GARTEN+LANDSCHAFT 8/2020

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AUGUS T 2020

MAGAZ I N F Ü R L ANDSC HAF T SARC HI TEK TUR U ND S TADT P L AN UN G

GARTEN +

LANDSCHAFT

ZURÜCK AUF LOS: PLANEN IN ZEITEN VON CORONA

plus

Spezial zum Baukulturbericht 2020/21 – Öffentliche Räume


E D I T ORIAL

Doris Kleilein und Friederike Meyer wären jetzt eigentlich in Los Angeles und würden dort ihre Fellowships am Thomas Mann House absolvieren. Stattdessen sind sie wieder in Berlin. Im Fellow-Homeoffice. Der weltweite Ausbruch des Coronavirus machte – wie so vielen – auch den beiden Architektinnen einen Strich durch die Rechnung. Sie mussten ihren Aufenthalt in den USA abbrechen und sind seit März zurück in Deutschland. Ihr Forschungsfeld haben sie kurzerhand der Situation angepasst: Sie untersuchen die Auswirkungen von Covid-19 auf die Stadtentwicklung. Das Thema, das auch wir in der vorliegenden Ausgabe diskutieren. Farbig markierte Kreise helfen den Besucherinnen und Besuchern des Mission Dolores Parks in San Francisco die Abstandsregeln einzuhalten.

Alles zu den Corona-Projekten ab Seite 20.

Feststeht: Die Folgen von Corona werden uns noch sehr lange begleiten. Deshalb müssen wir Planerinnen und Planer uns die Frage stellen, wie wir langfristig auf die neuen Herausforderungen reagieren und welche Verantwortung wir übernehmen. Hierfür kommen in diesem Heft die Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin selbst zu Wort: Unter anderem beziehen bbzl Landschaftsarchitekten Position. Und natürlich auch Doris Kleilein und Friederike Meyer. Sie haben wir im INTERVIEW ZU IHREN ERSTEN FORSCHUNGSERKENNTNISSEN befragt.

Doris Kleilein und Friederike Meyer lesen Sie ab Seite 16.

Die Auswirkungen der Pandemie sind dramatisch, gleichzeitig wurden sie von Beginn an auch als Chance erkannt. Die Schockstarre, in die uns die Corona-Pandemie zu Beginn versetzte, wich binnen weniger Tage nach dem Lockdown kreativer Energie. Weltweit tüftelte man an Innovationen, die den Virus und seine Folgen bekämpfen sollten. Ob der Gesichtsschutz von BIG, Foster+Partners und HENN, die modulare Intensivstation von Carlo Ratti oder der Ausbau von Rad- und Fußwegen in Berlin Brüssel, Mailand und Paris – die internationale Planungsdisziplin versucht, ihren Beitrag zu leisten. EINE ÜBERSICHT DER SPANNENDSTEN PROJEKTE IM ÖFFENTLICHEN RAUM HAT FÜR UNS JULIANE VON HAGEN ZUSAMMENGESTELLT.

Unsere Kolleginnen von NXT A, dem jungen Architekten Netzwerk, haben ganz konkret gefragt: Wie könnte die PostCorona-Stadt aussehen? Vor einigen Wochen haben sie gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr den POST-CORONA-CITY-IDEENWETTBEWERB ausgerufen. Ausgewählte Einreichungen präsentieren Ute Strimmer und Isa Fahrenholz ab Seite 44. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, können noch bis zum 10. August 2020 unter nxt-a.de die vielseitigen Ideen im Rahmen des Readers-Award bewerten. Wir sind gespannt, wie Sie abstimmen und wohin uns die nächsten Monate führen. Coverbild: © Andy Day/ParkourONE

Das Interview mit

Stimmen Sie über die Einreichungen zum Post-CoronaCity-Ideenwettbewerb ab. Alles hierzu ab Seite 44.

