Stories (DE) - Matteo Thun

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Texte von Sherin Kneifl
Texte von Sherin Kneifl

Matteo Thun leitet ein Architektur- und Designbüro, das respektvolle und dauerhafte Lösungen mit Blick auf die Zukunft anstrebt. 1952 in Südtirol geboren, studierte er an der Salzburger Akademie, bevor er sein Architekturstudium in Florenz abschloss. Seine prägenden Berufsjahre verbrachte er unter der Obhut von Ettore Sottsass – gemeinsam gründeten sie 1981 die weltweit bekannte Memphis Group. Nach mehreren Jahren als Professor für Keramikdesign an der Universität für angewandte Kunst in Wien und als Schöpfer epochemachender Werke gründete Matteo 1984 sein gleichnamiges Architektur- und Designstudio, wo er sich als eine der einflussreichsten Stimmen und Talente seiner Generation etablieren sollte.

6 Bozner Engel / Bozen, 1952 11 Spielzeug aus Ton / Bozen, 1956–1962 12 Märklin Eisenbahn / Bozen, 1963 13 Holz / Bozen, 1956–2024 14 Castel Thun, Tante Teresina / Nonstal, 1956–1966 17 Der Schulweg / Bozen, 1959–1963 18 Franziskanergymnasium / Bozen, 1963-1964 21 Die Schule des Sehens / Salzburg, 1967–1970 22 Monte Morello / Florenz, 1974 25 Santa Carolina / Bozen, 1952–1970 26 Fliegen / Alghero, 1974 29 Summa Cum Laude / Florenz, 1975 30 Castigo di Dio / Neapel, 1976 33 Susanne / Zermatt, 1978 34 Ettore Sottsass / Mailand, 1979 38 Aperol / Mailand, 1980 40 Signorina Riccarda / Mailand, 1979 41 Anna Piaggi, Antonio Lopez, Karl Lagerfeld / Mailand, 1980 42 Sciara del Fuoco / Stromboli, 1980 45 Memphis / Mailand, 1981 49 Karl Lagerfeld / Mailand, 1981 52 Via Borgonuovo / Mailand, 1981 55 Via Appiani / Mailand, 1983 56 Universität für angewandte Kunst / Wien, 1983-2000 59 Studio Opening / Mailand, 1984 62 Keith Haring / Mailand, 1985 67 Die Oberflächlichkeit als Manifest / Wien, 1985 68 Campari / Mailand, 1985–1990 73 Vorwerk / Hameln, 1988 76 Illy / Triest, 1990 79 Tiffany & Co. / Venedig, 1990 82 Swatch / Biel, 1990–2000 85 Unser zweites Zuhause / Engadin, 1990–2024 89 O Sole Mio / Klagenfurt, 1990 90 STORIES
7 Cresta Run / St. Moritz, 1990–2010 95 Philips, Keramag / Potsdam, 1991 96 Villa Schnitzler / Wien, 1991 101 Archimede Seguso / Murano, 1992 102 Vigilius / Lana, 1998 103 Takara Belmont / New York, Osaka, 1995 107 Bagno America / Forte dei Marmi, 1992–1996 108 Side Hotel / Hamburg, 1999–2000 111 Onkel Josi, Tante Tesi / Mailand, 2000 112 Sommerfrische / Ritten, 1992–2000 113 WMF / Geislingen, 1984-2000 115 Vapiano / Hamburg, 2000 116 Rosetta / Capri, 2000 119 Julius Meinl / Wien, 1985 120 Six Memos for the Next Millennium, Italo Calvino / Mailand, 2000 123 Leopold, Lyceum / Zuoz, 2002 124 Das Auto / 1970–2004 127 Hugo Boss / Coldrerio, 2006 128 Die Seele des Ortes / Katschberg, 2008 133 Zwilling / Solingen, Schanghai, 2006–2024 134 Fidschi-Wasser / Andorra, 2008 137 Walter Pfeiffer / Capri, 2009 138 Venere Bianca / Montelupo Fiorentino, 2009 141 Nivea / Hamburg, 2012–2018 142 Moselweine / Longuich, 2012 145 JW Marriott / Venedig, 2015 148 Santa Maria a Cetrella / Capri, 2001–2023 153 Manus Factor / Bürgenstock, 2010–2015 154 Waldkliniken / Eisenberg, 2017-2020 157 Davines / Parma, 2018 158 Langham / Venedig, 2018–2026 161 Zattere / Venedig, 2019 162 Constantin, Leopold / New York, Berlin, London 2023 165 Fratelli tutti / Alpen, Apennin, 2024 167 Susanne Thun, Celerina 171 Freunde, 2024 174 72 Stories / 2023 179 Danksagung 181 Impressum 184
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Lena Thun, Matteo Thun, Peter Thun

