Baumeister 02 2012

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Bau me ister

1O 9 . J a h r g a n g

Februar

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Das ArchitekturMagazin

Bedrohtes Architekturerbe in St. Petersburg

Vom Wert des Wutb端rgers

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D A,L C H

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Alles auf Anfang f端r Hadi Teherani

Ende der Idylle? Z端rich wandelt sich seite 38


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Zürich bewegt sich doch Das derzeit höchste Gebäude der Schweiz, der Prime Tower, ist weithin sichtbares Zeichen für den Stadtumbau Zürich West.

Die Stadt darf ihr museales Zentrum behalten. Umso heftiger wird an seinen Rändern investiert und gebaut. Auf ehemaligen Industrie­ge­länden wie dem Maag-Areal sucht Zürich sein neues Image.

A r c hitekten

Gigon/Guyer kritik

André Bideau F otos

Thies Wachter Walter Mair Andrea Helbling

I

n seinem Zentrum kommt Zürich ohne wesentliche bauliche Veränderungen aus. Gegen Leuchtturmprojekte scheint der historische Kern sogar immun zu sein. An der von Grünanlagen gesäumten Seefront wurde das Vorhaben für ein Kongresshaus als Zwangsbeglückung empfunden und Rafael Moneos Projekt nach einer Volksabstimmung zur Makulatur. Während die Innenstadt in ihrer Identität überdeterminiert ist, bewegt sich Zürich an seinen Rändern sowie in der zerfließenden Agglomeration, wo inzwischen eine ganz eigene Urbanität entsteht. Nach der Immobilienkrise der neunziger Jahre, aber auch beschleunigt von der kurz zuvor eröffneten S-Bahn, setzten im Westen und Norden des Stadtzentrums neuartige Dynamiken ein. Auf den Plan traten Akteure, die sich einen Gestaltungsraum zu sichern verstanden, wie er im musealisierten Zentrum nicht zur Verfügung stand. Die Aushandlung dieser Spielräume war auch an einen Lernprozess gekoppelt. Denn im Zusammenhang mit einer tiefen Verunsicherung des Immobilienmarkts, aber auch als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen verschob sich das Kräfteparallelogramm der institutionellen und privatwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese Verschiebung – sie ließe sich als Rekalibrierung wohlfahrtsstaatlicher Planung in Hinblick auf den Postfordismus bezeichnen – wirkte sich auf die Qualitätsmaßstäbe aus, die seither in Zürich für architektonisch-städtebauliche Interventionen gelten. Wenngleich weniger dramatisch als in anderen Städten, stellte sich auch hier die Frage, welches Image man für Zürich wünscht und wer dieses Image formulieren sollte. Abgesehen von den unmittelbar betroffenen Akteuren wurde diese Frage kaum öffentlich debattiert. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich schon eher auf das 1998 geäußerte Legislaturziel „1O.OOO Wohnungen in 1O Jahren“. Dieses verhalf mit öffentlichen Wettbewerben im geförderten Wohnungsbau am Stadtrand einer Schar jüngerer Architekturbüros zum Einstieg in die Praxis. Unweiter


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ter sozialdemokratischer Führung wurden die 1O.OOO Einheiten allerdings nicht auf kostengünstigen Wohnungsbau festgelegt. Denn gleichzeitig sollte durch gezielte Angebote der Flucht von Steuerzahlern in die Vororte begegnet werden. So gerieten die Industrieareale als neue Herausforderung in die Städtebaudiskussion. Weil sie aufgrund erheblicher Sanierungskosten aber hohe Investitionen voraussetzten, kamen die Areale für den geförderten Wohnungsbau nicht in Frage. Eine andere Verwertungslogik war die Folge. Mit großem Aufwand wurden den Industriebrachen architektonische Bilder und Räume abgerungen, die sich bei der Umpolung des Image von Zürich gezielt einsetzen lassen.

