Baumeister 05/2020

Page 1

B5

BAU ME ISTER

117. J A H R G A N G

Mai

Städtisches Land

20

+

A D E P T, TO POT E K 1, AT K I N S WERNER BÄTZING BRÜCKNER & BRÜCKNER M ARTA DOE HLE R-BE HZADI FLORIAN NAGLER ARCHITE K TE N RE IULF R A MSTAD ARKITE K TE R SCHLICHT LAMPRECHT ARCHITEKTEN STADTGE SPR ÄCH STUDIO GRÜNDER KIRFEL ET AL. MAX OTTO ZITZELSBERGER

Das ArchitekturMagazin

ländliche Stadt


4

B5

Köpfe

Ideen

Unterscheiden sich Stadt und Land überhaupt noch? Hat das Landleben eine Zukunft? Einige Antworten in diesem Heft Die unterstrichenen Beiträge rechts befassen sich mit dem Titelthema.

10

38

StadtLand als Mission: Marta Doehler-Behzadi

Eines der Vorzeigeprojekte der IBA Thüringen

10 Marta Doehler-Behzadi

18 Glentleiten

Die Leiterin der IBA Thüringen und ihr großes Team suchen und finden Lösungen gegen Landfrust.

14 Stadtgespräch Julia Kaiser und Jennifer Bettinger engagieren sich für Dorferneuerungsprojekte.

Vorbildliches Bauen auf dem Land: das Eingangsgebäude des Freilichtmuseums

28 Burg Brattenstein Ein Stadtbalkon für Röttingens Altstadt

38 Schloss Bedheim 46 Berngau

BAU MEISTER. DE

Unscheinbar und verleiht dem Ort doch Glanz: Umnutzung einer Kläranlage

56 Aabenraa Revitatlisierung eines Kleinstadtzentrums mit einfachen Mitteln

Schwierige Zeiten erfordern ungewöhnliche Lösungen: Baumeister verschickt regelmäßig einen HomeofficeSpezial-Newsletter an die vielen Heimarbeiter.

64 Waldsassen Ein Rathaus wird zeitgemäß repräsentativ.

FOTOS VON LINKS: THOM AS MÜLLE R; SE BASTIAN SCHE L S; LUCA LOCATE LLI; AGAPE

Jenseits der Baumarkt-Tristesse: Die neue Remise ist Teil der IBA Thüringen.


5

Fragen

Lösungen

Gast-Arbeiter

76

94

Die Zukunft? Sterile Indoor-Landwirtschaft

Immer wieder neu, besser, feiner: Badaccessoires

76 Wie sieht das Landleben heute wirklich aus?

94 Bad

80 Ist das Landleben eine gefährdete Lebensform?

V-Hotel in Bonn mit Badausstattung von Ideal Standard

82 Wie entstehen vitale Gemeinden?

Anja Koller hat an der TU Dresden Kommunikationswissenschaft, Politik und Kunstgeschichte studiert. Ihre Abschlussarbeit hat sie zum Thema Public Journalism geschrieben. Seit 2017 ist sie Redakteurin bei Topos, dem internationalen Fachmagazin für Landschaftsarchitektur und Urban Design.

100 Referenz 102 Boden

RUBRIKEN 6 EIN BILD 36 KLEINE WERKE 62 UNTERWEGS 82 ARCHITE K TUR + M ANAGE ME NT 10 0 REFERENZ 107 IMPRE SSUM + VORSCHAU 10 8 PORTFOLIO: BAD 11 4 KOLUMNE

Aufgewachsen auf dem Campus der Hochschule für Gestaltung Ulm, lag ein Architekturstudium nahe. Florian Aicher ist seit 1981 selbstständig und lehrt in Deutschland sowie Österreich. Er lebt in Rotis im Allgäu und schreibt zudem für internationale Zeitschriften über das Bauen und Handwerk.


10 Wie gestalten wir eine lebenswerte Zukunft in der Provinz

( Interview ) Anja Koller

Die IBA Thüringen stellt sich mit dem Thema StadtLand den großen Fragen zur Entwicklung des ländlichen Raums. Wie geht sie an die Probleme Leerstand, Überalterung, Verlust der Identität heran, welche Lösungen findet sie? Die Leiterin der IBA, Marta Doehler-Behzadi, antwortet.

FOTO: THOM AS MÜLLE R

?


