehr lange vorkommt. Am Nachmittag arbeite ich weiter an meinem Prozess, der von der Erstellung eines Dateisystems handelt. Dieses beinhaltet den ganzen Arbeitsablauf der Abteilung sowie alle Dokumente, Vorlagen und Archivdaten. Da ich sehr in die Arbeit vertieft bin, ist es schnell 17.00 Uhr und mein Arbeitstag ist zu Ende. Ich beeile mich, nach Hause zu kommen, weil ich heute Abend noch ein Training habe. Auf dem Heimweg bin ich sehr müde, freue mich aber auf den Abend und finde, dass es heute gut gelaufen ist.»

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K A R AT E

Als ich einmal mit meinem Chef über meinen Kindeswunsch Karate sprach, war er begeistert von der Idee. Er gab mir genau zwei Stunden Zeit, meine Freizeit zu planen. Ich suchte im Twixtel nach Karateschulen. Zwei Wochen später vereinbarte ich ein Schnuppertraining. Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Abend. Meine Kollegin fuhr mich hin, weil ich so Schiss hatte. Der Sensei zeigte mir die Garderobe und erklärte mir die DojoRegeln. Als ich das erste Mal drin stand, musste ich vor Freude lächeln. Zwei Wochen später wurde ich in seine Karateschule aufgenommen. Das Karate ist ein Seil, an dem ich mich halten kann. Seit diesem Moment gehe ich zwei bis drei Mal pro Woche ins Training. Bereits nach kurzer Zeit lernte ich eine wunderbare Freundin kennen. Ich hatte also auch einmal eine Kollegin ausserhalb des gschützten Rahmens, ein Mensch, der mich so annahm, wie ich war. Von da an ging es in meiner Lebensleiter Stufe für Stufe aufwärts. «Oberflächlich betrachtet sind die Kampfkünste ein Mittel, andere zu besiegen. Doch dahinter steht ein viel grösseres Ziel. Durch das Beherrschen der Angst, kann der Geübte den Kampf durchdringen und einen Zustand erreichen, in dem es kein Kämpfen mehr geben muss.» (Auszug aus meinem Vortrag in der Schule)

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ZUKUNFT

Während meiner Klinikzeit hatte ich nur sehr spärlichen Kontakt zu meinen Eltern. Durch die Therapiesitzungen habe ich gelernt, meine Eltern zu verstehen und erkenne jetzt, warum für sie vieles so schwer war. Und ich kann ihnen heute helfen und Wertvolles mitgeben, weil auch mir jemand geholfen hat. Jetzt habe ich wieder regelmässigen Kontakt zu meinen Eltern. Es ist eine wahnsinnige Entlastung für sie, mich wieder glücklich und gesund zu sehen. Im Oktober werde ich für vier Tage in ein buddhistisches Kloster hier in der Schweiz gehen, um Ruhe zu finden und mehr über diese Lehre zu erfahren. Ich möchte endlich einmal richtig Zeit haben, um lange meditieren zu können. Ich werde auch weiter regelmässig ins Training gehen und im Dezember die nächste Prüfung im Karate absolvieren. Eines Tages möchte ich den schwarzen Gürtel haben. In zwei Jahren werde ich hoffentlich erfolgreich meine Lehre abschliessen und zurück in die offene Wirtschaft kehren. Vielleicht werde ich Marketing studieren oder selbst Kampfkunst unterrichten. Ich wünsche mir, dass ich anderen Menschen mit einer psychischen oder körperlichen Behinderung helfen kann. Vielleicht gründe ich zusammen mit meiner Cousine eine Selbsthilfegruppe.

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DAS BORDERLINE-SYNDROM

Auf der Internetseite www.borderline-syndrom.ch finden Sie weitere hilfreiche Informationen zur Borderline-Krankheit. Es ist eine Kommunikations-Plattform, die auch ein Forum, Newsletter und Telefonnummern für Notfälle zur Verfügung stellt. Ausserdem können dort Gedichte und Bilder von Betroffenen veröffentlicht werden. Link: www.borderline-syndrom.ch

IMPRESSUM

Namen und Örtlichkeiten wurden bewusst zensiert. Die abgedruckten Bilder sind alle von der Autorin gemalt worden. HERAUSGEBER: Brüggli Produktion und Dienstleistung Hofstrasse 3 – 5, 8590 Romanshorn REDAKTION: Complecta GmbH – Agentur für Text und Konzept Sittertalstrasse 34, 9014 St.Gallen L AYO U T: wgraphic&design, Kommunikationsgestaltung und Multimedia GmbH Unionstrasse 9, 9403 Goldach



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