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Das ArchitekturMagazin
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20 Hotel Silber in Stuttgart
2 32 Bibliothek in Kaltern
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Soziale Projekte, die den Zusammenhalt in einer Stadt fördern, haben es oft schwer bei der Umsetzung. Wären da nicht engagierte Bürger, die beharrlich für die Realisierung kämpfen. Vier Beispiele, bei denen das Durchhaltevermögen belohnt wurde
42 Jüdisches Gemeindezentrum in Regensburg
4 54 Stadtteilzentrum in Barcelona
5 66 Bauhaus-Museum in Dessau
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Wann verabschieden wir uns von Bettenhäusern?
92 Bad 98 Referenz 100 News
2 80 Muss Planung unordentlicher werden? Gast-Arbeiter
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Nobert Miguletz hat an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert und seither als freier Fotograf gearbeitet. Er sammelte zunächst vielfältige Erfahrungen in allen Genres und spezialisierte sich schließlich mit Erfolg auf die Fachgebiete Architektur, Kunst und Porträt. Er machte die Aufnahmen des Hotels Silber in Stuttgart.
EIN BILD 30 SONDERFÜHRUNG 52 KLEINE WERKE 64 UNTERWEGS 86 ARCHITE K TUR + M ANAGE ME NT 88 N E W M O N D AY 98 REFERENZ 106 PORTFOLIO 11 3 IMPRE SSUM + VORSCHAU 11 4 KOLUMNE
Gleich nach seinem Architekturstudium hat sich Paolo Riolzi der Fotografie gewidmet. Seit 25 Jahren produziert er Bilder und Videos im Bereich Architektur und Design, zudem lehrt er Fotografie in Mailand und Bozen. Von ihm stammen die Fotos der Gemeindebücherei in Kaltern.
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„Jedes Haus hat vor dem Haus eine Bank. Auf der Bank bin ich gesessen, da ging bei uns am Haus eine Gasse vorbei. Mein Onkel, da wo ich gewohnt habe, war Fassbinder, das war die Bindergasse, darum hieß es das Binderhaus. Wenn ich auf der Bank gesessen bin, da gingen immer Leute vorbei, die ins Dorf gegangen sind. Und dann ist geratscht worden. Mit jedem, der vorbei gegangen ist, hat man geratscht: Setz dich her, ratsch ma a weng.“
FOTO: ANNA JACOB
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Jana Wunderlich (links) und Victoria Schweyer spüren mit ihrer Initiative „pflücken“ Erinnerungsorten nach.
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Schöne Neo-Renaissance-Fassade mit verstörender NS-Vergangenheit: Der „Schandfleck“ sollte abgerissen werden.
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Lohn der Beharrung Lang und zäh wurde um den Erhalt des Hotels Silber in Stuttgart gekämpft. In der NS-Zeit hatte es als Gestapo-Leitstelle gedient, galt daher manchem als Schandfleck und sollte abgerissen werden. Erst der lange Atem einer Bürgerinitiative und ein politischer Wechsel führten zum heutigen Gedenkort. Ein Lehrstück über den Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem nationalsozialistischen Erbe Kritik Amber Sayah
Architekten Wandel Lorch Architekten
Fotos Norbert Miguletz
Ideen Zur Geschichte des Hotels Silber in Stuttgart gehört auch die des langen, zähen Kampfes um die Erhaltung des Gebäudes, das in der NS-Zeit als eine von rund zwanzig Gestapo-Leitstellen im Reich diente. Sein Name verdankt sich nicht etwa einer zynischen Eingebung der Nazis, sondern geht zurück auf den Hotelier Heinrich Silber, der das Haus im Stadtzentrum Ende des 19. Jahrhunderts erwarb und zu einer Nobelherberge im Neo-Renaissancestil ausbaute. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Deutsche Reichspost ein, gefolgt vom Stut tgar ter Polizeipräsidium und 1937 schließlich offiziell von der zuvor schon im Haus tätigen Geheimen Staatspolizei. Von hier aus wurde die Verfolgung politischer Gegner und Minderheiten im damaligen Württemberg und Hohenzollern organisiert, von hier aus auch die Deportation der Juden und die Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Noch in den letzten Kriegstagen starben vier Gefangene in den Folterkellern der Stuttgarter Gestapo-Zentrale, ermordet von Hitlers willigen Vollstreckern. Auch nach 1945 beherbergte das im Krieg beschädigte und stark vereinfacht wieder aufgebaute Hotel Silber, dessen Name sich über alle Katastrophen und historischen Brüche hinweg gehalten hat, wieder eine Polizeidienststelle, bevor es Mitte der Achtzigerjahre vom badenwür t tembergischen Innenministerium übernommen wurde.