Köpfe Frau Doehler-Behzadi, immer mehr Menschen werden zukünftig in der Stadt leben, in dreißig Jahren könnten es bis zu 70 Prozent der Erdbevölkerung sein. Das ist für Städte weltweit eine Belastungsprobe, sei es im Hinblick auf Verkehr, Wohnraum oder Klimaschutz. Was bedeutet das für das Leben in ländlichen Räumen? M A R T A D O E H L E R - B E H Z A D I : Wenn wi r über die globale Ebene nachdenken, kann man davon ausgehen, dass die Flucht in die Stadt nicht immer freiwillig vonstatten geht. Menschen werden vertrieben, Wohnraum geht verloren, wird teurer, die Lebensgrundlage auf dem Land bricht weg. Ich traue dem oftmals beschworenen „Urban Millennium“, der Verstädterung, nicht unbedingt zu, dass es nur die Erfolgsgeschichte von Städten erzählt. Wenn ich den Aspekt der Verstädterung auf Thüringen beziehe, so bemerke ich, dass die Konzentration in den Überdruckgebieten und die Entleerung in den Unterdruckgebieten viele negative Folgen für beide Seiten hat. Welche sind das? Das sind zum einen städtebauliche Folgen, Stichwort Leerstand. Die städtischen Strukturen verändern sich aufgrund demografischer Schrumpfung, als Ergebnis von Migrationsbewegungen und durch Strukturwandelprozesse. Es geht auch um infrastrukturelle Folgen, etwa wenn an einer Stelle eine Schule schließen muss, weil es nicht genug Schulkinder gibt, und man an anderer Stelle eine Schule neu baut. Ein weiteres Thema ist die Wohnraumversorgung: Mancherorts herrscht Wohnraummangel, ein paar Kilometer weiter entfernt stehen Wohnungen leer. In Thüringen kann man zwar nicht von akuter Wohnungsnot sprechen, aber auch hier gibt es das stellenweise. Dann haben wir da noch die mentalen Folgen sowie die politischen. Diese sind stark von dem Gefühl eines AbgehängtM D-B:

11

StadtLand... beides ist ja groß geschrieben, beides ist gleich wichtig. Beidem begegnen wir vorurteilsfrei, aber ohne Pathos gegenüber der europäischen Stadt einerseits, aber auch ohne ein romantisierendes Landlust-Gefühl, und schließlich auch völlig frei von Land-Frust.

BAUMEISTER:

B:

1

seins verursacht. Die Menschen erleben große Umbrüche, Veränderungen – etwa durch die Flüchtlingsströme, den Klimawandel oder die Digitalisierung. Drei völlig unterschiedliche Dinge, aber stets ist das Problem hierbei, dass die Menschen diese Veränderungen nicht mit ihrem eigenen Leben, ihrer Lebenswirklichkeit in Einklang bringen können. Daraus entstehen Sorgen, Angst, Wut. Und das spiegelt sich auch in Wahlergebnissen wider, was wir auch jüngst in Thüringen gesehen haben. „StadtLand“ ist ja das übergeordnete Thema der IBA Thüringen. Das heißt, es geht nicht nur um ländliche Räume, sondern auch um Stadt. M D - B : Richtig, es geht darum, beides zusammen zu denken, es geht um die Wechselwirkungen von Stadt und Land, um einen gleichberechtigten Blick auf beides. Im Laufe der Zeit hat das Thema immer mehr an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Wir suchen nach Antworten für ländliche Räume, nach Antworten für Thüringen mit seiner kleinteiligen Siedlungsstruktur mit vielen kleinen Gemeinden und Städten, die man dann aber auf andere Räume über t ragen kann. Am B:

Anfang der IBA hat der eine oder andere noch moniert, was das Thema denn mit dem Format einer IBA zu tun habe. Ich wurde gefragt, ob das eine IBA auf dem Dorf sei. Inzwischen fragt das niemand mehr, weil die Zukunftsperspektiven unserer ländlichen und peripher ländlichen Räume zu einem gesellschaftlich überaus wichtigen Thema herangereift sind und wir uns als Gesellschaft insgesamt fragen müssen, wie wir unsere Räume organisieren – wie wir mit Konzentration auf der einen und Entleerung auf der anderen Seite umgehen wollen. Und das betrifft auch das städtische Leben. Und wenn wir die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft erhalten wollen, dann müssen wir uns um diese Fragen kümmern. Das sind große Herausforderungen… Welchen Beitrag kann die IBA da leisten? Welche Fragen stellen Sie sich? M D - B : Wir entwickeln Strategien und initiieren Projekte für den Raum, die Fläche, für nicht dichtbesiedelte Räume – durch Umbauen, Aufbauen und Neubauen. Wir fragen uns: Wie gehen wir mit Leerstand um? Wie bauen wir selbst etwas auf? Wie schaffen wir Identität? Wie machen wir Baukultur zum Markenzeichen einer ländlich geprägten Region? Wie erschaffen wir eine positive Zukunftsbeschreibung für das, was wir Provinz nennen? B:

