Baumeister Leseprobe 6/2014

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111. Jahrgang Das Architektur-Magazin Juni 2014

Bç«Żhne Ve n e d ig/ Pr i n z i p Biennale

kuratiert von TUMLAR/ Stephan Trç«Żby


Is this modern?

Vor vier Jahren forderte der damalige PrĂ€sident der Bundesarchitektenkammer einen neuen Deutschen Pavillon fĂŒr die Giardini. Jetzt hat der Werkbund 25 Architekten um Ideen dazu gebeten und stellt sie unter dem Titel „this is modern“ in Venedig aus. Hier ausgewĂ€hlte EntwĂŒrfe – und ein eher skeptischer Kommentar von Muck Petzet 36

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Mode llfotos: Andrew Albe rt

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Ab 8. Juni werden die Ideen fĂŒr einen neuen deutschen Pavillon im Palazzo Ca‘Tron am Canal Grande ausgestellt. Entwurf von Arno Brandlhuber Modell des Bonner Architekten Uwe Schröder 37


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Stefan Behnisch, Stuttgart Max Dudler, Berlin Grç«Żntuch Ernst Architekten, Berlin

Mode llfotos: Andrew Albe rt

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Jç«Żrgen Mayer H., Berlin Jan Kleihues, Berlin Hild und K, Mç«Żnchen 39


„Der Pavillon“, erklĂ€rte Arno Sighart Schmid 2010, „entspricht so gar nicht mehr unserem demokratischen SelbstverstĂ€ndnis [...]. Es wird Zeit, dass wir uns vom jetzigen GebĂ€ude mit der ausgeprĂ€gt nationalsozialistischen MonumentalitĂ€t verabschieden.“ Laut Pressemitteilung gelte „der Pavillon als schwer bespielbarer Ort“ unter Kuratoren. Hinzu komme, dass er seine einmalige Lage am Wasser nicht nutze: „Hier gibt es nicht einmal eine Fensteröffnung zur Lagune“, beschreibt Schmid die Situation. Die Mitteilung schließt mit dem Hinweis: „Auch wenn das Haus unter italienischem Denkmalschutz steht, sollte das keine unĂŒberwindliche HĂŒrde sein. Der historische Wert des Pavillons rechtfertigt nicht seinen Erhalt.“ Der Deutsche Pavillon in Venedig ist in seiner jetzigen Gestalt 1938 als Umbau des 1909 von Daniele Donghi errichteten Bayerischen Pavillons entstanden (Bild 5 a). Ernst Haiger ĂŒberformte den kleinmaßstĂ€blichen, neoklassizistischen Bau vollstĂ€ndig in der gravitĂ€tischreduzierten Formensprache eines die großen MaßstĂ€be suchenden Neuklassizismus. Im Inneren entstanden – Ă€hnlich wie beim Haus der Kunst in MĂŒnchen – relativ neutrale, großmaßstĂ€bliche, gut belichtete und proportionierte RĂ€ume. Auch die Materialisierung im Inneren mit hellem Kalksteinboden, reduzierten TĂŒreinfassungen und großen PutzflĂ€chen ist zurĂŒckhaltend. Dem „basilikalen“ Grundriss und der „Apsis“ im Hauptschiff, die der möglichst spektakulĂ€ren Inszenierung von Skulpturen der Bildhauerschule um Arno Breker diente, ist ein BemĂŒhen um eine Überhöhung des Inhalts anzumerken (Bild 5 d). 1958 legte Arnold Bode, der Initiator der Documenta, beim AuswĂ€rtigen Amt den Entwurf fĂŒr einen Umbau des Pavillons vor (Bild 6 i): Der Portikus sollte geschlossen und in eine asym40

