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EINE VERLAGSBEILAGE DES BERLINER KURIER
Über den Werkstattlohn: nur 110 Euro netto
Nach vorn blicken: das Modell Zukunftsplanung F OT OL I A
Ulla Schmidt über den Stand der Inklusion
2 I LEBEN MIT BEHINDERUNG
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
„Von Inklusion profitieren alle Kinder“
Die Lebenshilfe-Vorsitzende Ulla Schmidt über die Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung, Inklusion und Leichte Sprache
A
ls Vorsitzende der Lebenshilfe, einer Selbsthilfevereinigung und eines Fach- und Trägerverbandes für Menschen mit geistiger Behinderung, kümmert sich die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Ulla Schmidt (SPD), um die Belange der Betroffenen und ihrer Familien.
Sie fordern die Umsetzung schulischer Inklusion. Was muss sich am dringlichsten ändern? Wenn man inklusive Klassen einrichten will, ist das Zwei-LehrerPrinzip eine gute Voraussetzung. Dies überall vorzusehen, wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne. Der Wille, Inklusion umsetzen zu wollen, macht heute schon viel möglich. Auch die Lebenshilfe hat gut funktionierende und bei Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung begehrte Schulen mit gemeinsamem Unterricht.
Wie steht es um die Position von Menschen mit geistiger Behinderung und ihrem Wunsch, vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein? Wir sind weit gekommen. Noch vor 50 Jahren wurden Kinder mit geistiger Behinderung oft von ihren Eltern versteckt. Vor dem Gesetz galten sie als bildungsunfähig. Seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen durch den Bundestag 2009 gehört die Inklusion in Deutschland sozusagen zu den Menschenrechten. Allerdings könnte es trotz aller Fortschritte schneller vorangehen. Noch ist die Umsetzung gemeinsamen Unterrichts, der hier in Berlin schon vor über 40 Jahren begann, viel zu schleppend. Auch sind Berührungsängste gerade gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung noch viel zu verbreitet. Und jenseits der Schule? Wie sieht es auf dem Arbeitsmarkt aus? Integrationsbetriebe helfen, Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Auch in der Freizeit, zum Beispiel in Sportvereinen, finden häufiger Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung statt. Das ist eine schöne Entwicklung. Es bleibt jedoch noch eine Menge zu tun, bis es wirklich selbstverständlich ist, dass Menschen mit geistiger Behinderung dabei sind. Wo sehen Sie Handlungsbedarf? Viele praktische Fragen müssen gelöst werden. Nehmen wir fehlende Rampen an Gebäuden, die es für Rollstuhlfahrer unmöglich machen, allein hineinzukommen. Gerade ist im Behindertengleichstellungsgesetz die Chance verpasst worden, auch die freie Wirtschaft zu Barrierefreiheit zu verpflichten. Oder es fehlen Untertitel im Fernsehen. Ohne sie können Gehörlose den Sendungen nicht folgen. Ein weiteres Beispiel ist der schlecht ausgebaute Öffentliche Nahverkehr auf dem Land. Ohne Auto kommen Menschen mit Behinderung nirgendwo hin. Und es gibt zu wenig Leichte Sprache. Damit meinen Sie die vereinfachte Darstellung von Inhalten, die auch
Wie wollen Sie die Eltern für Inklusion gewinnen? Eltern lassen sich am leichtesten durch gelungene Praxis überzeugen. Dort, wo inklusiver Unterricht gut umgesetzt wird, ist die Akzeptanz und Nachfrage groß. Skepsis zeigt sich vor allem dort, wo es wenig Erfahrung mit gemeinsamem Unterricht gibt, wie das auch eine repräsentative Befragung der Bertelsmann-Stiftung ergeben hat. Und Kritik gibt es auch dort, wo schlechte Rahmenbedingungen mit dem Schlagwort Inklusion verschleiert werden.
DPA/UWE ANSPACH
Inklusion an einer Realschule: Kinder mit Behinderung in Regelschulen zu unterrichten, ist ein großer Fortschritt.
für Menschen mit geistiger Behinderung verständlich ist. Richtig. Schwere Sprache kann für Menschen mit einer geistigen Behinderung, für viele alte Menschen und Menschen aus anderen Ländern eine Barriere sein wie die Treppe für einen Rollstuhlfahrer. Um Informationen zu bekommen und seine Rechte wahrzunehmen, muss man diese auch verstehen können. Wir brauchen auch mehr Leichte Sprache, um die politische Teilhabe sicherzustellen. Das ist eine Sprache, die mit kurzen Sätzen und einfachen Wörtern arbeitet. Die Bundestagszeitung „Das Parlament“ bietet inzwischen Nachrichten in Leichter Sprache an. Außerdem gibt es Führungen und Informationen zum Reichstagsgebäude in Leichter Sprache. Die Lebenshilfe gibt ein Magazin
mit Leichter Sprache heraus. Allerdings ruft das gute Beispiel der Wahlunterlagen in Leichter Sprache zur letzten Bürgerschaftswahl in Bremen noch immer Leserbriefschreiber auf den Plan, die den angeblichen Verfall der deutschen Sprache beklagen.
LAURENCE CHAPERON
Ulla Schmidt, Vorsitzende der Lebenshilfe
Es gibt Kritik von Eltern. Sie sagen, nicht behinderte Kinder seien in Inklusionsklassen unterfordert. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen das Gegenteil. Kinder, die in heterogenen Lerngruppen binnendifferenziert unterrichtet werden, weisen eher bessere Leistungen auf. Von Inklusion profitieren alle Kinder – die mit und die ohne Behinderung. Doch trotz der wissenschaftlichen Untersuchungen, trotz guter Erfahrungen halten sich die Befürchtungen.
Der Bundestag plant, ein Bundesteilhabegesetz zu verabschieden. Einige Verbände haben den Entwurf kritisiert. Wie ist Ihre Erwartung? Ich erwarte, dass alle Menschen mit Behinderung genau die Hilfe und Unterstützung erhalten, die sie persönlich brauchen. Und zwar umfassend und als Nachteilsausgleich: Dazu gehört, dass sie das Recht auf ein Sparbuch haben – heute ist bei 2 600 Euro Schluss, dann muss das Ersparte aufgebraucht werden, bevor es Hilfe gibt. Fortschritte erwarten wir uns besonders bei der Teilhabe am Arbeitsleben durch das Budget für Arbeit. Menschen mit Behinderung können damit in Betrieben des ersten Arbeitsmarkts arbeiten und bekommen die Unterstützung, die sie dafür brauchen. Wie sehen Sie die Situation von Senioren mit geistiger Behinderung? Es gibt immer mehr Senioren mit einer geistigen Behinderung. Die Lebenshilfe setzt sich dafür ein, dass sie in der angestammten Wohnform bleiben können und angemessene Unterstützung bekommen. Leider ist die Tendenz groß, ihnen keine guten Angebote zur Tagesstrukturierung zu machen. Oder sie auch im jüngeren Seniorenalter auf Altenpflegeheime zu verweisen. Gespräch: Mechthild Henneke.