THERESA RAMISCH REDAKTION

t.ramisch@georg-media.de

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INHALT

AK TUELLES 06 11 12

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SNAPSHOTS MOMENTAUFNAHME Motorisiertes Wohnzimmer SPEZIAL: BAUKULTURBERICHT 2020/21 Anwalt für den öffentlichen Raum

STADTPLANUNG & CORONA

Renate Künast und Michael Scheer schreiben über den grünen Bonus unserer Städte: Urban Gardening

Zurück auf los: Planen in Zeiten von Corona

bietet Raum für Naherholung, sozialen Austausch, das Gefühl von

16

„WIR BRAUCHEN MEHR MUT IN POLITIK UND VERWALTUNG“

20

MENSCH ÄRGERE DICH NICHT

Versorgungsresilienz und belebt landwirtschaftliche Kompetenzen.

27 28

31 32 34 38 40 44

Doris Kleilein und Friederike Meyer über die notwendigen Veränderungen in der Planung und die resiliente Stadt der Zukunft Mailand, Brüssel, Paris, München, San Francisco: Zu den Projekten, die als Maßnahmen in den öffentlichen Stadt- und Straßenräumen entstanden sind KOMMUNEN UNTER DRUCK

Kommentar von Landschaftsarchitektin Gesa Loschwitz-Himmel BETEILIGUNG IN DIGITALEN ZEITEN

Marieluise Brandstätter und Florian Kluge von nonconform zeigen wie die Krise zu neuen Partizipationsverfahren anregt „DOPPEL-BOOSTER“ FÜR DIE BAUWIRTSCHAFT

Kommentar von Wirtschaftsjournalist Daniel Schönwitz CHANGE THE GAME

Essay von Jessica Mankel zu Banksy und den Helden unserer Gesellschaft FREIRAUM ALS PROTAGONIST

Was sich aus der Krise lernen lässt: Das Berliner Büro bbzl bezieht Position

„DIESES EUPHEMISTISCHE GEHABE GEHT MIR AUF DEN SENKEL“

Scheitern üben: Im Interview mit Martin Rein-Cano, Topotek 1 EVERGREEN URBAN GARDENING

Renate Künast und Michael Scheer über den Wert urbaner Gärten IDEEN FÜR DIE POST-CORONA-CITY

Zehn nominierte Projekte: Zum Wettbewerb des Architektennetzwerks NXT A und des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr

STUDIO 52

LÖSUNGEN Bodenbeläge im Außenbereich

58

REFERENZ Stadtlichtung für Düren

60

NEW MONDAY TERRA.NOVA Landschaftsarchitektur

RUBRIKEN 62

Impressum

62

Lieferquellen

63

Stellenmarkt

64

DGGL

66

Sichtachse

66

Vorschau

Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e.V. (DGGL) Wartburgstraße 42 10823 Berlin www.dggl.org

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ANWALT FÜR DEN ÖFFENTLICHEN RAUM Mit dem „Baukulturbericht 2020/21 – Öffentliche Räume“ macht die Bundes­stiftung­Baukultur­eine­Bestandsaufnahme:­Sie­definiert­die­derzeitigen­­Herausforderungen­von­­Freiräumen,­zeigt­Best­Practices,­liefert­ Handlungsempfehlungen und geht so in Verteidigungsstellung für den öffentlichen­Raum.­Anne­Fischer­fasst­für­uns­das­136-Seiten-Papier­zusammen.

AUTORIN Anne Fischer ist freie Journalistin und Texterin. Sie lebt und arbeitet in Dresden.

