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die schönsten stadien und ihre
geschichten
Champions League
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im Interview: Günter Netzer, Volkwin Marg, Campino und viele mehr m it F otos von Re i n ald o Co dd ou H. Un d a n der e n
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Mailand
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AZADI OLD TRAFFORD CELTIC PARK OLYMPIASTADION INÖNÜ VELTINS-ARENA EMIRATES Seite 106
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Teheran
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ESTADIO MUNICIPAL DE BRAGA CRAVEN COTTAGE TOMÁS ADOLFO DUCÓ Seite 172
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Braga
INTERVIEW
KESSEL VOLLER HYSTERIE Volkwin Marg ist der wohl bekannteste Stadionarchitekt Deutschlands. Sonja Fuss ist ebenfalls Architektin – und wurde mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft Fußball-Weltmeister. Ein Expertengespräch über Stadien und gebaute Emotionen Interview: Alexander Gutzmer
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INTERVIEW Herr Marg, wie kamen Sie zum Stadionbau? Volkwin Marg: Unser erster Wettbewerbsbeitrag galt den Olympischen Spielen 1972. In unserem Büro kursierten zwei unterschiedliche Entwürfe. Einer setzte vor allem auf Zeltstrukturen. Meinhard (von Gerkan) und ich hielten das für zu gewagt. So kann man sich irren. Am Ende haben so ziemlich alle am Wettbewerb beteiligten Architekten für die Spiele gebaut, nur wir nicht. Hätten Sie es besser gekonnt als Frei Otto und Günther Behnisch? V M: Nein, das Resultat ist natürlich bis heute unerreicht: das Münchner Olympia-Gelände ist die wohl schönste Choreographie der Bewegung von Menschenmassen. Die Jugend der Welt wogt frei umher – geführt von Otl Eicher. Aber als Fußballstadion war das Olympiastadion immer ohne Atmosphäre. V M: Das Stadion war sehr geeignet, um darin Fußball zu spielen. Aber es hysterisiert die Massen nicht stimmungsmäßig, ist kein Hysteriekessel. Man schaut aus der Höhe heraus in die Weite. Frau Fuss, wie macht man das als Architekt besser? Sonja Fuss: Vor allem erzeugt die Architektur des Stadions Emotionen für Sportler und Besucher. Dabei können viele architektonische Aspekte eine Rolle spielen. Das fängt beim Tragwerk an, geht über die Tribünengestaltung, die Akustik, die Farbgestaltung bis zur Wegeführung. Sogar die Wahl der Materialien kann Einfluss nehmen. Ein wahnsinnig spannender und herausfordernder Entwurfsbereich. V M: Gerade die Akustik wird unterschätzt. Tribünendächer etwa dienen ja nicht nur dem Witterungsschutz. Sie sind vor allem Schalldeckel, wie über der Kanzel in Kirchen.
Dazu braucht es optische Dichte, die möglichst absolute Geschlossenheit, was Selbstinszenierungen wie »La Ola« befördert. S F: Je steiler die Ränge, je mehr Dramatik eine neue Architektur für mich als Sportler erzeugt, desto stärker empfinde ich auch die Aura eines Stadions. In guten Arenen muss man sich wie in einem Hexenkessel fühlen. Dann schafft man für den Sportler eine aufregende Atmosphäre. Man muss sich fühlen wie ein Gladiator. V M: Sehr wichtig auch: das Licht. Fußballspiele werden am besten bei Nacht angeschaut. Künstliches Licht macht aus einem Stadion eine hermetisch abgeschlossene Arena.
»Bei rhythmischem Klatschen im Stadion läuft mir noch immer ein Schauer über den Rücken und ich gucke nach dem Ausgang.« Volkwin Marg
Wie hat sich die Beleuchtung von Stadien verändert? V M: Illuminiert wird heute nicht mehr nur das Spiel. Alte Flutlichtmasten beleuchteten lediglich die Spieler, und zwar kreuzweise. Heute bringt man Beleuchtungssysteme am Stadiondachrand an. Diese leuchten alles schattenfrei aus – vor allem auch die Zuschauer. Und Licht wird dynamisiert. In Berlin etwa macht die Beleuchtung die Welle mit.
Volkwin Marg ist Gründungspartner des international agierenden Architekturbüros gmp von Gerkan, Marg und Partner. Er wurde 1936 in Königsberg/Ostpreußen geboren und war von 1980 bis 1985 Präsident des Bundes Deutscher Architekten BDA. 1986 übernahm er einen Lehrstuhl für Stadtbereichsplanung und Werklehre an der RWTH Aachen. Marg ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und der Freien Akademie der Künste zu Hamburg, 2007. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes.
Ansonsten aber wirkt Ihr Berliner Stadionbau nicht übermäßig »geschlossen«. V M: Es war unsere Grundidee, das Stadion zum Reichsportfeld offen zu gestalten. Das Olympiastadion ist ein Mittelding zwischen Denkmalschutz, Fußballarena und einer Mehrzwecknutzung. S F: Dennoch: Historisch geprägte Stadien wie das Olympiastadion bringen noch mal einen ganz besonders ehrfurchterregenden Aspekt für mich mit. Welche Entwicklungen sind im Stadionbau momentan zu beobachten? V M: Der Trend geht hin zum Konsumtempel. Ich bedaure das. Vor allem, weil durch den Konsumfokus die sozialen Unterschiede immer mehr betont werden.
Frau Fuss, wie würden Sie die Aura von Fußballstadien beschreiben? S F: Ich denke, dass jeder Stadionbau seine eigene Aura entwickelt. Für mich als Sportlerin, für einen Fan, aber auch für den objektiven Betrachter. Eine Aura entsteht durch Emotionen. Für mich als Fußballerin und auch generell für Sportler ist die Sache vielleicht noch einen Tick emotionaler. V M: Die Hauptfunktion eines Fußballstadions liegt darin, das Publikum in einen Bann mit sich selbst zu schlagen.
War das früher anders? V M: Bei den paramilitärischen Spielen der Griechen waren alle gleich. Während der Spiele herrschte sogar Waffenstillstand – der Krieg zwischen den Stadtstaaten wurde ins Stadion verlagert. Diese Leistungsschau der Stadtstaaten wurde dann aber von den Römern abgelöst. V M: Da ging es um die Ruhigstellung
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INTERVIEW
»In guten Arenen muss man sich wie in einem Hexenkessel fühlen. Man muss sich fühlen wie ein Gladiator.« Sonja Fuss
Sonja Fuss ist ehemalige FußballNationalspielerin und studierte Architektin. Die 1978 in Bonn geborene Fuss verbrachte den größten Teil ihrer Karriere beim SV Grün-Weiß Brauweiler, der sich im Jahr 2000 in den FFC Brauweiler Pulheim 2000 umbenannte. Als Studentin spielte sie zwischenzeitig für das Team der Hartford University im US-Bundesstaat Connecticut. 2003 und 2005 wurde die Verteidigerin Fußball-Weltmeister.
der Massen. Es wurden regelrechte Seeschlachten inszeniert. Die römischen Stadien konnte man fluten. Oft gingen die Schlachten tödlich aus.
Im Falle von Bayer Leverkusen war ein Konzern der Bauherr. Oft sind aber auch Vereine ohne Konzern im Rücken Bauherren. V M: Ja, in München etwa taten sich ja zwei Clubs zusammen. Wobei – die Arena haben sie zusammen gewuppt. Die gesamte Infrastruktur, die in etwa genauso teuer war, hat die Stadt gebaut.
Eine Idee, die der Absolutismus wieder aufgegriffen hat ... V M: Die Spiele sollten das Ancien Régime retten. Nationale Spiele zur Gleichschaltung der Untertanen. Und der große Vordenker war Étienne-Louis Boullée, den man fälschlicherweise immer als Revolutionsarchitekten sieht. Er schlug ein Stadion für 300.000 Menschen vor, mit dem Ziel, diese gleichzuschalten.
Stadionbau und Städtebau hängen eng zusammen. Bauen wir irgendwann um Stadien urbane Strukturen herum? V M: Denkbar ist das. Ich glaube aber auch, dass wir wieder in der Stadt selbst bauen werden – da also, wo der Massentransport perfekt ausgebaut ist.
Zurück in die Gegenwart – wie sehen Stadien künftig aus? V M: Wir werden immer mehr Spezialstadien für nur noch eine Sportart haben - Fußball, Radfahren, Schwimmen. Und der Trend zur sozialen Segregation wird weitergehen. Unterschieden wird dabei nicht nach Bildung, sondern nach Konsumverhalten. Uns als Architekten bleibt nichts anderes, als dieses Bedürfnis zu bedienen – auch wenn wir diese Entertainment-Kommerzialisierung eigentlich ablehnen.