metrische Fassaden-Komposition einbezogen werden. Bodes PlĂ€ne zu einer Profanierung des „Kunsttempels“ als bescheidene, dienende HĂŒlle wurden nicht ausgefĂŒhrt, sondern nur pragmatische Änderungen wie der Abbruch einer Zwischenwand im Hauptsaal vorgenommen. Es blieb den KĂŒnstlern vorbehalten, sich immer wieder mit der Geschichte des Pavillons zu beschĂ€ftigten, ihn als Material oder Ausgangspunkt fĂŒr ihre Ideen einzusetzen, wie etwa Joseph Beuys, der 1976 mit seiner „Straßenbahnhaltestelle“ das sichtbar verfallende GebĂ€ude durch eine Bohrung mit der Lagune verband oder wie 1993 die spektakulĂ€re Intervention von Hans Haacke, der den Kalksteinboden des Pavillons teilweise herausbrechen ließ und zu einer Schollenlandschaft aufschichtete (Bild 7 c). Auch die beiden letzten deutschen BeitrĂ€ge zeigten die Potenziale des GebĂ€udes als Auslöser – 2009 machte Liam Gillicks „Wie wĂŒrden Sie sich verhalten? Eine KĂŒchenkatze spricht“ Bodes UmbauplĂ€ne des Pavillons zum Ausgangspunkt seiner Installation und 2011 wurde die nationalsozialistische Sakral-Architektur ganz direkt in eine Schlingensief-Kirche transformiert. Diese gelegentlich zerstörerischen kĂŒnstlerischen Interventionen wurden von der Bundesbauverwaltung immer wieder unsichtbar gemacht und beseitigt. Es erfolgten lediglich pragmatische Anpassungen – auch die in den neunziger Jahren von den Architekten Brandt & Böttcher durchgefĂŒhrte umfassende Sanierung Ă€nderte nichts GrundsĂ€tzliches an der Architektur. Es wurde – nach der zerstörerischen Aktion von Hans Haacke – teilweise ein dem originalen Stein entsprechender, neuer Kalksteinboden verlegt und eine – inzwischen zum GlĂŒck wieder ĂŒbertĂŒnchte – pfirsichfarbene Fassung der AußenwĂ€nde aufgebracht, die die Strenge des Pavillons besĂ€nftigen sollte. Dabei wurde auch ein „Ausstellungs-Beleuchtungssystem“ installiert – das fĂŒr die nĂ€chste Ausstellung wieder abgebaut und danach nicht

mehr eingesetzt wurde. Trotz funktionaler und technischer MĂ€ngel wurde der Pavillon also bisher nicht grundlegend umgebaut, sondern in Gestalt der dreißiger Jahre konserviert. Im „Kunsttempel“ der Nazizeit gibt es nach wie vor keine SanitĂ€ranlagen, keine Arbeits- oder

das Neue. Weder das Arsenale noch der (in Teilen ebenfalls aus faschistischer Zeit stammende) Padiglione Centrale oder die anderen LĂ€nderpavillons sind neutrale Orte; sie fordern zur Auseinandersetzung heraus – und zu ortsspezifischem Handeln.

Ai Weiweis Hockern hĂ€tte im Deutschen Pavillon eine andere, eindrĂŒcklichere Wirkung gehabt. WĂ€hrend also die Kunstbiennalen den Pavillon – in seiner historischen und kĂŒnstlerischen Aufladung, aber auch in seiner

In der Architektenschaft rumort aber immer wieder der Gedanke, den Pavillon zu „verbessern“, zu Ă€ndern oder neu zu erschaffen. Solche VorschlĂ€ge werden gerne als Bewerbungen fĂŒr eine Generalkommissarausschreibung – oder wie jetzt – initiiert von einer renommierten Institution wie dem Werkbund erarbeitet und – auch wenn sich der Werkbund in seiner Pressemitteilung hier auffĂ€llig zurĂŒck-

hĂ€lt – mit der Hoffnung prĂ€sentiert, „Bewegung“ in den starren Zustand des GebĂ€udes zu bringen. Doch wozu? Sicher wĂ€re es sinnvoll und dankbar, sich mit funktionalen MĂ€ngeln des GebĂ€udes zu beschĂ€ftigen, Reparaturen und Instandsetzungsmaßnahmen aber auch ErtĂŒchtigungen und mögliche Erweiterungen als architektonisch herausragende Aufgabe zu begreifen – dafĂŒr wĂŒrde es sich lohnen, einen Wettbewerb auszuloben – statt wie bisher immer wieder herumzuflicken. Die Unterkellerung eines SeitenflĂŒgels wĂ€re denkbar, um die Raumnot der im Pavillon Arbeitenden zu lösen; oder der Einbau einer innovativen Temperierungsmöglichkeit, etwa ĂŒber Bauteilaktivierung und WĂ€rmepumpen.