SPEZIAL: BAUKULTURBERICHT 2020/21

ANNE FISCHER

Der Baukulturbericht erscheint alle zwei Jahre. Die Bundesstiftung Baukultur versteht ihn als Statusbericht sowie als politischen Forderungskatalog. Denn er leitet aus Best Practices, Expertengesprächen sowie Ergebnissen aus Bevölkerungs-, Kommunal- und IHK-Umfragen konkrete Handlungsempfehlungen ab. Diese richten sich neben der Politik auch fachübergreifend an die Akteurinnen und Akteure der Branche, also Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, Architekten, Ingenieurinnen und Planer sowie Bauschaffende. Angesichts des klimatischen und demografischen Wandels und neuer Mobilitätsformen fragt die Bundesstiftung Baukultur im aktuellen Bericht: Wie können wir frei zugängliche Orte zukunfts- und menschengerecht neu- oder umgestalten? Sie will dabei Aspekte wie Infrastruktur, Stadtmöblierung, Außenwerbung, Mobilität, Sicherheit, Gesundheit und demokratische Teilhabe bedenken. WARUM ÖFFENTLICHE RÄUME?

Hochwertige Freiräume definiert die Stiftung folgendermaßen: „Attraktive Städte und Orte sind lebendig, sicher, nachhaltig und gesund. Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl gut gestalteter öffentlicher Freiräume aus, die Begegnungen ermöglichen und den Austausch fördern. Freiräume bilden die elementare und dauerhafte Struktur einer Stadt, in der sich ihr Charakter und Rhythmus zeigen.“ Öffentliche Räume tragen maßgeblich zur Lebensqualität bei und sind urdemokratisch, werden aber häufig maßlos unterschätzt. Parks, Plätze, Sportanlagen, aber auch Brücken, Straßen und Wege sollten als „Gemeinschaftsgut“ funktional und gestalterisch verbessert werden. In Corona-Zeiten zeigt sich, wie wichtig frei zugängliche Orte in der direkten Umgebung sind, an denen Bürger sich gern aufhalten.

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STATUS QUO DES ÖFFENTLICHEN RAUMS IN DEUTSCHLAND

Die hohe Nachfrage an bezahlbarem Wohnraum ist in großen Städten ungebrochen und führt nicht selten zur Massenbebauung, bei der zulasten des Ortsbilds an der Gestaltung gespart wird. Urbanes Bevölkerungswachstum bedeutet auch: intensiver genutzte Straßen, Plätze und Grünanlagen sowie mehr Verkehr. Und damit Nutzungskonflikte auf den vorhandenen Flächen zwischen den verschiedenen Zielgruppen. Das kommunale Verantwortungsbewusstsein für öffentliche Räume ist ausbaufähig, denn häufig sind Zuständigkeiten auf mehrere Ämter oder Institutionen verteilt. Dazu kommt ein Gewirr aus Verfügungs- und Nutzungsrechten. Vielerorts ist eine Verschiebung zu beobachten: Ehemals konsumfrei nutzbare Flächen werden auf ein zahlendes Publikum ausgerichtet, zum Beispiel durch Sondernutzungsrechte zur Bewirtschaftung im Freien oder für Großveranstaltungen. Flächenmäßig ist der öffentliche Raum in den letzten Jahren geschrumpft (um rund 1,5 Prozent von 2000 bis 2014), unter anderem, weil Kommunen große Teile verkaufen, um ihre Finanzen aufzubessern. Damit entstehen Hybridräume im Spannungsverhältnis zwischen kommunal und privat. Um Konflikte in solchen Räumen zu vermeiden, greifen Kommunen häufig auf städtebauliche Verträge zurück – die den Nachteil haben, dass sie nur mit großem Aufwand angepasst werden können, etwa für zeitlich befristete Nutzungen durch Bürgerinitiativen. Auf dem Land kommt der sogenannte Donut-Effekt zum Tragen: Wenn Kommunen nur am Ortsrand Wachstumsanreize schaffen, verlieren die Ortszentren an Lebendigkeit. Sehr unterschiedlich ist die städtische Vegetation ausgeprägt. Sie verdient besondere Beachtung, nicht nur unter Klimaschutzaspekten, sondern auch, weil Stadtgrün, Parks und Grünanlagen sowie unversiegelte Flächen den Stress der Bürger minimieren, zu