Am Anfang war der Engel. Genauer: der Angioletto di Bolzano. Mit dieser himmlischen Figur begann die Geschichte der Thun-Keramik. Meine Eltern, Otmar Graf von Thun und Hohenstein und Helene «Lene» Gräfin von Thun und Hohenstein, hegten nach ihrer Heirat natürlich den Wunsch, gemeinsam etwas aufzubauen. Mein Vater war zwar promovierter Jurist, aber mit einer Vorliebe fürs Handwerkliche. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte er eine Keramikschule in Urbino. Meine Mutter war Architektin und hat gebastelt, gemalt oder modelliert. 1950 gründeten sie folglich ihre eigene Keramikwerkstatt im Keller unseres Wohnsitzes Schloss Klebenstein in Bozen.

Initiiert von meiner Mutter erblickte nach der Geburt ihrer beiden Söhne – ich kam 1952 zur Welt, mein Bruder Peter drei Jahre später – der erste mit ihren Händen getöpferte Engel das Licht der Welt. Es heißt, er sei unserem schlafenden Ebenbild nachempfunden: ein pausbäckiges Gesicht, die Augen geschlossen, die Lippen geschürzt, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Nun, ihre Wahl lag nicht unbedingt auf der Hand: Obwohl meine Eltern katholisch gläubig waren, erinnere ich mich nicht, dass die Gottesboten in irgendeiner Weise Stil-Lieblinge unserer Familie gewesen seien. Ich sehe in der Symbolik eher eine Mischung aus Südtiroler Volkstümlichkeit und Kitsch. Der Angioletto war jedenfalls ein Volltreffer, der unzählige Menschen berührte. Und der massenhaft verkauft wurde.

Damals beschäftigten wir in der Produktion in Südtirol etwa 40 Leute. Als Bub durfte ich meiner Mutter dabei helfen, die Qualitätskontrolle eines jeden Engels vorzunehmen. Das Wichtigste bei der Fertigung ist sein Gesicht. Aus einer produktiven Logik heraus hält er die Augen geschlossen, denn offene Augen wären ungleich schwieriger zu bewerkstelligen. Mit einem Holzstäbchen geht man die zwei Linien der Augen nach, akzentuiert die zwei Punkte der Nasenlöcher, und mit einem Rundstab wird der singende Mund geformt. Man hat damals im Akkord geschaffen und für jeden fertigen Engel einen gewissen Betrag bekommen. Ich habe mir große Mühe gegeben, mich dem Tempo der Profis anzunähern. Mit elf Jahren hatte ich sie endlich eingeholt und stellte bald sogar stückzahlmäßige Rekorde auf.

