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Baumeister B2 2010
Baumeister Zeitschrift für Architektur 107. Jahrgang Februar 2010
Frisch ausgeschalt: Betonbauten
Baumeister B2 4 194673 015006
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D 15 EUR A, L 17 EUR CH 23 SFR
Frisch ausgeschalt Betonbauten von Zaha Hadid Architects, Léon Wohlhage Wernik, :mlzd, atelier st und ein Lesestück von Marisol Vidal Martinez
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Die Seite eins
Feuchtgebiete Eigentlich immer konnte man einen Gleichklang zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Architektur ausmachen. Ob gotische Kathedralen, Reichskanzlei oder Gewerbepark – wir sind, was wir bauen, denn auch das Gegenteil – Unwissenheit, Anpassung und Unterdrückung – bilden sich in der Architektur ab, wenn man die Zusammenhänge lesen kann. Was würde, sagen wir mal, Gottfried Semper von unserer Gesellschaft denken, wenn wir ihn zum Beispiel in eine dieser todschicken neuen Saunalandschaften mitnehmen würden? Die erste Sauna habe ich als Student kennen gelernt. Damals waren das im Souterrain von Bademeistern oder Physiotherapeuten eingerichtete, anspruchslose Schwitzkabinen, um die herum ein paar Duschen und Bottiche installiert waren. Manchmal verschwand jemand mit dem Masseur hinter einem Acella-Vorhang, dann klatschte es, ein wohliges Stöhnen war zu vernehmen, und es roch aromatisch. Meistens gab es eine Bar, an der das ausgeschwitzte Publikum gutgelaunt bei einem Bierchen den Tag ausklingen ließ. Dann verteilte man sich auf die strikt getrennten Umkleiden, und dauerwellige Frauen mit Faltenrock und Männer im beigen Anorak oder mit Lederjacke, Prinz-Heinrich-Mütze und Kinnbart verließen das Etablissement. Es hatte etwas von naturnaher Lebensgestaltung, man hätte sich nicht gewundert, wenn jetzt alle zu ihrem Wohnwagen gelaufen wären. Das hat sich mittlerweile radikal geändert. 17 Millionen Männer und 13 Millionen Frauen gehen inzwischen regelmäßig in die Sauna. Im Wellness-Aufwind hat sie die Umgebung von Fußpflegepraxis und Laufmaschendienst verlassen. „Sogar Design-Preise machen vor Saunas längst keinen Halt mehr“, holpert die Pressemeldung eines Herstellers. Und auch die Architektur, die sich dem Parcours der unterschiedlich heißen Zellen annimmt, changiert zwischen asketischer Ordnung und Märchenwald. 2300 öffentliche Sauna-Betriebe gibt es in Deutschland, da will jede mit einer Besonderheit locken. In Überlingen sind es Blockhäuschen wie aus Dr. Caligaris Cabinet, aus denen man gleich in den Teich hüpfen kann, in Tegernsee sitzt man sich in einem umgebauten Motorschiff schwitzend gegenüber, in Bad Kreuznach begibt man sich auf eine Weltreise zwischen Finnland und Orient, ins alte Rom oder auf die Alm. Da muss der Architekt schon kreuzworträtselfest sein. Damit man die neue Körperorientierung von Anfang an genießen kann, gibt es keine Umkleidekabinen mehr. Man steht vor seinem Spind neben Männern, die ihre ungebügelten Hemden in die Hose stopfen, und sieht, wie Frauen ihre Trikotagen ohne jede Grazie an sich befestigen. Dabei möchte ich nicht zuschauen müssen. Es ist peinlich und würdelos, um an diese altmodischen Begriffe zu erinnern. Man braucht zur Geselligkeit Distanz und Barrieren voreinander, wie es Richard Sennett in seinem „Verfall und Ende