Auch ein funktionierender Sonnenschutz und eine einfache BelĂŒftung wĂ€ren sinnvoll. Doch kann es bei all diesen Maßnahmen meines Erachtens keinesfalls um eine architektonische „Überarbeitung“ oder gar Erneuerung des Pavillons gehen – nichts noch so grandioses Neues kann die Geschichte und Aufladung dieses speziellen Orts ersetzen. Gerade das unvollkommen Altmodische des GebĂ€udes macht es so offen und geeignet fĂŒr alles Neue. Deutschland hat in Venedig genau den Pavillon, den es sich mit seiner Geschichte und mit den Anstrengungen seiner herausragenden KĂŒnstler verdient hat: ein widersprĂŒchliches, durch die kĂŒnstlerischen Spuren stark aufgeladenes StĂŒck Ar-

Buchtipp

Zur Ausstellung in Venedig

„Die deutschen BeitrĂ€ge zur Biennale Venedig 1895 – 2007“

„this is modern“

chitektur. Es handelt sich hier – im Gegensatz zur Behauptung von Arno Sighart Schmidt – ganz explizit um ein herausragendes Denkmal der Kulturgeschichte, das mit all seinen Spuren und Zeitschichten erhalten werden sollte. DarĂŒber hinaus bleibt der Pavillon – mit all seinen UnzulĂ€nglichkeiten – ein großzĂŒgiger, alles ermöglichender, simpler Raum mit hervorragenden QualitĂ€ten. Der Werkbund hat sich in seiner Geschichte sicher schon mit relevanteren Aufgaben beschĂ€ftigt als mit dem Gedankenspiel, den Deutschen Pavillon als „baufĂ€llig“ zu erklĂ€ren – nur um eine Leistungsschau unterschiedlicher EntwurfsansĂ€tze zu erzeugen.

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Lagermöglichkeiten – das technisch so ehrgeizige und in vielem beispielhafte Land Deutschland prĂ€sentiert sich mit einem der technisch „rĂŒckstĂ€ndigsten“ GebĂ€ude auf der Biennale. Das benachbarte England hat gleich ein ganzes Nutzgeschoss zur VerfĂŒgung, mit AbstellrĂ€umen, Verwaltung, Duschen und WCs; die AusstellungsrĂ€ume sind voll klimatisiert. Und die gegenĂŒberliegenden Franzosen, mit denen man wĂ€hrend der Kunstbiennale 2013 einen Pavillontausch vollzog, haben zumindest NebenrĂ€ume und Toiletten. Der inhaltlich und mit dem 50. Jahrestag des ElysĂ©e-Vertrags begrĂŒndete letztjĂ€hrige deutsch-französische PavillonTausch machte die ganz grundlegenden QualitĂ€tsunterschiede der Pavillons deutlich. FĂŒr eine beeindruckende Installation von Anri Sala baute die französische Seite sogar eine temporĂ€re Klimaanlage im Deutschen Pavillon ein – die Dimensionen und Freiheiten des GebĂ€udes wurden voll genutzt. Dagegen entfaltete im „Deutsch-besetzten“ französischen Pavillon eine eher konventionelle Enfilade von EinzelraumprĂ€sentationen wenig Wirkung: Etwa die Installation von

GroßzĂŒgigkeit und seinen rĂ€umlichen und materiellen QualitĂ€ten – immer wieder ĂŒberraschend neu interpretieren und mit seinem Potenzial nutzen, tun sich die Architekten schwerer, ein gleichermaßen souverĂ€nes wie kritisch-pragmatisches VerhĂ€ltnis zu dem Bau zu finden. 2002 widmete sich mit „nextliegend“ eine Ausstellung von Studentenarbeiten der möglichen Uminterpretation des Pavillons; 2010 entstand mit den VorhĂ€ngen im Portikus und den dunkelroten Stoffbespannungen im Zentralraum von Sehnsucht eine naivunfreiwillige NĂ€he zu einem Salon der dreißiger Jahre: Der Pavillon hat seine TĂŒcken, er ist eben kein neutraler Ort und nur die Ausstellungen, die das inhaltlich, historisch und materiell Vorhandene bewusst als Teil ihrer Aussage und Installation begreifen und bewĂ€ltigen, können dem gerecht werden. Einen neutralen zeitgemĂ€ĂŸen Ausstellungsort wird man auf der Biennale in Venedig vergeblich suchen. Diese mit der Nationenkonkurrenz immer wieder als ĂŒberholt totgesagte Institution lebt eben von der Antiquiertheit und dem historisch geprĂ€gten Hintergrund fĂŒr

