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Bau me ister
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Oktober
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Das ArchitekturMagazin
Parametrizismus: ein Abgesang
Nach der Löwenjagd: Kristin Feireiss über UrbanThink Tank
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Wettbewerb „Häuser des Jahres“: der beste Wohnbau 2012
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gegen das Banale
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Bauen
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D Freunde des Hybriden Urban-Think Tank praktizieren soziale Architektur im besten Sinne. Die Gründer Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner setzen auf möglichst viel Dynamik von unten. Der Architekt wird so zum Stadtteilaktivisten. In Venedig gab es für diesen Ansatz gerade den Goldenen Löwen. Text
Fotos: U-TT Archive s /Danie l Schwart z
Alexander Gutzmer
Oben: Hubert Klumpner, zweiter von links Alfredo Brillembourg Links: Der Torre David. In ihm sehen Urban-Think Tank ein Lehrstück für
ie Situation ist denkbar absurd: Wir sind mitten im Interview, in einem vermeintlich abgeschirmten Konferenzraum. Plötzlich geht die Wand auf. Oder besser: klappt zurück. Die komplette Längsseite des großen Raums im AudiForum in Ingolstadt entpuppt sich als Attrappe, der Raum als eine Art Hangar. Techniker kommen rein. Und Alfredo Brillembourg genießt die Unterbrechung. „Chaos ist doch gut“, sagt der Mitgründer des venezolanischen Architekturbüros „Urban-Think Tank“ (U-TT). Und meint das auch so. Ein Freund des Chaos ist er. Und vielleicht muss man das sein, wenn man wie Brillembourg und sein Büropartner Hubert Klumpner die Lebensbedingungen in seiner Heimatstadt Caracas verbessern will. Mit klassischen Städtebaukonzepten allein schafft man in Lateinamerika keine funktionierenden Städte. Und man würde Orten wie Caracas, Medellín oder São Paulo sicher auch einiges nehmen, wollte man sie auf formale Entwicklungsschritte festlegen und beschränken. Ein Löwe für die Katastrophe
Überzeugend demonstrieren U-TT dies gerade mit ihrem Beitrag auf der Architekturbiennale. Nicht perfekte Architektur zeigen sie, sondern die städtebauliche Katastrophe – und was das Kraftfeld Stadt daraus macht. Ein Ansatz, für den es in Venedig jetzt den Goldenen Löwen gab. Im Zentrum steht (neben einer originalgetreuen venezolanischen Snackbar) der nie fertig gestellte Torre David mitten in Caracas. Die Ruine wird heute illegal von über 750 Familien bewohnt, die sie sich an den staatlichen Autoritäten vorbei einfach angeeignet haben. Ein Jahr lang hatten Brillembourg, Klumpner und Team den Turm studiert, sich mit Bewohnern unterhalten, versucht, dessen Prinzipien der Selbstorganisation auf die Spur zu kommen. Genau diese Prinzipien sind es, die die Philosophie von U-TT prägen. „Wir setzen auf die Kräfte der gesellschaftlichen Selbstorganisation“, so Brillembourg. Das „Grotao Community Center“
die Herausforderungen künftiger Städte.
Weiter
Köpfe
Links oben: Rund 3000 Menschen leben,
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zumindest zeitweise, in dem riesigen Turm. Links mitte: Externe Beobachter waren skeptisch, ob eine Seilbahn in einem Armenviertel in Caracas funktionieren kann. Doch Anwohner schätzen und schützen sie. Links unten: die preis gekrönte Installation in Venedig
B uch „Informalize! Essays on the Political Economy of Urban Form“, Vol. 1 Eine neue Definition des Begriffs „informell“ strebt dieses Buch an. Den Wert des Informellen belegen Fallstudien aus Casablanca und Belgrad.