LEBEN MIT BEHINDERUNG I 3
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
Der Weihnachtsmann kommt zu den Psychopathen
Laienschauspieler mit und ohne Behinderung setzen sich mit den Folgen der gerichtlichen Unterbringung in der Psychiatrie auseinander
K
ann ein Schokopudding der Anlass für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sein? Ja, das ist möglich. Wie Hilfsbereitschaft in einem Supermarkt das Leben total verändern kann, wie man plötzlich nicht mehr Herr beziehungsweise Frau über sich selbst ist, das zeigen die Schauspieler des Theaters Yrrwarr, ein inklusives Theaterensemble der Rehabilitationszentrum Berlin-Ost gGmbH (rbo). Die 13 Akteure setzen sich in ihrem neuen Stück, das übermorgen, am 9. Juni 2016, Premiere hat, mit den Auswirkungen des Paragrafen 63 Strafgesetzbuch auseinander. Darin geht es um die gerichtliche Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Die Schauspieler haben bereits ähnliche Erfahrung gemacht. So Annette, die neben der Köchin auch die rigorose Schwester Cindy spielt. Alle zeigen Respekt vor der
YRRWARR
Flötenspieler: Seit Dezember 2010 sind Akteure mit und ohne Behinderung im Theaterensemble Yrrwarr auf der Bühne.
kleinen Frau, selbst wenn ihre Pillen nicht wirken. Unterstützt wird sie von „der Ehrenamtlichen“ namens Maren, die von Anke gespielt wird. Klaus-Peter verkörpert den strengen Dr. Högerle, der nur helfen will, aber forsch sein muss, Florian, den zweiten Arzt, der sehr ge-
nau seinen Dienst tut, aber insgeheim Verständnis für die Patienten hat. Auch eine Insassin mit Tick-Störung, Hardy, der eine multiple Persönlichkeitsstörung hat und sich als Weihnachtsmann ausgibt, ein schwuler orientalischer Security-Mann, und die temperament-
volle Charlotte, gespielt von Ingrid, kommen in dem Stück vor. In den vergangenen Tagen probten sie im Haus der Begegnungen in der Paul-Junius-Straße. Manche Szene wird jedes Mal anders gespielt, denn die Künstler arbeiten ohne Souffleur. Einige können
nicht lesen. Andere haben Sprachstörungen oder Entwicklungsverzögerungen. Doch das hält sie nicht davon ab, lange und schwierige Texte vorzutragen. „In der Improvisation liegt ihre Stärke“, erklärt Verena Beck, die gemeinsam mit Nina Siller das Stück inszenierte. „Wenn jemand eine Textpassage vergessen hat, müssen die anderen ihn retten.“ Gerade wurde die Anfangsszene zum sechsten Mal anders gespielt. Niemanden stört es. Das Ensemble stellt sich bereits bei der Entwicklung der Stücke und der einzelnen Charaktere darauf ein. Der Spaß am Spielen steht im Vordergrund. (ag.) Premiere: 9. Juni 2016 um 19 Uhr im Theaterforum Kreuzberg , Eisenbahnstraße 21, Preis/Karte: 8 Euro, erm. 5 Euro, Tel. 030–70 07 17 10 info@tfk-berlin.de
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4 I LEBEN MIT BEHINDERUNG
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
110 Euro Entgelt für die Arbeit in der Werkstatt
Die 47-jährige Grit Ammon ist geistig behindert und in einer Wäscherei tätig. Dieser Verdienst ist gesetzlich geregelt
M
it nur 1 080 Gramm kam die kleine Grit 1969 in Berlin zur Welt. Ihre ersten Wochen verbrachte sie im Inkubator im Krankenhaus am Friedrichshain. Ihr geringes Gewicht, Komplikationen im Brutkasten und häufige langanhaltende spastische Krämpfe in der Kindheit führten dazu, dass ihr Gehirn irreparablen Schaden davontrug. Grit ist geistig behindert. Sie arbeitet heute in einer Wäscherei in den Teltower Diakonischen Werkstätten. Ihr monatlicher Verdienst beträgt rund 110 Euro monatlich. Diskussionen in der Politik „Sie geht acht Stunden am Tag arbeiten“, sagt ihre Mutter, Iris Ammon. In dieser Zeit widme sie sich fünf bis sechs Stunden intensiv ihrer Tätigkeit in der Trockenabteilung, nehme beispielsweise Wäsche aus den Trocknern, lege Handtücher. Die Bezahlung sei in Anbetracht dessen, dass sie volle Arbeitstage in der Wäscherei verbringe, „recht, recht wenig“. Ammon spricht ein Thema an, das in Politik und Sozialverbänden diskutiert wird: das Entgelt für Menschen in Behindertenwerkstätten. Zahlreiche Gesetze und Bestimmungen regeln ihre Bezahlung. Laut Arbeitsministerium beträgt das durchschnittliche Arbeitsentgelt in den Werkstätten monatlich rund 180 Euro, durchschnittlich 192 Euro in den alten und 140 Euro in den neuen Ländern, in Berlin 154 Euro (Durchschnittsangaben für das Jahr 2014). Das Entgelt setzt sich aus einem Grundbetrag von 75 Euro
DPA/DANIEL KARMANN
Für die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt wie dieser gibt es ein Entgelt. Es liegt weit unter dem Mindestlohn.
und zwei weiteren Komponenten zusammen. So schreibt das Recht den Betreibern von Werkstätten vor, mindestens 70 Prozent des Erlöses an die behinderten Beschäftigten auszuzahlen. Der erwirtschaftete Gewinn soll also mit ihnen geteilt werden. Je nach Arbeitsleistung findet dabei eine Staffelung statt – wer mehr zum Erlös beiträgt, erhält auch mehr Geld. Diese Regelung führt dazu, dass es keine festen Entgelte für Menschen in Werkstätten gibt, sondern dass diese stark variieren. Die Leiterin des Geschäftsbereichs Jugend und Behinderte im Evangelischen Diakonissenhaus Berlin Teltow Lehnin, Sabine Oster, sagt, das Entgelt sei mit einem nor-
malen Gehalt nicht zu vergleichen. Hintergrund ist, dass Werkstätten nicht als Teil des Arbeitsmarkts angesehen werden. Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, stünden in einem „arbeitnehmerähnlichen Verhältnis“. Ihre Arbeitskapazität auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt betrage drei Stunden täglich, sagt Oster. Neben dem Entgelt aus der Werkstatt erhielten die Mitarbeiter außerdem die staatliche Grundsicherung – diese sichere vor allem den Lebensunterhalt. Oster teilt weiterhin mit, dass der Grundbetrag von 75 Euro ab August auf 80 Euro monatlich erhöht wird. Arbeitsplätze in Werkstätten sind teuer, denn die dort Tätigen müssen kontinuierlich betreut wer-
den, und es gibt hohe Verwaltungskosten. Die komplizierten rechtlichen Regelungen gehen mit zahlreichen Anträgen und einer intensiven Dokumentation der Arbeit und des Personals einher. „Behindertenwerkstätten sind ein System abseits des Arbeitsmarkts“, sagt Dorothee Czennia, Referentin Abteilung Sozialpolitik beim Sozialverband VdK. Sie sagt, sie könne nachvollziehen, dass ein Entgelt um die hundert Euro von den Mitarbeitern als „zu wenig“ empfunden werde. Auch Grit ist mittlerweile mit ihrer Bezahlung nicht mehr zufrieden. Sie hat vom Mindestlohn von 8,50 Euro erfahren, in Brandenburg beträgt er sogar neun Euro. Diesen würde sie gern erhalten.
B E Z A H L U N G Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten beschäftigt sind, erhalten dort ein Arbeitsentgelt. Dieses setzt sich aus zwei Teilen zusammen, einem leistungsunabhängigen Grundbetrag und einem leistungsabhängigen Steigerungsbetrag, der sich auch aus dem Erlös der Werkstatt speist. Zusätzlich erhalten sie ein Arbeitsförderungsgeld von 26 Euro, eine Leistung des Kostenträgers, die die Werkstatt an die Menschen mit Behinderungen auszahlt. Angesichts der geringen Höhe der Arbeitsentgelte sind die in den Werkstätten beschäftigten Menschen auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung durch die Kommune nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) angewiesen.
