Baumeister Zeitschrift f체r Architektur 107. Jahrgang September 2010
Baumeister B9 4 194673 015006 D 15 EUR A, L 17 EUR CH 23 SFR
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Kinderleicht P채dagogische Konzepte f체r Spielr채ume nach Reggio, Ellen Key, AKE und Montessori
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Inhalt B9:
Magazin
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26 Bibliothek der Kunsthochschule Musashino in Kodaira von Sou Fujimoto Architects (Seite 14)
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Die Seite eins Wohnhaft (Wolfgang Bachmann) Bildgeschichte Notizen Kleine Werke (7) Grafikschrank von Nikolaus Bienefeld (Christina Klöcker) Debatte Nachkriegsmoderne kontrovers – eine Tagung (Ursula Baus) Ansichten Bibliothek der Kunsthochschule Musashino in Kodaira von Sou Fujimoto Architects (Claudia Hildner) Jübergturm in Hemer von Birk und Heilmeyer mit Knippers Helbig (Ursula Baus) Kubus in Bochum von Pfeiffer, Ellermann, Preckel (Sabine Schneider) Neue Energie Die KfW-Westarkade in Frankfurt am Main von Sauerbruch Hutton Architekten Porträt Renner Hainke Wirth Architekten (Amelie Osterloh) Veranstaltung Zur bayerischen Architekturwoche A5 Ausstellung, Briefe Kalender Unterwegs Hotel Wakeup in Kopenhagen (Claudia Fuchs) Lesezeichen Mail aus...
Titel: Kindertagesstätte in Leipzig Foto: Werner Huthmacher, Berlin
Callwey Verlag, Redaktion Baumeister Streitfeldstraße 35, D81673 München, Postfach 800409, D81604 München, Telefon +49(0)89 436005 -0, Fax +49(0)89 436005 -147 http://www.baumeister.de, info@baumeister.de
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Kinderkulturhaus Sct. Nicolai in Kolding von Dorte Mandrup Arkitekter; Seite 46
Kinderleicht – Pädagogische Konzepte für Spielräume
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Zum Thema
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Kindertagesstätte in Leipzig Graalfs Architekten Kritik (Riklef Rambow): Von Plagwitz in die Welt
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Kinderkulturhaus Sct. Nicolai in Kolding Dorte Mandrup Arkitekter Kritik (Jochen Paul): Im Bilderreich
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Montessori-Kinderhaus Fürstenfeldbruck Wulf & Partner Kritik (Katharina Matzig): Die Sinne entwickeln
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AKE-Kindergarten in Landsberg am Lech Stadtbauamt Landsberg Kritik (Angélique Vossnacke): Spielwürfel
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Kindergarten in Épinay-sous-Sénart BP Architectures Kritik (Ludger Fischer): Buntes für Babies
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Technik und Design Portfolio Alles Fassaden!
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Autoren/Bildnachweis/Impressum Vorschau
Montessori-Kinderhaus in Fürstenfeldbruck von Wulf & Partner; Seite 56
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Buntes für Babies Kindergarten in Épinay-sous-Sénart bei Paris BP Architectures Neben den blassen, zwölfstöckigen Hochhäusern in Épinay-sousSénart heitert der kunterbunte, eingeschossige Kindergarten schon von außen die Umgebung auf. Der wilde Farbenmix und die chaotische Dachlandschaft scheinen vom Spielen drinnen wie angesteckt. von Ludger Fischer
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Kindergarten in Épinay-sous-Sénart bei Paris
Leuchtende Farben peppen die ansonsten simple Holzständerkonstruktion auf. In dem von der Nachbarschaft abgegrenzten Kindergarten lässt sich die triste Umgebung rasch vergessen.