Der Engel wurde übrigens nicht nur zum Symbol von Thun-Keramik, sondern ist in unzähligen italienischen Häusern anwesend. Die geniale Erfindung meiner Mutter brachte finanzielle Sicherheit für die Familie mit sich. Im Süden Italiens heißt es gar: «Keine Hochzeit ohne Thun». Der Angioletto steht auf jeder guten Hochzeitsliste. Da er Handarbeit erfordert, konnte meine Familie die Produktion in Südtirol jedoch irgendwann nicht mehr aufrechterhalten und musste in niederpreisige Länder gehen, um den Verkaufspreis im Rahmen zu halten. Als sich die Wege von meinem Bruder und mir durch unterschiedliche Interessen getrennt haben, wanderte er mit der Firma nach China ab. Er führt das Unternehmen mit seinem Sohn Simon. Es fabriziert mittlerweile in Vietnam und zählt ein paar Tausend Mitarbeitende. Was über die Jahrzehnte gleich geblieben ist: Noch heute wird aus einer Gipsform die Figur entnommen.

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BOZNER ENGEL
BOZEN, 1952

Für mich persönlich bedeutete der Thun-Engel den Ursprung meiner Beziehung zur Keramik, eine Liebesgeschichte, die immer noch andauert.

Sie begann damit, dass ich von 1956 bis 1962 mein Spielzeug ausschließlich selbst aus Ton herstellte. Als Vierjähriger machte ich die tolle Entdeckung, dass man Schildkröten in einer hohlen Hand formen kann und ihnen nur mehr fünf Extremitäten anklebt. Diesen Vorgang beherrschte ich schon früh, sodass die gepanzerten Kerlchen meine ersten tierischen Tongefährten wurden. Es gab generell noch sehr wenig Spielsachen zu kaufen, die zudem teuer und vor allem zu teuer für meine Eltern waren. Nachdem ich schön langsam eine Schildkrötengroßfamilie in meinem Zimmer beherbergte, versuchte ich mich ein paar Jahre später, etwa im Alter von sieben, an Pferdefiguren.

Pferde sind eine vielfach herausfordernde Angelegenheit, weil sie auf vier Beinen stehen und Körper und Mähne sorgfältig gestaltet werden wollen. Der kniffligen Bastelei gab ich mich leidenschaftlich und voller Konzentration bis ins Detail hin. So sind über das Modellieren von Tieren als Spielgefährten meine händischen Fertigkeiten nach und nach zu einer Qualität gewachsen.

Ich bin der einzige von etwa hundert Architekten und Designern meiner Firma Matteo Thun & Partners, der keinen Computer besitzt. Um es mit dem Schriftsteller Italo Calvino zu halten: Ich meine, synthetischer, schneller und präziser zu arbeiten mit dem Bleistift und mit dem Aquarell. Ich glaube an die «Intelligenz der Hand»: Hier führt die Hand das Hirn und nicht umgekehrt. Man macht Entwürfe aus dem Verständnis der Hand heraus, und das Hirn heißt sie nachher gut. Oder auch nicht.

Schildkröte aus Ton gefertigt

12 SPIELZEUG AUS TON / BOZEN, 1956–1962

Die Märklin Eisenbahn hat das gesamte Spielzimmer zu Hause in Klebenstein eingenommen. Im Unterschied zu den Handwerkern, die die Schienen auf Brettern oder Platten befestigen, habe ich sie lose gehalten und spektakuläre Steigungen auf ein Sofa hoch und wieder hinunter kreuz und quer gebaut. Besonders stolz war ich auf zwei Gipsberge: Einer hatte einen Tunnel und der andere ein Schwimmbad samt Trampolin. Mit viel Geduld habe ich auf die Berge mit Baumbart ganze Waldstriche geklebt.

Meine Passion für die Eisenbahn hat begonnen, lange bevor ich ein Gleis oder eine Lokomotive besessen habe. In einem Spielzeugladen unter den Lauben hat mir meine Großmutter ein Aufgleisgerät gekauft. Mit diesem gebogenen Blech bringt man zum Beispiel eine Lokomotive auf die Schiene. Damit aufgehört hat sie, als mein kleiner Bruder aus Ärger oder Eifersucht darauf herumgetrampelt ist und die kunstvolle Anlage zerstört hat.