Schnitt

Das Maag-Areal: Von der verbotenen Stadt zum Satelliten der City

Prime Tower

EG

Büros, Läden, Restaurants, Konferenz

M 1 : 15OO

M 1 : 75O

A m B ahnhof H ardbrü c ke

Im Winkel zwischen Hardbrücke und Bahntrassen ragt der abstrakte Baukörper aus grünlichem Glas empor. Im Erdgeschoss sind Läden und Cafés, im Dachgeschoss ein öffentliches Restaurant untergebracht. Die Bürogeschosse dazwischen können für bis zu vier Mieter aufgeteilt werden.

Wie ein offenes Buch gibt Zürich Aufschluss über einen spektakulären Prozess der Deindustrialisierung. Wo Bier gebraut wurde, Schiffsmotoren und Kraftwerksturbinen gebaut wurden, besiedeln nun Galerien, Theater, doch vor allem Büros die ehemals verbotenen Städte der Industrie. Wie im Fall des 2O11 fertig gestellten Maag-Areals folgten Arealentwickler auf den Fersen der üblichen Vertreter der Kreativbranche, um „Topadressen“ zu lancieren. Die einstige Zahnradfabrik, die sowohl hinsichtlich ihres räumlichen Dispositivs als auch der produzierten Güter einen geschlossenen Kreislauf bildete, ist nun Teil einer neuen, symbolischen Ökonomie. Die Überführung gleicht den zu Freitag-Taschen recycelten Lastwagenplanen; in einem Stapel von Schiffscontainern in Sichtweite zum Prime Tower hat dieses Zürcher Accessoire seinen Flagship Store. Den Ensemblecharakter des verschwundenen Fabrikareals evozieren zwei niedrigere Bürobauten, die ebenfalls von Gigon und Guyer stammen und die an den Prime Tower anschließen. Seiner singulären Wirkung zum Trotz bildet das höchste Gebäude der Schweiz „nur“ den Kopf eines Entwicklungsgebiets, das sich vom S-Bahnhof Hardbrücke stadtauswärts erstreckt. Zusammen mit den angrenzenden ehemaligen Fabrikgeländen wird Zürich West in den nächsten Jahren mit einer Schar weiterer Hochhäuser bestückt sein. Schließlich entsteht als Abschluss des Gebiets und als Stadttor am Beginn der Autobahn ein Fußballstadion, für das gegenwärtig ein Wettbewerb läuft. Mit seinen 126 Metern gehört der Prime Tower zu einem Immobilenpark, der diesen Teil von Zürich als einen Satelliten der City redefinieren wird. Zum derzeit höchsten Gebäude der Schweiz werden sich nach und nach weitere Dienstleistungsbauten, Hotels, Wohnkomplexe gesellen. Eine andere Immobilienfirma hat im rückwärtigen Teil des Maag-Areals den Mobimo Tower (Hotel und Eigentumswohnungen) ebenfalls 2O11 nach Plänen von Diener und Diener fertig gestellt. Seit der Immobilienkrise der frühen 9Oer hat sich die Beziehung zwischen Kapital und Raum verwandelt, so dass heute gänzlich andere Akteure den Städtebau prägen. Die Industrie war in Zürich städtebaulich beinah auratiweiter


