Baumeister Zeitschrift f端r Architektur 107. Jahrgang April 2010
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D 15 EUR A, L 17 EUR CH 23 SFR
Auf den Leib geschneidert Architekturfassaden von David Chipperfield Architects, Sanaa Kazuyo Sejima + Ryue Nishizawa, Caruso St John Architects und Francisco Mangado Mit einem Essay von Adrian Meyer
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Englische Spitze Kunstgalerie in Nottingham Caruso St John Architects Wer sich nach Nottingham aufmacht und hofft, dort eines dieser viel diskutierten „Signature Buildings“ zu finden, wird enttäuscht. Hier ist keine Stilikone entstanden, kein neues plakatives Wahrzeichen, kein selbstverliebtes Schaustück eines Architekturstars – im Gegenteil: Die Kunstgalerie weist eine in der Architektur selten gewordene Qualität auf, sie hat unmittelbar mit dem Ort zu tun, sie ist mit dem Ort verwurzelt. von Sabine Schneider
Eine Verkehrsschneise durchtrennt das alte und neue Nottingham. Die Galerie für zeitgenössische Kunst liegt in jeder Hinsicht an der Schnittstelle.
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Die Galerie umgibt ein strenges graugr체nes Faltenkleid. Ornamentierte Streifen und goldgl채nzende Borten aus eloxiertem Aluminium verwandeln es in ein Festtagsgewand.
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as „Nottingham Contemporary“ liegt im alten Stadtviertel „Lace Market“, nur in paar Minuten Fußweg vom Bahnhof entfernt. Die Verkehrsplanung der 1960er Jahre allerdings macht es dem Besucher nicht leicht: Eine breite Autoschneise ist durch die alte Stadtstruktur geschlagen, Straßenbahnschienen sind auf eine Hochtrasse gelegt, und mehrstockige Parkhäuser und ein gewaltiges Einkaufszentrum, das ein ganzes ehemaliges Stadtquartier einnehmen muss, versperren zunächst den Weg. Hat man die Hindernisse aber umrundet, entdeckt man an einem sanft ansteigenden Hang ein kleines Stück „Merry England“ wie aus der Tourismusbroschüre. Lace Market stammt aus viktorianischer Zeit und beherbergte einst, wie der Name sagt, die maschinellen Produktionstätten für die im 19. Jahrhundert so begehrte Spitze. Davon zeugen heute noch reich verzierte Lagerhäuser aus Backstein. Hier gibt es viele schöne alte Ziegelbauten, enge Gassen mit Kopfsteinpflaster, und die Pubs tragen Namen wie „Cock & Hoop“ und „Pitcher & Piano“. In welchem Steine sollen wir bauen? Die Galerie markiert die Grenze von neuerem und altem Stadtteil, liegt also zwischen den schmutzig-braunen Ziegelmauern des Einkaufszentrums, der Straßenbahntrasse und den alten Backsteinfassaden. So ist die erste Frage, die man sich beim Anblick des Kunstgebäudes stellt, warum verwenden die Architekten nicht Ziegel als Außenhaut, wo der doch ortstypisch zu sein scheint? Der Projektleiter Bernd Schmutz gibt dazu gerne Auskunft und scheint diese Frage erwartet zu haben. Sie hätten sich durchaus an der Rigidität und am dezenten Zierrat der historischen Lagerhäuser orientiert, meint er, aber das Gebäude definiere eine Schnittstelle, es liege an einem konfusen Ort in einer künstlichen Topografie, da sollte es nicht verschwinden, sondern seine eigene Sprache finden, um ordnend zu wirken. Und das tut es. Aus der Ferne betrachtet staffeln sich mehrere Kuben am Hang; ihr dunkler, schwer wirkender Sockel lässt sie mit dem Asphalt verwachsen; die vertikal strukturierte Fassade und die großen Fensterscheiben schimmern graugrün, und darüber leuchten weithin zwei goldene Hauben. In der Kubatur gleicht die Galerie zwar den Nachbargebäuden des Einkaufszentrums (1), in der Farbigkeit aber lässt sich nun ihre öffentliche Funktion erkennen: Die beiden Kirchen aus viktorianischer Zeit in unmittelbarer Umgebung sind aus dem örtlichen Sandstein gebaut und in der ständig feuchten Witterung Nottinghams leicht bemoost – ein ähnliches Graugrün wie beim neuen Kunstbau (2). Wie grün patiniertes Kupfer bildet dieser Ton eine angenehme Komplementär-
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Erst direkt vor der Fassade stehend, erkennt man das typisch Nottingham‘sche, das Spitzenmuster, das schon die Jury am Wettbewerbsentwurf 2004 schätzte.
farbe zu Backsteinrot. Das Gebäude ist außerdem stadträumlich im Wegenetz des Viertels fest verankert, als sei es schon immer so gewesen. Drei neu angelegte Plätze werden durch um den Bau führende, öffentliche Fußwege miteinander verbunden: der Vorplatz auf der Nordseite gegenüber des Weekdaycross-Denkmals, im Nordosten der Vorplatz mit dem großzügig überdachten Haupteingang und eine südliche Caféterrasse, die man über einen seitlichen Treppenabgang erreicht.