des öffentlichen Lebens“ beschrieben hat. Beim Duschen setzen sich die Zumutungen fort. Da man ohnehin gleich nackt zusammen schwitzt und um der leichteren maschinellen Reinigung willen, hat man die Schamwände (was für ein Wort!) eingespart. Nun kontrollieren sich Männlein und Weiblein beim Abseifen ihrer Falten und Ritzen, als seien sie bei einer Wehrübung. Bin ich reaktionär, wenn ich das Zivilisierte vermisse, was nach Sennett ausschließt, „andere mit dem eigenen Selbst zu belasten“? Und wenn es nur der Seifenschaum ist, den man dem Nachbarn vor die Füße schickt. Um so gepflegter dann die Selbstdarstellung in den Baderäumen. Die neue Architektur verlangt schöne Menschen. Denn aus den ehemals finsteren Lattenverschlägen sind heute helle Heißlufträume mit großzügigen Fenstern geworden. In Oberstaufen und Bad Reichenhall sieht man in die Berge, in Freiburg in einen Badeteich. Hier wird man unweigerlich ausgestellt, unterhält sich dennoch leutselig. Nur Handys fehlen. Ein gewisser Wettstreit besteht offenbar, den Erfolg der Körperenthaarung zu zeigen. Bei Männern sieht das seltsam aus, wenn sie wie zehnjährige Knaben ihr rosa Schniepelchen vor sich hertragen, Frauen orientieren sich mehr an Menjou-Bärtchen, wovon bereits eine große Artenvielfalt existiert. Wie ich es selbst halte, sage ich erst, wenn Sie und ich uns besser kennen. Nach Sennett entspricht dieser Narzissmus einer destruktiven Erotik, er bezeichnet das Ende einer metaphorischen Körperwahrnehmung, wenn die emotionale Handlung vom emotionalen Zustand abgelöst wird. In den Siebzigerjahren hat man sich alles erzählt, hat sich ausgesprochen und eingebracht, heute zeigt man sich alles. Wie ich jetzt die Kurve zu Gottfried Sempers Bekleidungstheorie kriege, also die Auffassung, dass Material und Konstruktion einer symbolischen Überhöhung bedürfen, weiß ich auch nicht. Ich gehöre laut einer Untersuchung des Saunabunds e.V. in die „immer wichtiger werdende Zielgruppe der Generation 50+“. Und Architektur bringt mich manchmal ganz schön ins Schwitzen. ● Wolfgang Bachmann
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Zeitreisen
KugelbauVisionen Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter Von Susanne von Falkenhausen. 214 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Kartoniert, 24,80 Euro, ISBN 978-3-89942-945-9 transcript verlag, Bielefeld 2008
Verführte Architekten, verquaste Analyse Marlon Brando alias Colonel Walter E. Kurtz sah das Grauen um sich greifen. Angesichts des Dschungelkriegs in Vietnam kein Wunder. Die Apokalypse fand für ihn JETZT statt. Auch der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr taumelte. Ihm grauste es schon im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs vor dem Bodenlosen. Beide suchten Halt im Ritual, im Konkreten, im Bodenständigen. Trotzdem und wahrscheinlich deswegen kamen beide nur an ein Ende: Verzweiflung. Was den notorischen Kulturpessimisten Hans Sedlmayr so verzweifeln lies, war ein Verlust der Mitte, konzentriert im bodenlos revolutionären Prinzip von Gebäuden, die allen tektonischen Prinzipien spotten: Kugelbauten. Über die bautechnische und ideologische Verirrung von Kugelbauten schrieb er 1939 einen längeren Aufsatz und über den Verlust der Mitte 1948 ein ganzes Buch. Sechzig Jahre später wagt sich Susanne von Falkenhausen an dasselbe Thema. Leider wiederholt sie den Kulturpessimismus Sedlmayrs. Westliche Demokratien hätten, behauptet sie, „wieder verstärkt mit dem Problem eines fehlenden symbolischen Zentrums zu kämpfen“. Ist es das, womit westliche Demokratien zu kämpfen haben? Den Zusammenhang der Kugel als Bau-