Ich habe alles – Lokomotiven und Waggons, Berge und Bäume, Gleise und Signale, Figuren und Material – für 60.000 Lire verkauft. Und für exakt denselben Betrag ein Flugzeug mit Fernsteuerung erworben – mit dem Ergebnis, dass die erste Landung gleich in die Hose ging und die Investition dahin war. Seit

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MÄRKLIN EISENBAHN
BOZEN, 1963
Passion fürs Fliegen
eh und je: die

Mit vier Jahren, so glaubt ich, war ich ein guter Architekt. Den Grundstein dafür haben die Holzklötze von Onkel Roderich gelegt, dem älteren Bruder meines Vaters. Onkel Roderich war der Begründer von «spiel gut», einer Organisation, die es heute noch gibt. Das Siegel – ein weißer Punkt in einem roten Feld – ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für pädagogisch wertvolles Kinderspielzeug. Mit den Holzklötzen habe ich Häuser gebaut, stabile Werke mit dicken Wänden. Mal hatten sie ein flaches, mal ein geneigtes Dach. Was mir am besten daran gefiel: Alle waren sie schön – und keine Frage des Stils. Meine Eltern haben mich motiviert und mir bestätigt, dass meine Bauten gelungen seien. Gerade meine Mutter, die selbst Architektin war, zeigte sich interessiert, was man mit Holzklötzen alles zustande bringt.

Der Mensch will ein Haus besitzen und darin schlafen, wohnen und seine Familie beheimaten. Darum gibt es so viele Einfamilienhäuser. Diese Lust habe ich von klein auf stark verspürt. Das Haus meiner Kindheit war Schloss Klebenstein, wo ich aufwuchs. Es steht am Ende der Wassermauerpromenade beziehungsweise am Beginn des Sarntales, das sich von Bozen nach Norden erstreckt. Meine Eltern konnten nur wenige Räume beheizen, und ich habe jedes Mal eine Tracht Prügel bekommen, wenn ich auf den kalten Steinböden gesessen bin. Also musste ich auf den wenigen Teppichen versuchen, meine Häuser aufzustellen. Das Schloss hat wunderbar hohe Räume, sodass mir vermutlich die Qualität der Proportionen eines Raumes bereits in die Wiege gelegt wurde. Länge, Breite, Höhe beeinflussen das Gefühl von Wohlbefinden: In einem sehr niedrigen Zimmer, das die falschen Proportionen aufweist, fühlt man sich nicht wirklich wohl. Das Gespür für diese Relation habe ich wohl im Schloss Klebenstein mitbekommen.

Viele Jahre später habe ich Architektur studiert. Damit wurde es kompliziert: Statik, Haustechnik, Gebäudelehre … Plötzlich ging der Spaß verloren, und die Entwürfe wurden unterschiedlich aufgenommen. Zum Teil positiv, zum Teil auch sehr kritisch. Die Stilfrage hat mir keine Ruhe gelassen. Die Folge war meine Flucht in den kleinen Maßstab, ins Produktdesign. Mit meinem Lehrmeister Ettore Sottsass folgten wir dem Credo holistisch zu arbeiten, sozusagen vom Löffel bis zur Stadt. Die Gesamtheitlichkeit dieser «Mailänder Schule» ist mir geblieben. Ebenso die Devise, stets ohne Nostalgie nach vorne zu schauen sowie simpel, leicht und dauerhaft zu denken und zu schaffen.

Heute mit 71 Jahren finde ich mich wieder bei den Ursprüngen, die ich bereits Mitte der 1950er-Jahre als Junge beherrscht habe. Anstatt mit Holzklötzen baue ich mit runden Baumstämmen, schichte sie übereinander für eine äußerst schlichte Konstruktion, die einfach in der Wahrnehmung ist. Das Projekt heißt Jungle Village und wird gerade in Bayern verwirklicht. Es bedeutet die Rückkehr zur totalen Einfachheit. Dort angekommen, gibt es keine Stilfrage mehr: Es steht überhaupt nicht mehr zur Diskussion, ob eine minimalistische Konstruktion schön ist oder nicht. Es gefällt. Punkt. Man denke nur an das Parthenon in Athen! Niemand stellt seine Schönheit infrage.