Man baut da, wo der Verkehrsinfarkt sowieso schon Realität ist ... V M: Das klingt zwar zynisch, ist aber nicht komplett falsch. Es kommt darauf an, Fußballspiele antizyklisch zu terminieren. Gehen Sie selbst zu Fußballspielen? V M: Man muss nicht krank sein, um Krankenhäuser zu bauen, und kein Fußballfan, um Stadien zu bauen. Ins Stadion gehe ich vor allem wegen meinem Enkel. Er fiebert für Manchester United.
Sagen Sie das Ihren Bauherren? V M: Da lächeln die nur. Überschätzen Sie nicht die Macht des Architekten. Gerade Institutionen wie die UEFA oder die FIFA treten extrem machtbewusst auf.
Sie selbst hat das Fußballgen nie angesteckt? V M: Ich bin nicht der Typ für Massenansammlungen. In negativer Form habe ich diese reichlich erlebt: In den dreißiger Jahren, dann in den Fünfzigern in der DDR. Politisch choreografierte Massentreffen wie das Weltjugendtreffen der FDJ. Bei rhythmischem Klatschen im Stadion läuft mir noch immer ein Schauer über den Rücken, und ich gucke nach dem Ausgang. Der Wissenschaftler Gustave Le Bon hat gezeigt, warum Menschen auch ein Bedürfnis nach dem Aufgehen in der Masse haben.
Welche Rolle spielt das Fernsehen? V M: Eine Hauptrolle. Stadien mit 50.000 Leuten dienen heute nicht zuletzt dazu, die richtige Atmosphäre für TV-Übertragungen zu liefern. 50.000 Stadionbesucher singen für 50 Millionen Fernsehzuschauer. Man müsste sie dafür bezahlen. V M: Richtig.
Aber solange es beim Fußball bleibt, ist das doch harmlos. V M: Auch wenn politische Wachsamkeit wichtig bleibt, haben Sie natürlich Recht. Außerdem hat das ja auch positive Effekte. Deutschland ist bei der WM 2006 in Stadien seine Minderwertigkeitskomplexe losgeworden. Außerdem lernen wir über Sport auch das Einhalten von Regeln.
Stadien werden zur TV-Kulisse – aber zugleich immer größer ... V M: Ja, vor allem in den USA können wir schon beobachten, wie immer mehr Verweilanreize durch Zusatzangebote gesetzt werden: Shopping, Gastronomie. Außerdem werden immer mehr veranstaltungsfremde Funktionen integriert, etwa ganze Konferenzzentren, die nur die Aura des leeren Stadions nutzen. Man sucht die Sakralaura der Masse – ohne die Masse. 20.000 Quadratmeter Nebenfläche haben wir in Warschau mitgeplant. Bayer Leverkusen hat früh ein Hotel ans Stadion angebaut.
Das heißt, die Erfahrung des Stadions beeinflusst die Zuschauer. Anders herum hat der Zuschauer-ArchitekturKomplex auch Auswirkungen auf die
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Spieler. Frau Fuss, haben Stadien Ihre Karriere beeinflusst? S F: Hat man einmal Gefallen am Leistungssport gefunden, saugt man natürlich auch die Atmosphäre der Wettkampfstätten ein. Natürlich hat es mich in meiner Karriere, zusätzlich zu dem Gewinn eines Wettbewerbs, auch motiviert, die Atmosphäre in einem bestimmten für das Endspiel ausgewählten Stadion genießen zu können. Solche zusätzlich motivierenden Erlebnisse, auf die man sich freut, treiben den Ehrgeiz im Leben eines Sportlers noch weiter an. Und jetzt arbeiten Sie beide als Architekten an der Schaffung dieser Erfahrungen mit. Herr Marg, welches Ihrer Stadien gefällt Ihnen am besten? V M: Schwierig. Die meiste Aufmerksamkeit widmet man natürlich immer den Problemkindern. Das Warschauer Nationalstadion zum Beispiel war hoch komplex: Wir haben auf dem Trümmerschutt des Warschauer Aufstands gebaut. Da konnte es sein, dass Sie beim Baggern auf Gasmasken stoßen. Das textile Dach, das geöffnet werden kann, ist das Erste dieser Art, das die volle Schneelast trägt. Auch politisch ist es heikel, wenn Sie als deutsche Firma ein polnisches Nationalsymbol bauen. Und über gmp hinaus? V M: Rein ästhetisch sehr gelungen finde ich Renzo Pianos San-Nicola-Stadion in Bari. Seine Offenheit ist konsequent. Genau damit ist es aber leider als Fußballstadion auch ungeeignet. Nach Manchester ins Old-TraffordStadion sind Sie aber noch nie mit Ihrem Enkel gefahren. V M: Nein, da habe ich bisher gekniffen.
CHAMPIONS LEAGUE dem Gipfel liegt kein Schnee. In 150 Minuten geht es los.
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Logbuch 28.01.2012 13:00
Die Tribüne füllt sich. Wie ein Schwarm Bienen auf dem Weg zur Arbeit strömen die BVB-Anhänger auf ihre Plätze. Und obwohl die Südtribüne ausschließlich aus frei wählbaren Stehplätzen besteht, zieht es jeden offenbar auf eine feste Koordinate. Es ist Ende Januar, das erste Heimspiel des BVB und überall wünschen sich die Menschen ein frohes neues Jahr. Willkommen in der Familie.
15:24 Block 10, Reihe 1: Ganz unten strömen die letzten Kuttenträger ein. Erkennungszeichen: Jeansweste, SüdtribüneAufnäher, Pils und Kippe. Ein Blick über die rechte Schulter lässt erste Zweifel am Projekt »Besteigung« aufkommen. Es ist kein Beton mehr zu sehen, nur noch Schwarz und Gelb und Köpfe und Schals und leuchtende Augen. Für einen kurzen Moment vernimmt man eine fast gespentische Ruhe. Es folgt ein festes Ritual. Stadionsprecher Norbert Dickel kündigt an: »Und bevor wir die Mannschaftsaufstellung verlesen, kommt wie immer ›You’ll never walk alone‹!« Wildfremde Menschen nehmen sich in den Arm, halten den Schal des Nebenmannes, ein Mann names »Lucky« drückt sich eine Träne aus dem Knopfloch. Man zwinkert sich wissend zu. Für die nächsten 82 Sekunden spricht die Süd mit einer Stimme: »Walk on!« Gänsehaut.
Messner, Buhl, Bonatti – die großen Bergsteiger haben die Welt bereits mehrfach von ganz oben gesehen. Wagemutig kämpften sie sich durch vereiste Steilwände und unwegsame Achttausender hinauf. Doch einen Aufstieg ließen sie alle aus: die gelbe Wand im Westfalenstadion zu Dortmund. Und wer schon einmal vor der menschenleeren Südtribüne stehen durfte, der ahnt, warum die alpinen Heroen dieses Ungetüm stets gemieden haben. Denn der bloße Anblick der scheinbar endlosen Stahlbetonkonstruktion, dieser knapp 6.900 Quadratmeter graue Bedrohung, lässt einem den Atem stocken. Man ahnt, dass hier schon bald knapp 25.000 Menschen zusammenkommen, um ihre 90-minütige Party durchzuziehen – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Versuchsanordnung ist so einfach wie waghalsig: Der Autor will die Südtribüne während eines Fußballspiels besteigen. Startpunkt ganz unten: Reihe 1, Block 10. Das Ziel liegt ganz oben: Block 84, Reihe 140. Hilfsmittel: keine. Auf Sherpas wurde bewusst verzichtet, es heißt, die »Süd« sei ein Abenteuer, dass man alleine erfahren muss. Auch das Sauerstoffgerät schaffte es nicht durch den Security-Check. Die äußeren Bedingungen sind perfekt. Die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, geringe Luftfeuchtigkeit, blauer Himmel, leichter Wind von Nordwest. Auf
15:30 Anpfiff. Der Ball rollt. Zwei Männer unterhalten sich über die wichtigen Themen: Schwangerschaften. Der eine: »Ich bin froh, dass es bei euch endlich geklappt hat. Es kann ja auch nicht jeder Schuss ein Treffer sein.« Der andere: »Ham wir noch wat auf der Karte? Ich brauch’ ’n Pils.« Man versteht sich.
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15:46 Block 10, Reihe 4: Die Reise beginnt, der Ellbogen wird zum wichtigsten Hilfsmittel. Und eines ist bereits nach wenigen Minuten klar: Wer seinen Platz auf der Süd wechselt, der fällt auf. »Du stehst aber auch nicht oft hier, oder?«, ist die meistgehörte Frage auf dieser Expedition. Und bevor man antworten kann, fällt das 1:0 durch Shinji Kagawa. Die Süd explodiert. Literweise Bier fliegt durch die Luft und landet in eiskalten Schwällen im Nacken des Vordermanns. Ein Rinnsal Gerstensaft sucht sich seinen Weg über die Wirbelsäule gen Süden. Eine Taufe nach Dortmunder Art. Halleluja.