form mit ihrem wechselvollen politischen Kontext macht von Falkenhausen nur mühsam deutlich. Die Analyse ist angefüllt mit Sprachhülsen aus den Wortfeldern der Soziologie. Dort dienen sie der Verschleierung analytischer Hilflosigkeit. Die Objekte der Baugeschichte bedürfen aber einer konkreten Analyse. Was sind die treibenden Kräfte hinter den Kugelbauten der Revolutionsarchitektur im 18. Jahrhunderts, den Ausstellungskugeln, die zwischen 1939 und 1980 entstanden und wie lassen sich in deren Folge die Blobs der 1990er Jahre überhaupt als Kugelbauten bezeichnen? Architekten, das wird nach mühsamer Übersetzung dessen, was die Autorin schreibt, deutlich, ließen sich durch die Möglichkeiten der digitalen Medien und ihrer CAD-Programme dazu verführen, sich keine Gedanken mehr über die Statik von Gebäuden zu machen. Sind wirklich alle oder die meisten Architekten hirnentkernte Knechte ihrer Computerkonsole? Sedlmayrs Verquickung von Zeitkritik, Psychoanalyse und Baugeschichte mag hanebüchen sein, sie klärt aber mehr auf als dieser umständliche Versuch einer Interpretation der Kugel als Bauform. ● Ludger Fischer
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Bildgeschichte Die Megalopolis – wie ein Magnet zieht sie Menschen in ihren Bann oder stößt sie angewidert und enttäuscht ab. Ihre faszinierenden Kontraste, von funkelnd hell bis mysteriös verrucht, hektisch laut oder einsam still, werden tagtäglich von Millionen Menschen wahrgenommen. Kein Moment gleicht dem anderen. Jeden Morgen erwacht die Stadt mit veränderter Silhouette, hier ein neuer Wolkenkratzer oder dort eine unbekannte Straße. Ihre Lebendigkeit einzufangen mit nur einem Bild – dem Fotografen Hans-Georg Esch gelingt dies vor allem durch die Betonung städtebaulicher Dichte und Struktur. Nüchtern beobachtend und präzise wirken seine Stadtansichten. Zu bestaunen sind sie im Bildband „City and Structure“: Die Reise geht unter anderem von New York nach Dubai, Moskau und Beijing. Aber auch nach Shanghai (rechts), das im dichten Nebel eher an einen stickigen Moloch erinnert als an eine glitzernde Weltmetropole. av
City and Structure Photo-Essays by HG Esch herausgegeben von Kristin Feireiss. 253 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen. Deutsch. Englisch. Gebunden. 39,80 Euro ISBN 978-3-7757-2281-0 Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008
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Ansichten
Auftakt Ruhr 2010 Gestern Kumpels – und was heute? Weltoffenheit und Ruhrpottidentität im Sinne einer Kulturhauptstadt in warme Worte und hymnentaugliche Musik zu fassen – das war von Herbert Grönemeyer schon recht viel verlangt. In Sachen Architektur und Stadtplanung hatte Karl Ganser mit der IBA Emscher Park für das Ruhrgebiet, für das Essen stellvertretend als Kulturhauptstadt ins Rennen ging, bahnbrechende Vorarbeit geleistet. Obsolete Industrieanlagen, Zechen und Hütten umzunutzen, außerdem Siedlungen und Kulturbauten auf den zeitgenössischen Standard zu bringen, begann Ende der 1980er Jahre und trug zum Finale der IBA 1999 bereits Früchte. Nun ist ein Kulturhauptstadtjahr keine Bauausstellung. Zum öffentlichkeitswirksamen Auftritt gehört gleichwohl, dass Kulturbauten oder anspruchsvolle baukulturelle Entwicklungen in Angriff genommen werden. Neben vielen Projekten, die – wenn überhaupt – erst ab Herbst fertig