Wir reden über „das Land“, „den ländlichen Raum“. Wie definieren Sie Land? M D - B : Ich muss schmunzeln über Ihre Frage, denn ich arbeite gerade an einem Artikel; mein Einstieg lautet: „Alle Diskussionen über den ländlichen Raum beginnen mit der Gegenfrage: Was verstehen Sie eigentlich unter dem Land?“ Mit dieser Definitionsfrage ist man ganz schnell am Ende seines Lateins, wenn man sämtliche Kriterien und Indikatoren auflisten will. Tatsächlich hängt die Antwort auf die Frage stark von der Perspektive ab. Es gibt aber einen wunderbaren Satz eines früheren Mitarbeiters des Bundesinstituts für B:

Wir zeigen das Potenzial von Leerstand auf und die Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Wir müssen umdenken, umnutzen, umbauen.

WEITER


14 Innenentwicklung und Identität Zukunftsperspektiven für kleine Gemeinden: Mit ihrem Büro Stadtgespräch arbeiten Julia Kaiser und Jennifer Bettinger mit großem Engagement an zahlreichen Dorfentwicklungsprojekten – von Bürgerbeteiligungen und Moderation bis zur strategischen Beratung und Entwurfsplanung. ( Text ) Gesa Loschwitz-Himmel

Das eigene Büro mit der besten Freundin. „Es war eine typische Mädchenfantasie“, lacht Julia Kaiser. Doch als sie und Jennifer Bettinger Anfang 30 waren, beide ein paar Jahre in großen Planungsbüros gearbeitet hatten und privat einiges im Umbruch war, beschlossen sie: „Jetzt machen wir’s.” Ein eigenes Büro – in Kaiserslautern

+

Julia Kaiser

kein ganz leichtes Unterfangen, denn wie an jedem Universitätsstandort gab es auch dort bereits einige etablierte Planungsbüros. „Daher mussten wir uns unterscheiden“, betont Kaiser. Sie selbst studierte Raum- und Umweltplanung in Kaiserslautern, Bettinger Architektur in Kaiserslautern und Karlsruhe, sattelte

Ohne Fördergelder können die kleinen Gemeinden solche Dorferneuerungsprojekte nicht stemmen. Daher ist das Team von Stadtgespräch neben Moderator und Planer auch Berater und Koordinator.

dann in Berlin noch Fachjournalismus drauf, während Julia Kaiser eine Fortbildung Moderation in der Stadtentwicklung absolviert hatte. So schälte sich neben der klassischen Architektur und Stadtplanung der Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerbeteiligung heraus. Nicht zuletzt, da Kaiser bereits während des Studiums eng mit dem damaligen Lehrgebiet Ländliche Ortsplanung an der TU Kaiserslautern verbunden war, dort auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet hatte. So wurde aus dem Jugendtraum das Büro Stadtgespräch, das heute sehr erfolgreich mit fünf Vollzeit- und drei Teilzeitkräften zahlreiche Dorfentwicklungsprojekte betreut – vor allem in RheinlandPfalz. Denn das Land hat eine Besonderheit: Es ist sehr dörflich geprägt, und seine kleinen Ortsgemeinden, die im Schnitt 300 bis 1.500 Einwohner haben, sind alle eigenständig und für sich selbst verantwortlich. Das heißt, jedes noch so kleine Dorf muss sich selbst darum kümmern, wo die Menschen einkaufen, wo die Kinder