15:55 Block 10, Reihe 13: 25.000 vollkommen Entrückte setzen zum kollektiven Pogo an. 50.000 Beine bringen den kalten Beton zum Beben. Es ist, als würden Hunderte Elefanten über die Tribüne getrieben. Dem Neuling sackt kurz das Herz in die Hose. Der Blick wandert zum Boden. Ehrfürchtig, voller Angst, suchend. Sind irgendwo Risse in den Betonstufen? Tut sich der Boden auf? Ist das Ende nah? Nein, eine Mittvierzigerin rempelt mit einem breiten Grinsen mit. Ihre Haare sind entweder vergilbt oder gefärbt, aber auf jeden Fall gelb, ihre Haut gegerbt von der Höhensonne aus der Steckdose. Als man zaghaft zurückstoßen will, bricht sie in Gelächter aus und fährt den Ellbogen aus. »Heja BVB«, brüllt sie. »Ich heiß’ Katha!« Hallo Katha.
16:01 Block 11, Reihe 31: Kevin Großkreutz erhöht auf 2:0. Er ist ein Sohn der Südtribüne. Einer, der es vom kalten Beton auf den heiligen Rasen geschafft hat. Vor nicht einmal vier Jahren hat er noch selbst hier gestanden und gehüpft, gebrüllt, gesungen. Jetzt steht er auf der anderen Seite und sorgt für den nächsten Gerstensaftorgasmus. Ein modernes
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D O R T M U N D : S I G N A L I D U N A PA R K Fußballmärchen. Die nächste Ladung Bier setzt zum Landeanflug an. Längst alles egal, längst ist man Mikrobestandteil der gelben Wand, aufgesaugt von jener gelbschwarzen Masse, die den Boden zum Beben, die Luft zum Erzittern, die Tribüne zum Leben und den Kreislauf bis an den Rande der Belastbarkeit bringt. Dieses Monster treibt jedem den Schweiß auf die Stirn. Mittlerweile wird nicht einmal mehr der bemitleidenswerte Gegner ausgepfiffen. Er ist allenfalls Statist in diesem Spektakel. Oder ehrfürchtiger Zuschauer. Kommt ganz auf den Blickwinkel an.
W E ST FA L E N STA D I O N SIGNAL IDUNA PA R K Ort: Dortmund Verein: Borussia Dortmund Architektur: Hochbauamt Dortmund Eröffnung: 1974 Letzte Renovierung: 2005 Kapazität: 80.720 Sitzplätze: 53.569 Stehplätze: 27.023 Prominente Besucher: Dietmar Bär, Marius Müller-Westernhagen, Joachim Król Halbzeitsnack: Currywurst
16:08 Block 12, Reihe 48: Willkommen im Epizentrum der Borussia-Liebe, der Wiege der Dortmunder Fankultur. Hier in Block 12 und 13 schlägt seit jeher der Puls der Südtribüne. Schlachtrufe und Gesänge finden hier ihren Startpunkt, peitschen ans Stadiondach und kommen mit doppelter Wucht zurück. Wellenförmig schwappt der Support auf die umliegenden Blöcke, ergreift irgendwann das gesamte Stadion. Für 90 Minuten scheint die Süd den Menschen die Lebenskraft aus den Körpern zu saugen, sie pumpt sie in den Verein. Ein junger Mann lässt sich mit ausgebreiteten Armen nach hinten fallen. Er fällt in ein Meer aus Händen. Sein Grinsen wandert zum Stadiondach. Da oben muss er wohnen, der Fußballgott.
Tabak, Schal und notfalls wahrscheinlich auch das Sparbuch – das ist Ehrensache. Im Hintergrund wankt ein älterer Herr im BVB-Bademantel in Richtung Toilette. »BVB is fucking crazy«, sagt Mark und beißt in seine Currywurst.
»Da war hier eine Stimmung wie auffe Beerdigung von Omma«, sagt er. Unter dem selbstgestrickten Pulli in Hummeloptik blitzt eine Bauchtasche hervor. Ein Griff, darauf erstmal eine NostalgieZigarette.
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Block 82, Reihe 85: Anpfiff zu Hälfte zwei. Willkommen auf dem jüngsten Teil der Süd. Der obere Ring der Stehtribüne wurde im Jahr 2000 aufgesetzt und erhöhte die Kapazität auf sagenhafte 24.454 Plätze. Hier kommt der Support von Block 12/13 mit voller Wucht an und trifft auf fruchtbare Kehlen. Zündstufe zwei. Hier erahnt man auch erstmals, wie beschwerlich der zweite Teil des Aufstieg werden wird. Die Gänge werden schmaler, jede Reihe ist mit einem Wellenbrecher geschützt, die Tribüne neigt sich hier bis zu 37 Grad. Wie auf einer Skisprungschanze. Ist das schon Angstschweiß oder noch Bier?
Block 84, Reihe 124: Auf den letzten Metern wird es noch einmal eng. Hier oben haben es die Menschen nicht so gern, wenn man kurz vor dem Abpfiff das Drängeln anfängt. Der faire Einsatz von Ellbogen, entschuldigende Worte und ein euphorisches Zuprosten schützen vor allzu großen Wutausbrüchen. Die Sicht auf den Gipfel ist durch eine Treppe leicht verbaut. Das, was unten auf dem Rasen passiert, ist sowieso längst Nebensache. Was zählt, ist das Projekt.
16:45 Block 83, Reihe 91: Shinji Kagawa erhöht auf 3:0. Der endlose Steilhang aus Fahnen, Doppelhaltern, Schals und Pilsbechern wogt, wankt und bebt erneut. Der bloße Anblick dieser Euphorieexplosion setzt Endorphine frei, vor denen sich niemand schützen kann. Die Hormone tanzen Rock’n’Roll.
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Block 13, Reihe 62: Halbzeit. Pause. Durchatmen. Zeit für eine Stärkung. Am Wurststand stehen zwei rothaarige Kerle in Celtic-Glasgow-Trikots. Garry und Mark sind extra aus Schottland angereist. Billigflug, 49 Euro, heute Abend geht es zurück. Wie sie da stehen mit roten Wangen und glänzenden Augen, erinnern sie an Kleinkinder im Spielzeugparadies. Man sieht ihnen an, dass sie diesen Ausflug ins Ruhrgebiet niemals vergessen werden. Doch in diesem Moment fehlen 2 Euro für die Pausenwurst. Eine unbekannte Hand reicht ihre Bezahlkarte rüber. Hier teilt man
Block 83, Reihe 103: Werner hat ein paar kleine Freudentränen in den Augen. So einen BVB hat er schon sehr lange nicht mehr erlebt. Dabei geht er seit den achtziger Jahren ins Westfalenstadion, immer auf der Süd. Darauf erst einmal eine Gute-Laune-Zigarette. Seine Zipfelmütze erinnert an die grellen Champions-League-Zeiten, jene Jahre, in denen sich der BVB seinen Erfolg auf Pump finanzierte. Ein System, dass den Klub bis an den Rande des Kollaps brachte.
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17:12 Block 84, Reihe 140: Mit durchnässter Jacke, Ketchup-Flecken auf der Hose, drei Pils intus und leuchtenden Augen ist das Ziel erreicht. 125 Stufen, 40 Höhenmeter und eine Wegstrecke von 121 Metern, die Besteigung der Süd ist gelungen. Ein Kraftakt. Die Erkenntnis: Hier auf der gelben Wand liegen Leidenschaft und Drama, Liebe und Leiden allenfalls Millimeter voneinander entfernt. 25.000 Menschen geben ihre Lebensgeschichte bei der Security ab und verschmelzen zu einer gigantischen Einheit in Schwarz-Gelb. So etwas wie die Südtribüne gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal. Und wenn man tief in sich reinhorcht, hört man eine innere Stimme sagen: »Lass uns bitte nie wieder gehen!« Ja, die gelbe Wand ist wohl die beste Tribüne der Fußball-Welt. Dieses Geständnis ist besonders schmerzhaft, denn der Autor dieser Zeilen ist Anhänger des FC Schalke 04.
MADRID: BERNABÉU
EIN AUSDRUCK VON MACHT
Als Günter Netzer 1973 zu Real Madrid wechselte, klagte Berti Vogts: »Die Gladbacher Fohlen sind nicht mehr!« Im legendären Estadio Santiago Bernabéu wurde das Wildpferd Netzer zum Nibelungen-König. Ein Gespräch über Wikinger und brechende Torpfosten
Interview: Alex Raack
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»Wenn den Zuschauern etwas nicht gepasst hat, dann war es totenstill in diesem riesigen Stadion. Das war fast noch schlimmer als Buhrufe und Pfiffe.« Günter Netzer
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MADRID: BERNABÉU
Das Bernabéu liegt direkt am Paseo de la Castellana, Madrids wichtigster Hauptverkehrsachse.
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links Der Torfall von Madrid: Am 1. April 1998 brach kurz vor Anpfiff der Partie zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund ein Tor zusammen. Das Spiel begann mit 76 Minuten Verspätung.
oben Seit 2007 gehört das Bernabéu zu den UEFAElitestadien. Der Verein nennt sein Heim bescheiden das »einzige Neun-SterneStadion der Welt«.