Platz für Konsum Die Umwandlung des Hauses zum heutigen Lern- und Erinnerungsort über den NSTerror ist zugleich ein Lehrstück über den Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem nationalsozialistischen Erbe. Erzählt wird es auf dem unteren Flur des Hotels Silber: Bereits in den Siebzigerjahren gab es erste Forderungen, das Gebäude als TäterStätte auszuweisen. Aber alles, wozu die Landesregierung sich als Eigentümer durchringen konnte, war eine auf Druck der Bürger angebrachte (und nun in der Ausstellung gezeigte) Gedenktafel für die Opfer der Gestapo. Allerdings hing sie – für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar – im Inneren des Gebäudes und enthielt zudem falsche Angaben. So wird der Wiedereinzug der Polizei nach Kriegsende darauf auf 1949 datiert, quasi nach Einhaltung einer vierjährigen Schamfrist, während er in Wirklichkeit schon unmittelbar nach Kriegsende 1945 stattfand. Endgültig besiegelt schien das Schicksal des Hotels Silber, als der Kaufhaus-Konzern Breuninger 2007 mit Plänen für ein neues Stadtquartier auf den Plan trat. Platz für den alten Schandfleck war in dieser geschniegelten neuen Konsumwelt nicht vorgesehen, auch zunächst nicht von
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Behnisch Architekten, die 2010 den Wettbewerb für das sogenannte Dorotheenquartier gewannen. Explizit wandte sich zwar niemand gegen diese historische Altlast, stattdessen lauteten die Argumente, dass keine originale Bausubstanz mehr vorhanden sei, es sich mithin um kein bauliches Zeugnis der NS-Zeit handle und das Breuninger-Projekt sich ohne Überbauung des Hotel-Silber-Grundstücks nicht rechne. Ein faules Kompromissangebot sah zwischendurch eine Dokumentationsfläche im Untergeschoss des Einkaufszentrums vor.
Erfolg erst nach der politischen Wende Einen wichtigen Etappensieg errang die Bürgerinitiative „Lern- und Gedenkort Hotel Silber“, als der Stuttgarter Architekt Roland Ostertag nachweisen konnte, dass die Fliegerbomben doch nicht das ganze Gebäude zerstört hatten, Teile der ehemaligen Gestapo-Zentrale folglich noch authentisch waren. Letztlich setzten sich die engagierten Bürger mit ihrer Maximalforderung nach Bewahrung des Baus und dessen Umwidmung zum Dokumentationszentrum auf ganzer Linie durch: Das Hotel Silber wurde in den Behnisch-Entwurf einbezogen – zu dessen städtebaulichem Vor teil, wie die Architekten im Nachhinein einräumen. Die Initiative, in der sich mehr als zwanzig Verbände und Vereine zusammengetan hatten, schaffte es sogar – wohl einmalig in Deutschland –, sich ein Mitspracherecht bei der inhaltlichen Planung des Museums durch das Haus der Geschichte Baden-Württemberg zu sichern. Gleichwohl lässt sich nicht übersehen, dass auch die politischen Konstellationen ihren Anteil am erfolgreichen Erhalt des Hotels Silber hatten. Unterstützung erfuhr die Initiative anfangs nur von der SPD, die damit unausgesprochen eine Art Abbitte für ihr Ja zu Stuttgart 21 leistete. Aber erst als der CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus, ein strikter Abrissbefürworter, bei den Landtagswahlen 2011 aus dem Amt gefegt wurde, fanden sich grün-rote Mehrheiten für das Projekt. Wandel Lorch Architekten, die Gewinner des Wettbewerbs von 2015, haben die schwierige Umgestaltung des Gebäudes zum Lern- und Gedenkort mit Fingerspitzengefühl und Takt gemeistert. Architekten bewegen sich bei solchen Aufgaben ja stets auf dünnem Eis: Einerseits gilt es, billigen Erlebnisgrusel zu vermeiden, andererseits die Vergangenheit so zum Sprechen zu bringen, dass Besucher sich ein Bild von den Geschehnissen machen und
daraus tatsächlich etwas für die eigene Gegenwart mitnehmen können. Äußerlich hat sich kaum etwas verändert. Am auffälligsten ist der bedruckte Eckturm, der als Werbebanner und Reminiszenz an den verlorenen Erker den wiederhergestellten Haupteingang an der Gebäudeecke markiert. Aufmerksameren Passanten werden auch die da und dort mit Betontafeln verschlossenen Fenster und ihre eingefrästen Begriffe wie „Verhaftung“, „Überwachung“ oder „Denunziation“ nicht entgehen.