V O N
Ihre Mutter hat ihr die gesetzliche Situation erklärt, doch Grit würde gern mehr verdienen. Die 47-Jährige kann weder lesen noch schreiben. Auch kann sie wegen einer Augenerkrankung nicht bei Neonlicht arbeiten. Gleichzeitig hat sie gute Fähigkeiten, sich auszudrücken, betont ihre Mutter. „Sie spricht gut, grammatisch völlig korrekt und hat ein gutes Verständnis ihrer Umwelt“, sagt ihre Mutter. Iris Ammon sieht ihre Tochter in der Wäscherei am rechten Platz. „Es wäre aber wünschenswert, dass sie wenigstens rund 200 Euro monatlich verdient“, sagt sie. Ihre Tochter muss aufgrund von Nebenwirkungen von Medikamenten regelmäßig zur Kosmetik. Auch würde sie gern einmal in den Urlaub fahren, was bei den geringen Einkünften ohne Hilfe der Eltern nicht möglich ist. Sicherung der Rente Ammon weist auf einen großen Vorteil der Arbeit in der Behindertenwerkstatt hin. „Nach 20 Jahren Tätigkeit hat meine Tochter einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente“, sagt sie. Diese sei gut und falle höher aus als bei manchem Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor. Diese Alterssicherung sei von großem Wert. Der Wechsel von Menschen aus Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt findet nur selten statt. Denn – trotz aller Nachteile – bieten die Werkstätten den dort Tätigen einige Vorteile, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht vorhanden sind. Mechthild Henneke
B E H I N D E R T E N
Ab 1. Januar 2017 soll der dort bestimmte Freibetrag in Höhe von 25 Prozent (des übersteigenden Einkommens) auf 50 Prozent erhöht werden. Das bedeutet, dass das Arbeitsentgelt künftig in einem geringeren Umfang auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet wird, Leistungen der Grundsicherung also in einem künftig höheren Umfang als bisher gezahlt werden. Bei einem monatlichen Durchschnittsentgelt von 180 Euro bedeutet das konkret monatlich rund 26 Euro mehr Gesamteinkommen. Zurzeit beträgt der monatliche Lohn im Bundesdurchschnitt rund 180 Euro, wenn der Mensch mit Behinderung in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt ist.
Im Teilhabegesetz, das die Bundesregierung derzeit plant, ist ein sogenanntes Budget für Arbeit vorgesehen. Es soll die Situation von Menschen mit Behinderung verbessern. Die Verbesserung mit Hilfe des Budgets für Arbeit gegenüber der heutigen Situation besteht darin, dass der Mensch mit Behinderung auf einem Arbeitsplatz in einem Betrieb beschäftigt wird und eine tarifliche oder ortsübliche Entlohnung, wenigstens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, erhält. Damit kann der Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen bestritten werden, und der Mensch mit Behinderung ist nicht mehr – wie zuvor in der Werkstatt für behinderte Menschen – auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
4 I LEBEN MIT BEHINDERUNG
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
110 Euro Entgelt für die Arbeit in der Werkstatt
Die 47-jährige Grit Ammon ist geistig behindert und in einer Wäscherei tätig. Dieser Verdienst ist gesetzlich geregelt
M
it nur 1 080 Gramm kam die kleine Grit 1969 in Berlin zur Welt. Ihre ersten Wochen verbrachte sie im Inkubator im Krankenhaus am Friedrichshain. Ihr geringes Gewicht, Komplikationen im Brutkasten und häufige langanhaltende spastische Krämpfe in der Kindheit führten dazu, dass ihr Gehirn irreparablen Schaden davontrug. Grit ist geistig behindert. Sie arbeitet heute in einer Wäscherei in den Teltower Diakonischen Werkstätten. Ihr monatlicher Verdienst beträgt rund 110 Euro monatlich. Diskussionen in der Politik „Sie geht acht Stunden am Tag arbeiten“, sagt ihre Mutter, Iris Ammon. In dieser Zeit widme sie sich fünf bis sechs Stunden intensiv ihrer Tätigkeit in der Trockenabteilung, nehme beispielsweise Wäsche aus den Trocknern, lege Handtücher. Die Bezahlung sei in Anbetracht dessen, dass sie volle Arbeitstage in der Wäscherei verbringe, „recht, recht wenig“. Ammon spricht ein Thema an, das in Politik und Sozialverbänden diskutiert wird: das Entgelt für Menschen in Behindertenwerkstätten. Zahlreiche Gesetze und Bestimmungen regeln ihre Bezahlung. Laut Arbeitsministerium beträgt das durchschnittliche Arbeitsentgelt in den Werkstätten monatlich rund 180 Euro, durchschnittlich 192 Euro in den alten und 140 Euro in den neuen Ländern, in Berlin 154 Euro (Durchschnittsangaben für das Jahr 2014). Das Entgelt setzt sich aus einem Grundbetrag von 75 Euro
DPA/DANIEL KARMANN
Für die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt wie dieser gibt es ein Entgelt. Es liegt weit unter dem Mindestlohn.
und zwei weiteren Komponenten zusammen. So schreibt das Recht den Betreibern von Werkstätten vor, mindestens 70 Prozent des Erlöses an die behinderten Beschäftigten auszuzahlen. Der erwirtschaftete Gewinn soll also mit ihnen geteilt werden. Je nach Arbeitsleistung findet dabei eine Staffelung statt – wer mehr zum Erlös beiträgt, erhält auch mehr Geld. Diese Regelung führt dazu, dass es keine festen Entgelte für Menschen in Werkstätten gibt, sondern dass diese stark variieren. Die Leiterin des Geschäftsbereichs Jugend und Behinderte im Evangelischen Diakonissenhaus Berlin Teltow Lehnin, Sabine Oster, sagt, das Entgelt sei mit einem nor-
malen Gehalt nicht zu vergleichen. Hintergrund ist, dass Werkstätten nicht als Teil des Arbeitsmarkts angesehen werden. Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, stünden in einem „arbeitnehmerähnlichen Verhältnis“. Ihre Arbeitskapazität auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt betrage drei Stunden täglich, sagt Oster. Neben dem Entgelt aus der Werkstatt erhielten die Mitarbeiter außerdem die staatliche Grundsicherung – diese sichere vor allem den Lebensunterhalt. Oster teilt weiterhin mit, dass der Grundbetrag von 75 Euro ab August auf 80 Euro monatlich erhöht wird. Arbeitsplätze in Werkstätten sind teuer, denn die dort Tätigen müssen kontinuierlich betreut wer-
den, und es gibt hohe Verwaltungskosten. Die komplizierten rechtlichen Regelungen gehen mit zahlreichen Anträgen und einer intensiven Dokumentation der Arbeit und des Personals einher. „Behindertenwerkstätten sind ein System abseits des Arbeitsmarkts“, sagt Dorothee Czennia, Referentin Abteilung Sozialpolitik beim Sozialverband VdK. Sie sagt, sie könne nachvollziehen, dass ein Entgelt um die hundert Euro von den Mitarbeitern als „zu wenig“ empfunden werde. Auch Grit ist mittlerweile mit ihrer Bezahlung nicht mehr zufrieden. Sie hat vom Mindestlohn von 8,50 Euro erfahren, in Brandenburg beträgt er sogar neun Euro. Diesen würde sie gern erhalten.
B E Z A H L U N G Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten beschäftigt sind, erhalten dort ein Arbeitsentgelt. Dieses setzt sich aus zwei Teilen zusammen, einem leistungsunabhängigen Grundbetrag und einem leistungsabhängigen Steigerungsbetrag, der sich auch aus dem Erlös der Werkstatt speist. Zusätzlich erhalten sie ein Arbeitsförderungsgeld von 26 Euro, eine Leistung des Kostenträgers, die die Werkstatt an die Menschen mit Behinderungen auszahlt. Angesichts der geringen Höhe der Arbeitsentgelte sind die in den Werkstätten beschäftigten Menschen auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung durch die Kommune nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) angewiesen.
V O N
Ihre Mutter hat ihr die gesetzliche Situation erklärt, doch Grit würde gern mehr verdienen. Die 47-Jährige kann weder lesen noch schreiben. Auch kann sie wegen einer Augenerkrankung nicht bei Neonlicht arbeiten. Gleichzeitig hat sie gute Fähigkeiten, sich auszudrücken, betont ihre Mutter. „Sie spricht gut, grammatisch völlig korrekt und hat ein gutes Verständnis ihrer Umwelt“, sagt ihre Mutter. Iris Ammon sieht ihre Tochter in der Wäscherei am rechten Platz. „Es wäre aber wünschenswert, dass sie wenigstens rund 200 Euro monatlich verdient“, sagt sie. Ihre Tochter muss aufgrund von Nebenwirkungen von Medikamenten regelmäßig zur Kosmetik. Auch würde sie gern einmal in den Urlaub fahren, was bei den geringen Einkünften ohne Hilfe der Eltern nicht möglich ist. Sicherung der Rente Ammon weist auf einen großen Vorteil der Arbeit in der Behindertenwerkstatt hin. „Nach 20 Jahren Tätigkeit hat meine Tochter einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente“, sagt sie. Diese sei gut und falle höher aus als bei manchem Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor. Diese Alterssicherung sei von großem Wert. Der Wechsel von Menschen aus Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt findet nur selten statt. Denn – trotz aller Nachteile – bieten die Werkstätten den dort Tätigen einige Vorteile, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht vorhanden sind. Mechthild Henneke
B E H I N D E R T E N
Ab 1. Januar 2017 soll der dort bestimmte Freibetrag in Höhe von 25 Prozent (des übersteigenden Einkommens) auf 50 Prozent erhöht werden. Das bedeutet, dass das Arbeitsentgelt künftig in einem geringeren Umfang auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet wird, Leistungen der Grundsicherung also in einem künftig höheren Umfang als bisher gezahlt werden. Bei einem monatlichen Durchschnittsentgelt von 180 Euro bedeutet das konkret monatlich rund 26 Euro mehr Gesamteinkommen. Zurzeit beträgt der monatliche Lohn im Bundesdurchschnitt rund 180 Euro, wenn der Mensch mit Behinderung in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt ist.