14 HOLZ / BOZEN, 1956–2024

Die absolute Reduktion auf das Wesentliche berücksichtige ich neben der Architektur und dem Design auch in anderen Lebensbereichen. Obwohl es eine ungleich größere Herausforderung ist als die Komplexität. Genauso, wie Platon leichter zu lesen ist als Heidegger. Und eventuell schwieriger zu verstehen.

Holz ist nicht nur aufgrund der Nachhaltigkeit das Material, auf das ich seit 1990 zurückgreife. Es ist der Baustoff des 21. Jahrhunderts. Bereits mein erstes Fertighaussystem bestand zu 100 Prozent aus Holz. Eisen-Beton-Gebäude wirken wie ein Faraday-Käfig, indem sie keine Einwirkungen von externen Wellen zulassen. Diese bereichern und vitaminisieren uns permanent aus dem Weltall auf der Erde. Holz sorgt für ein optimales Raumklima, eine gute Isolation und eine angenehme Akustik. In puncto Wohnhygiene weiß man, dass etwa die Herzfrequenz ebenso positiv beeinflusst wird wie der Schlaf.

Parallel zum Jungle Village plane ich eine Örtlichkeit zur Selbstfindung in den Alpen, die seit Frühjahr 2024 entsteht. Es ist ein Geschenk an Jorge Bergoglio, besser bekannt als Papst Franziskus. Und natürlich wird alles aus Holz gefertigt.

HolzklÖtze

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Castel Thun im Nonstal

Castel Thun, das Familienschloss im Nonstal, gehörte meiner Großtante Teresina. Ihr Sohn, mein Onkel Zdenko, war nicht der Schönste. Bereits im Alter von 16 hatte er den Ruf eines Playboys, der als erster Mann im Nonstal ein Auto besaß. Damit ist er über die staubigen Straßen nach Castel Thun hochgerast. Die Bauern sind vor dem heranpreschenden Flitzer geflohen und haben sich mit dem Schrei «Arriva il Conte! Arriva il Conte!» in Sicherheit gebracht. Eine Hiobsbotschaft, die durch die Gegend klang.

Onkel Zdenko gab mir in der ersten Klasse Volksschule einen Rat. Der lautete: «Die Addition und die Subtraktion wirst du schaffen. Die Multiplikation wirst du in einem Jahr schaffen. Aber lass die Hände von der Division, die wirst du nie begreifen.» Das habe ich mir gern gemerkt.

Tante Teresina hat uns Kindern stets Campari Soda servieren lassen, weil sonst in der Schlossküche nichts anderes vorrätig war. Meine Mutter versuchte ihr klarzumachen, dass Kinder keinen Campari trinken. Aber das war ihr einerlei, und wir verbrachten eine unbeschwerte Zeit auf Castel Thun. Wir haben in unterirdischen Gängen Verstecken oder Räuber und Gendarm gespielt. Im Winter waren nur zwei Räume beheizt, die Küche und das Esszimmer, dafür gab es eine stattliche Sammlung von Kutschen – Onkel Zdenkos Passion. Er hat dafür sogar ein eigenes Museum aufgebaut. Doch um dieses Flair für Kutschen zu finanzieren, verlor er sukzesessive alle Güter. Die Tragödie war vollkommen, denn seine Mutter hatte ihm nahegelegt, er sei mit dem Schloss verheiratet, und demzufolge war er Junggeselle geblieben.