AKTUELLES SPEZIAL: BAUKULTURBERICHT 2020/21

Öffentliche Räume des Baukulturberichts Bundesstiftung Baukultur auf Basis von PlanSinn 2019

öffentlich zugängliche Innenräume Übergänge Durchgänge Unterführungen

zum Beispiel Einkaufszentren oder Bahnhöfe

öffentlich zugängliche (Frei-)Räume von Gebäuden

Plätze

Parks, Gartenanlagen, Spiel- und Sportflächen

Straßenräume

öffentlich zugängliche Freiräume

Wie können wir frei zugängliche Orte zukunftsund menschengerecht neuoder umgestalten? Der Baukulturbericht 2020/21 liefert Handlungsempfehlungen.

Grafik: © Bundesstiftung Baukultur; Design: Heimann + Schwantes

Der Donut-Effekt Bundesstiftung Baukultur 2016

ihrer Gesundheit beitragen und Hitzestress mildern. Vielen deutschen Städten fehlen für Fußgänger dimensionierte Straßenräume, auch die Bewegungsförderung im Stadtraum ist ausbaufähig.

Grafiken: Heimann + Schwantes / Bundesstiftung Baukultur

BEST PRACTICES IN DEUTSCHLAND

Zwölf städtebaulich vorbildliche Freiraumprojekte hat die Stiftung bei einer bundesweiten Recherche als Beispiele ausgewählt. Darunter sind: • Das Werksviertel am Münchner Ostbahnhof, das Arbeiten, Handel, Kultur und Wohnen nebeneinander ermöglicht, mit belebten Erdgeschossen durchlässige, öffentliche Räume schafft und teils informelle Nutzungen zulässt • Der Baakenpark in Hamburg, ein aus dem Nichts geschaffener, öffentlicher Raum am und im Wasser mit gestalterisch und technisch integriertem Hochwasserschutz, in dem sich Nutzungsprofile überlappen • Die Gropiusstadt in Berlin, wo mit Fördermitteln aus dem Programm Zukunft Stadtgrün die Grün- und Freiräume neu geplant und umgebaut wurden, wobei Landschaftsplaner, Quartiersmanagement, Bezirksamt und Wohnungsunternehmen eng kooperierten • Das Gelände rund um den Hauptbahnhof in Erfurt, ein „repräsentativer Stadteingang“ mit eigens entworfenem Stadtmobiliar und der Integration von ÖPNV, PkwTiefgarage und Fahrradparkhäusern • Ein Shared Space für Fußgänger, Fahrradfahrer, Autos und Straßenbahn auf dem Vorplatz des Pharmakonzerns Merck in Darmstadt, der als Teil seiner Corporate Identity diesen teilöffentlichen Raum gemeinsam mit der Stadt entwickelte

Aussterbende Gemeinde (Donut-Effekt)

Vitale Gemeinde (Krapfen-Effekt) Der­Donut-Effekt:­Wenn­

Kommunen nur am Grafik: © Bundesstiftung Baukultur; Design: Heimann + Schwantes Ortsrand Wachstumsanreize­schaffen,­ verlieren die Ortszentren an Lebendigkeit.

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„WIR BRAUCHEN MEHR MUT IN POLITIK UND VERWALTUNG“ Ein endloser autofreier Sonntag – so empfanden Doris Kleilein und­Friederike­Meyer­den­Corona-Alltag­Mitte­März­in­Berlin.­ Seitdem haben die Architektinnen ein neues Forschungsfeld aufgetan: die Auswirkungen von Covid-19 auf die Stadtentwicklung. Denn dass die Pandemie die Planung nachhaltig beeinflussen­wird,­ist­den­beiden­klar.­Wir­haben­mit­ihnen­ darüber gesprochen, welche Veränderungen nötig sind und wie die resiliente Stadt der Zukunft aussieht. INTERVIEW: VERA BAERISWYL

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STADTPLANUNG & CORONA INTERVIEW ZUM TITELTHEMA

Doris Kleilein, Friederike Meyer, Sie beide sind von der Corona-Pandemie konkret betroffen. Statt in den USA verbringen Sie Ihr Fellowship in Deutschland. Sie haben auch Ihr Thema angepasst und untersuchen neu die Stadtentwicklung nach Corona. Warum gehen Sie davon aus, dass es einen Unterschied­geben­wird­zwischen­Stadtentwicklung vor und nach Corona?