Im Teilhabegesetz, das die Bundesregierung derzeit plant, ist ein sogenanntes Budget für Arbeit vorgesehen. Es soll die Situation von Menschen mit Behinderung verbessern. Die Verbesserung mit Hilfe des Budgets für Arbeit gegenüber der heutigen Situation besteht darin, dass der Mensch mit Behinderung auf einem Arbeitsplatz in einem Betrieb beschäftigt wird und eine tarifliche oder ortsübliche Entlohnung, wenigstens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, erhält. Damit kann der Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen bestritten werden, und der Mensch mit Behinderung ist nicht mehr – wie zuvor in der Werkstatt für behinderte Menschen – auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung angewiesen.
LEBEN MIT BEHINDERUNG I 5
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
Mit einer App sicher zur Glaskuppel finden
Zwar gibt es viele Angebote für barrierefreien Tourismus in Berlin, doch fehlt die Information darüber. VisitBerlin will das bald ändern
W
er die Hauptstadt als Tourist im Rollstuhl erkunden will, hat vermutlich vor Antritt der Reise viel Zeit am Rechner verbracht, um herauszufinden, welche barrierefreien Angebote und Möglichkeiten sie oder ihn in Berlin erwarten. Zwar gibt es viele Aufzüge, Rampen und breite Türen, durch die ein Rollstuhl passt. Doch eine zentrale Webseite oder App, in der alle Informationen gebündelt sind, fehlt. „Das ist das größte Problem“, sagt Gerhard Buchholz, zuständig für Barrierefreiheit bei VisitBerlin, der landeseigenen Tourismusagentur.
einstellen können soll. Hauptziel war es, eine einheitliche, geprüfte Kennzeichnung für touristische Angebote einzuführen. Mittlerweile ist die Webseite www.reisen-fuer-alle.de online. In der Datenbank finden sich Hotels, Restaurants und Cafés, die den Kriterien des Reisen-für-alle-Gütesiegels genügen. Buchholz hat in Berlin persönlich zahlreiche Betriebe geprüft. „Ich bin mit Zollstock, Wasserwaage und zwei Aktenordnern in Hotels gegangen und habe dort die Breite von Fluren und Türen gemessen“, berichtet er. Inzwischen haben 60 Häuser in Berlin die Zertifizierung. Insgesamt geht Buchholz davon aus, dass von den rund 140 000 Gästebetten bis zu zehn Prozent barrierefrei erreichbar sind.
Informationsdefizit beseitigen Das Informationsdefizit soll noch in diesem Sommer beseitigt werden. Spätestens Anfang September, wenn der Hauptreisemonat beginnt, will VisitBerlin eine neue App vorstellen, die Menschen mit Behinderung die Navigation durch die Stadt ermöglicht. Vorstellbar ist, dass der Besucher des Informationsbüros von VisitBerlin am Hauptbahnhof direkt und kostenlos die App herunterlädt und sich sofort auf den Weg zum Reichstag und Brandenburger Tor macht – geleitet von den Hinweisen, welche Strecke zurückgelegt werden muss, wo sich Straßen problemlos überqueren lassen und was es barrierefrei zu sehen gibt. In der App soll Service für verschiedene Formen der körperlichen Einschränkung angeboten werden: zum Beispiel fehlende Sehfähigkeit, Gehörlosigkeit oder motorische Störungen. Je nach Einschränkung können Audiotutori-
Positive Noten für Berlin
IMAGO/RAINER UNKEL
Die Rampe in der Reichstagskuppel hat zwar keine Stufen, doch zu zweit kommt man schneller hinauf.
als, Videos oder Texte Abhilfe schaffen. Die Initiative von VisitBerlin steht im Rahmen der Bemühungen um mehr Barrierefreiheit in der Stadt. Buchholz ist seit vier Jahren bei VisitBerlin auf diesem Feld unterwegs. Als er das Thema übernahm, war es in den Köpfen noch wenig präsent, berichtet er. „Da-
B A R R I E R E F R E I E R
B E S U C H
mals mussten wir noch viele Barrieren in den Köpfen überwinden.“ Diese Situation habe sich mittlerweile geändert. Die Institutionen seien „wachgekitzelt“. „Barrierefreiheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Buchholz. Veranstaltungen wie die Paralympics hätten zum Bewusstseinswandel beigetragen.
Ein Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums hat den Ausbau von barrierefreiem Tourismus in Berlin gefördert. 2014 rief das Ministerium „Reisen für alle“ ins Leben, ein Projekt, mit dessen Hilfe die Tourismusbranche sich besser auf die stark wachsende Gruppe älterer, aktivitäts- und mobilitätseingeschränkter Menschen
Insgesamt erhält die Stadt von Menschen mit Behinderung eine gute Bewertung. Buchholz berichtet von Vor-Ort-Besichtigungen („Site Inspections“) internationaler Journalistenteams, die Berlin bewerten und zu einem positiven Urteil kommen. Die Kritik ausländischer Besucher ist besonders wichtig, denn internationale Touristen machen inzwischen 44,6 Prozent der Besucher aus. Die wichtigsten Herkunftsländer sind die USA, Großbritannien, Skandinavien und die Niederlande. „Die Menschen von dort sind Standards gewöhnt“, sagt Buchholz, „sie erwarten, dass das hier auch ist.“ Mechthild Henneke
Begleitung und Unterstützung für ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben
Touristen erhalten Informationen zu barrierefreien Angeboten auf der Webseite von VisitBerlin. www.visitberlin.de/de/barrierefrei
pel sowie ein Umgebungsrelief vom Regierungsviertel. Der Reichstag bietet auch Führungen für Blinde und Sehbehinderte an. Anmeldung erforderlich.
Mehrere Verbände und Webseiten bieten Informationen zum barrierefreien Tourismus in Berlin. Berlin.de hat einige von ihnen gesammelt und verlinkt.
Für Gehörlose und Hörgeschädigte gibt es in Berlin neben speziellen Veranstaltungen auch Führungen in Gebärdensprache. Viele Berliner Museen bieten Führungen an, die auf die Bedürfnisse von Gehörlosen zugeschnitten sind. Mehr Infos: www.museumsportal-berlin.de
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Wer geh- oder sehbehindert ist und Bus und Bahn nur schwer alleine benutzen kann, kann vom Verkehrsverbund VBB kostenlos eine Begleitung erhalten. Telefon beim Servicebüro: 030–34 64 99 40 oder online auf www.vbb.de
Sabine Apel, Tel. (030) 68 281 – 506
Auf www.berlinfuerblinde.de begrüßt Ex-Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse die Besucher in einer Audio-Ansprache. Die Reichstagskuppel kann im Rollstuhl gut besucht werden – es gibt keine Stufen. Auf der Besucherebene steht ein Tastmodell des Reichstags und dessen Umgebung. Außerdem gibt es ein Relief des Plenarsaals und der Kup-
Ob im Betreuten Einzelwohnen oder im Wohnverbund, wir unterstützen Sie den Alltag zu gestalten, einen Arbeitsplatz zu finden, Teil der Gemeinschaft zu sein, sich um die Gesundheit zu kümmern.