Abilldung: Politisches Archiv AuswÀrtiges A mt, Be rlin

Mut zum WidersprĂŒchlichen Ein Kommentar von Muck Petzet

Muck Petzet war 2012 Generalkommissar des Deutschen Pavillons der Architekturbiennale in Venedig. Nach seinem Studium an der TU MĂŒnchen und HdK Berlin arbeitete er zunĂ€chst als Architekt bei Herzog & de Meuron. Basel. Seit 1993 leitet er mit unterschied­ lichen Partnern ein eigenes BĂŒro in MĂŒnchen, seit 2012 mit Andreas Ferstl. Ab 2012 lehrt er „Architektur als Ressource“ am Lehrstuhl fĂŒr Entwerfen und Denkmalpflege an der TU MĂŒnchen.

Institut fĂŒr Auslands­ beziehungen, Ursula Zeller (Hg.) 400 Seiten, Hardcover, zahlreiche Abbildungen, 34,90 Euro ISBN 978-3-8321-9016-3 DuMont Buchverlag, Köln 2007

Der Band stellt die vielseitige 112-jÀhrige Kunst- und Aus­s tellungsgeschichte des Deutschen Pavillons in Venedig vor: eine aufschluss­reiche bebilderte Chronologie.

„Der Deutsche Werkbund Berlin zeigt anlĂ€sslich der 14. Architektur-Biennale in Venedig im Palazzo Ca’Tron am Canal Grande eine Ausstellung zur Fragestellung heutiger moderner Architektur und Gestaltung. 25 in der öffentlichen Rezeption besonders prĂ€sente ArchitekturbĂŒros aus Deutschland wurden gebeten, ihre Position und Haltung zu einer Entwurfsaufgabe darzulegen. Die Aufgabe bestand in einer Auseinandersetzung mit dem Deutschen Pavillon in Venedig, dessen Abriss vor einigen Jahren vom PrĂ€sidenten der Bundesarchitektenkammer gefordert wurde. Gedanklich wurde jetzt das GebĂ€ude als baufĂ€llig eingestuft und den Architekten so die Möglichkeit eines Neubaus an gleicher Stelle eingerĂ€umt. 22 BĂŒros prĂ€sentieren ab dem 8. Juni ihren je eigenen Umgang mit der Aufgabe in PlĂ€nen, Skizzen und Modellen. Die Arbeiten geben einen Einblick in das zeitgenössische VerstĂ€ndnis der BewĂ€ltigung einer architektonischen Entwurfsaufgabe.“ Deutscher Werkbund Berlin 41


15.2: Hinter der BĂŒhne Venedigs – das RĂ€tsel Mestre Mestre liegt abseits vom schönen Venedig am Festland: hĂ€sslich, aber mit all seiner Industrie, dem Gewerbe, gĂŒnstigem Wohnraum und der Infrastruktur auch notwendig fĂŒr das Funktionieren der Lagunenstadt. Nun soll Mestre ansehn­licher werden. von Manfredo di Robilant 80

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„Mestre ist, was es ist. Man kann nicht so tun, als sei es etwas anderes.“ Mit dieser kategorischen Aussage beginnt Matthias Sauerbruch seine PrĂ€sentation ĂŒber das Konzept der Architekten fĂŒr das M9. Das Museum fĂŒr Kunst und Design des 20. Jahrhunderts (Bild 15.2 a) befindet sich in der NĂ€he der Piazza Ferretto, dem historischen Kern der Stadt. Dem Architekten zu-

bĂ€ude weisen einige in der italienischen Architektur der Nachkriegszeit allgegenwĂ€rtige Elemente auf: Die gestapelten Balkone, Fassaden mit monochromen Kacheln und RolllĂ€den sind schlichtweg hĂ€sslich. Sauerbruch Hutton scheinen den anti-pittoresken Charakter Mestres als Problem zu betrachten. Als Konsequenz bieten sie einen Ausgleich an; dieser basiert auf der Ă€sthetischen IndividualitĂ€t des GebĂ€udes sowie dessen Einbezug in die Textur der Stadt. Dazu bedienen sie sich eines archetypischen – wenn nicht sogar stereotypischen – pittoresken italienischen Stils: Eine „Piazzetta” in der NĂ€he des Museums soll fĂŒr eine gewisse urbane GemĂŒtlichkeit sorgen. Dies passt zu den GrundsĂ€tzen, die die Stadtverwaltung (die gleiche wie in

