Baumeister Zeitschrift für Architektur 108. Jahrgang Mai 2011
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D 15 EUR A, L 17 EUR CH 23 SFR
Evergreen in neuer Perspektive: Das Einfamilienhaus zwischen Lebenstraum und Landplage Was hält Michael Sorkin von Gehrys New Yorker Wohnturm… …und was sagen die anderen New Yorker? Marcel Reif über die Aura von Fußballstadien
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Thema: Zwischen Lebenstraum und Landplage – das Einfamilienhaus
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Palm Springs in deutschen Vorstädten Schon oft wurde es totgesagt. Doch das Einfamilienhaus erfreut sich weiterhin beträchtlicher Beliebtheit. Ein Grund dafür ist paradoxerweise die globalisierte Stressgesellschaft. Sie erzeugt die Sehnsucht nach Rückzugsorten. von Tobias Moorstedt
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Das Leben in der Kleinfamilie ist auch nicht mehr das, was es mal war. Das demonstriert die Kunst Erwin Wurms. Ein Bild machen kann man sich davon noch bis 4. September im MAK in Wien.
er Spaziergang durch die Luitpoldstraße in der Münchner Vorstadt Olching ist eine kleine Weltreise. Im Neubaugebiet „Schwaigfeld“ kommt der Flaneur in wenigen Minuten an einer Villa im toskanischen Stil vorbei, sieht ein Engadiner Holzhaus und einen Bungalow mit großen Glasflächen, den man eher in Palms Springs verortet hätte. Das Schwaigfeld ist ein Stück Postmoderne, in dem Häuslebauer nicht mehr das Standardmodell des Einfamilienhauses, eine Doppelhaushälfte mit Garage, zwei Stockwerken und roten Ziegeln auf dem Spitzdach wählen, sondern die Baumaßnahmen als Ausdruck ihres Lebensgefühls nutzen. Und in Olching leben offenbar Deutsche mit kalifornischer, italienischer oder alpenländischer Seele. Deutschland verändert sich. Die Werbeslogans, mit denen die Grundstücke und Wohneinheiten beworben werden – „Die Stadt vor der Haustüre“, „Das Leben im Grünen“, „Sicherheit für die Kinder“ – könnten aber auch aus den 60er und 70er Jahren stammen. Deutschland verändert sich nicht. Nach einer Umfrage von Infratest wünschen sich 71 Prozent der Deutschen ein frei stehendes Einfamilienhaus (EFH). Eine Allianz von Architekten, Umweltschützern und Volkswirtschaftlern rückt dem EFH mit der argumentativen Abrissbirne zu Leibe. Die These: Das Einfamilienhaus ist keine zeitgemäße Wohnform für das 21. Jahrhundert. „Es wird eine Bewegung aus Suburbia hinein in die Stadt geben“, sagt Architekt Christoph Ingenhoven. Das habe vor allem finanzielle Gründe: „Energie wird teurer sein. Individualverkehr wird schwer zu bezahlen sein, die Menschen werden nah an ihrem Arbeitsplatz wohnen wollen oder müssen. Und das bedeutet Dichte!“ Aber steht Deutschland wirklich vor dem Ausstieg aus dem Modell Einfamilienhaus? Die Zahlen sprechen eine undeutliche Sprache: Im Jahr 2009 wurden in Deutschland laut Statistischem Bundesamt knapp 70 000 Einfamilienhäuser gebaut. Zehn Jahre zuvor waren es noch mehr als 176 000 Häuser. Allerdings hat der Bau von Wohnungen durch das geringe Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum der vergangenen Dekade und den hohen Altbestand insgesamt stark abgenommen. Und: Noch immer ist das „Wohnhaus mit einer Wohnung“, wie die Statistiker das EFH abspeichern, der beliebteste Lebensraum ►