Zwischen Abstraktion und Einfühlung Weitgehend unverändert blieb auch die Raumstruktur. Im Foyer haben sich zwei Stuckmarmorsäulen erhalten, die noch aus den Tagen der Hotelgast ronomie stammen, als sich in dem Saal das Restaurant befand. Beibehalten haben die Architekten auch den vorgefundenen Grundriss der Zellenbüros zu beiden Seiten eines Mittelflurs im ersten Obergeschoss. Ein starker Einfall sind die Leuchtkästen auf dem Boden des Korridors, die sich zu einer schemenhaften Gestalt addieren, zusammengesetzt aus Aberhunderten von Porträtfotos der Täter – Sinnbild für die anonyme Staatsmacht und ihre ganz konkreten Mordgesellen. Begehen kann man den Flur nur im Zickzack von Kabinett zu Kabinett, nicht in Längsrichtung. Schon das erzeugt einen klaustrophobischen Reflex, ein Gefühl von bürokratischer Gängelung. Entscheidender für die beklemmende Atmosphäre ist jedoch die monochrome Farbgebung im ganzen Haus: ein undefinierbares Graubeige, eine Nichtfarbe, die nicht nur Wände und Decken, sondern auch sämtliche Gegenstände, die abstrahiert nachgebauten Aktenschränke und Schreibtische, überzieht – fast als bewegte man sich in einem Negativfilm, dem bleichen Abziehbild dieses einstigen Schreckensorts. Subtil, ohne inszenatorischen Furor hält die Gestaltung so die Balance zwischen historischer Ferne und Vergegenwärtigung. Die vom Haus der Geschichte BadenWürttemberg eingerichtete Dauerausstellung dagegen nennt Namen und Verantwortliche, erzählt Biografien, zeigt Fotos und dokumentiert die Verbrechen. Und sie beschränkt sich nicht auf die NS-Zeit, sondern zeigt personelle und strukturelle Kontinuitäten der Polizeiarbeit über drei politische Systeme hinweg auf, ebenso wie den demokratischen Wandel der Polizei nach 1945. Pläne auf Seite 29
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Zwischen Satteldächern und in Sichtweite des Doms: die Flachkuppel der Synagoge als neues Element der Regensburger Dachlandschaft
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„Gemeinsam“ als Gebot Es soll sich keiner fragen müssen, was hinter diesen Mauern geschieht – dieser Anspruch der Bauherrin, der jüdischen Gemeinde Regensburg, war der Auftrag an die Architekten. Das neue jüdische Gemeindezentrum steht der gesamten Stadtgesellschaft offen. Ein mutiger Ansatz mit Vorbildcharakter
Kritik Vanessa Kanz
Architekten Staab Architekten
Fotos Marcus Ebener
Ideen Mitten in der Regensburger Altstadt, Am Brixener Hof, unweit von Modegeschäften, Cafés und Restaurants, steht ein Bau, der farblich harmonisch mit den Putzfassaden der Häuser ringsherum korrespondiert und der sich doch gleichzeitig durch seinen massiven Baukörper und seine Kuppel zwischen all den Satteldächern abhebt: ein zeitgenössischer Baukörper, ungerührt und fast feierlich. Er manifestiert in stolzer Bescheidenheit den Beginn neuen jüdischen Gemeindelebens: das jüdische Gemeindezentrum mit Synagoge. 500 Jahre nach der Zerstörung der ersten Synagoge am Regensburger Neupfarrplatz im Februar 1519 wurde die neue nun im Februar 2019 eröffnet – an dem Ort, an dem die zweite errichtete Synagoge 1938 von Nationalsozialisten niedergebrannt wurde.