Wir beraten Sie gerne! Jutta Güttner, Tel. (030) 68 281 – 503
Koordination Neukölln / Treptow / Kreuzberg guettner@lfb-lebensraeume.de Koordination Tempelhof / Lankwitz, Seniorenwohnen apel@lfb-lebensraeume.de
www.lfb-lebensraeume.de
LEBEN MIT BEHINDERUNG I 5
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
Mit einer App sicher zur Glaskuppel finden
Zwar gibt es viele Angebote für barrierefreien Tourismus in Berlin, doch fehlt die Information darüber. VisitBerlin will das bald ändern
W
er die Hauptstadt als Tourist im Rollstuhl erkunden will, hat vermutlich vor Antritt der Reise viel Zeit am Rechner verbracht, um herauszufinden, welche barrierefreien Angebote und Möglichkeiten sie oder ihn in Berlin erwarten. Zwar gibt es viele Aufzüge, Rampen und breite Türen, durch die ein Rollstuhl passt. Doch eine zentrale Webseite oder App, in der alle Informationen gebündelt sind, fehlt. „Das ist das größte Problem“, sagt Gerhard Buchholz, zuständig für Barrierefreiheit bei VisitBerlin, der landeseigenen Tourismusagentur.
einstellen können soll. Hauptziel war es, eine einheitliche, geprüfte Kennzeichnung für touristische Angebote einzuführen. Mittlerweile ist die Webseite www.reisen-fuer-alle.de online. In der Datenbank finden sich Hotels, Restaurants und Cafés, die den Kriterien des Reisen-für-alle-Gütesiegels genügen. Buchholz hat in Berlin persönlich zahlreiche Betriebe geprüft. „Ich bin mit Zollstock, Wasserwaage und zwei Aktenordnern in Hotels gegangen und habe dort die Breite von Fluren und Türen gemessen“, berichtet er. Inzwischen haben 60 Häuser in Berlin die Zertifizierung. Insgesamt geht Buchholz davon aus, dass von den rund 140 000 Gästebetten bis zu zehn Prozent barrierefrei erreichbar sind.
Informationsdefizit beseitigen Das Informationsdefizit soll noch in diesem Sommer beseitigt werden. Spätestens Anfang September, wenn der Hauptreisemonat beginnt, will VisitBerlin eine neue App vorstellen, die Menschen mit Behinderung die Navigation durch die Stadt ermöglicht. Vorstellbar ist, dass der Besucher des Informationsbüros von VisitBerlin am Hauptbahnhof direkt und kostenlos die App herunterlädt und sich sofort auf den Weg zum Reichstag und Brandenburger Tor macht – geleitet von den Hinweisen, welche Strecke zurückgelegt werden muss, wo sich Straßen problemlos überqueren lassen und was es barrierefrei zu sehen gibt. In der App soll Service für verschiedene Formen der körperlichen Einschränkung angeboten werden: zum Beispiel fehlende Sehfähigkeit, Gehörlosigkeit oder motorische Störungen. Je nach Einschränkung können Audiotutori-
Positive Noten für Berlin
IMAGO/RAINER UNKEL
Die Rampe in der Reichstagskuppel hat zwar keine Stufen, doch zu zweit kommt man schneller hinauf.
als, Videos oder Texte Abhilfe schaffen. Die Initiative von VisitBerlin steht im Rahmen der Bemühungen um mehr Barrierefreiheit in der Stadt. Buchholz ist seit vier Jahren bei VisitBerlin auf diesem Feld unterwegs. Als er das Thema übernahm, war es in den Köpfen noch wenig präsent, berichtet er. „Da-
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B E S U C H
mals mussten wir noch viele Barrieren in den Köpfen überwinden.“ Diese Situation habe sich mittlerweile geändert. Die Institutionen seien „wachgekitzelt“. „Barrierefreiheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagt Buchholz. Veranstaltungen wie die Paralympics hätten zum Bewusstseinswandel beigetragen.
Ein Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums hat den Ausbau von barrierefreiem Tourismus in Berlin gefördert. 2014 rief das Ministerium „Reisen für alle“ ins Leben, ein Projekt, mit dessen Hilfe die Tourismusbranche sich besser auf die stark wachsende Gruppe älterer, aktivitäts- und mobilitätseingeschränkter Menschen
Insgesamt erhält die Stadt von Menschen mit Behinderung eine gute Bewertung. Buchholz berichtet von Vor-Ort-Besichtigungen („Site Inspections“) internationaler Journalistenteams, die Berlin bewerten und zu einem positiven Urteil kommen. Die Kritik ausländischer Besucher ist besonders wichtig, denn internationale Touristen machen inzwischen 44,6 Prozent der Besucher aus. Die wichtigsten Herkunftsländer sind die USA, Großbritannien, Skandinavien und die Niederlande. „Die Menschen von dort sind Standards gewöhnt“, sagt Buchholz, „sie erwarten, dass das hier auch ist.“ Mechthild Henneke
Begleitung und Unterstützung für ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben
Touristen erhalten Informationen zu barrierefreien Angeboten auf der Webseite von VisitBerlin. www.visitberlin.de/de/barrierefrei
pel sowie ein Umgebungsrelief vom Regierungsviertel. Der Reichstag bietet auch Führungen für Blinde und Sehbehinderte an. Anmeldung erforderlich.
Mehrere Verbände und Webseiten bieten Informationen zum barrierefreien Tourismus in Berlin. Berlin.de hat einige von ihnen gesammelt und verlinkt.
Für Gehörlose und Hörgeschädigte gibt es in Berlin neben speziellen Veranstaltungen auch Führungen in Gebärdensprache. Viele Berliner Museen bieten Führungen an, die auf die Bedürfnisse von Gehörlosen zugeschnitten sind. Mehr Infos: www.museumsportal-berlin.de
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Wer geh- oder sehbehindert ist und Bus und Bahn nur schwer alleine benutzen kann, kann vom Verkehrsverbund VBB kostenlos eine Begleitung erhalten. Telefon beim Servicebüro: 030–34 64 99 40 oder online auf www.vbb.de
Sabine Apel, Tel. (030) 68 281 – 506
Auf www.berlinfuerblinde.de begrüßt Ex-Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse die Besucher in einer Audio-Ansprache. Die Reichstagskuppel kann im Rollstuhl gut besucht werden – es gibt keine Stufen. Auf der Besucherebene steht ein Tastmodell des Reichstags und dessen Umgebung. Außerdem gibt es ein Relief des Plenarsaals und der Kup-
Ob im Betreuten Einzelwohnen oder im Wohnverbund, wir unterstützen Sie den Alltag zu gestalten, einen Arbeitsplatz zu finden, Teil der Gemeinschaft zu sein, sich um die Gesundheit zu kümmern.