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folge ist Mestre – im Gegensatz zur „theatralischen“ Kulisse Venedigs – authentisch. Daher bezieht sein Entwurf diese AuthentizitĂ€t ein oder kommentiert sie zumindest. Inzwischen ist das Projekt, das 2010 aus einem internationalen Wettbewerb als Sieger hervorging, ausgeschrieben. Wahrscheinlich sagt der Entwurf jedoch mehr ĂŒber Sauerbruch Hutton als ĂŒber Mestre aus, denn es handelt sich um eine ganz pragmatische Organisation des Raumprogramms innerhalb skulpturenartiger Volumen, bekleidet mit verschiedenfarbigen keramischen Pixeln. In der gleichen PrĂ€sentation Ă€ußert der Architekt selbst einen Wunsch, der möglicherweise deutlicher auf Mestres AuthentizitĂ€t hinweist: Hoffentlich wird das neue Museum von den Einwohnern wahrgenommen als „etwas, auf das man stolz sein kann“. Derselbe Wunsch wĂŒrde auf die Einwohner Venedigs bezogen provokativ klingen, doch im Zusammenhang mit Mestre ist er leicht zu erfĂŒllen. Denn Mestre ist tatsĂ€chlich das Gegenteil von Venedig. Es wurde hauptsĂ€chlich in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts als eine Ansammlung mehrstöckiger WohnhĂ€user erbaut. Diese Ge82

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zu verstehen. Apropos Potenzial: Im Jahr 2009 veranstaltete der private Verein Siamo Mestre („Wir sind Mestre“) mit UnterstĂŒtzung der Stadtverwaltung einen Wettbewerb, um VorschlĂ€ge zu sammeln, wie man die lange, belebte Via Piave,

ein Tourist. Andererseits geschah es, um beim Thema Touristen zu bleiben, dass seit den 1950ern wegen des Massentourismus und des wachsenden Wunschs nach Komfort ein dramatisch hoher Prozentsatz von Venezianern von der Lagune

wenige Jahre zuvor der Kopf der Architektengruppe des modernen, volksnahen, römischen Viertels Tiburtino. Einige Jahre spĂ€ter wurde Ludovico Quaroni Dekan der (mittlerweile ihm gewidmeten) architektonischen FakultĂ€t der Hauptstadt. Der Wettbewerb fĂŒr Barene jedoch geriet in eine Sackgasse, und die neue Stadt wurde nie gebaut (Bild 15.2 c). TatsĂ€chlich stĂ¶ĂŸt man in Bezug auf Mestre immer wieder auf Sackgassenprojekte. Grund dafĂŒr ist der Gegensatz zwischen dem Bauen mit und ohne

Architekten. Sackgassen wurden zu Beginn des 21. Jahrhunderts beinahe NormalitĂ€t: Vor einigen Jahren fanden in der Stadt wichtige Wettbewerbe statt wie etwa zur landschaftliche Gestaltung des Passante (Bild 15.2 d), der neuen Autobahn, die um das Stadtgebiet herumfĂŒhrt, und fĂŒr zwei Sozialwohnungsgebiete am Stadtrand. Bis jetzt wurde keines dieser Projekte umgesetzt. 2012 wurde auch Gehrys Entwurf fĂŒr das „Gateway Venedig“ am MarcoPolo-Flughafen das im Jahr

2003 vorgestellt worden war, aufgegeben. Noch schneller wurden die Planungen zur Sanierung des leerstehenden Hafens von Marghera verworfen. Der in Venetien geborene Modedesigner Pierre Cardin hatte dafĂŒr im Jahr 2012 ein Hochhaus entworfen. Die GebĂ€udehöhe von 255 Metern, der kitschige, kurvenförmige Baukörper und die an fliegende Untertassen erinnernden Verzierungen fĂŒhrten nicht nur zu hitzigen Diskussionen, sondern letzten Endes zur Ablehnung des Entwurfs. Es scheint als bliebe

architektonisches Experimentieren weiterhin in der weißen Box „Biennale“ verschlossen. Dort weiß es das internationale Publikum zu schĂ€tzen – nachdem es das pittoreske, auf paradoxe Weise kĂŒnstliche Venedig durchquert hat. Was die Umgebung und damit Mestre anbelangt, so war die Hauptstrategie bis jetzt darauf beschrĂ€nkt, dort eine pittoreske Nostalgie lediglich anzudeuten. Aus dem Englischen von Jördis Bunse