Auftakt und Einstimmung 45 Wörter zieren den Eingangspatio des jüdischen Gemeindezent rums. In der Handschrift der Lyrikerin Rose Ausländer ist ihr Gedicht „Gemeinsam“, dreizeilig, als Bronzeobjekt im offenen Eingangsbereich an die Außenfassaden montiert. Die Skulptur ist ein Kunst-am-Bau-Projekt des Künstlers Tom Kristen. Wie der Titel verrät, appelliert Ausländer darin an die Gemeinsamkeiten, an die Freundschaft und an die geteilte sowie ungeteilte, begrenzte Zeit, die wir auf dieser Erde haben. Diese einladenden, geschwisterlichen Worte stimmen ein auf das, was ein Gemeindemitglied genauso wie einen Besucher hinter der Pforte erwarten: Offenheit und Gemeinschaft, die im Zwischenmenschlichen sowie in der Architektursprache Ausdruck finden. Aus dem Architekturwettbewerb im Jahr 2015 ging der Entwurf von Staab Architekten aus insgesamt zehn Einreichungen als Sieger hervor. Da die Regensburger Altstadt seit 2006 zum Weltkulturerbe gehört, musste das Architekturbüro denkmalpflegerische Rahmenbedingungen beachten, die Maßstab, Dachform, Materialien und Fassadengestaltung betreffen. Während der Altbau als Verwaltungssitz denkmalschutzgerecht sanier t wurde, entschied sich das Architekturbüro beim Neubau für einen dreigeschossigen, klar gegliederten Baukörper, der als Haupt gebäude fungiert und in dem Gemeindesaal und Synagoge übereinander angeordnet sind. Dadurch gewinnt man auf dem beengten Grundstück zwei neue Außenräume: den Eingangshof und einen Innenhof, der am Gemeindesaal anschließt. Sowie genügend Innenräume, die das Gemeindeleben mit Angeboten für Kinder, Ju-
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gendliche und Senioren, für Sprachkurse, Religionsunterricht und kulturelle Veranstaltungen ermöglichen. Die Fassaden von Alt- und Neubau sind farblich aufeinander abgestimmt, sodass ein homogenes Ensemble im warmen Beigeton entsteht, wenngleich sich die Neubaufassade durch die Textur der stehenden, engobierten Ziegel unterscheidet.
Geringe Schwelle Hinter der Sicherheitsschleuse an der Eingangstür, die ein Sicherheitsmann überwacht, ist der erste Eindruck ein überraschender ob der großzügigen Raumaufteilung und der Helligkeit durch die großen, weiten Fensterfronten. Helligkeit und Offenheit sind das Leitthema, das Staab Architekten durch die gesamte Gestaltung ziehen. „Es war uns ein großes Anliegen, dass das Gemeindezentrum, trotz aller Sicherheitsstandards, nicht nur für die Gemeinde, sondern auch für die Stadtgesellschaft nutzbar ist“, sagt Ilse Danziger, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Regensburg. Jeder darf eintreten, darf sich umsehen, die Synagoge besichtigen und an den Veranstaltungen im Gemeindesaal teilnehmen – Voraussetzung ist lediglich, dass der Sicherheitsmann den Rucksack gegebenenfalls überprüfen darf. Der neue Gemeindesaal im Erdgeschoss ist für 160 Sitzplätze beziehungsweise 300 Stehplätze ausgelegt und bietet genügend Raum für Konzerte, Ausstellungen und Lesungen. Der Saal ist ebenfalls geprägt durch große Fensterfronten, durch die jeder hinein- und hinaussehen kann. „Wir wollten nicht, dass sich jemand fragen muss, was denn hinter diesen Mauern geschieht“, sagt Ilse Danziger. Mit einer Hebelbewegung öf fnet Danzige r die Schiebetür der raumhohen Glaswand im Rücken, die innen und außen optisch verbindet. „Nach der Reichsprogromnacht 1938, in der die Nationalsozialisten die Synagoge niederbrannten, besaß die jüdische Gemeinde in Regensburg bis zu diesem Jahr keine Synagoge mehr“, sagt Ilse Danziger. Dabei ist die jüdische Gemeinde in Regensburg die älteste Gemeinde in Bayern und besitzt eine lange Geschichte, in der sich die jüdischen Bürger wesentlich am kulturellen Leben beteiligten, doch auch immer wieder vertrieben und verfolgt wurden. 1968 errichtete man einen Flachbau, der als Mehrzwecksaal diente und Synagoge sowie Veranstaltungsraum für jüdische Feier tage in einem war. Da der Flachbau allerdings maximal Platz für 80 Personen hatte und die Gemeinde in den
vergangenen Jahren auf fast 1.000 Mitglieder gewachsen ist, schränkte die räumliche Enge die gemeinsamen Feierlichkeiten ein. „Ein gemeinsamer Gottesdienst klingt mit einem gemeinsamen Essen aus“, sagt Ilse Danziger. Das sei am Ende nicht mehr möglich gewesen, weil sie nicht genügend Platz für alle hatten. „Wir mussten die Feiertage auf zwei bis drei Tage verteilen“, sagt Ilse Danziger. „Und das ist ja nicht Sinn der Sache.“ Für die Vorsitzende geht mit dem neuen Gemeindezentrum und der Synagoge neues jüdisches Leben einher. Und gutes jüdisches Leben, wie sie sagt.