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Günter Netzer, von Jorge Valdano, dem ehemaligen Generaldirektor von Real Madrid, gibt es ein schönes Zitat: »Das Estadio Santiago Bernabéu hat auf mich dieselbe Wirkung wie das Meer – mir kommt es nie klein vor, immer monumental. Beide Orte atmen Größe.« Stimmen Sie ihm zu? Günter Netzer: So schön wie Jorge kann ich mich gar nicht ausdrücken. Für mich war das Bernabéu immer der sichtbare Ausdruck der Größe und Macht von Real Madrid. Kein Verein auf diesem Planeten versprüht einen ähnlichen Mythos der Größe, und dieses Stadion ist die eindrucksvolle Visitenkarte. Nach dem Aztekenstadion in Mexiko-Stadt ist das Santiago Bernabéu für mich das beeindruckendste Stadion der Welt. Sie wechselten 1973 von Borussia Mönchengladbach nach Madrid. Eine große Umstellung? G N: Auf jeden Fall. Mein Arbeitsplatz in all den Jahren zuvor war der kuschelige Bökelberg und nun durfte ich vor 125.000 Zuschauern in diesem gigantischen Gebilde spielen. Das waren neue Maßstäbe der Aufmerksamkeit, an die ich mich erst gewöhnen musste. Sie sagen »Gebilde« – war dieses Stadion für Sie als Kunstliebhaber auch ein architektonischer Genuss? G N: Nein, das nicht. Es war einfach ein monströser Bau, drei steile Ränge übereinander, einzig dafür gebaut, so viele Menschen wie möglich zu schlucken. Mit Kunst hatte das nichts zu tun. Dafür waren wir Spieler zuständig. Hat Sie die gewaltige Kulisse also zunächst eingeschüchtert? G N: Nein. Gegen diese Ausrede widersetze ich mich schon seit Jahrzehnten: Mir kann kein Spitzenfußballer der Welt erzählen, dass die Atmosphäre im Stadion seine Leistung beeinflusst. Mich hat
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das jedenfalls nie gestört. Ob vor 30.000 am Bökelberg oder vor 120.000 im Santiago Bernabéu. Die Superstars der Gegenwart werden bei ihrer Begrüßung in Madrid verlässlich von mehreren zehntausend Zuschauern erwartet. Wie war das bei Ihnen? G N: Vicente del Bosque, der ehemalige Real-Trainer, hat mir mal erzählt, was ihm durch den Kopf ging, als 2001 Neuzugang Zinedine Zidane von vielen tausend Fans begrüßt wurde: »Genau wie bei Netzer!« Als ich kurz vor der Saison 1973/74 gemeinsam mit meinen neuen Mitspielern ins Stadion spazierte, standen auf den Tribünen 25.000 Menschen und applaudierten. Niemand hatte mit diesem Ansturm gerechnet, die Leute waren alle aus eigenem Antrieb gekommen, um mich zu sehen.
totenstill in diesem riesigen Stadion. Das war fast noch schlimmer als Buhrufe und Pfiffe.
Einfluss, unter dem ein Teil der RealAnhänger ja bis heute steht, habe ich damals nichts gespürt.
Bis heute gelten die Fans von Real Madrid als sehr verwöhnt. War das auch damals so? G N: Absolut. Und daran ist die Generation um Puskas und Alfredo di Stefano schuld! Die haben in den glorreichen Zeiten der fünfziger und sechziger Jahre so unglaublich erfolgreichen Fußball gespielt, dass die Fans sich seither nur noch mit dem Besten zufriedengeben. Das ist der Anspruch, wenn du das Santiago Bernabéu zum Jubeln bringen willst: Fußball auf Weltklasse-Niveau. Alles, was darunter ist, wird in diesem Stadion schlichtweg ignoriert.
Hatten Sie eigentlich einen Spitznamen während Ihrer Zeit in Spanien? G N: Ich hatte viele. Sie nannten mich abwechselnd »El Rubio«, den Blonden, und »Nibelungo«, ein Name, der mir natürlich prächtig gefiel. Und für all die deutschen Spieler hatten die Spanier sowieso einen universalen Begriff: »Los Vikingos«, die Wikinger.
Wie erging es Ihnen dann in Ihrer ersten Saison, als Real Madrid alles andere als königlich spielte? G N: Ach, eine furchtbare Saison! Wir waren zeitweise sogar in Abstiegsgefahr und ich spielte die meiste Zeit ganz grässlichen Fußball. Ich kann mich noch gut an mein erstes Spiel erinnern. Ich verschoss einen Elfmeter. Und das Stadion machte Sie fertig? G N: Im Gegenteil. Sie applaudierten mir und munterten mich auf. Am Bökelberg hätten sie sich wahrscheinlich die Finger wund gepfiffen. Was ist Ihnen – außer den Fans – noch im Gedächtnis geblieben? G N: Der Rasen. Ein unglaublich schöner Teppich, solch eine Qualität kannte ich sonst nur von Golfplätzen. Für einen Techniker wie mich war das natürlich die ideale Arbeitsfläche. Auswärts setzten sie über Nacht ihr eigenes Spielfeld unter Wasser, damit ihre minderbemittelten Fußballer auch mal eine Chance hatten. Nicht so im Santiago Bernabéu – der Rasen war immer ausreichend feucht, weich und kurz geschnitten. Perfekt!
Das muss Ihnen doch Angst gemacht haben? G N: Von wegen! Ich nahm das ganz cool zur Kenntnis und winkte so lässig wie möglich ins weite Rund. Ich dachte, das sei nun mal so üblich bei einem großen Klub wie Real Madrid. Dabei hätte ich nur Vereinslegende Ferenc Puskas ins Gesicht schauen müssen. Der stand neben mir und bekam den Mund nicht mehr zu. So etwas hatte selbst der Major (Puskas’ Spitzname, d. Red.) noch nicht gesehen.
Als Sie 1973 nach Madrid kamen, herrschte in Spanien noch immer die Diktatur von General Franco, dessen erklärter Lieblingsverein Real Madrid hieß. Wie präsent war Franco in diesen Jahren? G N: Ich habe ihn nicht einmal im Stadion gesehen, er existierte zu dieser Zeit eigentlich schon gar nicht mehr für Real. Als ich 1976 Madrid verließ, um bei den Grasshoppers Zürich meine Karriere zu beenden, war Franco schon Geschichte. Er starb 1975. Auch vom rechtsextremen
Wirkliche Stimmungskanonen sollen die Fans aber nicht gewesen sein. Von Puskas stammt der Satz: »Wenn sie (die Zuschauer) nicht pfeifen, haben sie den Mund voll.« War es wirklich so schlimm? G N: Ich mache es nicht gerne, aber da muss ich Puskas widersprechen. Gepfiffen wurde im Bernabéu nicht. Dafür aber geschwiegen. Wenn den Zuschauern etwas nicht gepasst hat, dann war es
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Gemeinsam mit Ihrem Mitspieler José Martínez Sánchez, genannt »Pirri«, haben Sie in den folgenden beiden Spielzeiten die Massen begeistert, wurden zweimal Meister und einmal Pokalsieger. Publikumsliebling »Pirri« soll Ihnen, dem »Nibelungo«, nach schönen Pässen sogar regelmäßig Kusshändchen zugeworfen haben. G N: (lacht) Der Pirri? (lacht immer noch) Kusshändchen? Wir waren zwar gut befreundet und haben uns auf dem Platz blind verstanden. Aber zu solchen Zärtlichkeiten ist es dann doch nie gekommen. 1998 erlangte das Estadio Santiago Bernabéu noch einmal Weltruhm, als beim Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund der Pfosten brach. Waren Sie im Stadion? G N: Nein, ich saß zu Hause vor dem Fernseher, als dieses Spektakel begann. Auf dem Rasen lief mein armer Freund José Luis Serrano (damals Geschäftsführer von Real Madrid, d. Red.) auf und ab und wusste nicht weiter. Während ich dem wunderbaren Dialog zwischen Marcel Reif und Günther Jauch lauschte, wartete ich ab, was passieren würde. Ich wusste ja, dass die Ersatztore ganz weit entfernt standen, auf der Ciudad Deportiva, Reals Trainingsgelände! Wie die Madrilenen es dann schafften, die riesigen Tore durch diesen klitzekleinen Spielertunnel zu bugsieren, ist mir bis heute ein Rätsel. Eine gigantische Leistung! Vielleicht sollten sie dem Platzwart mal ein Denkmal setzen.