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der Deutschen: knapp 50 Prozent aller im Jahr 2009 gebauten Wohnungen waren frei stehende Villen, Doppelhaushälften oder Reihenhäuser. Die absoluten Zahlen sinken, der relative Marktanteil bleibt recht konstant. Die Baby-Boomer verkaufen ihre Häuser Dabei gibt es viele Argumente, die gegen den Fortbestand der Wohnform sprechen: „Das Einfamilienhaus steht nicht mehr in der Gunst der Bauherren“, stellt die Immobilienabteilung der Schweizer Großbank Credit Suisse mutig fest und spricht von einer „demografischen Falle“. Der Einfamilienhausboom, der die Schweiz und den Rest Mitteleuropas in den 70er Jahren erfasste, ist sowohl auf das starke Wirtschaftswachstum der Zeit zurückzuführen, als auch auf die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1946 und 1964, die zu dieser Zeit ein Alter zwischen 30 und 40 Jahren erreichten. In deren bürgerlicher Normalbiografie stehen Karriere, Familiengründung und der folgerichtige Umzug in die Vorstadt an. „Die Baby-Boomer veräußern nun zunehmend ihre Häuser“, meint Credit Suisse-Analyst Fredy Hasenmaile. Dem hohen Angebot stehe auf Grund der demografischen Entwicklung eine geringere Zahl von Interessenten gegenüber. Die CS-Analysten prognostizieren sinkende Preise und steigende Leerstände. Entwickelt sich die Vorstadt in naher Zukunft zur Brache? Der Soziologe und Stadtforscher Hartmut Häußermann sieht im EFH keinen zukunftsfähigen Raum: Zwar gehöre das Einfamilienhaus zum Nachkriegsdeutschland wie der VW Golf und Wetten dass. „Auf Grund der sich verändernden Lebensstile verliert es aber stark an Attraktivität.“ Die Wohnform EFH taucht sogar im Grundgesetz auf. Familienheim heißt sie da. Damit ist klar definiert, wem die vier Wände, Dach und Doppelgarage eine Heimat bieten sollen: der Kern- und Kleinfamilie, in der der Mann in der Stadt das Geld für die monatliche Hypothekenzahlung verdient und die Frau sich um Kinder und Haushalt kümmert. „Das
Der Österreicher Erwin Wurm erforscht mit seiner Kunst die Skurrilität menschlichen Daseins. Das Thema Wohnen steht dabei oft im Zentrum.
„Das Einfamilienhaus steht nicht mehr in der Gunst der Bauherren“, stellte die Immobilienabteilung der Credit Suisse im Jahr 2010 fest.
Hausfrauenmodell ist aber passé“, meint Häußermann. Und nicht nur das: Immer weniger Menschen leben dauerhaft in einer Familie, die Zahl der Single-Haushalte steigt. Doch die kreativen Patchwork-Modelle, die durch räumliche und emotionale Mobilität entstehen, finden in dem 160-Quadratmeter-Standardmodell keinen Platz zur Entfaltung. „Im 21. Jahrhundert kann man das arbeits- und genussorientierte Leben in innerstädtischen Quartieren besser organisieren als am Stadtrand.“ Marco Salvi, der an der ETH Zürich Immobilienökonomie lehrt und den Blog „Der Stadtökonom“ schreibt, blickt auf die harten Zahlen und kommt zu einem anderen Schluss: „Das Einfamilienhaus ist ökonomisch noch immer ein attraktives Modell.“ Bestimmend für die Bebauung einer Fläche seien weniger der Raumordnungsplan und auch nicht gesellschaftliche Werte und Trends, sondern vor allem der Preis von Boden und Mobilität: „Eine Verdichtung der Bebauung macht ökonomisch nur in attraktiven Lagen in Städten wie Hamburg, München oder Zürich einen Sinn“, erklärt Salvi, dort werden alte Einfamilienhäuser, die in den 50er und 60er Jahren gebaut wurden, auf Grund der hohen Grundstückspreise zunehmend durch Gebäude mit Stockwerkwohnungen ersetzt. Auf dem Land und auf B-KlasseGrundstücken lasse der Markt eine Verdichtung der Bebauung jedoch nicht zu. Ein Hauptgrund für die Langlebigkeit des EFH ist für Salvi die Subventionierung von Mobilität durch Straßenbau, S-Bahn-Netze und Pendlerpauschale. „Wer eine dichtere und effizientere Stadt haben will, muss das Autofahren und Pendeln verteuern.“ Das Schicksal des traditionellen Familienheims oder frei stehenden Wohnhauses ist abhängig von der Lage: in Städten wie München oder Hamburg wird das EFH zu einem Luxusgut. Auf dem Land und in schwach entwickelten Regionen werden die Preise bezahlbar bleiben und vermutlich gar sinken. „Der Immobilienmarkt entwickelt sich insgesamt nur langsam“, hat Salvi festgestellt, im Jahr 1910 war die populärste Wohnform in Städten die Drei-Zimmer-Wohnung. 