Schließlich bot Onkel Zdenko meinem Vater Castel Thun zum Kauf an mit der Anmerkung, er müsse als Erstes das Dach renovieren lassen. Die Instandsetzung hätte damals 64 Millionen Lire gekostet. Für denselben Betrag wollte mein Vater jedoch kurze Zeit später die Thun Keramik aufbauen, entschied sich also gegen den Kauf. Das Schloss ging an den Staat und ist heute ein sehenswertes Museum.

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/ NONSTAL, 1956–1966
CASTEL THUN, TANTE TERESINA

Wir wohnten im Schloss Klebenstein, dem Anwesen am Ende des Sarntales. Von dem ehrwürdigen Bau aus teilt die Wassermauerpromenade Bozen in den deutschen Teil (die Altstadt) und den italienischen Teil (Gries). Sie erstreckt sich entlang der Talfer, um die zu beiden Seiten des Flusses gepflanzten Weinreben zu schützen. Für uns führte sie kerzengerade direkt zur Goetheschule. Am Morgen kurz vor 8 Uhr sind mein Bruder und ich auf unsere Fahrräder gestiegen und haben mit Rückenwind von Klebenstein nur wenige Minuten bis zur Volksschule gebraucht. Trotzdem trafen wir während der kurzen Strecke auf allerlei Gestalten und erlebten kleine Abenteuer, die wir in unserer Fantasie aufbliesen und ausschmückten. Zum Beispiel jenes vom Sommer 1960, als wir einen Clochard erspähten, der auf einer Bank an der Promenade die Nacht verbracht hatte. Wir Lausbuben sind schnurstracks zu ihm hin und haben ihn erschreckt, indem wir ihm laut in die Ohren gebrüllt und schnell auf unseren Rädern die Flucht ergriffen haben.

Im Laufe des Vormittags absorbierte uns der Unterricht, sodass wir den Streich vergaßen. Doch als wir auf der Rückfahrt die Wassermauerpromenade erreichten, stellte sich der Clochard uns in den Weg. Er sah furchteinflößend aus mit seinem langen schwarzen Mantel, fuchsteufelswild und bereit, es uns heimzuzahlen. Wie durch ein Wunder sind wir ihm entwischt. Den ganzen Tag haben wir vor Angst gezittert, denn es hätte ordentlich Backpfeifen geregnet, hätte der erboste Mann uns erwischt. Das war nur eines der vielen Erlebnisse auf der Wassermauerpromenade, aber ein besonders eindrückliches.

An der Schulzeit sind bekanntlich die Pausen besonders beliebt. Wir spielten auf dem Platz vor dem Gebäude mit Murmeln oder dem Fußball. Bei dem bübischen Eifer – die Goetheschule besuchten nur Jungen – zerbrach ein Fußball einmal die Fensterscheibe von meinem Großonkel, der schräg gegenüber im Palais Toggenburg gewohnt hat. Das Malheur weitet sich zur Familienaffäre aus, und mein Bruder und ich mussten uns offiziell beim Onkel, dem einzig lebenden Fürst Thun, entschuldigen. Obwohl der über 80 und um die kaputte Scheibe nicht allzu besorgt war.

Zwar gingen wir auf eine deutsche Volksschule und unser Haus lag im deutschen Teil von Bozen, doch mein Bruder und ich sprachen von klein auf Deutsch und Italienisch. Ich fand es bereichernd, dass sich unser Freundeskreis aus beiden Kulturen zusammensetzte. In meiner Kindheit und Jugend wurden Italiener immer noch von vielen Deutschen gemieden. Bei uns daheim hatten wir keine Ressentiments. Und ab der zweiten Klasse hatten wir auch Italienisch als Unterrichtsfach.

Das Franziskanergymnasium befand sich in unmittelbarer Nähe. Doch von der glücklichen Realität meiner ersten fünf Schuljahre war es weit entfernt.