FOTOS: STADTGE SPR ÄCH

Jennifer Bettinger


Köpfe in den Kindergarten oder in die Schule gehen und wie sie dorthin gelangen. Da das einigermaßen große Herausforderungen sind, gibt es in Rheinland-Pfalz dafür Förderprogramme. Und dort ist die Dorfmoderation ein wichtiger Baustein. Soziales Miteinander Hier kommt Stadtgespräch ins Spiel. Julia Kaiser und ihre Kolleginnen setzen sich abends mit der Dorfgemeinschaft zusammen, unternehmen Streifzüge durch den Ort, diskutieren die Knackpunkte. Die, so Kaiser, seien ähnlich wie in anderen Bundesländern: In den Dörfern leben immer mehr alte Menschen und weniger junge, und wenn es junge gibt, möchten sie in modernen Neubaugebieten wohnen, die meist am Ortsrand entstehen – mit der Konsequenz, dass in der Dorfmitte Häuser leer stehen. Es geht also um Innenentwicklung. Auch das soziale Miteinander sei immer wieder Thema. Denn es gibt immer weniger, die sich ehrenamtlich engagieren möchten. Das hat Auswirkungen nicht nur auf Sportvereine, sondern auch auf essenzielle Einrichtungen wie die freiwillige Feuerwehr. Mobilität ist ein weiteres Stichwort. Und entscheidend: die Identifikation mit dem Ort. Hier spielt nicht zuletzt die Jugend eine wichtige Rolle, die immer zwingend beteiligt werden muss, will eine Gemeinde Fördergelder erhalten. Und ohne Fördergelder können die kleinen Gemeinden solche Dorferneuerungsprojekte nicht stemmen. Daher ist das Team von Stadtgesp räch neben Moderator und Planer auch Berater und Koordinator. Denn da die Bürgermeister aufgrund der geringen Größe der Gemeinden alle ehrenamtlich tätig sind, ist die Beschaffung dieser Gelder ohne Profis nicht zu machen. „Wir bleiben über Jahre in Kontakt mit unseren Gemeinden“, erzählt Kaiser. Zunächst zwei Jahre intensiv, und wenn das Konzeptionelle steht, immerhin noch sporadisch.

2 und 3

15

Wir können anschieben und motivieren. Aber das Dorf muss dahinterstehen. Und zwar nicht nur der Bürgermeister, sondern auch Multiplikatoren, die das Dorf mitziehen, die ganze Gemeinschaft.

das spricht sich herum. Zum Beispiel ihre erfolgreiche Tätigkeit in Kindsbach, einem ihrer ersten Dörfer: eine Ortsgemeinde mit 2.400 Einwohnern, ein Straßendorf ohne richtige Mitte und in der Einflugschneise des amerikanischen Militärstützpunkts Rammstein. Was nicht nur Fluglärm mit sich bringt, sondern auch viele US-Amerikaner als Einwohner, die selten integriert sind, da sie meist nur eine begrenzte Zeit dort wohnen. Bei einem Dorf dieser Größe eigentlich keine guten Vorzeichen. Doch Stadtgespräch fand eine Dorfgemeinschaft vor, die gern feierte und sich rege beteiligte. Der größte Wunsch war schnell ausgemacht: ein Treffpunkt. Trotz fehlender Dorfmitte gab es einen zentralen Bereich mit Schule, Kirche, Pfarrheim – und einem Parkplatz, auf dem sich die Dorfbewohner schon immer getroffen hatten, zum Beispiel zum Public Viewing.

Erfolgsprojekt Kindsbach

Strategische Beratung, Kommunikation und Moderation

Wenn es ein Dorf schafft, eine Förderung als „Schwerpunktgemeinde“ zu erhalten, dann stehen Julia Kaiser, Jennifer Bettinger und ihr Team dem Ort acht Jahre als Dorfplanerinnen zur Seite: „Da kann man dann wirklich etwas bewegen.” 80 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringt Julia Kaiser vor Ort beim Gespräch mit den Menschen. Denn: „Dorfentwicklung ist keine Wissenschaft. Jeder muss es verstehen.” Das bedeutet: erklären und vermitteln, mit Worten, bunten Zetteln, Skizzen und Texten. Der Aufwand lohnt sich. Stadtgespräch ist inzwischen bekannt in Rheinland-Pfalz. Die Bürgermeister kommen auf sie zu, weil sie mit ihren Projekten viel erreichen. Und

Planerisches Geschick und glückliche Umstände kamen hier zusammen: Die Kirche verkaufte ihr Pfarrheim, das sie nicht mehr nutzte, samt Freiflächen. Es war der entscheidende Baustein für eine neue Ortsmitte mit zum Dorfgemeinschaftshaus umgestalteten Pfarrheim und Dorfplatz. Ein Projekt, das 3,1 Millionen Euro kostete, von denen das Land zwar 65 Prozent übernahm, die verbleibende Summe aber zu hoch für eine 2.000-Seelen-Gemeinde war. Doch es gab eine geschot ter te Fläche am Ortsrand, auf der die jährliche Kerwe, die Kirmes, stattfand. Die konnte jetzt in die neue Dorfmitte rücken. Es gelang, das alte Areal an einen engagierten

Investor zu verkaufen, der dort keine Nullachtfünfzehn-Architektur baute, sondern ein Projekt für altersgerechtes Wohnen realisierte. Letztendlich musste Kindsbach so nur einen Kredit von 50.000 Euro aufnehmen. Für Stadtgespräch ist der Ort ein Vorzeigeprojekt, denn er macht das Spezielle des Büros deutlich. Von der Moderation über die Öffentlichkeitsarbeit und die strategische Beratung der Gemeinde bis hin zum Umbau des alten Pfarrhauses und der Gestaltung der neuen Dorfmitte mit Platz, Weiher und Spielplatz stammt alles aus der Hand des Teams. Julia Kaiser und Jennifer Bettinger betonen zwar: „Wir können anschieben und motivieren. Aber das Dorf muss dahinterstehen. Und zwar nicht nur der Bürgermeister, sondern auch Multiplikatoren, die das Dorf mitziehen, die ganze Gemeinschaft.” Doch gerade in solchen Projekten können sie ihre jeweiligen Ausbildungsschwerpunkte voll ausspielen. Ihre Bandbreite ist ihre Stärke.