Wir beraten Sie gerne! Jutta Güttner, Tel. (030) 68 281 – 503
Koordination Neukölln / Treptow / Kreuzberg guettner@lfb-lebensraeume.de Koordination Tempelhof / Lankwitz, Seniorenwohnen apel@lfb-lebensraeume.de
www.lfb-lebensraeume.de
6 I LEBEN MIT BEHINDERUNG
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
Eine Kita zum WohlfĂźhlen Die Britzer Lebenshilfe Inklusionskita will Kindern von Anfang an das GefĂźhl geben, zur Gesellschaft dazuzugehĂśren
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ch will nicht nach Hause“, sagt der sechsjährige Junge und presst sich ins Sofa im Eingang der Lebenshilfe Inklusionskita in Britz. Musa Al Munaizel, GeschäftsfĂźhrer und pädagogischer Leiter der Kita, zieht den Jungen hoch. „Wenn deine Mutter ,komm‘ sagt, musst du gehen“, fordert er ihn auf. Widerwillig folgt der Junge seiner Mutter. „Manche Kinder sind lieber hier als zu Hause“, sagt Al Munaizel. Grund sei häufig, dass sie sich in der Kita mehr dazugehĂśrig fĂźhlen. Das Thema ZugehĂśrigkeit ist fĂźr Al Munaizel von groĂ&#x;er Bedeutung. Wer nicht dazugehĂśrt, fĂźhlt sich als AuĂ&#x;enseiter und richtet sich eventuell in dieser Rolle ein – mit mĂśglicherweise gefährlichen Konsequenzen. Die Kinder in der Inklusionskita sollen von Anfang an verstehen, dass sie willkommen in der Gesellschaft sind. FrĂśhliches Wippen im Garten Dabei stammen viele der 170 Jungen und Mädchen aus Familien, die sich am Rand der Gesellschaft befinden: die von Hartz IV leben, die Migrationshintergrund haben, in denen die Eltern wenig oder kein Deutsch sprechen. Ein Drittel sind Kinder mit Behinderung. Wer an diesem FrĂźhsommertag die Kinder im Garten beim Spielen beobachtet, spĂźrt davon nichts. Rund 30 Kinder sind drauĂ&#x;en, rutschen, sitzen auf den Bänken, wippen. Die Erzieherinnen und Erzieher beobachten sie mit Abstand. „Es ist wichtig, dass die Kinder auch mal das GefĂźhl haben, allein
zu sein“, sagt er. Das fĂśrdere ihre Entwicklung. Als eine Mutter ihr blindes Kind hochnimmt, um es eine Treppe hochzutragen, runzelt er die Stirn. „Sie soll es nicht tragen, denn so verliert das Kind die Orientierung“, sagt er. Doch an der Hand dauere es länger, die Treppe hochzusteigen. Ein Kind läuft an ihm vorbei und ruft: „Hallo Musa!“. In der Kita duzen sich alle. In der Kita wird nur Deutsch gesprochen wird. „Sonst kämen wir hier gar nicht klar.“ SchlieĂ&#x;lich kommen die Kinder aus vielen verschiedenen Nationen – aus Deutschland, der TĂźrkei, Syrien, Libanon und Polen. Um auch den MĂźttern zu helfen, hat der Leiter die Volkshochschule in die Kita geholt. Im Theatersaal werden Anfänger und Fortgeschrittene in Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Die Kita soll wie ein Familienzentrum wirken: Hier werden auch Therapien, wie Logopädie oder Bewegungstherapie, durchgefĂźhrt. „Das soll die Eltern entlasten, die es oft nicht schaffen, ihre Kinder nach der Kita noch zu einer Behandlung zu bringen.“ Auf den Gängen stehen kleine RollstĂźhle, mit und ohne Motor. Ein Rollstuhl ist Marke Eigenbau. Er gehĂśrt einem FlĂźchtlingskind mit Behinderung. „So ist das Kind mobil“, sagt Al Munaizel. Das Schicksal von kleinen FlĂźchtlingen mit Behinderungen liegt ihm am Herzen. In den nächsten Monaten will er eine eigene Sprechstunde fĂźr sie anbieten. Die Liste der Interessenten ist lang. Mechthild Henneke
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Wir fÜrdern die soziale und berufliche Integration behinderter und sozial benachteiligter Menschen durch Beratung, Betreuung, Beschäftigung und Arbeit im Verbund von Projekten und Firmen. Jeder Mensch ist der Experte fßr seine Lebensgeschichte.
DPA/SEBASTIAN KAHNERT
Die 13-jährige Fenja (l.) mit Downsyndrom in ihrer Inklusionsschule. Sie nimmt am regulären Unterricht teil.
Malen fĂźr mehr Konzentration
Schulhelfer unterstĂźtzen Kinder mit Behinderung dabei, dem Unterricht zu folgen
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nsichtbar und doch zu jeder Zeit präsent – das ist der Spagat, den Schulhelfer täglich schaffen mĂźssen. „Man braucht viel FeingefĂźhl“, sagt die 44-jährige Kati GĂźnther, die an einer Schule in KĂśpenick tätig ist. Sie unterstĂźtzt seit vier Jahren Kinder mit Behinderung beim Lernen. Das bedeutet, dass sie diese im Unterricht begleitet, um ihnen die Chance zu geben mitzukommen. „Ich verlangsame und reduziere die Information und gebe sehr viel Einzelunterricht“, sagt die 28jährige Paloma Carter, eine Schulhelferin aus Friedrichshain. Die SchĂźlerin, die sie betreut, habe eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und nehme nur bedingt am Unterricht teil. Wenn Carter merkt, dass das Mädchen abschaltet, schlägt sie vor, etwas zu malen, bis ihr Geist wieder frei sei. Emotional-soziale, kĂśrperlichmotorische, Autismus und andere StĂśrungen kĂśnnen dem Antrag einer Schule fĂźr einen Schulhelfer zugrunde liegen. Längst nicht allen Kindern, die UnterstĂźtzung nĂśtig haben, wird diese vom Schulamt zugestanden. An GĂźnthers Schule lernen rund 1 000 Kinder. Zehn von ihnen haben einen Schulhelfer, die Menge an Stunden variiert. FĂźr die Tätigkeit gibt es keine Ausbildung. GĂźnther und Carter sind beide Quereinsteiger, Erstere ist Ingenieurin, Letztere Tänzerin. Sie kamen aus Interesse fĂźr die Arbeit mit Menschen mit Behinderung zu dem Job und sind von ihrer Tätigkeit begeistert. Rund 70 Prozent der Schulhelfer, die wie GĂźnther und Carter bei der Lebenshilfe angestellt sind, haben einen medi-
MECHTHILD HENNEKE
Schulhelferin Paloma Carter
MECHTHILD HENNEKE
Schulhelferin Kati GĂźnther
zinischen oder pädagogischen Hintergrund, erklärt Urs Zelle, GeschäftsfĂźhrer der Lebenshilfe Schulhilfe gGmbH. Wer als Schulhelfer arbeiten will, braucht Flexibilität. „Es geht darum, zu fĂźhlen, sich ranzutasten und zu spĂźren, was jetzt das Richtige ist.“ – „Man muss jeden Tag nachjustieren“, sagt GĂźnther. Die Schulhelfer sollen nicht zu dicht am Kind sein, denn es soll seine Selbstständigkeit entwickeln. „Das Mädchen, das ich betreue, ist jetzt in die Pubertät gekommen und will seine eigenen Fehler machen“, sagt GĂźnther. Schulhelfer mĂźssen eng mit der Klassenleitung und den Sonderpädagogen zusammenarbeiten. FĂźr jedes Kind mit FĂśrderbedarf gibt es einen FĂśrderplan, der dem Schul-
helfer ebenfalls bekannt sein sollte. Darin wird beschrieben, welche UnterstĂźtzung das Kind braucht. Dass die Inklusionsarbeit wirkt, beobachten die beiden Frauen immer wieder. „Ein Kind hatte groĂ&#x;e Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren“, berichtet GĂźnther. Nach mehreren Jahren FĂśrderung durch Schulhelfer, Lehrer, Sonderpädagogen und Eltern sieht sie, dass es mittlerweile schafft, seine Gedanken besser zu sortieren. Ein Wechsel der Schule zu einer FĂśrderschule, der lange diskutiert wurde, ist mittlerweile vom Tisch. Carter berichtet von einem Jungen mit starken Aggressionen. Einmal war sie mit ihm nach einem Ausraster in den Schulgarten gegangen. „Dort hatte er sich beruhigt und wollte dann selbst wieder in den Unterricht.“ Zum ersten Mal ging er freiwillig zurĂźck. Trotz der Bedeutung ihrer Arbeit sind die Schulhelfer im System Schule nicht fest verortet. Jedes Jahr wird das Kontingent an Stunden, das sie an einer Schule haben, neu festgelegt und die Arbeit damit neu verteilt. Auch ihre Bezahlung ist nicht eben Ăźppig. Sie erhalten ein an den Ă–ffentlichen Dienst (TVL Gruppe 6) angelehntes Gehalt. Das entspricht bei 20 Wochenstunden etwa 1 000 bis 1 200 Euro brutto, je nach BetriebszugehĂśrigkeit. Diese Bedingungen machen es nicht einfach, der Tätigkeit auf Dauer nachzugehen. Carter Ăźberlegt, eine Ausbildung als Kunsttherapeutin zu machen. „Dann wäre es klarer, wo ich stände“, sagt sie. Mechthild Henneke