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SCHULWEG / BOZEN, 1959–1963
DER
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Matteo und Peter Thun auf der Wassermauerpromenade Peter und Matteo
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Matteo, Schulkollegen und Patres des Franziskanergymnasiums Matteo Thun: zweite Reihe, vierter von links

Auf dem Franziskanergymnasium war ich außerordentlich unglücklich. Die Patres im Franziskanerkloster, die zugleich als unsere Lehrer fungierten, hatten schnell verstanden, dass ich sie schlicht und einfach nicht mochte. Ich habe ihre Lebenshaltung nicht geteilt. Also sollte ich einen Leidensweg beschreiten. Zu meinen wenigen Lieblingsfächern zählte Griechisch, vor allem das Schreiben bereitete mir Freude. Allerdings war mein Griechischlehrer Pater Ludwig gleich hoch wie breit und überhaupt nicht auf meiner Seite. Jeden Montag um 8.30 Uhr prüfte er mich, wissend, dass ich nichts weiß. Und so hat er mich jeden Wochenbeginn vor der gesamten Klasse blossgestellt.

Pater Hubert war so dick, dass er nicht einmal mehr barfuss in seine Franziskanersandalen passte. Darum trug er Frauenschlappen aus dunkelblauem Lackleder. Er hätte Geschichte unterrichten sollen, zeigte sich aber derart desinteressiert daran, uns Buben etwas beizubringen, dass seine Instruktionen lediglich lauteten: «Lesen Sie jetzt von Seite x bis Seite y». Ab und zu stellte er während der Stunde Fragen, und ich konnte natürlich die an mich adressierte Frage nie richtig beantworten. Als er sich wieder einmal mit einem «was meinen Sie?» an mich wandte, erwiderte ich: «Meinen tun die Hennen». Eine zugegeben nicht sehr höfliche Rückmeldung. Pater Hubert rief sofort den Pater Direktor. Eines führte zum anderen und schliesslich zum Consilium Abeundi, das heisst zu meinem Rausschmiss.

Ich war froh über die Entfernung aus der Schule, allerdings nicht so sehr über das traumatische Ende, das man als Kind doch nicht ohne Weiteres wegsteckt. Ich wurde nach dem Verweis im staatlichen Gymnasium aufgenommen und habe es mit der Matura abgeschlossen. Mein drei Jahre jüngerer Bruder hat es von Anfang an cleverer gemacht und sich sofort an einer öffentlichen Schule einschreiben lassen.

21 FRANZISKANERGYMNASIUM / BOZEN, 1963–1964

Von den Lehrinhalten in der Schule war ich dermassen enttäuscht, dass ich meine Eltern bat, in den Ferien endlich das machen zu dürfen, was mir Spass macht. Oskar Kokoschka hatte 1953 die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg gegründet. Ich wollte unbedingt diese «Schule des Sehens», die in der Festung Hohensalzburg beheimatet war, besuchen und meine Eltern willigten ein. Eines Tages stand eine besondere Porträtsitzung auf dem Programm: Anneliese Rothenberger, eine äusserst auf Eleganz getrimmte Dame, würde uns Modell sitzen. Wir hatten die Chance, die gefeierte Opernsängerin verewigen zu dürfen. Jede Session bei Kokoschka dauerte 25 Minuten, die sich intensiv gestalteten. Der Expressionist vertrat die Philosophie und die Strategie, zunächst und sehr rasch die Proportionen zwischen Augen, Ohren, Nase und Mund zu erfassen. Danach sollte man das zu malende Subjekt gar nicht mehr anschauen, weil in 25 Minuten eigentlich keine Zeit bleibt, jedes Mal wieder den Blick zu heben, zu zeichnen, zu malen, zu gucken. Wir sollten innerhalb weniger Momente verstehen, wer die Person ist, die man porträtiert. Gelingt das mit hoher Konzentration, dann kann der Maler die Persönlichkeit in der Folge abstrakt ihre Essenz erfassen. Genau darum habe ich mich bemüht.