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siert, sie hatte einen Phantomcharakter – im Unterschied zum rivalisierenden Basel. Eine weitere Differenz: Bauherren des Ende 2O15 bezugsbereiten Baseler RocheHochhauses sind keine Investoren, sondern die Pharmaindustrie. Den Auftrag erhielten die quasi-Hausarchitekten von Roche, Herzog & de Meuron, zu deren ersten Mitarbeitern Annette Gigon gehörte. In Zürich diente dagegen die Industrie nach ihrem Verkauf beziehungsweise ihrer Verlagerung oder gänzlichen Auflösung als Hülse für eine andere Entwicklungsform: Der Prime Tower zeugt von den Repräsentationsbedürfnissen des Immobilienunternehmens Swiss Prime Site. Als 1998 im Industriequartier das begann, was heute als „Zürich West“ bauliche Gestalt annimmt, waren politische Frontenbildung, Rezession und Unsicherheit noch in frischer Erinnerung. In Zürich Nord (Oerlikon), dem größten Zürcher Industrieareal, dessen Erneuerung noch einem verhältnismäßig starren Gestaltungsplan gefolgt war, hatten sich die Planungsverhandlungen über Jahre hingezogen. Nun bestand der Wunsch, dass „etwas geht“. Gegenüber den Grundeigentümern war nun Dialogbereitschaft angesagt. Nach der Lektion von Oerlikon trat die öffentliche Hand als eine den Immobilienmix koordinierende Instanz in Erscheinung. Zum Umdenken trugen ferner politische Wechsel bei der Stadt Zürich und institutionelle Reformen im Planungswesen bei, wobei auch die spätere Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher eine wichtige Rolle einnahm. Einen Ausgangspunkt bildete eine Reihe von Workshops mit Testplanungen (darunter der Vorschlag von OMA, den Zürcher Hauptbahnhof westwärts zu verlegen), an die sich eine Kabinettspolitik von „kooperativen Entwicklungsplanungen“ anschloss. Die 2OO4 festgesetzten Sonderbauvorschriften lieferten weitmaschige Vorlagen, die auf einem von Diener & Diener zusammen mit den Architekten Elisabeth und Martin Boesch entwickelten morphologischen Konzept beruhen.

EG

Querschnitt

Der Prime Tower: Charakterdarsteller oder Randfigur?

Restaurants, Galerien

M 1 : 75O

Diagonal

2

H ardstrasse 2 1 9

Der Bestandsbau aus den 193Oern erhielt den Namen Diagonal und steht unter Denkmalschutz. Mit M 1 : 5OO

Edelrestaurant und Kunstgalerien wurde er zum Anziehungspunkt des Areals.

Das diagonal durch das Maag-Areal verlaufende Industriegleis ruft immer noch die Geschichte des Orts in Erinnerung – dabei handelt es sich nicht einmal um eine Heimatschutz-Attraktion, sondern um die weiterhin aktive Verbindung zu einem regelmäßig mit Getreide belieferten Mühlwerk. Anders der denkmalgeschützte Bau aus den 193Oer Jahren. Dieser birgt nach seinem Rebranding als „Diagonal“ ein Fusion-Edelrestaurant, darüber Kunstgalerien. Letztere verleihen dem Bau einen Fetisch-Charakter, kann doch die Rolle der ins Herz des Areals umgesiedelten Pioniere der Gentrifizierung für die Entwicklung von Zürich West nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zürichs Mutation zu einer Drehscheibe für den Handel mit zeitgenössischer Kunst spielte sich im Tandem mit dem Strukturwandel ab. Dabei kam es zu räumlichen und personellen Verflechtungen und zur Bildung von Allianzen, wie sie gerade das unglückliche Projekt für das Kongresshaus am Zürichsee entbehrte. Kaum war das Industriequartier von seiner offenen Drogenszene befreit, begannen entscheidende Galerien