Spolien der Vergangenheit Über den Innenhof, auf hellen Pflastersteinen, gelangt man zu einem Eingang des Altbaus. Alt- und Neubau sind ebenfalls im Innenbereich auf jeder Etage miteinander verbunden. Ein steinerner Rahmen, durch den man schreitet, markiert den Beginn des einen und das Ende des anderen Teils. Die Geschichte lässt einen jedoch im sanierten Teil sowie im Neubau nicht los: Es sind kleine Besonderheiten, die auf die Historie referieren und das Alte im Neuen weiterleben lassen: So wie eine große, glänzende Kupferwand in einem Raum im ersten Stock, die bereits im Flachbau existierte – ihre Patina schimmert und zeigt biblische Themen. Oder aber das Naturstein-Waschbecken im Gemeindesaal, ebenfalls aus dem Vorgängerbau, mit einem Löwenkopf, aus dessen Maul klares Wasser fließt. Im Altbau findet sich noch heute ein Gebetsraum, der seit 1912 existiert. Die Nationalsozialisten zündeten diesen Teil nicht an, aus Angst, dass das Feuer auf die angrenzenden Nachbarhäuser übergehen könnte. Das Knarzen des alten, originalen Dielenbodens und das dunkle Holz unterscheiden sich vom lautlosen Gang über die hellen, warmen Fliesen des Neubaus. Der Boden ächzt und stöhnt. Auch er erzählt von der bewegten Geschichte der Gemeinde.
Der Gebetsraum Die Gestaltung der Synagoge im Obergeschoss kann ebenfalls als Verweis auf die Vergangenheit gelesen werden. Die Holzverkleidung, die zwischen die massiven Umfassungswände eingefügt ist, löst sich nach oben kontinuierlich auf, sodass die flache Kuppel über dem Innenraum zu schweben scheint und an die Stiftzelte der WEITER
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Der Boom neuer Museumsbauten ist in Deutschland ungebrochen: Landauf, landab entstanden in jüngster Zeit spannende, attraktive und signifikante Häuser. Pünktlich zur 100-Jahrfeier des Bauhauses eröffnete in Dessau nun auch das Bauhaus Museum seine Pforten. Reiht es sich ebenfalls in die Liste ein?
Stumme Kiste Architekten Addenda Architects s.l.p.
Kritik Falk Jaeger
Fotos Thomas Meyer
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Zumindest nachts kommuniziert das neue Bauhaus Museum mit dem AuĂ&#x;enraum.
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Wann verabschieden wir uns von Bettenhäusern?