18

Tradition, bewahrt und Ăźbersetzt


Ideen

1

19 Wie ein Einfirsthof ist das langgestreckte neue Eingangsgebäude des Freilichtmuseums Glentleiten in die Landschaft eingebettet.


28

Ideen

Die Burg der BĂźrger

2


29 Mit klar geschnittenen, skulpturalen Volumina und dem Materialdreiklang aus Sichtbeton, Naturstein und Cortenstahl antworten die Architekten auf den Bestand.


64 Über

( Interview ) Ira Mazzoni

Land

und

Leute

Stadt, Land, Kuss! überschrieb die „Süddeutsche Zeitung“ den Kommentar von Heribert Prantl, der vor den bayerischen Kommunalwahlen eine politische „Anti-Mattigkeits-Agenda“ für ländliche Regionen forderte. Von Landfrust, Landflucht und Depression war da die Rede und von abgehängten Dörfern, Märkten, Städten, die in ihrer Mitte keinen Kern, sondern ein Loch haben. Das bayerische Land sterbe, die Tourismusflecken ausgenommen. Vor diesem Hintergrund verabredeten wir uns mit Peter und Christian Brückner an ihrem Bürostandort in Tirschenreuth, in der nördlichen Oberpfalz nahe der tschechischen Grenze. Die Brückners sind im Stiftsland heimatlich verwurzelt und haben in den letzten fünfundzwanzig Jahren viel dazu beigetragen, dass einige Kommunen im ehemaligen „Armenhaus“ Bayerns wieder Zukunft haben. Von Mattheit keine Spur. An dem runden, sonnenbeschienenen Tisch im Sudhaus der zum Architekturbüro umgebauten Brauerei entspannt sich bei klarem Brauwasser und Butterbrezen ein Gespräch über Qualitäten und Potenziale der Region.


Ideen

6

Langsam legt sich die Großstadt-Euphorie. Je enger die Lebensräume dort werden, je dichter der Verkehr und je höher die Quadratmeterpreise, desto mehr richtet sich der Blick auf das Land. Es mangelt nicht an Entwicklungsplänen und Zukunftsvisionen – häufig von Menschen, die noch nie ländlich gelebt haben. Was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet in der nördlichen Oberpfalz Architektur zu machen? P E T E R B R Ü C K N E R : Die Verbindung mit der Region – wir sprechen nicht vom Land – ist uns sehr wichtig. Als ich 1990 mein Studium an der TU München beendet hatte, war das eine Grundsatzentscheidung. Der eiserne Vorhang war gefallen, die Grenzen waren offen ...

Anknüpfungspunkt. Es war ein kleiner Schritt, einfach mal zu beginnen und wieder in direkten Kontakt mit dem Land und den Leuten zu kommen. 2004 bekamen wir dann die Chance, in Zusammenarbeit mit dem Stadtrat und den Bürgern von Tirschenreuth aufgrund des Bund-Länder-Programms „Stadtumbau West“ ein integriertes Stadtumbaukonzept zu erarbeiten. Eins der ersten überhaupt. Wir haben uns damals die Wirtschaftsgeografen der Projektgesellschaft iq, Jürgen Schmude und Robert Leiner, mit ins Boot geholt. Es gab eine intensive Laborphase, in der wir uns mit der Region auseinandergesetzt haben. Wir haben viel mit den Bürgern diskutiert. Das war eine tolle Zusammenarbeit.

... und die Kollegen gingen alle nach Berlin in die neue Hauptstadt. P B : Genau so. Als ich mich entschied, ich geh zurück nach Tirschenreuth, haben die gesagt, bist Du wahnsinnig? Was machst Du denn da? Für mich stellte sich aber die Frage: Ist es möglich, etwas aus der Region heraus zu entwickeln? Das weiß man ja nicht a priori, das muss man ausprobieren. Man muss sich mit seinen Wurzeln auseinandersetzen.