werden, bietet die „Kulturmetropole“, wie sich das Ruhrgebiet jetzt kokett nennt, zu Beginn ihres Festjahres zwei besondere Sehenswürdigkeiten: das Ruhr-Museum von HG Merz auf dem Gelände der Zeche Zollverein und die Erweiterung des Folkwang-Museums in Essen von David Chipperfield. Ausführliche Informationen über den Stand weiterer Projekte wie den Umbau des Dortmunder U, die Erweiterung des Museums Küppersmühle in Duisburg oder nützliche Hinweise auf alles sonst Sehenswerte wie das Bochumer Bergbaumuseum von Benthem Crouwel finden Sie im Internet unter www.ruhr2010.de/ baukaulturplan. Hingewiesen sei noch auf das Thema Verkehr, dem in Zeiten ökologischer Erneuerung viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Galten die Autobahnen des Ruhrgebiets in den frühen Wirtschaftswunderzeiten als verkehrstechnische Meisterleistung, so zeichnet sich inzwischen längst ab, dass sie eine Belastung für Mensch und Umwelt sind. Die A42 wird nun erneuert, wobei sie ab 2010 zu einer „Parkerlebnisstrecke“ mutieren soll. Bemerkenswert auch: Die Autobahn A40/B1 wird am 18. Juli von Dortmund bis Duisburg gesperrt und soll als sechzig Kilometer langer „Tisch“ Kulturen, Nationalitäten und Generationen zusammen führen. Im Sinne der viel beschworenen Nachhaltigkeit könnte so ein autofreier Autobahntag Schule machen.
Oben: Im neu eröffneten Ruhr-Museum geht's mit der Rolltreppe zur Eingangsebene. Unten: die umgebaute Kohlenwäsche mit Kokskohlenbunker. Linke Seite: Szenario im Themenbereich „Mythos"
Das Ruhr-Museum in Essen von HG Merz Architekten Pünktlich mit der Eröffnungsfeier war, wie gesagt, das Ruhr-Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein fertig. Wo Rem Koolhaas der ehemaligen Kohlenwäsche bereits ein dramatisch inszeniertes Treppenhaus beschert hatte, richtete HG Merz jetzt ein Museum ein, in dem durch Exponate, Erklärungen, Informationen und Installationen deutlich wird, was es denn eigentlich ist: das Ruhrgebiet. Politische und Sozialgeschichte, industrielle Vergangenheit, Landschaftsentwicklung und vieles mehr sortierten die Architekten mit Geschick in eine sinnfällige Ordnung, die mit der Baustanz behutsam zusammenspielt. Vitrinen, Leuchtwände, Monitore und Exponate in unterschiedlichen Größen und Arten sind dezent inszeniert, ohne den Maschinen zu nahe zu kommen und ihnen damit ihre Wirkung zu rauben. Zusammen mit der Erweiterung des Folkwang-Museums lockt Essen also schon zu Beginn des Jahres seine Besucher mit architektonischen Highlights, in denen HG Merz und David Chipperfield mal wieder beweisen, warum sie als Meister ihres Fachs gelten. ● Ursula Baus www.ruhrmuseum.de www.ruhr2010.de www.bergbaumuseum.de
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Concrete Concrete Über das ästhetische Potenzial einer Bauweise Konkretion und Beton haben auf Englisch die gleiche etymologische Herkunft aus dem Lateinischen: concretus = com (zusammen) + crescere (wachsen). Aber nicht nur das Zusammenfügen von mehreren Teilen zu einem Ganzen verbindet den Beton wortsinnig mit der künstlerischen Konkretion. Es gibt weitere Zusammenhänge, die im Wortspiel „Concrete Concrete“ stecken. von Marisol Vidal Martinez
Trotz der industriellen Herstellung bleibt das Bauen mit Beton ein Prozess aus Menschenhand. Zunehmend zeigt der Beton statt der Rohheit der Konstruktion eine semantische Überhöhung durch seine polierte Oberfläche wie hier beim Kunstmuseum in Liechtenstein.