45 von Areal zu Areal zu ziehen und verhalfen dadurch dem Stadtteil zu einer neuen Bekanntheit. Zum Gravitationszentrum wurde dort 1996 die Löwenbräu-Brauerei (Kunsthalle Zürich, Galerie Hauser und Wirth u. a.), mit deren umfassender baulicher Erneuerung Gigon/Guyer derzeit ebenfalls befasst sind. In ihrer Karriere übernimmt das Milieu Kunst die Funktion von strategischer Partnerschaft und kulturellem Kapital – noch stärker als dies bei Herzog & de Meuron der Fall war. Dies schließt Kollaborationen wie im Lobbybereich des Prime Tower ein, wo mit Adrian Schiess und Harald F. Müller zwei Künstler vertreten sind, mit denen Gigon/Guyer schon oft zusammengearbeitet haben. Bürohochhäuser sahen und sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, endlos repetierte Banalität hinter beliebigen Oberflächeneffekten zu verpacken. Angesichts technischer und ökonomischer Prämissen stellt sich die Frage nach der architektonischen Bearbeitungstiefe, wobei auf Handschrift und Atmosphäre festgelegte Büros in besonderem Maß herausgefordert sind. Gigon/Guyer entwickeln rund um zwei Erschließungskerne ein Scheibenhochhaus, das durch konkave und konvexe Knicke zur expressiven Figur gerät. Darin sind 32 Bürogrundrisse gestapelt, deren Nutzfläche durch versetzt angeordnete Auskragungen nach oben zunimmt. In unbewusster Nähe zu den expressiven Türmen eines Hugh Ferriss sprechen die Architekten von einem „gläsernen Stalaktiten“. Die phänomenologische Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, auf die sie oft Anspruch erheben, setzt auf einen facettierten Körper von maßstabsloser Glätte. Im weiten Zürcher Talkessel erweist sich sein kristalliner Charakter als leistungsfähig. So rufen die Facetten unterschiedliche Licht- und Spiegelreflexe hervor, die das grünliche Schimmern des hellen Zürichsees am anderen Ende der Stadt aufgreifen. Das Flimmern gespannter Glashäute wird jedoch von Unterbrechungen getrübt: Opake Elemente im Bereich der Auskragungen und des Dachabschlusses stören den Abstraktionsgrad des Stalaktiten empfindlich. Nicht nur die Auskragungen, sondern bereits der polygonale Grundriss suggeriert, dass die Hochhausscheibe unter dem Einfluss eines Kräftefelds steht. So sehr sich der Prime Tower in unterschiedliche Richtungen reckt, bleibt er doch stumm gegenüber Expresstrassenviadukt, S-Bahnstation und Gleisfeld, die seinen unmittelbaren Kontext bilden. Beinah zufällig erscheint die Nachbarschaft des Objekts und der diesen Ort städtebaulich bestimmenden massiven Verkehrsinfrastrukturen. Dennoch sitzt das Nebeneinander gut. Es gibt die Logik der arealweisen Erneuerung wieder – jener Strategie, die den Umbau von Zürich West prägt und die irgendwann in einem Archipel von Architekturoasen definitiv Gestalt annehmen wird.Auf die weiteren Folgen in der postindustriellen Fortsetzungsgeschichte darf man gespannt sein.


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Fragen

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Metabolismus als soziales Projekt

Vision einer Wohnstadt (1964), eine Collage von Kenji Ekuan. Der Produktdesigner

Text

Klaus Englert

stieß 196O zu den Metabolisten.

Ein wenig überraschend war es schon, dass Rem Koolhaas sich in einem Buch kürzlich mit den japanischen Metabolisten befasste. Die These des Niederländers: Wir können von den japanischen Architekturvisionären der 6Oer Jahre viel lernen. Unser Autor sprach mit Koolhaas.

Herr Koolhaas, wie sind Sie und Hans Ulrich Obrist auf die Idee gekommen, ausgerechnet ein Buch über die japanischen Metabolisten zu schreiben? Dafür waren drei Gründe ausschlaggebend. Als Kenzo Tange vor sieben Jahren verstarb, dachten wir, nun sei es an der Zeit, die verbliebenen Protagonisten des japanischen Metabolismus zu interviewen. Ohne Tange wäre die Bewegung zwar nicht möglich gewesen, aber immerhin hatten wir das Glück, dass die übrigen Metabolisten noch lebten, als wir schließlich 2OO5 mit den Interviews begannen. Der zweite Grund besteht darin, dass der Metabolismus die letzte Bewegung war, die die Architektur und den Status des Architekten veränderte. Ebenso war es das letzte Mal, dass Architektur als eine öffentliche Angelegenheit wahrgenommen wurde. Außerdem gab es eine enge Verbindung zwischen der Regierung und den Architekten, um in der Nachkriegszeit ein gemeinsames Projekt und eine gemeinsame Mission zu begründen.