MADRID: BERNABÉU
Günter Netzer ist ehemaliger FußballNationalspieler, TV-Experte und Lebemann. Der 1944 in Mönchengladbach geborene Netzer verbrachte lange Jahre seiner Karriere bei Borussia Mönchengladbach und war dort die zentrale Figur der legendären »FohlenElf«, die in den siebziger Jahren den deutschen Fußball revolutionierte und zwei Meistertitel und einen Pokalsieg errang. 1973 wechselte der Mann mit den markanten blonden Haaren zu Real Madrid und wurde endgültig zum Weltstar. 1972 wurde er mit der deutschen Nationalmannschaft Europameister, 1974 Weltmeister. Heute arbeitet Netzer unter anderem für das Fußball-Radio 90elf. Seine Mönchengladbacher Diskothek »Lovers Lane«, die er in den siebziger Jahren betrieb, ist zum Bedauern vieler Fans heute geschlossen.
rechts Die Geburt der Galaktischen: Zwischen 1955 und 1960 holte Real Madrid fünf Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister.
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CHAMPIONS LEAGUE
E STA D I O SANTIAGO BERNABÉU Ort: Madrid Verein: Real Madrid Architekt: Luis Alemany Soler u.a. Eröffnung: 1947 Umbau: 1982 Letzte Renovierung: 2000 Kapazität: 80.925 Sitzplätze: 80.925 Prominente Besucher: Antonio Banderas, Penelope Cruz, Usain Bolt, Rafael Nadal Halbzeitsnack: Piñas
rechts Jorge Valdano prägte den Begriff des »miedo escenico«, jenes »Lampenfiebers«, das Spieler ergreift, wenn sie die steilen Stadionränge hinaufblicken.
ganz rechts Landesmeister-Finale 1980. 2011 beschloss Real, das Stadion umzugestalten.
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CHAMPIONS LEAGUE
DAS IST LIVERPOOL, DAS IST ANFIELD Als junger Punk wurde Campino in deutschen Stadien häufig mit ausgestrecktem rechtem Arm begrüßt. Also suchte der Sänger der Toten Hosen sich eine Ersatzheimat – und fand sie an der Anfield Road, dem Geburtsort der Fankultur.
Interview: Andreas Bock
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Campino,
L I V E R P O O L: A N F I E L D serzeilen schlängelt, diese ganze Backsteinarchitektur, Häuser, von deren Fenstern aus man Steine aufs Spielfeld schmeißen könnte. Und dann kommen sie aus der Kabine und sehen dieses Schild: »This is Anfield!« Ja, das ist Anfield! Ein historischer Ort. Liverpools Spieler schlagen vor dem Einlaufen immer einmal mit der Hand gegen das Schild, während ihnen von draußen der Chant »You’ll never walk alone« entgegenschallt. Das ist doch brillant!
Sie bezeichnen das Stadion an der Anfield Road als Ihre Kirche. In einer Kirche sucht man eigentlich Ruhe. Campino: An spielfreien Tagen. Während der Messe ist die Kirche aber voll, es gibt Gesänge und die Besucher stehen beisammen, im Gefühl, etwas Großem beizuwohnen. So wie beim Fußball? C: Wenn ich früher einen neuen Punksong hörte, bekam ich oftmals Schauer über den Rücken. Da war dieses Gefühl, etwas Fantastisches und Neues entdeckt zu haben. Das hat im Laufe der Zeit abgenommen. In Liverpool ist dieses Gefühl hingegen für mich über all die Jahre geblieben. Schon die Ankunft an der Anfield Road: Gänsehaut! Ich bin gerne zwei Stunden vor Spielbeginn da. Was ist denn der Unterschied zu deutschen Stadien? C: Du springst vom Bus, gehst vorbei an den Fish-and-Chips-Buden, dem legendären Albert Pub, den Polizisten auf ihren Pferden, den unzähligen Schal- und Fanzineverkäufern, am HillsboroughMemorial und der Bill-Shankly-Statue. Dann stehst du unter dem Shankly-Gate mit dem Slogan »You’ll never walk alone« im Torbogen. Diese vielen Schnappschüsse der Fans aus aller Welt und dieses Gewusel sind unvergleichlich. Das ist Liverpool. Das ist Anfield. Der legendäre Liverpool-Trainer Bill Shankly ließ einst ein Schild mit genau diesen Worten im Spielertunnel anbringen: »This is Anfield.« Eigentlich überflüssig, oder? C: Ähnlich überflüssig wie die Ansage eines Bono, der bei einem Konzert die Zuschauer mit »Hi, we are U2« begrüßt. Ich verstehe das als Psychotrick. Jeder Spieler weiß natürlich, dass er sich im Anfield-Stadion befindet. Soll dieses Schild auch die Besonderheit dieser Stätte und des Moments verdeutlichen? C: Absolut. Den Mannschaften weht ja schon auf dem Weg zum Stadion die Tradition des FC Liverpool entgegen. Wenn sich ihr Bus durch die engen Häu-
Wie sind Sie eigentlich zum FC Liverpool gekommen? C: Meine Mutter war Engländerin und bei uns zu Hause lief ständig der Radiosender BFBS. So kam auch ich recht früh mit englischem Fußball in Kontakt. Bald klebte ich jeden Samstag vor dem Radio und hörte mir die Spiele der Ersten Division an. Sonntags bin ich dann zu den großen Zeitungsläden am Düsseldorfer Hauptbahnhof gefahren und habe mir dort den Daily Mirror oder den Observer gekauft. Damals habe ich die Berichte und Fotos ausgeschnitten und in ein Album geklebt. Liverpool hatte ich zu meinem Lieblingsverein auserkoren.
Campino bürgerlich Andreas Frege, ist Sänger der Punkrockband »Die Toten Hosen«. Er wuchs in Düsseldorf als Sohn eines Richters und einer Lehrerin auf. Durch seine englische Mutter kam er recht früh in Kontakt mit der britischen Musik- und Fußballkultur. Gelegentlich taucht das Thema Fußball in den Liedern der Toten Hosen auf, so zum Beispiel im Song »Bayern«. Der Hit »Hier kommt Alex« war eigentlich dem Protagonisten aus dem Film »Clockwork Orange« gewidmet. Als Aleksandar Ristic zu Fortuna Düsseldorf kam, interpretierten ihn die Fans allerdings als Hommage auf den bosnischen Trainer. Campino ist Fan von Fortuna Düsseldorf und dem FC Liverpool.
Ihre Mutter und zwei Geschwister stammen aus Burnley ... C: ... andere Verwandte lebten in Wolverhampton. Seltsam, nicht wahr? Es gab auch in Düsseldorf keinen Freund, der meine Leidenschaft für die Reds teilte. Mich hatte niemand auf diesen Klub sensibilisiert. Das war meine eigene Sache, meine Welt, meine Liebe. Anfangs war es eine Fernbeziehung. Frustrierte das nicht? C: Nein, ich war acht Jahre alt und da war eine Stadt wie Dortmund genauso weit weg. 1973 änderte sich das. Die Reds gewannen das Hinspiel des UEFACup-Finals gegen Borussia Mönchengladbach mit 3:0, Kevin Keegan traf zweimal. Am nächsten Tag sah ich sein Foto auf der Titelseite der Rheinischen Post. Die Mighty Mouse schwebte durch den Strafraum und nickte ein, darunter stand der Satz: »Keegan trifft wie ein fliegender Fisch.« Das Rückspiel fand in Düsseldorf statt – und mit einem Mal war der FC Liverpool ganz nah. Warum konnten Sie sich anfangs nicht für Fortuna Düsseldorf begeistern? C: Mit 13 war ich ein Punk und lief offen so rum. Deutsche Fußballfans hatten damals ein sehr ablehnendes Ver-
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hältnis zu linken Subkulturen. Die mischten oft den Ratinger Hof auf, später dann das Domino, wo ich mich gerne aufhielt. Die Schläger vom HSV, die Borussenfront, die Hertha-Frösche und auch die Hools von Fortuna. Ich hatte das Gefühl, ich gehöre nicht zum deutschen Fußball. Ich gehörte nach England. Wann haben Sie denn Ihr erstes Spiel an der Anfield Road gesehen? C: Bevor ich mein erstes Spiel dort sah, war ich einige Male an spielfreien Tagen in Liverpool, einfach, um die Stimmung der Stadt aufzusaugen. Mit 17 bin ich schließlich von Wolverhampton zu einem Spiel gefahren. Alleine, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es war ein unglaubliches Chaos auf den Straßen und ich kam erst zur 50. Minute am Stadion an. Die Dame am Kassenhäuschen sagte: »Pretty late, aren’t you?« Dann führte sie mich um das halbe Stadion und begleitete mich zu meinem Platz. Ich war ziemlich perplex, denn alles fühlte sich so familiär an, wie bei einem Vorstadtklub. Ist das Stadion auch deswegen so ein besonderer Ort für Sie geblieben, weil es trotz der Triumphe des FC Liverpool eine gewisse Wärme ausstrahlt? C: Der FC Liverpool ist einer der traditionsreichsten und erfolgreichsten Vereine in Europa. Doch sein Zuhause ist nach wie vor ein kleines Kästchen. Manchmal scheint es, als würden sich dort alle Fans untereinander kennen. Hier findet man nichts Arrogantes, nichts Neureiches, die Leute können sich hier also gar nicht groß aufspielen, denn sie wissen, der Star ist und bleibt der Verein. Der FC Liverpool hat 18 mal die englische Meisterschaft gewonnen, 3 mal den UEFA-Cup und 5 mal den Landesmeisterpokal. Irgendwo muss man doch Prunk sehen? C: Natürlich gibt es einen Pokalraum. Trotzdem wird damit nicht groß angegeben. Schon aufgrund der Enge ist das gar nicht möglich. In den Katakomben ist alles im englischen Stil gehalten, es liegt Teppich aus; es gibt viele gemütliche Räume, große und kleine Sessel, und überall an den Wänden eingerahmte, alte, historische Zeitungsartikel. Ein paar Wände weiter befinden sich die Kabinen der Mannschaften. Es ist alles sehr nah beieinander. Man kommt sich ein bisschen vor wie in einem Wohnzimmer. Geborgen, sicher, beisammen.