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Das Handwerkliche, das Maschinelle und das Digitale Erst direkt vor der Fassade stehend, erkennt man das typisch Nottingham‘sche, das Spitzenmuster, das die Jury schon am Wettbewerbsentwurf 2004 schätzte und ihn deshalb mit dem ersten Preis auszeichnete. Das Gebäude trägt ein Kleid, mit seinem Spitzenmuster und den goldenen Säumen ein wahres Sonntagskleid. Rundum wird der graugrüne Betonstoff in starre konkave Falten gelegt, goldfarbenes Alu als senkrechte schmale Zierleisten appliziert. Die glatten Betonteile sind samtartig geschliffen, während sich die mit Spitzenmuster gewirkten Streifen spürbar rau wie eine gehärtete Zuckerkruste anfühlen. Aus der Ferne wirkt das Gebäude zeitlos modern – es könnte auch 1960 entstanden sein –, nur die ornamentierte Oberfläche verrät, dass es aus unserer Zeit stammt, da es unser gegenwärtiges Interesse am Ornament in der Architektur widerspiegelt. Es erinnert damit an die Geschichte des Orts. ►
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Das „Stoffliche“ der Baumaterialien und ihre Verarbeitung beschäftigt Caruso St John, sei es Stein oder Beton, der wie „gewebt“ und dadurch dekorativ wirkt. Inspiriert haben sie etwa die in mühsamer Handarbeit hergestellten, ornamentierten Terrakotta-Platten an Louis Sullivans Guarantee Building in Buffalo (3), ein fortschrittliches Bauwerk von 1896, aus der selben Zeit wie die Spitzenproduktion in Nottingham. Die Fertigbetonteile des Kunstgebäudes nutzen alle heute verfügbaren Techniken; sie sind je nach Arbeitsschritt digital bearbeitet, maschinell hergestellt und von Hand perfektioniert (siehe „Zur Fassade“). Die Architekten haben regelrecht geforscht – nicht nur auf der Suche nach dem geeigneten Spitzenmuster. So haben sie die Schalungsstrukturmatten in Deutschland gefunden, Zuschlagstoffe für die Betonmischung in Frankreich und die passende Übergröße für die Scheiben in Österreich. Wie im besten Sinne Gottfried Sempers spielt bei ihnen Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik eine „positiv-schöpferische Rolle“ – Semper plädierte Mitte des 19. Jahrhunderts für eine „Industriearchitektur“, die den Zusammenhang zwischen baukünstlerischem Schaffen und Technik sichtbar macht. Außen steifer Faltenrock, innen Jeans und T-Shirt Im Inneren ist nichts mehr von der Festtagsstimmung des Äußeren zu spüren. Die Bauaufgabe bestand darin, dass zwei in Provisorien untergebrachte öffentliche Kunstgalerien der Stadt zusammengelegt werden und ein eigenes Haus bekommen sollten, daher war vor allem Flexibilität der Räume gefragt – für bildende wie darstellende Kunst, von Performance bis zur Präsentation alter Meister. Die Architekten ließen sich von den Ausstellungsräumen des PS1 in New York (B2/1998) inspirieren, von den loftartigen Sälen
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eines ungenutzten Industriebaus, dessen ruppiger Charme im Vorgefundenen besteht. Im Nottingham Contemporary drückt sich dieses Provisorische in einer Decke aus weiß gestrichenen Akustikdämmplatten aus (4), in den dünnen variierbaren Gipskartonwänden, im durchgehenden rauen Eichenparkett, in den Sichtbetonwänden von Veranstaltungssaal und Treppenhäusern. Nottingham hat Glück, dass es kein „Signature Building“ bekommen hat – schließlich haben am Wettbewerb auch Zaha Hadid und Foster Associates teilgenommen. Auch erscheint das Nottingham Contemporary nicht so auf sich bezogen und sich selbst genügend wie das RolexLearning-Center in diesem Heft. Stattdessen handelt es sich um eine wahrlich urbane Bereicherung zwischen Alt- und Neustadt. ●
Linke Seite und unten: Nur an den Schauseiten reicht das Spitzenmuster bis zum Sockel; an den Seitenwänden reduziert sich die Spitze lediglich auf eine kokette Borte unter der Traufe.