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ie Orte rund um Paris sind die schlimmsten, heißt es. Wer sich in Paris keine Wohnung leisten kann, der zieht da hin, heißt es. Und ärmere Leute bilden automatisch einen sozialen Brennpunkt, heißt es. Und dass dort in der Banlieue, der Bannmeile rund um die Hauptstadt, der Anteil an Algeriern und Marokkanern besonders hoch ist, ist ja wohl klar, heißt es. Und der Anteil an Arbeitslosen auch. Und die Menge an Straftaten sowieso. „Das Elend der Welt“, behauptete 1993 der Soziologe Pierre Bourdieu, sammele sich in den Banlieues. Abseits der glänzenden Großstadt Paris Épinay-sous-Sénart, zwanzig Kilometer südlich von Paris, könnte als einer der typischen sozialen Brennpunkte gelten. Es gibt ein beeindruckendes, hochauflösendes Panoramafoto, das den Kontrast der fünf- und zwölfgeschossigen Wohnhäuser zu den sie umzingelnden Eigenheimsiedlungen veranschaulicht (oben). Hier wohnen die armen Leute, dort, jenseits des trägen Bachs Yerres, die weniger Armen. Mit dem Bau tausender Wohnungen war die Bevölkerungszahl zwischen 1965 und 1975 von 1000 auf fast 15 000 Einwohner geschnellt. Zur Zeit wohnen dort immer noch 13 000 Menschen. Die Bevölkerungsentwicklung von Épinay-sous-Sénart ist beeindruckend. Anders als fast überall in Europa ist sie noch eine richtige Pyramide, mit fast einem Viertel Kinder und einem weiteren Viertel Menschen unter 30 Jahren. Die Stadtverwaltung steuert schon seit Jahren aktiv gegen ein Ghettogefühl der Bewohner an. Die revolutionäre Aufforderung zum Mord „À la lanterne!“ hat hier eine ganz andere, vielleicht nicht weniger revolutionäre Bedeutung angenommen. Blumenkübel entlang der Straßen und Geraniengehänge an allen Laternen verhübschen das als unschön empfundene Straßenbild. Tatsächlich fällt es schwer, sich für die fünfgeschossigen Wohnhäuser und zwölfgeschossigen Bettentürme zu begeistern, richtig bedrückend wirken sie aber nicht. Dachgestaltung und Farbe machen unterschiedliche Nutzungen sichtbar Das in diesem Jahr eröffnete „Haus des Kleinkinds“ (Maison de la Petite Enfance) wurde bewusst als Kontrast zu den 40 Jahre alten Bauten seiner Umgebung konzipiert. Es ist eine „École maternelle“ und damit für die Betreuung von Kindern bis zum Alter von drei Jahren vorgesehen. Drei Riegel eingeschossiger Bauten werden über einen zentralen, beidseitig verglasten Gang erschlossen. Mit der Betonmauer, die den Gesamtkomplex wie eine Klosteranlage umschließt, entstanden dadurch vier Höfe. Mit Wasserdüsen im Boden, integriertem, altem Baumbestand, einer Bobbycar-„Rennbahn“ und einem Bambusstangen-Labyrinth wurden hier für jede betreute Altersstufe angemessene Erlebnisräume geschaffen.
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Mit seiner niedrigen, kleinteiligen Bauweise und dem auffälligen Anstrich kontrastiert der Neubau mit der Struktur des Viertels und gibt Anstoß zur Aufwertung der Nachbarschaft.