LEBEN MIT BEHINDERUNG I 7
DIENSTAG, 7. JUNI 2016 I VERLAGSBEILAGE
Wenn aus Träumen Zukunft wird
Professor Andreas Hinz beschreibt einen neuen Weg, Visionen für Menschen mit Behinderung zu entwickeln
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atricia Netti, 28, ist eine beliebte Mitarbeiterin in einer Hauptschule und Malerin – und sie hat das Downsyndrom. Ohne die persönliche Zukunftsplanung, die Freunde und Familie mit ihr vor mehr als zehn Jahren abhielten, wäre ihr Leben vermutlich anders verlaufen. „Zukunftsplanung hat ihre Biografie massiv verändert“, sagt Andreas Hinz, Professor am Institut für Rehabilitationspädagogik der Universität Halle und einer der Experten für diesen neuen Weg, die Zukunft eines Menschen mit Behinderung zu gestalten. Aber von vorn: Hinz, der von Haus aus Sonderpädagoge ist, und seine Frau, die Sonderpädagogin Ines Boban, interessierten sich Mitte der 90er-Jahre für ein Seminar über die Inklusion von Menschen mit Behinderung, das in Wales stattfand. Dort hörten sie erstmals von dem Modell der Zukunftskonferenzen oder Zukunftsplanungen, das in Kanada und den USA entwickelt worden war. Die Idee faszinierte sie. „Es geht darum zu gucken: Was ist das Potenzial einer Person, was kann sie anderen geben?“, berichtet Hinz. Um diese Fragen zu beantworten, treffen sich Familienmitglieder, Freunde und Bekannte eines Menschen mit Behinderung. Unter der Leitung eines Moderators sprechen sie mit und über die Hauptperson, sammeln Ideen und entwickeln nach und nach eine Vorstellung davon, wie die Zukunft der Person aussehen könnte. Persönliche Zukunftsplanung stellt die Person, um die es geht, in den Mittelpunkt, es geht um ihre Ziele, Gaben und darum, neue Möglichkeiten für sie zu entwickeln. „Sie hat viele Parallelen zu den Zukunftswerkstätten aus der Ökologie“, sagt Hinz. Und sie steht im Gegensatz zur traditionellen Hilfeplanung. „Darin geht es vor allem um die Defizite, die ein Mensch mit Behinderung hat.“ Traditionell haben vor allem Professionelle aus Medizin und Sozialarbeit darüber beraten, wie die Zukunft eines Menschen mit Behinderung aussehen könnte. „Sie entschieden nach seinen oder ihren Fähigkeiten, wo er oder sie hinkam“, berichtet Hinz. Häufig führte der Weg dann je nach Leistungen in berufsorientierende Maßnahmen oder Werkstätten. Das wäre vermutlich auch bei Patricia Netti passiert. Sie wuchs integrativ in der Albert-SchweitzerHauptschule in Leutkirch (BadenWürttemberg) auf, als über ihre Zukunft geredet wurde. Bei Patricias Zukunftsplanung bezogen die Men-
PRIVAT
Patricia Netti, 28, Künstlerin mit Erfahrung in Zukunftsplanungen
Z I E L E Persönliche Zukunftsplanung meint kleine Konferenzen über die Zukunft von Menschen mit Behinderung. Eine wertschätzende Grundhaltung gegenüber der Person, über die geredet wird, ist zentral. Es geht um die Ziele, Gaben und neuen Möglichkeiten des Menschen mit Behinderung. schen am Tisch ihre künstlerische Neigung ein, aber auch, dass sie viele Kompetenzen im Alltag hatte. „Sie erhielt von der Sozialagentur ein persönliches Budget und machte ein Praktikum an einer Kunstschule, später wurde sie dort zur Kunstassistentin ausgebildet. Mittlerweile ist sie technische Mitarbeiterin an ihrer früheren Schule und eine supergute Künstlerin“, berichtet Hinz. Sogar im Innenministerium Stuttgart hatte Netti bereits eine Ausstellung.
S E T Z E N Die Teilnehmer wollen eine Vorstellung von einer guten Zukunft entwickeln, Ziele setzen und diese mit anderen Menschen Schritt für Schritt umzusetzen. Moderatoren leiten die Treffen der Zukunftsplanung. Die Webseite www.persoenlichezukunftsplanung.eu enthält Informationen und Materialien. Hinz illustriert die persönliche Zukunftsplanung an einem weiteren Beispiel: In Frankfurt am Main hatte ein junger Mann mit Downsyndrom den Traum, Arzt zu werden. Anstatt diese Idee vom Tisch zu wischen, überlegten seine Freunde und Verwandten bei der Zukunftsplanung, was sich hinter dem Traum verbarg. „Was bedeutet es für ihn, Arzt zu sein: einen weißen Kittel zu tragen, ein Stethoskop? Ist es ihm wichtig, Menschen zu helfen oder sie
medizinisch zu behandeln?“, zählt Hinz die Varianten auf. Schließlich kristallisierte sich heraus, dass der weiße Kittel und das Helfen eine wichtige Rolle spielen. Inzwischen ist der junge Mann in einer Klinik für demente Personen tätig. Dort versorgt er die Zimmer mit hygienischem Gut und Pflegematerialien. „Wenn er Zeit hat, setzt er sich auch an die Betten und redet mit den Patienten“, sagt Hinz. Der junge Mann sei bei Personal und Patienten anerkannt – und er sei mit seiner Rolle zufrieden. Das Modell der Zukunftsplanung lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen, zum Beispiel auf Menschen mit Demenz. „Im Grunde ist es etwas für jeden, der nicht weiter weiß“, sagt Hinz. Auch viele Abiturienten hätten dieses Problem. Wer eine Zukunftsplanung durchführen möchte, kann sich auf der Webseite www.persoenliche-zukunftsplanung.eu informieren. Wichtiger noch: Dort kann er einen Moderator finden, denn eine professionelle Führung des Gesprächs ist für den Erfolg wichtig. Häufig sind sogar zwei Moderatorendabei:einer,derdasGespräch führt, und einer, der das Gesagte in Zeichnungen visualisiert. „Die Bilder unterstützen den Prozess“, sagt Hinz. Entweder trifft sich die Gruppe über einen längeren Zeitraum, zum Beispiel sechs Stunden, die auch eine Mahlzeit einschließen. Dann wird auch von einem Zukunftsfest gesprochen. Oder die Zukunftsplanung findet in mehreren Sitzungen von zwei Stunden statt, die über mehrere Wochen verteilt werden. Neben Familienmitgliedern und Freunden sitzen auch manchmal Fachleute mit am Tisch. Die Institutionen der Behindertenhilfe haben zunehmend Interesse an dem Modell. Das ist eine Entwicklung, die Hinz eng verfolgt. Schließlich ist Kern der Zukunftsplanung, dass der „private Blick“ auf die Person im Vordergrund steht. Eine mögliche Entwicklung ist jedoch auch, dass das Modell die Arbeit der Institutionen verändert und diese nicht nur medizinische oder fachliche Aspekte in ihre Überlegungen einbeziehen. „Der defizit-orientierte Blick wird durch einen kompetenzorientierten Blick ergänzt“, sagt Hinz. Patricia Netti ist inzwischen selbst Teil von ZukunftsplanungsTreffen. Ihr zeichnerisches Talent setzt sie in der Moderation ein und hilft so, Zukunftspläne für andere Menschen mit Behinderung zu entwickeln. Mechthild Henneke
Elf Monate lang Berufe testen Die Arbeitsagentur bietet besondere Orientierungskurse an
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raucht ein junger Mensch individuelle Unterstützung? Was sind seine Stärken? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Berufsberatung der Agentur für Arbeit. Bereits während der Schulzeit sind Beratungsfachkräfte an den Schulen tätig. In allen Agenturen gibt es speziell qualifizierte Beratungskräfte in den sogenannten RehaTeams für Menschen mit Behinderung. Häufig empfiehlt sich für sie ein berufsvorbereitendes Jahr. „Elf Monate lang können junge Menschen mit Behinderung mehrere Berufe kennenlernen und gleichzeitig die Berufsschule besuchen“, sagt Agentursprecher Rene Dreke. So kann sich ein Berufswunsch entwickeln. Berufe wie Fachpraktiker/-in im Gastgewerbe oder Fachpraktiker/in für Maler und Lackierer haben weniger Theorie als andere Ausbildungsberufe. Ziel ist, dass Menschen mit Behinderungen erfolgreich und dauerhaft am Arbeitsleben teilnehmen. (mh.)