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rillembourg liebt diesen Ausdruck: das Informelle. Es ist für ihn eine neue Kernkategorie urbaner Entwicklung. Er liegt damit im Trend vieler Stadtdenker, die momentan das Verhältnis zwischen formeller, bürokratischer, regelgetriebener Stadt und ihrem informellen, autopoietischen Counterpart neu definieren. Besonders deutlich wird dieses Neudenken in einem aktuellen Buch „Informalize!“ aus dem Berliner Verlag Ruby Press. Das Buch legt Fallstudien und Grundlagen-Essays vor, die jeweils zeigen, dass die einfache Dichotomie „formell-informell“ heute zu kurz greift. Die Wissenschaftlerin Fran Tonkiss schreibt darin: „If accellerated urbanization has remade the planet as building site... then it is one that is largely undocumented, casualized, and makeshift.“ Die informelle Urbanisierung ist für sie kein gegen die Stadt gerichteter Prozess. „Informality today is not simply one ‚idiom of urbanization’, but its first language.“ Genau das meint wohl auch Alfredo Brillembourg, wenn er sagt, man müsse von dem Glauben an die Aufklärung in seiner absoluten Form abrücken. „Das Informelle ist immer nur semi-aufgeklärt.“ Statt perfekt durchdachte Masterpläne anzuliefern, sollten die Erbauer unserer Städte sich auf eine Logik des Experiments einlassen. Den Städten wird im Übrigen in ihrer finanziellen Not „auch gar nichts anderes übrigbleiben“, sagt er. Brillembourg glaubt, aus dem Informellen ließe sich lernen: „Wir müssen von der aufgeklärten Position abrücken und experimentieren.“ Lernen von Slums ist die Devise.
Fazit: „Stadt“ entsteht heute anders als früher.
In armen Gegenden sind Medien wichtig
Inoffizielle Kräfte und die Kreativität „von unten“ haben ihren Anteil an jedem urbanen Veränderungsprozess.
Fotos: U-T T Archives /Daniel Schwartz
in São Paulo versteht sich als Produktivzone, in der ein benachteiligter Stadtteil aus sich selbst heraus neue Modelle des Zusammenlebens entwickelt. Das Gebäude, das in den nächsten Monaten fertig gestellt wird, zeichnet sich durch eine große Offenheit aus. Seine beträchtliche Höhe ist hier kein Ausdruck hierarchischen Denkens. Vielmehr interagieren die Stockwerke miteinander. Und die kommerziellen Flächen im ersten Stock üben, so zumindest die Idee, eine Sogfunktion auf die umliegenden Gebäude aus. Was U-TT hier vorzuschweben scheint, ist ein hierarchiefreier Raum. Ein Gedanke, den Brillembourg auch auf die „Firmenstruktur“ anwenden will. Das überrascht zunächst – ist er doch als Person während des Interviews ausgesprochen präsent und wirkt durchaus auch dominant, etwa wenn er seine Mitarbeiterin unterbricht, um die Kernpositionen von U-TT zu erklären. Dennoch: Formale Hierarchien haben die urbanen Think-Tanker nicht – schon weil sie eigentlich gar keine formale Unternehmensstruktur haben. U-TT funktioniert als Netzwerk. Auf Projektbasis werden Ideengeber möglichst unterschiedlicher Bereiche hinzugezogen – oft aus
der direkten Umgebung des Sammelpunkts in Caracas. Brillembourg: „Letztlich sind das alles unsere Freunde. Wir sind eine informelle Organisation.“ Treffpunkt ist dabei ein großes Loft in Caracas, in dem je nach Arbeitsintensität mal mehr, mal weniger Architekten und Forscher leben und arbeiten – informell, versteht sich.