CHAMPIONS LEAGUE Während draußen die Straßen verwaisen? Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sagte einmal: »Liverpool is the pool of life.« C: Ein schöner Satz. Liverpool zeigte sich mir bei meinen ersten Besuchen als hartes Pflaster. Kein Haus ohne Alarmanlage. Doch die Menschen haben eine unwahrscheinlich herzliche Art, als würden sie versuchen, das Elend der Stadt wegzulachen. Einmal wollte ich nach einem Spiel zurück zum Hotel, doch ich hatte mich verlaufen. Also stieg ich in einen Bus und fragte nach dem Weg zu meiner Bleibe. Der Fahrer sagte: »You’re completely wrong, but never mind. Just sit down!« Nachdem er seine Linienfahrt beendet hatte, fuhr er mich als einzigen Fahrgast durch die halbe Stadt bis vor mein Hotel. Das fühlte sich an wie in einem frühen Beatles-Film. Dennoch prägt dieses harte Pflaster die Umgebung der Anfield Road heute noch. Wird mit einem neuen Stadion alles besser, schöner? C: Es gibt seit über zehn Jahren Pläne, das Stadion entweder komplett umzubauen oder im angrenzenden Stanley Park ein neues zu bauen. Im Zuge dessen wurden viele Leute aus den Wohnungen geschmissen, es gibt nahe der Anfield Road ganze Straßenblocks, wo nur noch ein oder zwei Häuser bewohnt sind. Wenn dir in der Rockfield Road nachts kleine Gruppen von vermummten Jugendlichen in Trainingsanzügen entgegenkommen, ist das kein gutes Zeichen. Ob durch ein neues Stadion alles besser wird? Schwer zu sagen. Ich frage mich eher, ob ein neues Stadion überhaupt die Seele des Klubs transportieren kann. Fans von Manchester United sagen, der einzige Ort, wo man in Liverpool nicht beklaut würde, sei das Hillsborough-Memorial vor dem Anfield Stadion. C: Fans von Manchester United reden viel Mist. Tatsächlich ist das Memorial eine Stelle, wo die Leute innehalten. Es wird täglich gepflegt, eine Kerze brennt ununterbrochen. Menschen aus aller Welt kommen an diesen Ort und lassen sich hier über die Stadionkatastrophe von 1989 aufklären ... ... und darüber, warum man in Liverpool die Sun nicht kauft. C: In der ganzen Stadt prangen Aufkleber mit dem Appell »Don’t buy the Sun«. Die Zeitung gab den Fans die Schuld an der Hillsborough-Tragödie
und schrieb von Leichenfledderei. Nirgendwo, nicht mal in einer Liverpooler Fish-and-Chips-Bude, würde die Sun zum Lesen ausliegen.
Heutzutage wird das Lied »You’ll never walk alone«, das in der Fußballwelt seinen Ursprung im Kop hat, in vielen anderen Stadien gesungen. Wie fühlt sich das für Sie an? C: In England würde das nicht passieren, es ist ein Liverpool-Chant und das weiß dort jeder. Ich habe aber kein Problem damit, dass das Lied in Dortmund oder beim FC St. Pauli gesungen wird. Ich nehme es als Kompliment für Liverpool und seine Fans, die diesen Chant seit über 50 Jahren von Generation zu Generation weitergeben.
Wie hat sich die Fankultur an der Anfield Road in den vergangenen 30 Jahren verändert? C: Seit der Hillsborough-Katastrophe ist das Anfield-Stadion ein All-Seater. Natürlich ist dadurch die Stimmung nicht mehr so wie früher, doch ich kann damit leben. Denn heute ist Fußball ein gesamtgesellschaftliches Ereignis.
Sehen sich die heutigen LiverpoolFans denn immer noch in der ChantTradition der sechziger Jahre? C: Singen ist an der Anfield Road immens wichtig. Es wird nicht nur im Fanblock gesungen, sondern am Bierstand, an der Pissrinne, in den Bahnhöfen. Und das ganze Stadion singt in den Schlussminuten »You’ll never walk alone« – ganz egal, wie es steht. Jeder Spieler wird mit einem eigenen Lied bedacht. Dabei nehmen die Fans ihre Stars auch gerne mal auf die Schippe. Der Text zum Song über Peter Crouch lautete etwa: »He's big, he's red, his feet stick out of bed.«
Wie war es denn bei Ihren frühen Besuchen? C: Fußball war damals eine sehr männerlastige Angelegenheit. Englische Fans besaßen ein unumstößliches PrügelImage. Ich war 1990 beim WM-Halbfinale zwischen Deutschland und England. Das war keine gewöhnliche Rivalität, das war Krieg, bei dem es keine neutralen Beobachter gab. Natürlich hat der moderne Fußball absurde Preise und eine gediegenere Fankultur mit sich gebracht. Ich muss das auch nicht alles gut finden. Doch wenn es so weniger Verletzte und Tote gibt, kann ich diese Art Fußball auch ein Stück weit begrüßen.
Woher rührt eigentlich die besondere Spielerverehrung beim FC Liverpool? C: Ein raues Leben, aber auch Schicksalsschläge wie Hillsborough und Heysel haben die Menschen in Liverpool sehr geprägt. Oft haben sie sich gefragt, warum ein Fußballtrainer in Manchester zum Sir geadelt wird, während das Königshaus nach den Stadionkatastrophen für ihre Stadt kaum Anteilnahme bekundete. So entstand zwischen den Scousern ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine »Wir gegen alle«-Haltung. Zugleich eine Treue zu ehemaligen Spielern, die sich mit der Stadt und dem Klub identifizieren konnten. Wenn Dietmar Hamann heute durch Liverpool läuft, schlägt ihm eine ähnliche Verehrung entgegen wie Paul McCartney.
Beim FC Arsenal monieren die Fans heute eine Atmosphäre wie im Opernhaus. Es gibt sogar ein Komitee aus Vereinsfunktionären, das sich mit dem Problem der schlechten Stimmung beschäftigt. Wie ist es denn an der Anfield Road? C: Der Kop hinter dem südwestlichen Tor ist nach wie vor der Inbegriff der Fankultur. Hier entstanden in den frühen sechziger Jahren die ersten Fangesänge weltweit überhaupt. Als bei einem Nebelspiel ein Tor auf der anderen Seite fiel, sangen die Fans aus dem Kop: »Who scored the goal, who scored the goal?« Die Gegenseite antwortete: »Tony Hateley!« C: Es war auch aufregend, weil es rough war. Vor 1989 war es manchmal so eng im Kop, dass man nicht mal zur Toilette gehen konnte. Viele Fans pissten also in ihre Bierbecher und reichten die nach unten durch. Das gibt es heute nicht mehr. Auch der Kop besteht ausschließlich aus Sitzplätzen. Dennoch ist die Stimmung super, schließlich stehen die Fans im Kop auch heute noch ununterbrochen vor ihren Sitzen.
Viele Vereine glauben, mit ihren Stadien eine Gleichheit der Besucher zu suggerieren. Wie ist es an der Anfield Road? Gibt es dort Hierarchien? C: Natürlich gibt es Plätze für Besserverdiener, es gibt VIP-Bereiche und Plätze für die normalen Gäste. Letztlich hat man aber durch die Gesänge viel eher das Gefühl, dass es in den 90 Minuten um eine Gemeinschaft geht. Denn hier feuern alle ihr Team an, vom Arbeiter bis zum Anwalt. Einige outen sich dabei als
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Wochenendfans, wenn sie gerade mal den Text von »You’ll never walk alone« draufhaben, andere als Hardcore-Fans, wenn sie jeden Text von »The Fields Of Anfield Road« oder »Scouser Tommy« mitsingen. Doch letztendlich ist das egal. Es wird niemand schief angeguckt, wenn er Textschwächen hat. Bei welchem Spiel war es denn am lautesten? C: Vielleicht beim Champions-LeagueHalbfinale 2005 gegen den FC Chelsea. Das beste Spiel, das Sie je im Anfield gesehen haben? C: Da gab es mehrere. Aber dieses gehörte auch dazu. Wir gewannen durch ein Tor von Luis Garcia und standen im Finale der Champions League. Ich saß beim Endspiel gegen den AC Mailand inmitten der Hardcore-Fans. Didi versenkte seinen Elfmeter mit gebrochenem Fuß. Wir flogen zurück nach Liverpool, wo die Hölle los war. Die Menschen saßen auf den Dächern und jubelten. Die ganze Stadt in Rot. So in etwa muss die Ankunft der Beatles verlaufen sein, als sie einst von ihrer Amerika-Tour heimkehrten. Sie pflegen zu mehreren Spielern des FC Liverpool eine enge Freundschaft. Sami Hyypiä hat Sie einmal gefragt, ob die Toten Hosen bei seinem Abschiedsspiel in der Anfield Road auftreten würden, wenn es dazu käme. Sie haben abgelehnt. Warum? C: Ich habe das nicht abgelehnt, sondern Sami angeboten, dass wir nach dem Spiel in einer Kneipe auftreten, wenn er dort weiterfeiert. Ich möchte meinen Job nicht in einer Kirche ausüben. Es wäre schlichtweg eine Nummer zu groß. Anfield ist ein heiliger Ort.