Auch Angehörige brauchen mal Urlaub …
Die Herberge – ein vorübergehendes Zuhause. Die Herberge befindet sich im Haus der Generationen im Lichtenberger Fennpfuhlkiez. Es können Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer geistigen, körperlichen und/oder mehrfachen Behinderung, deren häusliche Betreuung zeitweilig nicht gewährleistet ist oder deren Wechsel in eine neue Wohnform vorbereitet werden soll, rund um die Uhr betreut werden. Die Herberge ist eine Einrichtung der
RBO – Rehabilitationszentrum Berlin-Ost gGmbH
Die Herberge Paul-Junius-Str. 64A 10367 Berlin Tel: 030 986 01 999 35 /-36 Leitung: Ute Richter richter@rbo.berlin www.rbo.berlin
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Mehr Zugang zum Recht Institut: Behinderte haben es vor Gericht zu schwer. Politik soll handeln
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EFE/CHRISTOBAL GARCIA
Der britische Professor Stephen Hawking bei einer Vorlesung. Moderne Technik wie ein Talker unterstützt seine Kommunikation mit anderen Menschen.
Ein Buch, das zeigt, wer ich bin
Unterstützte Kommunikation ermöglicht Menschen ohne Lautsprache, mit der Umwelt in Kontakt zu treten
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er kleine Hans (Name von der Redaktion geändert), 5, ist schwerbehindert. Er sitzt im Rollstuhl und kann sich nicht äußern. Doch ein kleines Buch hilft ihm, mit den Menschen in Kontakt zu treten: das Ich-Buch, das er in der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation in Wilmersdorf erhielt. „Darin steht Biografisches, es finden sich Hans’ Vorlieben und Abneigungen und medizinische Informationen“, sagt die Psychologin und Sozialpädagogin Christa Woyack. Wer Hans trifft, kann in der Mappe mit laminierten Seiten blättern und mit ihm gemeinsam die großen Piktogramme angucken. Unterstützte Kommunikation ist das Schlüsselwort für alle, de-
nen die Möglichkeit fehlt, sich mit Hilfe von Lautsprache mitzuteilen. Geistige Behinderungen, ein Schlaganfall, Muskeldystrophie oder Kehlkopf-Operationen können dazu führen. In der Beratungsstelle erhalten Betroffene oder ihr soziales Umfeld Hilfe. Das Spektrum ist groß. „Wir zeigen, wie die körpereigenen Kommunikationsformen eines Menschen interpretiert werden können“, sagt Woyack. Wann ist ein Mensch mit Behinderung angespannt, wann ist er entspannt? Ein oder mehrere Hilfsmittel werden ausgesucht, mit deren Unterstützung die Kommunikation gelingen kann. Das kann auch eine Tafel mit Piktogrammen sein, auf die ge-
zeigt wird. Mittlerweile gibt es auch viele technische Hilfsmittel, zum Beispiel Computer mit Sprachausgabe, sogenannte Talker. Auf diesen werden Symbole angetippt oder direkt Worte eingegeben, die das Gerät dann in gesprochene Sprache überträgt. Andere Computer funktionieren mit Augensteuerung. Inzwischen gibt es auch viele Apps für Menschen mit Behinderung. „Das fängt bei Apps an, die die Selbstwirksamkeit zeigen, also das, was jemand alles schaffen kann“, sagt Woyack. Andere Apps helfen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Wie wichtig die unterstützte Kommunikation ist, unterstreicht auch die Kampagne „Die neue
Nähe“ der Aktion Mensch. Sie will auf digitale und technische Möglichkeiten hinweisen, wie Apps – zum Beispiel „bemyeyes.org“ für blinde Menschen oder Hilfsmittel wie Computermäuse, die mit dem Mund geführt werden, eine Lormhand, die Signale von einem Handschuh an den Computer überträgt oder die Ganzkörperprothese Exoskelett. Gleichzeitig will sie für mehr Verständnis für Barrierefreiheit werben. Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation: www.spastikerhilfe.de/uk/index.html Aktion Mensch: https://www.aktion-mensch.de/neuenaehe
Barrierefreie EM Auf der Fanmeile gibt es ausreichend Platz für Menschen mit Behinderung. Das erste Spiel wird am 12. Juni übertragen
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er im Rollstuhl sitzt, muss auf die größte Party Deutschlands bei der Fußball-Europameisterschaft nicht verzichten. Die Veranstalter haben auf der Fanmeile am Brandenburger Tor wieder barrierefreie Plätze direkt vor der großen Bühne eingerichtet. „Auf der linken Seite der Hauptbühne an der Ebertstraße ist der Einlass“, sagt Fanmeilen-Sprecherin Anja Marx. Von der Kontrolle aus werden Menschen mit Behinderung in einen geschützten Bereich gebracht, von dem aus sie die Spiele gut verfolgen können. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. „Bisher hatten wir immer genug Plätze“, sagt Marx. Die Fanmeile eröffnet am 12. Juni um 13 Uhr, dem Tag des ers-
ten Vorrundenspiels, an dem die deutsche Mannschaft beteiligt ist. Am 16. und 21. Juni, den Tagen der weiteren Vorrundenspiele von Deutschland, ist sie ebenfalls geöffnet. Ab dem Achtelfinale werden dann alle Spiele der Europameisterschaft bis zum großen Finale in Paris am 10. Juli übertragen. An den Eingängen werden aus Sicherheitsgründen ausgiebige Personenkontrollen durchgeführt. Rucksäcke, große Taschen, Koffer und Feuerwerkskörper jeglicher Art sind auf dem Veranstaltungsgelände strengstens verboten. (mh.) Mehr Informationen: http://brandenburger-tor-berlin.de
as Deutsche Institut für Menschenrechte sieht dringenden Verbesserungsbedarf beim Umgang mit Menschen mit Behinderungen im Justizsystem. „Unzugängliche Gerichtsgebäude, juristische Fachsprache oder unflexible Abläufe in rechtlichen Verfahren stellen Menschen mit Beeinträchtigungen vor oftmals unüberwindbare Barrieren“, sagte der Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, Valentin Aichele, kürzlich in Berlin. Das Menschenrechtsinstitut appellierte an die Konferenz der Justizminister, sich für einen besseren Zugang zum Recht einzusetzen. „Trotz vereinzelter Initiativen ist es nach wie vor für Menschen mit Behinderungen viel schwieriger, ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen“, sagte Aichele. Es gebe zwar einige Vorarbeiten zum Zugang zum Recht von Menschen mit Hör- und Sprachproblemen aus dem Jahr 2014, doch weitere Anstrengungen seien nötig. Die Ministerkonferenz solle eine weitere Bund-Länder-Arbeitsgruppe einsetzen, die mit Blick auf den Zugang zum Recht für alle Menschen mit Behinderungen Reformvorschläge erarbeite. Die Vereinten Nationen hatten im vergangenen Jahr auf den dringenden Handlungsbedarf beim Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderungen in Deutschland hingewiesen. (mit KNA) Das Menschenrechtsinstitut veröffentlichte eine Publikation zum Thema: „Zugang zum Recht“, die heruntergeladen werden kann auf: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de
IMPRESSUM Berliner Verlag GmbH Geschäftsführer: Michael Braun, Jens Kauerauf Anzeigen: BVZ BM Vermarktung GmbH (BerlinMedien), Karl-Liebknecht-Str. 29, 10178 Berlin Postfach: 02 12 84, 10124 Berlin Geschäftsführer: Andree Fritsche Projektverantwortung: Renate Werk Tel. 030–23 27 53 15 sonderprojekte@berlinmedien.com Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Am Wasserwerk 11, 10365 Berlin Redaktion: Peter Brock (verantw.) Angelika Giorgis Art Direction: Jane Dulfaqar, Annette Tiedge