15.2 c Zur Ausstellung „M9 oder die Transformation der Stadt“ die Hauptstraße des Stadtzentrums, in einen ĂŒberwiegend von FußgĂ€ngern genutzten Bereich umbauen könnte. Wenn auch anders als die – mit Sauerbruchs Worten gesprochene – theatralische Herangehensweise an die Piazza Ferretto, stellte auch dieses Projekt die AuthentizitĂ€t Mestres in Frage. TatsĂ€chlich bestand die grĂ¶ĂŸte Schwierigkeit darin, dass die Straße eine wichtige Verbindung zwischen dem Bahnhof und einer wichtigen Station der neuen SBahnlinie, der Monorotaia, ist. Die Via Piave stellt einen aufschlussreichen Querschnitt Mestres dar: eine Reihe inkon-

aufs Festland zog. Als Folge dieser Migration wuchs Mestre dramatisch. Außerdem wurde das benachbarte Areal von Marghera zum Industriegebiet und somit attraktiv fĂŒr einen neuen Arbeiterstand. Trotz der Kombination aus demografischem Druck einerseits und dem Fehlen einer bedeutsamen Geschichte andererseits, war Mestre fĂŒr italienische Architekten kaum ein Ort des Experimentierens. Im Jahr 1958 brachte der Wettbewerb fĂŒr eine neue Stadt bei Barene di San Giuliano einige der einflussreichsten Beispiele ungebauter italienischer Architektur hervor.

Venedig) seit 1990 verfolgt. Damals wurde die nahegelegene Piazza del Ferretto in eine FußgĂ€ngerzone umgewandelt, deren Belag mit einem sehr auffĂ€lligen Muster von Guido Zordan, inspiriert von Carlo Scarpa, verziert wurde (Bild 15.2 b).

Manfredo di Robilant ist Architekt, Bauhistoriker und einer der Hauptakteure des 14. Architekturbiennale. Er hat an verschiedenen UniversitĂ€ten im In- und Ausland gelehrt und bereits zahlreiche BeitrĂ€ge ĂŒber Architektur in Zeitschriften und im Netz publiziert.

M9 ist die Bezeichnung des Stadtteils im Zentrum von Mestre, das sich im Umbruch befindet. Im Mittelpunkt wird das neue Museum des 20. Jahrhunderts stehen, außerdem ein restauriertes Kloster aus dem 17. Jahrhundert und ein Verwaltungsbau aus den 1960ern. Neu- und Umbau stammen von den Berliner Architekten Sauerbruch Hutton. Fondazione di Venezia, Dorsoduro, 3488/U (Rio Novo) 7. Juni bis 23. November www.fondazionedivenezia.org

FußgĂ€ngerzonen: Wunsch und Wirklichkeit Das Vorhaben, in Mestre einen Platz zu schaffen, ging einher mit der mantra-artigen Forderung nach FußgĂ€ngerzonen. Das Bestreben, privaten Verkehr aus einem Stadtzentrum zu verbannen, dessen VitalitĂ€t maßgeblich auf Autos angewiesen ist, ist symptomatisch fĂŒr Mestre. Der anti-pittoreske Charakter der Stadt wurde als zu kompensierender Mangel betrachtet statt ihn als Potenzial

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sistenter, in enge HĂ€userblöcke gedrĂ€ngte GebĂ€ude, die zwischen dem frĂŒhen 20. Jahrhundert und den 1970er Jahren errichtet wurden. Am Ende der Straße liegen eine Villa und ein Park aus dem 18. Jahrhundert. In diese Gegend verirrt sich nie

Man verließ den neo-pittoresken italienischen Weg, wandte sich stattdessen der Moderne zu und experimentierte mit Megastrukturen an der Schnittstelle von Architektur und StĂ€dtebau. Hier tat sich besonders Ludovico Quaroni hervor: Er war 83


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