L I V E R P O O L: A N F I E L D links Gerry (Marsden) machte mit seinen »Pacemakers« den Song »You’ll never walk alone« zur AnfieldHymne.
Mitte links Einst bot das AnfieldStadion mehr als 61.000 Zuschauern Platz. Heute hat es ein Fassungsvermögen von rund 45.000.
unten rechts Bill Shankly sagte einmal: »Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Kop den Ball ins Tor saugt.«
rechts Der Spielertunnel: Bevor die »Reds« das Feld betreten, klopfen sie auf das Schild »This is Anfield«.
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CHAMPIONS LEAGUE rechte Seite Früher soll es im Kop so eng gewesen sein, dass die Fans in Plastikbecher pinkelten.
links oben Am Stadion befinden sich viele Pubs und Fish&Chips-Buden.
rechts oben »The Kop« galt einst als lauteste Stehplatztribüne Europas.
links unten
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Der Kurven-Klassiker »You’ll never walk alone« wurde in den Sechzigern hier erfunden.
William »Bill« Shanky, der wohl populärste aller Liverpool-Trainer.
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»Alles fühlt sich so familiär an ... Man kommt sich ein bisschen vor wie in einem Wohnzimmer geborgen, sicher, beisammen.«
ANFIELD Ort: Liverpool
Campino
Verein: FC Liverpool Architekt: Archibald Leitch Eröffnung: 1884 Letzte Renovierung: 1994 Kapazität: 45.362 Sitzplätze: 45.362 Prominente Besucher: Campino, Dr. Dre Halbzeitsnack: Meat Pie, Sausage Rolls
Das Stadion liegt eingebettet im trostlosen Stadtteil Anfield mit seinen zahlreichen Terraced Houses.
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E R ST E L I G A
MITTENDRIN UND NICHT DABEI Ăœber 30 Jahren war Renate Kressin bei jedem Heimspiel von Hertha BSC im Berliner Olympiastadion. Und doch hat sie in all der Zeit kaum ein Spiel gesehen. Denn als Chefkassiererin arbeitete sie jedes zweite Wochenende in den Katakomben des Stadions. Text: Benjamin Kuhlhoff
B E R L I N : O L Y M P I A S TA D I O N
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E R ST E L I G A
»Natürlich fühle ich mich hier ein bisschen zu Hause. Es ist das schönste Stadion der Welt.« Renate Kressin
ehn Minuten vor dem Anpfiff zuckt Renate Kressin kurz zusammen. Es ist, als empfange sie ein Signal. Sie dreht sich um. Sie muss jetzt gehen. Wieder einmal. So wie alle zwei Wochen. Seit über 30 Jahren. Es ist ihr Job. Sie verlässt die Ostkurve, drückt zum Abschied noch einmal die umstehenden Kumpels. Die Jungen, die Alten, allesamt in Kutten gehüllt, als sei es ihre zweite Haut. Hastig erhöht sie ihre Schrittfrequenz. Immer raus aus dem Stadion. So, als sei sie falsch gepolt. Denn Hunderte andere kommen ihr entgegen, so gehetzt wie man eben geht, wenn man sich auf ein Fußballstadion zubewegt. Wenn man bloß nichts verpassen möchte. Los, los. Auch Renate Kressin hat es eilig. Sie wird allerdings alles verpassen, mal wieder, denn sie muss wieder an die Arbeit. Die kleine dunkelhaarige Frau ist zwar seit über 30 Jahren bei jedem Heimspiel von Hertha BSC im Olympiastadion. Und doch hat sie in all den Jahren kaum ein Heimspiel gesehen. Dabei ist Renate Kressin – rund um das Olympiastadion besser als HerthaRenate bekannt – vermutlich der größte Fan der alten Dame. Aber sie ist hauptberuflich eben auch noch die Chefkassiererin des Vereins, Neudeutsch: Ticketmanagerin, das Mastermind der Eintrittskarten sozusagen, letzte Prüfinstanz und gute Seele in einem. Und deshalb sitzt sie pünktlich um 15:30 Uhr wieder in ihrem Keller vor dem Osttor und zählt Geld. Vom Spiel bekommt sie hier nur etwas mit, wenn die Ostkurve explodiert. Das kommt in diesen Tagen selten vor. Es ging der Hertha schon einmal besser. Heute ist Hannover 96 zu Gast. Selbst die Niedersachsen sind mittlerweile zu groß für den Hauptstadtklub. Gerade jetzt könnte der Verein Fans wie Renate gebrauchen. 100 Prozent loyal, 100 Prozent leidensfähig. Doch das geht nicht. Ihr Job geht vor.
Das Stadion wurde 2006 vom Architekturbüro gmp umgebaut. Die blaue Tartanbahn war ein Wunsch von Hertha BSC.
Renate Kressin wurde 1947 in Berlin geboren. Mit ihrem kleinen Bruder ging sie erstmals zur Hertha und arbeitete schon bald als Mädchen für alles. Schließlich war sie über 30 Jahre Hauptkassiererin im Olympiastadion. Seit Juni 2012 ist sie in Rente und kann endlich auch mal ein Spiel ihrer Hertha sehen.
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O LY M P I A STA D I O N Spitzname: Deutsches Wembley Ort: Berlin Verein: Hertha BSC Architekt: Werner March Eröffnung: 1936 Letzte Renovierung: 2000–2004 Kapazität: 74.244 Sitzplätze: 74.244 Prominente Besucher: Otto Schily, Volker Schlöndorff, Christian Ulmen, Wolfgang Thierse, Sabine Christiansen Halbzeitsnack: Bratwurst
Über dem Olympiator, dem heutigen Haupteingang an der Ostseite des Stadions, hängen die fünf olympischen Ringe. Sie erinnern an die Olympischen Spiele 1936, für die das Stadion gebaut wurde.
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MÜNCHEN: ALLIANZ ARENA
Text: Alexander Gutzmer
DIE MAGIE DES RUNDEN IM RUNDEN Mit der Münchner Allianz Arena schufen
Herzog & de Meuron ein Fußballstadion neuen Typs. Architektur und Fassadentechnologie verschaffen dem Bautypus Stadion eine bleibende Rolle im gesellschaftlichen Formenkanon. Und guter Fußball wird auch darin gespielt. Eine stadionphilosophische Betrachtung
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Jacques Herzog (links) & Pierre de Meuron (rechts) Sie sind die Konzeptstars der momentanen Architekturszene. Die Architektur des von Jacques Herzog und Pierre de Meuron 1978 gegründeten Baseler Büros ist intellektuell und analytisch. Bekannt wurden Herzog & de Meuron durch die Umgestaltung der Bankside Powerstation zur Tate Modern in London. Das Pekinger Olympiastadion »Birds’ Nest« sorgte für Aufsehen.
rechts Die Arena liegt in der Fröttmaninger Heide im Norden Münchens.