Dies war auch der Grundgedanke, als U-TT vor einigen Jahren das Magazin „Slumlab“ ins Leben rief. Das Heft soll Basis für die Suche nach slumbezogenen Erfolgsmodellen bilden, aber natürlich auch die Probleme beim Namen nennen. Dazu Lindsey Sherman, Projektarchitektin in Brillembourgs Team: „Diese Art Ehrlichkeit gehört dazu, auch wenn sie beiden Seiten weh tut, den formellen und den informellen Städten.“ Das Arbeiten in vielen Medien hält sie für unerlässlich. „Gerade in armen Gebieten spielen Verständigungsmedien eine große Rolle. Auch wir müssen daher immer wieder nach neuen Medien suchen, um im Austausch mit den Menschen in oft schwierigen Lebenslagen zu bleiben.“ Lokale Regierungen sollen diese
Experimentierlogik annehmen. Die große Idee: soziale Distribution. Brillembourg entwickelt das (natürlich idealisierte) Bild einer „leaderless society“. Jeder soll, jeder kann durch individuelle Projekte den Grundkurs einer ganzen Gesellschaft verändern. Doch selbst wenn eine Gesellschaft „leaderless“ funktioniert, hat sie gemeinsame Normen. Und sie weiß auch, was ihr gut tut und was nicht. Genau dieser Effekt der Selbstreinigung hat in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass das bisher wohl spektakulärste U-TT-Projekt überhaupt noch steht: Die legendäre Seilbahn in Caracas, die den Stadtteil San Agustin mit der Innenstadt und vor allem der Metro verbindet. Brillembourg: „Alle hatten uns prognostiziert, das Ding würde innerhalb von Wochen zerstört. Aber die Menschen in San Agustin schätzen und schützen die Seilbahn – weil sie ihnen gehört.“
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ass das so ist, hält Brillembourg durchaus für lehrreich – auch für die erste Welt. Überhaupt glaubt er, dass sich Städte momentan eher in Richtung São Paulo verändern als in Richtung Zürich, wo er an der ETH lehrt. „Die Welt wird zunehmend hybrid und rhizomatisch.“ Das Rhizom – Gedankenkonstrukt des französischen Denkers Gilles Deleuze. Deleuze lieferte damit ein Modell für die Auflösung hierarchischer Strukturen. Auf Urbanität bezogen heißt das: Städte wachsen von unten. Die hyperabstrakte, rationale Stadt der Moderne gibt es nicht mehr. Und Brillembourg gefällt das. „Ich will, dass die Menschen hybrider werden. In São Paulo wird sogar die Sprache hybrid. Wir sprechen Portagnol, eine Mischung aus Spanisch und Portugiesisch.“ Auch architektonisch schaffen U-TT letztlich Hybride. Ihre sozialen Großbauten in Problemvierteln enthalten gern mehrere Funktionen – Schulen, Fitnessräume, Musikzentren, Fußballplätze. Das „vertikale Fitnesszentrum“ ist ein Typus, den U-TT momentan in so unterschiedlichen Städten wie Amman, Caracas oder New York realisieren. Dahinter steht immer dieselbe Grundidee: Vertraut auf die Positiveffekte sozialer wie funktionaler Mischung!
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Haupteingang am Mit terweg. In der bunt zu sammengewürfelten Vorortmischung aus Gewerbe, Supermarkt, Schule und Wohnen
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Längsschnitt AA
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ist das Bankhaus den M 1:4 0 0
2. OG
Längsschnitt BB
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1. OG
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Fassadenschnitt
EG
Das geschossweise terrassierte Gebäude A
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wird von einer auf gesetzten Flachstahl kons truktion mit glasfaserbewehrten Betonplatten (800/400/13 mm) ver schattet.
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M 1:3 0
noch nicht zu verfehlen.
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Der grandiose Lesesaal regt die Fantasie an: Er wirkt wie das Innere eines Wals oder erinnert an ein umgedrehtes Boot.
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Buchladenzwerg New York hat ein halbes Dutzend Architekturhochschulen, und die Stadt wimmelt nicht nur von einheimischen Architekten, Stadtplanern, Designern, Dozenten, Studenten und Kritikern, sondern ebensolchen Besuchern aus aller Welt. Kaum zu glauben deshalb, dass 2010 die letzte Architekturbuchhandlung ihre Türen schloss. Jetzt startet ein neuer Versuch – mit neuer Verkaufsstrategie.
A r c h i tekten
Lot-ek Kritik
Daniela Reinsch F otos
Van Alen Books ist nicht nur ein Buchladen. Er bietet durch sein Raumkonzept auch einen Ort, an dem über Architekturpublikationen debattiert werden kann. www.vanalenbooks.org
Foto Se ite 53: daniela re insch
Danny Bright