Jeder Gebäuderiegel ist für eine andere Altersstufe, jeder Raum ist von außen durch eine jeweils andere Dachneigung erkennbar. Dadurch entstand eine lebendige Dachlandschaft, die einen gewissen barackenartigen Eindruck nicht verhindern kann. Dazu mag auch die Holzkonstruktion aus Nadelholz-Leimbindern und die billige Dachbedeckung aus weißer PVC-Folie beitragen. Auch die innen verwendeten Materialien – Decken aus Holzwolle-Leichtbauplatten in den Betreuungs- und Büroräumen und hinterleuchtete Polycarbonat-Platten in den Gängen – vermeiden jeden Hauch von Luxus. Die „Welt für Kinder“, als die sie die Architekten ausgedacht haben, bildet nicht nur mit ihrer Eingeschossigkeit einen Kontrast zu der umgebenden Wohnbebauung: statt Hochhäuser eingeschossige Hütten; statt Häuser mit Verlegenheitsgrünflächen um sie herum, umschlossene, begrünte Höfe; statt lachsfarbener Fassaden leuchtend bunt gestrichene Holzflächen hinter der unbehandelten Holzkonstruktion. Die zwar kräftige, aber willkürlich wirkende Farbverwendung setzt sich im Inneren des Baus fort. Mit den ebenfalls stark farbigen Spielgeräten mag sie nicht recht harmonieren. Die Behauptung, Kinder mögen viele und kräftige Farben, sie trügen gar positiv zu ihrer Entwicklung bei, wurde nie systematisch untersucht. Amateurpsychologen hält das nicht davon ab, bestimmten Farben abenteuerlichste Wirkungen auf die kindliche Psyche zuzuschreiben. Das gleiche gilt für Farbenvielfalt insgesamt. Als Kodierung eines Hauses, das schon von Weitem als Haus für Kinder erkennbar ist, funktioniert die Farbvielfalt immerhin. ●
Statt Hochhäuser eingeschossige Hütten; statt Häuser mit Verlegenheitsgrünflächen um sie herum, umschlossene, begrünte Höfe; statt lachsfarbener Fassaden leuchtend bunt gestrichene Holzflächen hinter der unbehandelten Holzkonstruktion.
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Kindergarten in Épinay-sous-Sénart bei Paris
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Farbe spielt auch im Innenraum eine primäre Rolle. Sie unterscheidet die verschiedenen Nutzungen – getrennt nach Alter wird geschlafen, gespielt oder gelernt.
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Kindergarten in Épinay-sous-Sénart bei Paris
Die schrägen Decken bringen Bewegung ins Innere, sowohl in den Aufenthaltsräumen als auch in den Fluren. Für ausreichend Belichtung sorgen Lichtbänder nach außen und Durchblicke zu den Nebenräumen.
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Zum pädagogischen Konzept Ab einem Alter von 2,5 Monaten können Säuglinge in Frankreich in Krippen betreut werden. Dort werden sie an Wochentagen ganztägig verwahrt. Die Kleinsten schlafen am Nachmittag, die Einjährigen spielen, und die Zweijährigen, „die Großen“, werden aufs Schreiben und Lesen vorbereitet. Der Besuch der Kinderkrippe (crèche collective) endet im dritten Lebensjahr. Fast alle Kinder, die in diesem Jahr drei Jahre alt werden, kommen, auch wenn sie erst zweieinhalb Jahre alt sind, in die Vorschule (école maternelle), in der systematische Schulausbildung in Lesen und Schreiben erteilt wird. Die offizielle Schulpflicht, die auch in Frankreich mit sechs Jahren beginnt, ist damit de facto drei Jahre vorverlegt. Schulen werden prinzipiell ganztags besucht. Auf Kinder, die bei ihrer Einschulung nicht lesen und schreiben können, ist das Bildungssystem nicht eingestellt. Die Erwerbsquote von Frauen im gebärfähigen Alter liegt bei 80 Prozent. Über die Hälfte aller Kinder unter sechs Jahren wachsen in einem Haushalt auf, in dem beide Eltern arbeiten. L.F.
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Kindergarten in Épinay-sous-Sénart bei Paris
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Bauherr: Stadt Épinay-sous-Sénart, Frankreich Architekten: BP Architectures, Jean Bocabeille, Ignacio Prego, Paris www.agencebp.com Projektleiterin: Solveig Doat Tragwerksplanung: EVP Ingenierie, Delta Fluides Akustik: Acoustique Vivie & Associés Holzarbeiten: Charpentes du Gatinais Fertigstellung: Januar 2010 Standort: Épinay-sous-Sénart bei Paris, Frankreich Fotos: Luc Boegly, Paris Ludger Fischer, Brüssel
Schnitte M 1 : 250 Schnitt AA Schnitt BB B
B Grundriss M 1 : 750
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