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Essay – Concrete Concrete
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m Juni 1936 fand die Ausstellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik im Kunsthaus Zürich statt. Diese Schau war den künstlerischen Tendenzen der nicht-figurativen Kunst in der Schweiz gewidmet. Max Bill war in die Kommission für die Auswahl der einzuladenden Künstler involviert und gestaltete das Plakat. Im Katalog der Ausstellung war neben Essays von Sigfried Giedion und Le Corbusier sein Manifest zu finden, in dem er erstmals seine Vorstellungen von nicht-figurativer Kunst formulierte und den Begriff der konkreten Gestaltung wie folgt definierte: „konkrete gestaltung ist jene gestaltung, welche aus ihren eigenen mitteln und gesetzen entsteht, ohne diese aus äußeren naturerscheinungen ableiten oder entlehnen zu müssen.“¹ Der Begriff konkret war zwar schon sechs Jahre zuvor in Theo van Doesburgs Manifest der konkreten Kunst verwendet worden, aber Max Bill präzisierte mit diesem Text die Definition, schaffte damit erstmals eine deutliche Abgrenzung zur Abstraktion und erweiterte das Anwendungsgebiet der Konkretion. Indem er sie als Verfahren definierte, ging er über die künstlerische Tätigkeit hinaus in die Gestaltung der Alltagswelt: Gebrauchsgegenstände, Bauten, Grafiken, Bühnenbilder, Ausstellungsgestaltungen etc. zählten zu seinem Schaffen ebenso wie Kunstwerke im klassischen Sinne. Als Architekt beschäftigte sich Max Bill in erster Linie mit einfachen Konstruktionselementen und der Art ihrer Fügung zu einem gesamten, einheitlichen Werk. In seiner Aufforderung, „den strukturellen Aufbau wieder mehr als Gestaltungselement wirken [zu] lassen“², spricht er sich für die Verwertung des ästhetischen Potenzials einer Bauweise aus. Zu den wesentlichen Mitteln und Gesetzen der Architektur zählt Max Bill demnach auch ihre Technologie, die Konstruktion. Concrete Concrete: vom Material zum Prozess Die Wegbereiter des Betonbaus wussten, dass ihr unternehmerischer Erfolg an die Anmeldung von Patenten gebunden war. Stahl, Zement, Sand und Wasser konnte jeder kaufen; um daraus Beton herzustellen, brauchte man allerdings ein Rezept. Ein Jahrhundert später kommen immer noch neue Zutaten und neue Rezepte auf den Markt, aber das Rezept allein ist keine Garantie für das Ergebnis. Eine Betonrezeptur ist sinnlos, sofern sie nur über die Natur und Dosierung der Zutaten informiert, aber nicht auch die Verarbeitungsdauer verrät, den Weg vom Betonwerk zur Baustelle beschreibt, die Temperatur von Frischbeton, der Außenluft – inklusive Luftfeuchtigkeit – dokumentiert und so weiter. Dazu kommen etliche Zufallsfaktoren und der Einfluss der Menschen, die dauerhaft Spuren hinterlassen. Angesichts der Anzahl der beteiligten Köche ist aber auch das Innovationspotenzial, das im Beton steckt, entsprechend groß.