Collage: Kenji E kuan

Woher rührt Ihr Interesse gerade jetzt? Wir wollten die Überlebenden dieser Bewegung befragen, die das eigene Land und die Veränderung ihres Landes zu ihrem Projekt machten. Aber es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, den ich faszinierend finde. Für mich steht weniger die kollektive Zusammenarbeit im Vordergrund. Die Architekten, die das Manifest „Metabolism 196O“ veröffentlicht und damit die internationale Bühne betreten hatten, wurden zwar als Gruppe wahrgenommen. Tatsächlich bestand ein Gefühl der Zusam-

mengehörigkeit, und man pflegte den ständigen Kontakt. Doch letztendlich waren es starke Persönlichkeiten, die auf ihre Eigenständigkeit und Verschiedenheit pochten. Allerdings sind wir in dem Buch stark auf die Zusammenarbeit mit der Regierung und den kollektiven Antrieb der Metabolisten eingegangen. Nebenbei finde ich es spannend, diese Haltung mit dem gegenwärtigen Zustand zu vergleichen. Wie schätzen Sie denn den Einfluss der Metabolisten auf die japanische Gesellschaft ein? Der japanische Metabolismus hatte eine starke soziale, technische und anthropologische Seite. Dabei steht für mich der Aspekt der „Machbarkeit“ im Vordergrund. Der Einfluss der Metabolisten machte sich insofern bemerkbar, als sie als Gestalter auf die Gesellschaft einwirkten. Natürlich waren die 6Oer und 7Oer Jahre in dieser Hinsicht außergewöhnlich: Der erste Mensch landete auf dem Mond, das Überschallflugzeug Concorde wurde entwickelt. Diese technischen Entwicklungen gehören zur Mentalität dieser Epoche. Ich würde sagen, dass wir heute dasselbe leisten, indem wir neue Technologien hervorbringen und die Welt verändern. Allerdings fehlt uns heute der entsprechende Optimismus. Die Metabolisten traten in der Nachkriegszeit, nach den radioaktiven Verwüstungen von Hiroshima und Nagasaki, als Gestalter hervor und ließen sich dabei von unverbrauchter Kraft und Optimismus leiten. Wir dagegen sind umgeben von einer Atmosphäre des Pessimismus. weiter


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Fragen

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„Meine Architektur war mein Protest.“ Zeichnung „Ikebukuro Plan“ (1962) von Kiyonori Kikutake

Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist sprechen mit Zeitzeugen.

Das ist nicht ganz richtig. Bedenken Sie, dass die technische Entwicklung in den sechziger Jahren keineswegs einförmig und geradlinig verlief. Einerseits fasziniert mich eine Technik, die sich in ständiger Transformation befand. Andererseits entwickelte sich bereits ein starkes Bewusstsein für die ökologischen Risiken, die unseren Planeten bedrohen. Man denke nur an Buckminster Fullers „Spaceship Earth“ und an die Vorstellung, dass dieses Raumschiff keinen Notausgang besitzt. Bei Buckminster Fuller herrscht die Einsicht vor, dass es nur eine Erde gibt und dass deren Ressourcen stark begrenzt und endlich sind. Diese Fragilität macht aber gleichzeitig die Schönheit der Welt aus. Die Metabolisten standen um 196O vor riesigen Herausforderungen. Nicht nur der Wiederaufbau von Hiroshima und Nagasaki musste gemeistert werden, es galt auch, Alternativen für die stark übervölkerten japanischen Städte in einem sehr zerklüfteten Land zu entwickeln. Welche Bedeutung kann denn der Metabolismus für die heutige Architektur haben? Kenzo Tange setzte sich in seinem legendären „Tange Lab“ dafür ein, den sozialen Status des Architekten zu