B:

B:

Ich erinnere mich, dass die Oberpfalz in den 90er-Jahren die höchsten Arbeitslosenzahlen in Bayern hatte. P B : Ja, es gab einen brutalen wirtschaftlichen Strukturwandel. Die Porzellanindustrie, die Tirschenreuth und andere Städte der Region geprägt hatte, stellte weitgehend die Produktion ein. 1994 schloss die Firma Hutschenreuther in Tirschenreuth – es war Wahnsinn. Alle haben gesagt, Du kannst da keine Architektur machen. Das war auch nicht einfach. Keine Frage. Aber dadurch, dass unser Vater, KlausPeter Brückner, hier ein Ingenieurbüro für Tragwerksplanung hatte, gab es einen B:

Die bis heute Früchte trägt. Sie haben „Heimat“ schon zu einer Zeit zum Thema gemacht, als das in Architektenkreisen noch höchst verpönt war. Warum? C H R I S T I A N B R Ü C K N E R : Die Globalisierung hat weit über die Großstädte hinaus eine andere Dimension von Heimatlosigkeit produziert: heute hier, morgen da. Wir haben schon Anfang der 2000er gespürt, dass da etwas abhandenkommt, wonach sich die Menschen dann doch wieder sehnen. Wir engagieren uns ja nicht nur dort, wo wir aufgewachsen sind, wir sind bayernweit in den unterschiedlichsten Regionen unterwegs. Bayern ist ja erstaunlich bunt. Wenn wir an fremde Orte kommen, fragen wir als Allererstes, warum möchte ich eigentlich hier sein, was zeichnet diesen Ort aus, was könnte da sein, was es woanders nicht gibt? Sie suchen also nach der Differenz? Genau. Was unterscheidet den Ort von einem anderen, der nur zehn Kilometer weiter weg ist? In die Klärung solcher Fragen stecken wir unglaublich viel EnerB:

C B:

ÜCKNE

P

Als ich mich entschied, ich geh zurück nach Tirschenreuth, haben die Kollegen gesagt, bist Du wahnsinnig? Was machst Du denn da?

ER B

R

ET

R

BAUMEISTER:

65 gie, bevor wir anfangen, über Architektur nachzudenken. Das führt dann auch zu ganz ande ren D iskussionen mi t den Menschen. Wie kommen Sie mit den Menschen ins Gespräch? C B : Wir gehen in die Wirtschaft, in die Metzgerei, die Bäckerei – jammern tun sie alle. Aber es ist unsere Aufgabe, neben dem Leerstand und dem Chaos, das Pflänzchen oder das Kulturgut zu entdecken, das schützenswert ist und an das man städ tebaul ich, a rchi tek ton isch, identitätsstiftend herangehen kann. P B : Wir kommen nicht als unabhängige Architekten und setzen irgendwo was hin. Wir versuchen erst einmal ein Bewusstsein für die Lage zu schaffen. Wir fragen die Leute, was sind Eure Themen? Wir fragen aber auch, wie wird uns zugehört? Entsteht ein Dialog? In Tirschenreuth ist uns dieser Dialog gelungen. Wir haben in der Pilotphase gesagt, wenn wir das gemeinsame Projekt angehen, dann bitte lasst uns über alle Grenzen hinausdenken, über alles, was Ihr Euch vorstellen könnt. C B : Entschuldige, dass ich Dich unterbreche: Wir sind ja in vielen Jurysitzungen landauf, landab. Da bemerken wir immer wieder, dass Architekten noch lernen müssen, die Sprache der Menschen zu sprechen. Die Architekten müssen wirklich lernen, nicht nur eine Architektursprache zu verwenden, sondern ihre Sache auch so zu vertreten, dass sie verstanden werden. B:

Aber das gilt doch ganz allgemein. Sicher. Aber in der Region hören uns die Menschen viel mehr zu als in der Stadt. Auch die Parteipolitik spielt häufig keine so große Rolle. Es gibt wirklich eine aufgeschlossene Diskussionskultur. Je größer eine Stadt ist, desto mehr werden parteipolitische Positionen ein Thema. Sind die einen dafür, müssen die anderen dagegen sein. Noch bevor wir einen Auftrag haben, gehen wir daher zum Stadtrat und machen klar, dass es für uns essenziell ist, dass keine Parteipolitik gemacht wird. Denn wenn das doch passiert – da sind wir felsenfest davon überzeugt –, kann nicht wirklich gute Architektur entstehen. Nur wenn uns vermittelt wird, dass es um die Stadt, den Ort geht, dann sehen wir Chancen, unsere Philosophie qualitativ umzusetzen. Wir sehen uns gerade in der Region als Architekten in der Verantwortung, gesellschaftspolitisch tätig zu sein. In der Großstadt führt man schnell nur noch Fassadendiskussionen. Bei uns aber kommt die Fassade zuletzt. B:

C B:

In der Stadt geht es ja kaum mehr um die Stadt, sondern um Investments... B:

WEITER


82 Wie entstehen vitale Gemeinden ? Hohe Lebensqualität, attraktiv, vital und lebendig – wer an das Landleben denkt, dem kommen eher andere Begriffe in den Sinn. Abwanderung, Leerstand und verlorene Identitäten etwa. Der Baukulturbericht 2016/17 Stadt und Land setzt genau bei dieser Wahrnehmung an und gibt Empfehlungen, wie kleinere Gemeinden ihre Attraktivität für die Bevölkerung steigern können.

Die Publikation möchte dazu beitragen, dass kleinere und Kleinstgemeinden die Baukultur nutzen, um für die Bevölkerung attraktiv zu werden oder zu bleiben. Zu diesem Zweck wurden Bevölkerung und Kommunen befragt und Baukultur- und Kooperationswerkstätten, Impulsvorträge und Werkstatttische organisiert. Die Themen umfassten künftige Herausforderungen wie den Klimawandel und damit zusammenhängend die Frage, wie die verschiedenen Akteure zur Zufriedenheit aller eingebunden werden können. Tatsächlich stehen ländliche Gemeinden, Kleinstädte und mittelgroße Städte vor höchst unterschiedlichen Herausforderungen. Die Landgemeinden leiden unter Abwanderung, Leerstand, Versorgungsunsicherheit und Mobilitätsdefiziten. Die Chancen sieht der Baukulturbericht hier im Bewahren der lokalen Identität und regionaler Bauweisen. Auch Kleinstädte schrumpfen, vor allem, wenn sie klein und peripher gelegen sind. Hier sinkt die Lebensqualität wegen fehlender Infrastruktur und Versorgungsangeboten. Interkommunales Zusammenarbeiten fördert die aktive Gestaltung. Mittelgroße Städte wachsen zwar, aber häufig an den falschen Stellen. Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete verbrauchen zu viele Flächen am Rand, innerörtlich entsteht Leerstand. Qualitätsvolle Innenentwicklung und Konzentration auf die Zentren sei hier wichtig. Der Baukulturbericht 2016/17 gliedert diese unterschiedlichen Herausforderungen in drei Fokusthemen: vitale Gemeinden, Infrastruktur und Landschaft sowie Prozesskultur. Wie entstehen vitale Gemeinden?

( Text ) Désirée Balthasar

Um Gemeinden (wieder) attraktiver zu machen, gibt der Baukulturbericht folgende Handlungsempfehlungen: den Ortskern durch Konzentration und Verdichtung zu stärken – Stichwort „Krapfen-

Literatur Der Baukulturbericht wird alle zwei Jahre veröffentlicht und bündelt Handlungsempfehlungen an die Politik und alle am Planen und Bauen beteiligten Akteure. Herausgeberin ist die Bundesstiftung Baukultur. Sie setzt sich für ein qualitätvolles und reflektiertes Planen und Bauen ein. 2 014/15 „Gebaute Lebensräume der Zukunft – Fokus Stadt“ 2 0 16/17 „Stadt und Land“ 2 018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“ 2 02 0/21 „Öffentliche Räume“ (noch nicht veröffentlicht) bundesstiftungbaukultur.de

Baukultur Bericht 2016/17 Stadt und Land


Fragen Effekt“; die Nutzung der Gebäude zu durchmischen, um Leerstand zu vermeiden; das Ortsbild durch lokale Verortung und Identifikation baukulturell zu stärken. Eine der größten Herausforderungen von Kleinstgemeinden ist laut Bericht die Ausdünnung des Ortskerns. Einfamilienhausgebiete entstehen an den Rändern, Einzelhandel und Gewerbe wandern ab. So leidet die Bausubstanz, auch Lebendigkeit und Funktionsfähigkeit gehen verloren. Lösungsvorschläge umfassen Sanierung, Rückbau, Neubau oder Umgestaltung. Außerdem sei der

blemen begegnen, die jenseits kommunaler Ursachen liegen. Der Baukulturbericht appelliert dafür, dass sich die lokalen Verwaltungen diesen Herausforderungen aktiv stellen, um sie mehrwertbringend mitzugestalten. Der Bericht nennt den Klimawandel, die Energieproduktion, den Infrastrukturausbau sowie neue Nutzungsarten als die großen Themen, die von außen an die Gemeinden herangetragen werden. Dabei legt die Bundesstiftung den Schwerpunkt auf die Gestaltung derartiger Bauten. So heißt es dort: „Die Auswirkungen der Energiewende und