100 Jahre später hat sich daran nichts geändert. Und auch das EFH habe eine lange Zukunft vor sich: „Totgesagte leben länger.” Auch wenn sich also die Bedingungen wie Energiepreise, Rohstoffquellen und Temperatur verändern, verändert dies doch nicht zwingend die Bedürfnisse der Bürger. Zu diesem Schluss kommt der Stadtforscher Jürgen E. Schmidt, der für eine qualitative Studie in der Bodensee-Region zahlreiche Interviews mit Bauherren und Hausbesitzern geführt hat. „Für die ungebremste Attraktivität des Einfamilienhauses gibt es eine komplexe Summe von Gründen.“ Im Wirtschaftswunderdeutschland, so Schmidt, war das Einfamilienhaus vor allem Statussymbol – ich habe es geschafft! – und eine kleine Burg, die das Leben des Einzelnen überdauern und der Familie auf Jahre hinaus ein Heim bieten sollte. Diese Motive hätten stark an Bedeutung verloren. „Heute steht an erster Stelle der Wunsch nach Ruhe und Störungsfreiheit.“ Die Menschen „müssen in ihren postfordistischen Arbeitswelten häufig, schnell und vernetzt kommunizieren und sehnen sich nach dem Rückzug von der Welt“. ●
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Haus mit Hut Wohnhaus in Tübingen amunt – Architekten Martenson und Nagel Theissen Dieses Einfamilienhaus ist ein Ein-Familienhaus, kann aber auch leicht zu einem Haus mit zwei Wohnungen werden. Es ist klein, keck, vielseitig und lässt sich nicht auf eine Funktion, eine Bedingung oder eine Aufgabe reduzieren. So wird ein attraktives Wohngebiet schlau nachverdichtet. von Christian Holl
Die strenge Auslegung der Abstandsflächen gebiert eine kompakte, turmartige, scheinbar ungelenke Hausform. Seine homogene mausgraue Hülle aus verschweißten Dachbahnen erinnert mit ihren ausgeprägten Graten an eine Hutkrempe.
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Wirklichkeit oder Modell? Die besondere Aufnahmetechnik des Fotografen Marc Räder zwingt uns, genau hinzusehen (Auflösung auf Seite 47).
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Mein surrealer Zementgarten Wohnhaus in Frankfurt am Main Meixner Schlüter Wendt Wer sagt denn, dass in Frankfurt keine Idylle möglich ist? Ein Westend-Bau schafft eine grüne Oase – in ganz buchstäblichem Sinn. Dabei ist die Farbe so präsent, dass sie ein erfrischend verstörendes Flair entfaltet. Jacques Tati lässt grüßen. von Oliver Elser
Wie beim vorherigen Beispiel wird auch diese eigenartige Hausform im Wesentlichen von notwendigen Abstandsflächen bestimmt. Hier kommt noch die Schwierigkeit eines niedrigen Bestandsgebäudes dazu, das überstülpt wird. Oben: grau gestrichene Rückseite und Haupteingang
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Eine Restfläche in einem Innenhof, zudem mit eineinhalbgeschossigem Bestand, der überbaut werden musste – wahrlich kein Traumgrundstück. Die Architekten verwandelten den Ort in eine introvertierte, großzügige Villa.
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Schwarzer Stein des Anstoßes Wohnhaus in Lana Höller & Klotzner Architekten Das Haus Höller nahe Meran entspricht nicht der stadtplanerischen Assoziation von Zersiedelung und übermäßigem Aufwand an Infrastruktur. Es nimmt eine Lücke im schon besiedelten Hang ein. Hier bezieht sich das Feindbild ganz wörtlich auf nachbarliche Aversionen gegen das Ungewohnte in der dörflichen Umgebung. Denn es ist schwarz und hebt ab. von Andreas Gottlieb Hempel
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Kaum den Boden berühren, am liebsten über dem Weinberg schweben. Der Geländeverlauf und viele der alten Rebstöcke bleiben so erhalten. Das dreiseitig verglaste Wohngeschoss lässt sich an den Flanken mit raumhohen Metallpaneelen verschließen.