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Monnikenheide zeigt seit über 45 Jahren, dass Einrichtungen für körperlich und geistig Behinderte nicht aussehen müssen wie Krankenhäuser. Und dass gute Architektur erheblich dazu beiträgt, dass Menschen sich einfach zu Hause fühlen. A
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Text Ira Mazzoni
Fragen Ein schmaler Holzpfeil weist am Rand der Landstraße nach Monnikenheide, noch bevor man den Ort Zoersel, Provinz Antwerpen erreicht hat. Man fährt in einen Wald, durch eine Eichenallee, passiert Reitwege und steht schließlich vor dem Haus von Wivina Demeester. Vor vier Jahren war ich das erste Mal hier. Der damalige Leiter des Flämischen Architektur-Instituts, Christoph Grafe, wollte mir die außergewöhnliche Institution vorstellen, für die Architektur keine Nebensache ist. Und er wollte mir einen Begriff von Normalität geben, Normalität als Lebens- und Bauqualität. Wivina Demeester, eine zierliche, ganz in Schwarz gekleidete Mittsiebzigerin, empfängt mich vor der Haustür und führt mich in ihr taghelles Büro. Gerade be reitet sich die ehemalige Politikerin auf ihren Vortrag im Rahmen des Symposions „Adieu zum Bettenhaus“ in Gent vor, wo sie Monniken-
heide als innovative Pflegeeinrichtung vorstellen wird. Herzensangelegenheit Monnikenheide ist Wivina Demeesters Lebenswerk. Alles begann, als sie 1967 ihr erstes Kind zur Welt brachte. Steven wurde mit Downsyndrom geboren. Die Ärzte sagten, der Sohn könne niemals ohne Betreuung leben, die Eltern sollten sich nach einer „Einrichtung“ umsehen. Damals wusste man wenig über Trisomie, am wenigsten die geschockten Eltern. Gegen den Rat der Ärzte nahmen sie die Erziehung ihres Kindes selbst in die Hand und machten sich in Sachen Downsyndrom schlau. Sie fanden andere Betroffene, sprachen mit Experten. Schnell wurde klar: Es fehlt ein Zentrum, dem Familien ihre geistig und körperlich behinderten Kinder vorübergehend anvertrauen könnten, um selbst einmal Ferien zu machen und
Elf Ecken, tanzende Fenster und 16 Wohneinheiten: „Haus an der Laar“ vom Brüsseler Büro 51N4E
ALLE FOTOS: MONNIKE NHE IDE
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Um die Bäume herumgebaut: Pavillon-Flügel „Die Eichen“ von UR Architekten, Antwerpen, für Menschen, die eine intensive Betreuung brauchen
Kraft zu schöpfen für die weitere Pflege. Der Freundeskreis beschloss: Wir bauen so ein Zentrum. Das Grundstück war da – ein Geschenk von Vater Demeester. Die junge Familie war aus der Stadt aufs Land gezogen, es gab genügend Platz für die gedachte soziale Einrichtung. Wivina Demeester machte ein Pflegepraktikum in den Niederlanden. Ein Familienurlaub in Dänemark wurde genutzt, um das dort von Niels Erik BankMikkelsen entwickelte Normalisierungsprinzip in der Praxis kennenzulernen, das den Respekt vor jedem Individuum und dessen Recht auf Selbstbestimmung als Grundlage hat. Der Freundeskreis der Demeesters gründete eine Stiftung, sammelte zwei Millionen belgische Franken, und am 1. April 1973 konnte das erste, ökonomisch aus vorgefertigten Elementen gebaute Haus für die Kurzzeitpflege von Kindern und Erwachsenen mit Behinderung in Monnikenheide eröffnet werden. Fünf Wohngruppen mit jeweils nicht mehr als sieben Personen konnten von da an in einer familienähnlichen Sphäre betreut werden. Und wenn Not am Mann, an der Frau war, sprang die Pionierin und erste Direktorin selbst ein. Bis die belgischen Christsozialen sie in die Politik holten. Eine Aufgabe, der sie sich stellte, um in Sachen Inklusion mehr bewirken zu können. In den 1980ern stieg
sie zur Staatssekretärin für öffentliche Gesundheit und Behindertenpolitik auf, in den 90ern wurde sie von der flandrischen Regierung nacheinander zur Innenministerin, Familienministerin und zuletzt Gesundheitsministerin ernannt. Aber Monnikenheide blieb immer ihr Projekt, das mit viel Pioniergeist weiterentwickelt wurde. „Wir fragen nach dem, was Menschen mit Behinderung wollen, was ihnen ein gutes Gefühl gibt, gute Emotionen“, sagt Wivina Demeester. Die Gründerin verweist auf die 2008 in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, indem sie betont, dass jeder Mensch einzigartig sei. Ein Recht auf gute Architektur Dem Recht auf Bildung und Kultur fügt sie ganz selbstverständlich an: „Jeder Mensch hat ein Recht auf gute Architektur.“ Deshalb hat sie sich in ihrer Zeit als Ministerin dafür stark gemacht, dass es in Flandern einen Baumeister nach niederländischem Vorbild gibt, dass ein neues Wettbewerbssystem eingeführt wurde, bei dem Ideen zählen. „Gute Architektur macht jeden Menschen schöner“, davon ist die Gründerin überzeugt. Genau das macht den Zauber von Monnikenheide aus. Den Ort kann man weder