3

83

zusammenarbeiten oder Wettbewerbe ausgelobt werden. Hohe Planungsqualität für mehr Baukultur Die Kommunen sollten sich fachlichen Expertenrat holen, aber auch die lokale Bevölkerung aktiv einbinden. Das Beste aus beiden Welten würde in einer strukturierten „Phase Null“ zu besseren Planungsergebnissen führen, ist der Bericht überzeugt. Außerdem fordern die Autoren, „möglichst viele Zuständigkeitsbereiche, Disziplinen und Bevölkerungsgruppen

Sie stärkt die gemeindliche Selbstverwaltung, fokussiert sich auf die Innenentwicklung und bringt die Akteure zum Agieren. Öffentlichkeit und Transparenz in Planungsprozessen helfe dabei, Vertrauen aufzubauen, alte Muster aufzubrechen und sich auf Ungewöhnliches einzulassen. Als Beispiel nennt der Bericht einen optionalen Gestaltungsbeirat oder Wettbewerbsverfahren. Nichtsdestotrotz bedarf es gerade in kleineren Gemeinden starker Einzelpersonen, deren Initiative größere Projekte oftmals überhaupt erst in Gang bringt. Land mit Stadt

WANDE L UND

SCHAUBILD: BAUKULTURBE RICHT 2 016/2 017

NEUORIENTIERUNG

Zukunftsperspektive Land

WOHNEN UND ARBEITEN

WIRTSCHAFT UND

VERSORGUNG UND

WERTE

HANDEL

VITALE

INFRASTRUKTUR UND

PL ANUNGSKULTUR UND

GEMEINDEN

LANDSCHAFT

PROZE SSQUALITÄT

Wohnungsmarkt zu wenig ausdifferenziert, Fertighäuser dominieren das Ortsbild, Architektenentwürfe gebe es kaum. Der Bericht fordert daher: „Baulandausweisungen dürfen nicht zu einer anhaltenden Zersiedelung durch gesichtslose Baugebiete führend, die sich von Wachstumsring zu Wachstumsring in die Landschaft fressen, während die Zentren der Gemeinden absterben.“

des Klimawandels auf den Landschafts- und Siedlungsraum müssen als Gestaltungsaufgabe wahrgenommen werden.“ Etwa, wenn Landesgartenschauen oder Gartenbauausstellungen dabei helfen, ehemalige Abbaugebiete von Bodenschätzen zu renaturieren und zu rekultivieren. Oder wenn technische Anlagen und stillgelegte Infrastrukturen wie Biogasanlagen, Solarfelder oder ehemalige Militärstandorte unter gestalterischen Aspekten innovativ umgenutzt werden. Um dies zu erreichen, sollten Architekten, Ingenieure und Landschaftsplaner in Teams

dafür zu gewinnen, an einer Qualifizierung der gebauten Umwelt mitzuwirken.“ Die Devise lautet hier, vorausschauend zu agieren, anstatt nur zu reagieren. Die Phase Null eignet sich gut dafür, Bürgerinnen und Bürger miteinzubeziehen und eine gemeinsame Haltung zu entwickeln: Voruntersuchungen, Vordenken, Projektdefinition, Beteiligung und Verhandeln. All das im Dialog zwischen den Menschen, der Verwaltung und den Fachexperten führe laut des Berichts zu einer hohen baukulturellen Qualität. Unabdingbar sei in diesem Zusammenhang eine aktive Bodenpolitik.

Die Wirkung der Infrastruktur auf die Landschaft Die kleineren Siedlungsgebiete abseits der Großstädte werden in Zukunft großen Pro-

Zwar zeichnet sich das 21. Jahrhundert durch eine der größten Wanderbewegungen vom Land in die Stadt aus, gleichzeitig aber bewohnen zwei Drittel der Bewohner hierzulande 93 Prozent der Gesamtfläche außerhalb der Großstädte. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte zeichnet sich unser Land durch unterschiedliche urbane Dichten aus. Der Bericht fordert daher einen Perspektivwechsel: Einen starken Kontrast zwischen „Natur“ und „Stadt“ gibt es nicht, daher sollte man sich auf die Vernetzung von Siedlungspolen und Zwischenräumen konzentrieren. Für die Autoren steht außerdem fest: Jeder Neubau und jeder Umbau muss eine Verbesserung bewirken. Die qualifizierte Gestaltung für eine nachhaltige Kulturlandschaft wirke sich positiv auf die Attraktivität von Gemeinden abseits des städtischen Großraums aus.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.