B8 Bau me ister K u r at i e r t von Christ Ga n t e n b e i n 110. Jahrgang Das Architektur-Magazin
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D A,L C H
15 E u r o 17 E u r o 23 SFR
August
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Santa Maria delle Colonne in Syrakus, Sizilien, ab dem 7. Jahrhundert Architekt: unbekannt
Großes Schauspielhaus, Berlin, 1919 Architekt: Hans Poelzig
Ein Tempel aus der Zeit, als Syrakus griechische Kolonie war, der zur Hauptkirche der Stadt umgebaut wurde. Mit all den Konsequenzen, die eine so radikale typologische Transformation mit sich bringt: die dorischen Säulen, eingemauert in die Außenwände, das Eingangsportal, das die zu eng stehenden Säulen beschneidet, der dekorative bunte Mosaikboden, neben dem die wuchtigen Säulen umso kraftvoller zur Geltung kommen.
Die klassischen Mittel, um Körper und Fläche zu strukturieren, einem Haus einen spezifischen Ausdruck zu verleihen, Öffnungen und Dach zu formulieren – all diese traditionellen Motive werden von Poelzig maximal strapaziert, um Masse und Haut, Gewicht und Leichtigkeit, die Bewegung eines Körpers oder das Material einer Konstruktion zu inszenieren. So individuell und erfinderisch er dabei ist, bezieht er sich doch immer auf die Regeln der Architektur.
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Brasilianische Botschaft, Buenos Aires, 1978 bis 1989 Architekt: Olavo Redig de Campos mit Oswaldo Cintra de Carvalho und Luiz Henrique Gomes Pessina
Khirki-Moschee, Neu-Delhi, 1351 bis 1354 Architekt: Khan-i-Jahan Junan Shah
Abgerundete Bandfenster, dieselbe Form in Grund- und Aufriss als Pflanzenkübel und nochmals als Zugang und Einfahrt in der mit rosarotem Granit verkleideten Mauer. Dahinter verbirgt sich das typisch moderne offene Sockelgeschoss: Freude an der Geometrie dieser postmodernen Rocaille.
Ein Quadrat, geschlossene Fassaden, nach Mekka orientiert der Mihrab. Entlang der Höfe in jedem Quadrant doppelte Stützen, um den Schub der Gewölbe abzufangen. Vierfachstützen, wo sich die Reihen dieser Doppelstützen kreuzen. Architektur als geometrisches System, das symbolisch, funktional und konstruktiv logisch ist. Ordnung verstehen wir nicht als klassizistisches Manifest, sondern als etwas primär Architektonisches, und ihre Störung als Folge zunehmend komplexer Anforderungen sehen wir als zeitgenössische Realität.
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New Art Gallery, Walsall, 1995 bis 2000 Architekten: Caruso St John
Palazzo delle Poste, Neapel, 1933 bis 1936 Architekt: Giuseppe Vaccaro
Ein Gebäude, das keinem abstrakten Formprinzip folgt, sondern gebaut ist, wie so viele ebenfalls unspektakuläre, anonyme Bauten. Seine Form scheint nicht von den Architekten kontrolliert zu sein, sondern ist Ausdruck einer gebauten Realität, einer Raumstruktur, einer Nutzung, eines Konstruktionsprinzips. Zum Glück verzichtet es auf eine Sensation oder auf eine aufgesetzte ikonische Qualität. So wird es gebaute Realität, die manchmal so schön unaufgeregt ist und zu einem Teil der Stadt wird.
Cross-over einer euphorischen Inszenierung moderner Bautechnologie (wie den enormen Verglasungen oder der indirekten Neonbeleuchtung) und einer modernistischen Nacktheit und Flächigkeit mit der Monumentalität des symmetrisch gesetzten Eingangsmotivs, der enormen Dimension und Körperlichkeit eines barocken Palazzo sowie der wuchtigen Schönheit des traditionellen Baumaterials Marmor – weiß für die Fassade, schwarz für den Sockel, rot für die Tische, an denen man den Einzahlungsschein ausfüllt.
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Geschäftszentrum, Sektor 17, Chandigarh, 1958 bis 1969 Architekt: Le Corbusier
Union Dime Bank, New York, 1955 bis 1957 Architekten: Kahn & Jacobs
Der Sektor 17, das Geschäftszentrum Chandigarhs, wird fast ausschließlich von intensiv genutzten, vital überformten Betonskeletten gebildet: einfache Brüstungsvolumen, hohe Geschosse und nach oben hin abnehmender Stützenquerschnitt – so waren sie von jedem Grundeigentümer auf seiner Parzelle gemäß Plan zu bauen. Eine extrem flexible und einfache Struktur, eher Infrastruktur als Architektur. Pragmatisch und archaisch zugleich, kaum datierbar. Hier hat Le Corbusier im Alter nochmals seinen „Domino“ gebaut, diesmal in Reinform, quasi anonym.
Eine expressionistische Architektur wider Willen – als Produkt des Drucks komplexer Baugesetze und einer maximalen Ausnutzung. Das Formalisieren von Rahmenbedingungen, etwa der komplexen dreidimensionalen Baugesetze, welche die Belichtung des Straßenraums sicherstellen sollen, kann zu bis dahin nicht vorstellbaren Architekturen führen. Im Vergleich dazu ist Fantasie oft geradezu langweilig.
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Barbican Estate, London, 1965 bis 1976 Architekten: Chamberlin, Powell and Bon
Badehaus, Kesswil, 2001 Architekten: Buol & Zünd
Ein Wiederaufbauprojekt nach dem Krieg, Tabula Rasa mitten in der Londoner Innenstadt. Das Erstaunliche ist, dass diese Megastruktur, diese Großkomposition, heute auf verblüffend schöne Weise funktioniert. Das hat auch damit zu tun, dass die modernistische Grundidee, eine Stadt auf künstlichem Boden, materialhaft und kultiviert im Detail umgesetzt ist: eine plastische, körperhafte Architektur, gebrochener roher Beton, Holz, opulente barocke Gärten. Die Wichtigkeit der Schönheit von Architektur, sie entscheidet über Erfolg oder Nichterfolg einer urbanistischen Setzung.
Ein Gartenhaus, das sich mit seinem traditionellen Dachvolumen lustig zu machen scheint über die moderne Mode, Architektur zum Schweben zu bringen. Dieses Dach ist aber nicht aufgesetzt, sondern wird durchdrungen von den plastischen Räumen, der Restraum dient sogar als minimale Schlafkoje.
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