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Im Prinzip besteht das Innere aus zwei Ausstellungsebenen im Erd- und zweiten Untergeschoss – ein niedriges Zwischengeschoss dient der Verwaltung. Oben und rechte Seite: zwei Säle im EG, unten: Mehrzwecksaal und Café im 2. UG
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Es war vor allem Flexibilität der Räume gefragt — für bildende wie darstellende Kunst, von Performance bis zur Präsentation alter Meister. Die begrünte Dachlandschaft wird von 130 Oberlichtern perforiert. Simple Gipskartonplatten und raue Eichendielen geben den Sälen Werkstattcharakter.
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Zur Fassade Das Galeriegebäude wird von drei Fassadentypen gegliedert, die sich wie folgt staffeln: Ein dunkler, asphaltfarbener Sockelbereich wirkt schwer und verankert das Gebäude am Ort; er ist mit handpolierten, schwarzen Fertigbetonelementen verkleidet (Zuschlagstoffe: schwarzes französisches Labrador-Granit-Granulat und schwarze Oxidpigmente). Der Hauptfassadenanteil besteht aus konkav geformten, graugrünen Betonfertigteilen (Zuschlagstoffe: GiggionGranit-Granulat und grüne Oxidpigmente). Darüber schließlich sitzen die beiden weithin sichtbaren, leicht wirkenden „Hauben“ des Gebäudes. Sie sind umhüllt von 0,6 mm starken, gold eloxierten Alublechstreifen, die konvex in Profile gebogen wurden und dadurch ihre Steifigkeit erhalten. Die graugrünen Fassadenelemente dominieren die Erscheinung des Gebäudes, aber nur an den Hauptfassaden weisen sie auch das markante Spitzenmuster auf. Die Architekten suchten lange, bis sie im Stadtarchiv eine geeignete Spitzenborte gefunden hatten – die Wahl fiel letztendlich auf das Muster „Cherry Blossom“. Die Borte wurde in hoher Auflösung gescannt und im Photoshop gespiegelt, die Übergänge zwischen den zwei Borten sind von Hand fein nachgearbeitet worden. Dieses Schwarzweißbild hat man digital in Höhendifferenzen bis zu 4 mm übersetzt und in eine CNC-Fräse eingespeist. Daraus entstanden zwei elf Meter lange Gummimatten mit dem Negativmuster. Die Matten waren robust, so dass sie mehrmals in die Holzschalung eingelegt werden konnten. Die Oberfläche der Positivformen aus Beton wurde geätzt, um eine gleichmäßig raue Textur zu erhalten. Die mit zwei konkaven Rinnen ausgeformten Schalungen ergaben bis zu elf Tonnen schwere Betonfertigteile, die mit einem Autokran mit nur 15 mm Toleranz platziert wurden. Die Fugen zwischen den Elementen wurden nicht mit Silikon gefüllt, sondern erhielten gold eloxierte Alu-Leisten als Abdeckung. Durch die paarweise Herstellung der Betonelemente ergeben sich abwechselnd eine „echte“ und eine „falsche“ Fuge. Die großen Scheiben in der Fassade haben Überformat und mussten speziell aus Österreich importiert werden. sas
Als Gebäudetragwerk wurde ein Betonschuh für die insgesamt drei Untergeschosse in den Sandsteinfels eingebettet. Er trägt die Stahlkonstruktion für das Erdgeschoss, an die die armierten Betonfertigteile montiert wurden.
Horizontalund Vertikalschnitt M 1 : 50
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Bauherr: Nottingham Contemporary Architekten: Caruso St John Architects, London Adam Caruso, Stephanie Webs, Bernd Schmutz, James Payne, Sabine Rosenkranz, David Kohn, Frank Wössner, Kornelia Gysel, Ah-ra Kim, Adam Gielniak, Kalle Söderman, Viktor Jak, Tim Collett, Christiane Felber, Adam Khan, Emily Greeves www.carusostjohn.com Projektmanager: Jackson Coles; Mouchel (früher: Hornagold and Hills); Segue Consultancy Ltd Tragwerksplanung: Ove Arup and Partners; Elliottwood Partnership LLP Haustechnik: Ove Arup and Partners Spitzenmusterfassade: University of Derby; Nottingham Textile Museum; Trent Concrete Standort: High Pavement, Nottingham, England www.nottinghamcontemporary.org Schalungsstruktur: www.reckli.de Verglasung: www.eckelt.at; www.saint-gobain.de Beleuchtung: www.zumtobel.de Textilien: www.kvadrat.dk Fotos: Hélène Binet, London
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Lageplan M 1 : 2500 1 2 3 4 5 6
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Weekday Cross Monument High Pavement Middle Hill ehemalige Kirche (heute Pub) Vorplatz Haupteingang Caféterrasse
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Grundrisse M 1 : 750, Querschnitt M 1 : 300 1 2 3 4 5 6
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Mehrzwecksaal Café Caféterrasse Ausstellung Empfang, Museumsladen Studio
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