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Es sagt viel über das Wesen eines Materials aus, wenn selbst nach langer Erfahrung das Ausschalen jedes Mal aufs Neue mit großer Spannung erwartet wird, weil sich erst dann zeigt, ob der Beton gelungen ist. Mit Beton zu bauen ist ein komplexes Vorhaben, das sowohl von der physikalisch und chemisch exakt begründeten und erprobten Technologie als auch von der Alchemie der Mischung, von zahlreichen Zufallsfaktoren und dem menschlichen Fehlerspielraum beeinflusst wird. Die Relevanz dieser Faktoren ist mindestens jener der materiellen Zutaten seiner Komposition gleichzusetzen. In diesem Sinne ist die Bezeichnung als Material vielleicht nicht mehr ausreichend. Adrian Forty formulierte es sehr treffend: „Concrete, let us be clear, is not a material, it is a process: Concrete is made from sand and gravel and cement – but sand and gravel and cement do not make concrete; it is the ingredient of human labour that produces concrete.“³ Forty hat mit diesem Text die Vielfalt an formalen Möglichkeiten, die aus der Steuerung der Parameter dieses Prozesses resultieren können, im Auge. In dieser Analogie steckt aber viel mehr Potenzial als nur formale Vielfalt: Im Spannungsfeld zwischen Architektur und Technologie bedeutet dies, dass Sichtbeton – als Prozess verstanden – sowohl an den Planungs- als auch an den Bauprozess gekoppelt ist und diese innig miteinander verbindet. Mit Sichtbeton zu bauen erfordert also eine strenge konzeptuelle Disziplin seitens der Planer: Konstruktionsfragen sind wesentlich früher in der Planung zu klären, beziehungsweise Entwurfsfragen können bis zur Fertigstellung nicht vollständig geklärt werden: Die Mittel und Gesetze, nach denen aus inerten Substanzen Beton entsteht, und das Ergebnis dieses Prozesses hängen untrennbar zusammen. Beton ist der Prozess selbst, Beton besitzt seine eigenen Mittel und Gesetze. Beton ist somit das konkrete Material par excellence. ►
Zu den Versuchen, dem Beton eine würdigere Oberfläche zu geben, zählen Einfärbung und in die Schalung eingelegte Ornamente. Beim Atelier Bardill in Scharans von Valerio Olgiati unterstützen die reliefartigen Rosetten die homogene Konzeption des monolithischen Gebäudes, relativieren jedoch auch seinen monumentalen Gestus.
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Der Bezug zur Konkretion geht beim Sichtbeton sogar noch einen Schritt weiter. Es gibt keine Kurskorrektur bei Sichtbeton: Auf einer Betonoberfläche sind dauerhaft die Spuren seiner Entstehung eingeprägt. Der dreidimensionale Abdruck der Schalung auf der gehärteten Oberfläche entspricht der technischen Wahrheit der Konstruktion und enthüllt die Spuren des Produktionsprozesses. Auch jene, die nicht der Öffentlichkeit gezeigt werden sollen. Dieses exhibitionistische Verhalten lässt auch lange nach der Fertigstellung die innige Beziehung zwischen der Architektur und ihren Mitteln und Gesetzen erkennen. Deshalb sind Sichtbetonbauten das ideale Reagenzglas für eine Untersuchung der Konkretion in der Architektur. Die Semantik des Sichtbetons. Die Flucht zum Ornament Ästhetisch relevant für die Erscheinung des Betons sind vier technische Faktoren: die Mischung, die Schalhäute, die Art und Weise, wie die beiden Schalungen zusammengehalten werden – die Ankerstellen –, und die aus logistischen Gründen unvermeidbaren Spuren der Betonierabschnitte, die Arbeitsfugen. Aus ihrer bewussten Steuerung seitens der Architekten entsteht das rohe Abbild der Herstellung. Die Frage nach der geeigneten Oberfläche des sichtbaren Betons bereitete den Architekten Anfang des 20. Jahrhunderts mindestens so viele Sorgen wie seine immanenten statischen Potenziale und die damit einhergehenden neuen Proportionsverhältnisse. Zahllose Versuche wurden unternommen, um eine etwas würdigere Oberfläche zu finden: Der Beton wurde poliert, gewaschen, kaschiert, gehämmert, gespritzt... Die radikalste Variante – die rohen Schalungsspuren sichtbar zu lassen – wurde außerhalb von Militärund Nutzbauten erst mit der Unité d’habitation in Marseille (1942) von Le Corbusier salonfähig und führte zur Furore des béton brut. Daraus entstand ab den 1960er Jahren die