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s ist, man kann das schon so sagen, das ultimative Fußballstadion. Nicht sosehr wegen seiner Atmosphäre – die ist zwar gut, aber nicht unbedingt besser als in anderen funktionierenden Fußballstadien. Doch die Allianz Arena im Norden Münchens hat eine Eigenschaft von Stadien besser verstanden und konsequenter umgesetzt als die meisten, auch die meisten neuen Arenen: nämlich jene des Stadions als singuläres bauliches Objekt. Ein Stadion steht zunächst einmal für sich allein; seine inneren Prozesse sind immer präsenter als die Einbettung in die Funktionen der Stadt. Jeder Plan für einen Stadionneubau bietet daher die Chance, eine große, souveräne, auf prägnante Weise einfache Form in die Landschaft zu setzen. Genau das schafften Herzog & de Meuron mit der 2005 eröffneten Allianz Arena. Die nahezu runde Form dieser Fußballschüssel und natürlich auch die in drei Farben schillernde Außenhaut suchen in Ausdrucksstärke und einfacher Geste ihresgleichen. Dieses Stadion wirkt nicht wie eine amorphe, rein dienende Struktur, sondern wie ein selbstbewusstes Objekt. Es ist das Pendant zum Ball, jener radikal reduzierten Rundform, aus der der Fußball seine gesamte Dynamik zieht. Der Ball ist die kleinste Einheit des Fußballs, das Stadion die größte – und die Münchner Arena vielleicht deren konsequenteste Verkörperung. Möglich wurde diese Konsequenz auch deshalb, weil städtebaulich die Aufgabe der Architekten in gewisser Hinsicht einfach war. Es gab nämlich kein nennenswertes städtisches Umfeld. Das bestätigt auch Architekt Jacques Herzog: »Im Fall der Allianz Arena handelte es sich um einen Nicht-Ort, eine städtebauliche Leerstelle ohne wichtige Bezugspunkte. Es gab lediglich einen großen Müllberg mit einem Windrad und eine Autobahnkreuzung.« Angesichts dieser Lage ist es nur konsequent, ein Stadion so formenstark
CHAMPIONS LEAGUE und zugleich so introspektiv zu bauen wie die Allianz Arena. Natürlich ist der Landschaftspark schön, den die Planer mit einer begrünten Esplanade über dem größten Parkhaus Europas realisierten. Dennoch: Das Stadion selbst muss sich nicht auf seine Umgebung beziehen und keine komplexen Interaktionen zwischen Stadion und etwaigen anderen Gebäuden herstellen oder managen. Folgerichtig gewährt die Arena keine besonderen Einblicke nach außen – und von außen lange keine Indizien ihrer inneren Struktur. Die je nach Fußballspiel in Rot (wenn der FC Bayern spielt), Blau (TSV 1860) oder Weiß (Nationalteam) schimmernde Fassade aus luftgefüllten ETFEKissen eröffnet keine Blicke ins Innenleben. Sie symbolisiert dieses vielmehr – wie ein Bildschirm, auf dem verheißungsvolle, aber rätselhafte Filme ablaufen.
gegnerische Teams treffen hier aufeinander, mit dem einzigen Ziel, das je andere Team im Rahmen bestehender Regeln auseinanderzunehmen. Mal abstrakter, mal leider auch sehr konkret und regellos gilt dieses Ziel auch für die Anhängerschaften. Diese Gegnerschaften gilt es planerisch zu inszenieren, aber auch zu kanalisieren. Herzog: »Fußballstadien sind Kampfstätten zweier Teams mit den dazugehörigen Fangruppen, die in speziell gekennzeichneten Sektoren das Spiel verfolgen. Die Zuschauer sitzen viel steiler, sie befinden sich damit noch näher am Kampfgeschehen als im Leichtathletikstadion, das noch ganz in der antiken Tradition steht. Unsere Fußballstadien sind fast wie Innenräume konzipiert, die zu eigentlichen Wahrnehmungsmaschinen werden.«
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Doch Stadien wie die Allianz Arena sind nicht nur Wahrnehmungsmaschinen, sie sind auch gesellschaftliche Selbstfindungsmaschinen. Und dabei wirken genau die erwähnten Gegnerschaften. Stadien, könnte man sagen, übersetzen das (zumindest in Marktwirtschaften) gesellschaftliche Grundprinzip der Konkurrenz ins Fußballerische – und damit in eine nahezu volksreligiöse Region. Genau hierin gewinnen sie ihre gesellschaftliche Zentralität. Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt diesen Vorgang so: »Die Spaltung eines Kollektivs in Sieger und Nicht-Sieger entwickelt sich zum zentralen Sakrament des modernen Ereigniskults.«
ichtig und architektonisch konsequent umgesetzt ist das Management der Emotionen des Besuchers. Den Architekten gelang es, das für Fußballfans typische, schrittweise Ansteigen der Herzfrequenz architektonisch zu begleiten. Jacques Herzog erklärt dazu: »Nicht nur im Innenraum, auch auf der Promenade in Richtung der Eingänge setzen wir die Besucherströme geradezu gestalterisch ein: Die Menschen steigen auf Treppen aus dem Parkhaus auf eine imposante Oberfläche empor. Dort angekommen, vereinigen sie sich mit anderen Zuschauerströmen und pilgern gemeinsam zu ihrem Ziel, dem Stadion.« Dort erreicht die Betriebstemperatur des Besuchers ihren Höhepunkt – wofür nicht zuletzt die bis heute vorbildlich steilen Ränge sorgen. Dieses Stadion erfüllt architektonisch alle Voraussetzungen, um sich in das zu verwandeln, was Fußballreporter ehrfürchtig einen »Hexenkessel« nennen. Grundvoraussetzung für das Aufheizen bis zum Siedepunkt beim Siegtor oder Abpfiff: Das Prinzip der Konkurrenz, das kaum irgendwo so in Reinform gelebt wird wie in einem Fußballstadion. Zwei
Aber: Die Stadionerfahrung bleibt bei der Gegnerschaft nicht stehen. Denn, so Sloterdijk: Mit dem Sakrament im Stadion »wird die Einfühlung in den Sieger zu einer Hauptübung der sozialen Affektivität erhoben«. Das heißt: Zwar steht am Beginn die Gegnerschaft. Doch am Ende hat, vermittelt durch die architektonische Aura des Stadions, auch der Besiegte Teil an der affektiven Aufgeladenheit des Sieges und des Siegers. Die Aura des Stadions wertet laut Sloterdijk alle auf. Macht dies Stadien aber zu Zentralpunkten unserer spätmodernen Gesellschaften? »Finden« wir uns in Stadien? Nicht wirklich. Am Ende ist das Stadion – jedes Stadion – soziologisch gesehen eher ein Kontrapunkt zu den Funktionsweisen der Gesellschaft. Nicht nur, weil wir in ihm »mal so richtig die Sau rauslassen« können. Von seiner ganzen Grundfunktionsweise her bildet ein Stadion
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unsere Zeit nicht ab, sondern bezieht eine Gegenposition zum gesellschaftlichen Mainstream. In ihm findet all das statt, was im Normalfall nicht mehr stattfinden darf.
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nd zwar nicht erst seit heute. Peter Sloterdijk sieht revolutionäres Potenzial schon in den Vorläufern des im frühen 20. Jahrhundert einsetzenden Stadionbooms – dem Bayreuther Festspielhaus etwa oder dem Roten Platz in Moskau. Sie sind für ihn Orte, in denen eine dem gesellschaftlichen Megatrend der Dezentralisierung entgegenlaufende »Rezentralisierung« stattfindet. Wenn Gesellschaft sich atomisiert, bilden die neuen Versammlungsorte einen Gegenpol. Allerdings macht diese natürlich die fundamentale gesellschaftliche Dezentralisierungstendenz der Moderne nicht komplett rückgängig. Zentralität wird in ihnen nur zeitweise erreicht. Sloterdijk drückt es so aus: »An solchen Orten walten Agenten ihres Amtes, Zentralität zu simulieren.« Und zwar in der puren Kraft des Megaevents, aus dessen Anlass heute mehr denn je Massen in Stadien zusammenströmen. Diese Simulation ist ein Kontrapunkt zur Dezentralitätsannahme, auf der unsere gesamte Wirtschaft aufbaut und deren Wirkmacht durch das Internet noch einmal potenziert wurde. Vielleicht genau deshalb zieht es uns in Stadien – zu Fußballspielen genau so wie zu Popkonzerten, religiösen Kundgebungen, den Darbietungen von Comedians oder zu Kollektivtrauerfeiern (Stichwort Robert Enke). Vielleicht versuchen wir mit unserem Besuch im Stadion ein Statement gegen die Dezentralität und die Virtualität – eines, das uns mit knapp 70.000 anderen Menschen verbindet (genau 69.901 Besucher fasst die Allianz Arena). Dass unsere Nähe zu den vielen anderen simuliert ist, tut dieser Argumentation keinen Abbruch. Denn die entwickelten Emotionen sind echt.
MÜNCHEN: ALLIANZ ARENA
DACHAUFSICHT
D E TA I L FA S S A D E oben Architektonische Chimäre: Das Stadion passt sich den Farben der Heimmannschaften an. Weiß steht für Länderspiele.
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★ ★ ★
Architektur der
Emotionen ★ ★ ★
Die Faszination FuSSball funktioniert nur in Kombination mit dem legendären Ort, dem Stadion, dem Club, den Menschen.
Die besten und schönsten Fußballstadien der Welt und ihre einzigartigen Geschichten Fußballlegenden und ihre ganz persönlichen Highlights aus den Stadien Spannende Interviews, packende Reportagen und amüsante Selbstversuche Das Zusammenspiel von Architektur und Fußball – erzählt von den Machern der Zeitschrift 11FREUNDE und des Architekturmagazins Baumeister 192 Seiten Arenafeeling für jeden Architekturund Fußballfan
ISBN 978-3-7667-1969-0
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mit Rudi Assauer, Jacques Herzog, Hansi Müller, Marcel Reif und anderen www. ca llwey. d e