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Hongkong: »Es ist nicht mehr möglich frei und unabhängig zu berichten«

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Editorial

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»Streichen Sie auch Häuser an?«

Manchmal hilft das Kino dabei, die Absurdität der realen Politik zu fassen. Etwa als Nancy Pelosi 2020 während der Debatte um Donald Trumps Impeachment den Gangsterfilm »The Irishman« zitierte: »Streichen Sie auch Häuser an?« Das Telefonat, in dem Trump den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski mit den Worten »Ich möchte, dass Sie uns einen Gefallen tun« unter Druck gesetzt hatte, erinnerte die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses offenbar an eine Szene aus dem Film. Mit der codierten Begrüßung »Ich hörte Sie streichen Häuser an?« rekrutiert dort der korrupte Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa den Mafia-Killer Frank Sheeran.

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Es war wohl die für Trump typische Mischung aus Kraftmeierei und Anspruchsdenken, die Pelosi an Jimmy Hoffa, der von Al Pacino als Narzisst dargestellt wird, denken ließ. Es geht in dem Film um die Verquickung von Politik und Kriminalität: Die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und organisiertem Verbrechen zur Bereicherung in den 1950erJahren, die Invasion der Schweinebucht mit Hilfe der Mafia, die Watergate-Affäre. Im Gedächtnis bleibt der Film vor allem dadurch, wie er seine Figuren aus Gewerkschaften, Politik und Mafia interagieren lässt: Hier gibt es keine Überzeugungen, sondern Geschäft; keine Freundschaft, sondern »einen Gefallen tun«, wofür man im Gegenzug etwas will. Politik bedeutet: Er schuldet uns etwas. »The Irishman« trifft damit einen Nerv, weil der Film vor der Kulisse einer Gangstergeschichte auch auf die Krise der liberalen Demokratie des 21. Jahrhunderts verweist. »Streichen Sie Häuser?« Man kann sich vorstellen, dass Viktor Orban (Seite 27) so eine Frage stellt, oder Sebastian Kurz, wenn er bei einem von der ÖVP gekauften Meinungsforschungsinstitut anruft.

Die Schnittstellen zwischen Politik und Verbrechen, sie sind seit jeher ein beliebtes Thema auf der Leinwand. Im realen Leben haben sie weniger unterhaltsame, weil sehr brutale Auswirkungen. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule interessierte sich für diesen Zusammenhang. Mit dem aus der US-Kriminologie stammenden Begriff des »Rackets« wollte Max Horkheimer das Ende der liberalen Phase des Kapitalismus begreifen, die in den Aufstieg des Faschismus und andererseits in die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie mündete (Seite 21). Die basale Bedeutung von Racket ist Gewaltkriminalität wie zum Beispiel Schutzgelderpressung. In der Racket-Theorie meint es den Umbau des Staates zum Anhängsel einer Clique oder einer völkischfaschistischen Gruppe, wie es die NSDAP war. Der Racket entsteht innerhalb der liberalen Ordnung und kann diese ergänzen, beseitigen oder ersetzen. Die Konkurrenz der Kapitale führt zu einer Konzentration von Reichtum; und auch kriminelle oder rechtsextreme Netzwerke kämpfen dabei um die Vorherrschaft. Dabei kann sich die liberale, konkurrenzbasierte und rechtlich vermittelte Gesellschaftsordnung aufheben. Das Kapital bildet Banden.

Horkheimer formulierte diese Überlegungen am Grab des europäischen Liberalismus und bezog sich mit seiner Racket-Theorie vor allem auf den Nationalsozialismus. Seine Gedanken gewinnen heute wieder an Relevanz. In Osteuropa entstehen von Ungarn über Polen, Serbien bis Österreich sogenannte illiberale Demokratien, eine aktualisierte Form der Racket-Herrschaft. Die heutige Krise des neoliberalen Kapitalismusmodells befeuert Privatisierung und Armut. An der Basis der krisenhaften Umbrüche obsiegt Perspektivlosigkeit. Der Produktivitätssteigerung im Globalen Norden steht die Entwertung von Kapital und die Überflüssigkeit von Arbeitskräften in der Peripherie gegenüber. Die kriminellen Banden bieten einen scheinbaren Ausweg. Banden können verschiedenste Formen annehmen, in unserem Themenschwerpunkt geht es unter anderem um Kartelle (Seite 38), islamistische Gruppen (Seite 33) und in Haiti auch um den Zusammenhang von Hilfsgeldern und Korruption (Seite 36). In den abgehängten Zonen der Konkurrenzgesellschaft stellen sie teilweise eine ‚Alternative‘ zum Staat dar. Sie versprechen zudem einen schnellen Weg aus der Armut. Der kolumbianische Film »Birds of Passage«, aus dem unser Titelbild stammt, erzählt eine solche Geschichte vom rasanten Aufstieg einer indigenen Wayuu-Familie durch Drogenhandel. Der Reichtum währt kurz, führt die Familie in eine Blutfehde und letztlich zu Tod und Vertreibung.