Die Koketterie mit dem Zufälligen oder gemeinhin Hässlichen kann unerwartete, paradoxe Effekte auf der rauen Schale ergeben. Museum in Herning von Steven Holl Architects (B1/10, Seite 10)
Debatte zwischen künstlich-glatt (smooth) und natürlich-rau (rough). Neue technische Entwicklungen sowohl im Bereich der Schalungstechnik als auch in der Plastizität der Betone eröffnen heutzutage weitere Wege, um sowohl besonders glatte als auch raue Oberflächen zu produzieren. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass für „rau“ meistens auf industrialisierte Herstellungstechniken zurückgegriffen wurde, die eigentlich „glatt“ zum Ziel hatten. Dieses Paradoxon kann gegenwärtig wieder beobachtet werden, wenn zum Beispiel selbstverdichtender Beton (SVB) – mit dem man in der Lage ist, bisher unerreichbare glatte Oberflächen herzustellen – gerade aus diesem Grund häufig dazu verwendet wird, besonders plastische Oberflächenergebnisse zu erzielen. Digital gesteuerte Fertigungsmethoden eröffnen hier zusätzliche ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten. Auch ist es durch die verfügbaren Geräte erst heute machbar, die äußere Schicht gezielt abzutragen und damit Fehler und Unregelmäßigkeiten, wenn auch nicht gänzlich auszuschalten, doch zumindest unauffällig zu reduzieren. Derzeit, in einem Moment, zu dem die Möglichkeiten die Bedürfnisse übertreffen, steht Sichtbeton nicht mehr als Gegensatz zu gängigen Verkleidungen und behübschenden Hüllen. Es gibt nur wenige Bauwerke, die derzeit Beton in seiner unbehandelten Rohheit präsentieren. Stattdessen wird Beton unter anderem poliert (Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz von Morger, Degelo, Kerez), geprägt (Universitätsbibliothek in Utrecht von Wiel Arets), gehämmert (Kongresszentrum in Adeje von AMP arquitectos), mit Einlagen versehen (Vitrapavillon in Weil am Rhein von Tadao Ando), bedruckt (Bibliothek für Forstwirtschaft in Eberswalde von Herzog & de Meuron) und so weiter. Technische Entwicklungen im Bereich der Schalungstechnik werden dieses Phänomen in den kommenden Jahren weiter forcieren. Es sei dahin gestellt, ob diese Experimente erst durch die technischen Entwicklungen ermöglicht wurden oder ob das wieder erwachte Bedürfnis nach Ornamenten jene Kraft ist, die aktuell die Beton- und Schalungstechnik vorantreibt. Der Trend zum Ornament im Sichtbeton weist zum Teil „verbrecherische“ Züge im Sinne von Adolf Loos auf: Mittels plastischer Schalungselemente aus Kunststoff, EPS (expandierbares Polystyrol) oder Elastomermaterialien können Gesimse und Texturen aller Art nachgebildet werden. In diesen formalen Perversionen überwiegt das Semantische: Die Form beziehungsweise die Oberfläche ist alleiniger Träger einer externen Bedeutung, die den restlichen Aspekten des Bauwerks (Material, Tragverhältnisse, Typologie) absolut fremd ist. Grammatik statt Semantik, Konkretion und Kommunikation Grundsätzlich geht es in der konkreten Kunst nicht darum, gestalterische Mittel zu verabsolutieren, sondern die sichtbaren Beziehungen zwischen ihnen hervorzuheben. In der Konkretion muss also die semantische Ebene zurückgenommen werden, für den Ausdruck sorgen eher die Ordnungszusammenhänge der Konstruktion. Die Raffinesse der Oberflächen verliert somit an Relevanz, konstruktive Ordnungssysteme gewinnen an Bedeutung. Konkretion im künstlerischen Sinn bedeutet also, die Befreiung von der bisherigen Relevanz der Semantik zugunsten der Bedeutung der Grammatik.