Ich war 15 Jahre alt und sass in der vordersten Reihe, einen Wimpernschlag von Frau Rothenberger entfernt, von der ich mich redlich mühte, ein adäquates Porträt zu malen. Erst zum Schluss kommen die Pupillen dran. Ich war ob des prominenten Modells sehr aufgeregt und wahrscheinlich auch ein bisschen in Verzug, sodass ich eine Pupille falsch gesetzt habe. Diese schöne Frau hat auf meinem Aquarell plötzlich geschielt.

Als der Grossmeister die Madame bat, sich die Ergebnisse anzusehen, kamen sie als erstes an mir vorbei. Sie warf einen Blick auf das Werk und war sprachlos. Kokoschka nahm sie am Arm und sagte: «Kommen Sie, gnädige Frau. Gehen wir weiter.» Das bedeutete das Ende meiner Karriere als Künstler. Ich empfand es als, nicht wieder gut zu machendes Drama eines jungen Mannes, der sich bemüht und es nicht geschafft hat. Nun muss man wissen, dass Kokoschka die Frauen geliebt und in jenem Sommer einer jungen, blonden, deutschen Assistentin namens Inge den Hof gemacht hat. Er zeigte sich überhaupt nicht interessiert, uns Schülern etwas Wesentliches beizubringen. Darum habe ich den Vorfall zum Anlass genommen, in den oberen Stock des Gebäudes zu Emilio Vedova zu wechseln.

Der Italiener hielt jeden Nachmittag sensationelle Vorträge in Form von Happenings. Er war mit Max Ernst, Salvador Dali, Pablo Picasso, Henri Matisse… befreundet. Dank seiner Nähe zu all den Grossen des letzten Jahrhunderts konnte er uns jungen Leuten die Kunstgeschichte auf eine mitreissende Art vermitteln. Wir sassen sprachlos im Raum, wenn Vedova umhersprang und simulierte wie Dali arbeitet, wie Picasso zeichnet und so weiter. «Jetzt zeige ich euch, wie Max Ernst das umgesetzt hätte», kündigte er an. Er hat mich begeistert.

Durch meine persönliche Tragödie mit Anneliese Rothenberger bin ich auf

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/ SALZBURG,
DIE SCHULE DES SEHENS
1967–1970

Vedova gestossen. Die Ereignisse haben mich förmlich auf meinen Weg gezwungen, denn ich hatte keine andere Möglichkeit als die Flucht nach oben. Dorthin hat mich vielleicht auch mein Herz geführt. Jedenfalls habe noch einige Jahre weitergemalt und mich auch an Keramik versucht. Irgendwann habe ich aber erkannt, dass die Kunst nicht meine Kragenweite ist. Das sehen meine Kinder anders, der eine ist Künstler, der andere Galerist geworden. Als lebenserfüllend für mich hat sich herausgestellt, mit der Architektur und dem Design den kleinen sowie den grossen Massstab zu bearbeiten.

Apropos Massstab: Die Proportionenlehre beim Porträtieren erwies sich als, geradezu unumgänglich beim Entwerfen eines Hauses oder eines Objekts. Jeder gute Architekt wird bestätigen, dass er den Körper und seine Masse genauestens kennt.

Emilio Vedova zähle ich zu meinen Lehrmeistern im Sinne einer Rennaissanceschule. In der Schule selbst habe ich nie etwas gelernt. Das System habe ich von vornherein verworfen und versucht, das Studium so kurz wie möglich zu halten, um dann in der Realität – beim Lehrmeister – das zu lernen, was ich brauchen konnte.

Das bringt mich in der Erinnerung zu meiner Doktorarbeit…

Die

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deutsche Opernsängerin Anneliese Rothenberger Der Maler Oskar Kokoschka
«

Ich will keine Architekturbibel schreiben. Ich möchte Geschichten erzählen, die zeigen, was mich und meine Arbeit ausmacht.»

In 72 Geschichten erzählt der Mailänder-Südtiroler Matteo Thun

von sich und spricht über seine Architektur, sein Design, seine Werte und Wahrheiten.

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