Die Beispiele der Netzwerke von Sebastian Kurz oder Donald Trump, aber auch etwa der Wirecard-Skandal in Deutschland zeigen, dass Rackets und Bandenstrukturen beileibe nicht nur ein Problem der Peripherie sind. Auch in der US-Republikanischen Partei bleibt man eng am Gangsterfilm. So wies der Trump-Berater Roger Stone 2019 einen Zeugen, der vor dem Kongress zu möglichen illegalen Praktiken seines Wahlkampfteams aussagen sollte, an: »Mach’s wie Frank Pentangeli«. Der alte Mafioso wird in »Der Pate II« vor den Senatsausschuss geladen – und stellt sich völlig unwissend.

die redaktion

»Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« von Bertolt Brecht (DDR 1974)

Fotos: Waltraut Denger, Studio Hamburg Enterprises/DRA

Racket als Struktur

Der Racket-Begriff in der Kritischen Theorie bei Max Horkheimer

Wer die Bezeichnung Rackets allein als Instrumentarium zur Analyse krimineller Banden nutzt, fällt hinter die kritische Absicht der Racket-Theorie zurück. Mit dieser wollte Max Horkheimer den Übergang der liberalen Phase des Kapitalismus in autoritäre, nachbürgerliche Verhältnisse erklären. Dort treten Rackets an die Stelle des staatlichen Souveräns.

von Thorsten Fuchshuber

t Rackets, das sind immer die Anderen. Weit weg – soziographisch und geographisch. Verbrecher und Clans, Bandenchefs, Warlords und Gangster. In Mexiko, Somalia, Russland oder irgendwo sonst auf der Welt. Leicht könnte bei der gegenwärtigen Beschäftigung mit einer Kritischen Theorie der Bandenherrschaft der Eindruck entstehen, es gehe dabei um ein Phänomen der wo auch immer verorteten, wie auch immer definierten ‚Peripherie‘. Demgegenüber ließ der Philosoph Max Horkheimer, auf den die Racket-Theorie als gesellschaftskritischer Entwurf zurückgeht, keinen Zweifel daran, dass er mit ihr eine Entwicklung globalen Ausmaßes meint: »Mit Recht lachen wir über den Ideologen, der […] von gang redet, und an die Kontrolle über Abgaben der laundries für ‚protection‘ in einem Stadtviertel denkt«, schrieb er im Juni 1941 an seinen Freund Theodor W. Adorno. Längst gehe es bei der Bandenherrschaft hingegen um »den ‚Schutz‘ von Ländern, die Kontrolle über Europa oder über Industrien und den Staat […]. Das Ausmaß ändert eben die Qualität.«

So reizvoll und reich an kritischen Einsichten es daher sein mag, bestimmte Entwicklungen im sogenannten Globalen Süden, Verquickungen von Politik und Verbrechen, Korruption und Formen der Beuteökonomie mithilfe des Racket-Begriffs zu fassen: Horkheimer hatte primär Anderes im Sinn. Er wandte sich gegen eine von ihm und seinen Mitarbeitern als bloß »formalsoziologisch« kritisierte, deskriptive Theorie der Bandenbildung, wie er sie in den soziologischen und kriminologischen Diskussionen im US-amerikanischen Exil beobachtete. Demgegenüber hatte er die Transformationsprozesse seiner Zeit aus gesellschaftskritischer Perspektive im Blick.

Um diese Entwicklungen zu konzeptionalisieren, wollte Horkheimer gemeinsam mit anderen Mitarbeitern des in den USA in »Institute for Social Research« umbenannten Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine umfassende Theorie der Rackets entwickeln. Damit sollte der Prozess erfasst werden, der zur Entstehung des Nationalsozialismus geführt hatte. Gleichzeitig wollte Horkheimer analysieren, inwiefern die in Deutschland beobachteten Tendenzen in anderer Form auch in anderen Ländern zum Ausdruck kamen; etwa im faschistischen Italien, im von Horkheimer so bezeichneten »integralen Etatismus oder Staatssozialismus« der Sowjetunion,

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