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Der Informationsgehalt über den Herstellungsprozess der Betonoberfläche soll nach Max Bill keine ästhetische Rolle spielen. Betonoberflächen werden aber durch jeden Schritt im Herstellungsprozess zunehmend semantisch aufgeladen. Sowohl die Wahl des Schalungsmaterials als auch die Zusammensetzung der Mischung oder eine eventuelle Nachbearbeitung tragen dazu bei. Eine gewisse semantische Aussage von Betonoberflächen ist somit unvermeidbar. Der Satz Paul Watzlawicks „Man kann nicht nicht kommunizieren“⁴ gilt auch für Sichtbeton. Ein Konkretionsfall liegt aber vor, wenn grammatikalische Ordnungssysteme eine wichtigere Rolle als die Oberfläche selbst spielen und dieser übergeordnet sind. Das heißt, bei den Planungsentscheidungen, die die Betonoberfläche definieren, soll der ästhetische Wert der Oberfläche nicht bestimmend sein. Viel eher übernimmt die Betonoberfläche eine gliedernde Aufgabe in der konstruktiven Grammatik. Materialentscheidungen und konstruktive Details sind selbstverständlich, aber sie werden in der Konkretion den formalen Strukturen untergeordnet und uninteressant gemacht. Die gestalterische Intention ist rein syntaktisch. Die Artikulation der Maßstabsebenen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Konfusion und Konkretion im 21. Jahrhundert Paradoxe sind dem Material Beton immanent. Der eigene und untrennbar architektonische Ausdruck von Beton war schon Anfang des 20. Jahrhunderts äußerst umstritten. Trotz Allgegenwärtigkeit und einfacher Verfügbarkeit des Materials ist die Situation heutzutage – ein Jahrhundert später – zumindest so konfus wie damals: Es wird immer noch über das Potenzial und die unerschöpften Möglichkeiten von Beton debattiert, als ob er ein neues, noch nie verwendetes Material wäre. Die Unbestimmheit, die dem Beton inne wohnt, macht die Faszination dieses Materials aus. Die nicht eindeutige Identität des Betons kann im Entwurf unterdrückt werden, indem die eine oder andere Eigenschaft betont wird. Dies führt leider heutzutage allzu oft zu den vorher erwähnten semantischen Aufladungen. Dieser verbreiteten Banalität der Sichtbetonoberflächen könnte entgegen gewirkt werden, indem eine Gestaltungsmethode zur Anwendung kommt, die zwar eine kritische Disziplin besitzt, aber ohne Stil und ohne formale Konventionen auskommt – wie es bei der künstlerischen Konkretion der Fall ist. Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert. Max Bill formulierte es so: „Wir stehen heute am Beginn einer neuen Epoche der Architektur, in der die Erfahrungen von Technik und Kunst zu einer großen Syntax vereinigt werden müssen. Dem Eisenbeton fällt in einer solchen Syntax die Hauptaufgabe zu.“⁵ ●
1 Bill Max, Katalog der Ausstellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik, Zürich, 1936 2 Zitiert in Rüegg Arthur, Krucker Bruno: Konstruktive Konzepte der Moderne – Fallstudien aus dem 20. Jahrhundert, Niggli, Zürich, 2001, S. 106 3 Forty Adrian, The Material without a history in Liquid Stone. New Architecture in Concrete, Birkhäuser, Basel, 2006, S. 34 4 Watzlawick Paul, Beavin Janet, Jackson Don, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, 1969 5 Bill Max, Der architektonische Ausdruck von reinen Bauwerken, MörikenWildegg, 1946
Neben eindeutig der Oberfläche zugeordneten Ornamenten wie bei der Bibliothek in Utrecht von Wiel Arets verführt die Entwicklung der Schaltechnik zu postmodernen Betonperversionen: Palacio d’Abraxas bei Paris von Ricardo Bofill (unten).
Dieser Beitrag erschien in der Webzeitung Wolkenkuckucksheim – Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur der TU Cottbus (http://bit.ly/6WNbgW). Er basiert auf der Dissertation der Autorin „Hormigón Concreto: Parallelen zwischen der zeitgenössischen spanischen Architektur und der Konkretion Max Bills, analysiert anhand von Sichtbetonbauten“ an der TU Graz. Eine zweisprachige Publikation (spanisch/deutsch) befindet sich derzeit in Arbeit.