stärken und seinen Beruf neu zu erfinden. Die Leistungen von Tanges Laboratorium sind so faszinierend, dass sie heute wiederum neu erscheinen. Neben einem ganzen Bündel von Motiven – der Rolle der Regierung, des Kollektivs, der Technik – gab es bereits ein ökologisches Bewusstsein, da alle Metabolisten von Mythologie und Philosophie des Ying Yang geprägt sind. Diese Einflüsse haben mich schon vor langer Zeit beschäftigt – seither befand ich, dass die Vorherrschaft der westlichen Architektur an ihr Ende kommt und die östlichen Architekten ihr Erbe antreten werden. Es war für mich wichtig, dem vorherrschenden Schema eine andere, nicht-westliche Situation entgegen zu halten. Ihre Beschäftigung mit der nicht-westlichen Architektur geht ja bis in die 7Oer Jahre zurück, als Sie in Moskau die avantgardistischen Entwürfe von Ivan Leonidov aufstöberten. Begann damals Ihre Hinwendung zu den östlichen Architekten? In der Tat war diese Entdeckung bedeutsam für meine spätere Entwicklung. Mein Leben lässt sich als eine allmähliche Hinwendung zum Osten verstehen. Dabei habe ich versucht, Veränderungen zu bewirken und zu beschleunigen.

Zeichnung: Kiyonori Kikutake

Gab es in den sechziger Jahren nicht einen geradezu naiven Glauben an die Machbarkeit der Welt und ein blindes Vertrauen in technisches Wachstum?

„Project Japan“ von Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist dokumentiert den Einfluss, den die Metabolisten zwischen 1958 und 1972 auf die japanische Gesellschaft ausübten. Der Metabolismus war ohne Zweifel ein rein japanisches Projekt, aber Koolhaas/Obrist legen auch offen, dass der Nährboden für diese nationale Herausforderung in internationalen Verflechtungen zu suchen ist. Wenig bekannt ist der Einfluss von Konrad Wachsmann, der 1941 zusammen mit Walter Gropius das „Packaged House System“ entwickelte, ein Fertighaussystem in Holzbauweise. Ein so konstruiertes Haus konnte in weniger als neun Stunden von fünf ungelernten Arbeitern aufgestellt werden. Die „Nagakin Capsule Towers“ mit ihren modularen Kapseln konnte Kisho Kurokawa nach dreißig Tagen vollenden. 1955 – fünf Jahre vor Gründung der metabolistischen Bewegung – gab Wachsmann in Tokio ein Seminar über modulare Konstruktionstechnik, an dem auch Tange und Isozaki teilnahmen. Ab 1959 konstruierte der holländische Situationist Constant Nieuwenhuys die Großraum-Installation „New Babylon“, eine auf Stelzen gebaute Stadtlandschaft. New Babylon ist das Modell einer geschichteten Stadt für die gewandelten Lebensbedürfnisse und sollte die mobilen Bürger emanzipieren. Rem Koolhaas, der sich zu Constants Einflüssen bekannte, interviewte den Avantgarde-Künstler 1966 für die Haagse Post. 1958 veröffentlichte Yona Friedman, der seinerzeit Kontakt mit dem Metabolisten Sachio Otaka hatte, das Manifest „L’Architecture Mobile“ und entwarf anhand von Maquetten und Collagen die „Ville Spatiale“. Friedmans Megastrukturen über bestehende Städte, in denen die Bewohner ihre Lebensumwelt flexibel gestalten sollten, erinnern an Tanges Entwurf für die Tokioter Bucht (196O) und sein riesiges Festspieldach für die Weltausstellung in Osaka (197O).

P roject J apan M etabolism T alks . . .

Taschen Verlag, Köln 2O11 719 Seiten, 39,99 Euro


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