Wir waren, wie alle, überrascht, wie radikal das Corona-Virus den städtischen Alltag umgekrempelt hat. Als wir Mitte März aus Los Angeles zurück nach Berlin kamen, fanden wir eine andere Stadt vor: leere Straßen und Plätze, bessere Luft, eine himmlische Ruhe. Es war ein utopischer Moment, die Verkehrswende hatte plötzlich stattgefunden, es fühlte sich an wie ein endloser autofreier Sonntag. Da entstand die Frage: Warum hat die Angst vor einem Virus uns dazu gebracht, Verhaltensweisen grundlegend zu verändern, während wir auf die viel größere Bedrohung durch den Klimawandel eher träge reagieren? Städte haben mit ihrem enormen ökologischen Fußabdruck einen entscheidenden Einfluss auf den Klimawandel. Sie machen 80 Prozent des globalen Energieverbrauchs und 75 Prozent der Kohlenstoffemissionen aus. Das wussten wir lange vor Corona, aber erst die körperliche Erfahrung der Pandemie hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, unser Verhalten zu ändern, wenn Gefahr im Verzug ist.

Fotos: fannikln (S. 17); horsthansmax.com (S. 18)

Sie haben es angesprochen: Straßen und Plätze­waren­zu­Beginn­der­­Pandemie­ wie ausgestorben – sämtliche Parks jedoch durchgehend hochfrequentiert. Der öffentliche Raum stand im Fokus wie noch nie. Wie wird sich das auf die Stadtplanung auswirken?

Die Bedeutung von Grünflächen muss ganz oben auf die stadtpolitische Agenda. Dabei geht es nicht nur um Bewegung und frische Luft, die im Ausnahmezustand der Pandemie so wichtig waren, sondern vor allem um Klimaschutz: den Temperaturausgleich in Hitzeperioden, die Speicherung von Regenwasser, den Lebensraum für Tiere. Und um den sozialen Zusammenhalt: Die produktive Nutzung von Grünflächen, etwa durch Gärtnern in der Nachbarschaft, könnte in

Zukunft ein wichtiger Bestandteil der Stadtplanung werden, ebenso wie urbane Landwirtschaft in größerem Stil. (Siehe auch S. 40 ff.) Welche­weiteren­Nutzungen müssen wir künftig mitdenken? Haben wir in unseren Städten genügend multicodierte Flächen, die wir in­Notlagen­umnutzen­können?­

Die Corona-Pandemie ist nur eine von weiteren Krisen, die kommen werden. Wir werden uns darauf vorbereiten müssen, Kapazitäten zur Unterbringung von Menschen in Notsituationen schnell hoch und auch wieder herunterfahren zu können, sei es für Geflüchtete, Opfer von Naturkatastrophen oder für Menschen in Quarantäne. Wo dies geschehen kann, muss jede Kommune im Katastrophenschutzplan festlegen. Es wäre jedoch falsch, dafür öffentliche Grünanlagen zu nutzen, wie es etwa im April mit dem Aufbau von Zeltkrankenhäusern im New Yorker Central Park geschehen ist. Dies sollte das letzte Mittel sein, da Parks eine zentrale Rolle für die psychische Gesundheit spielen. Städte sollten sich vielmehr überlegen, ob sie nicht flexible Strukturen vorhalten können, die dann in Notsituationen unterschiedlich belegt werden.

INTERVIEWPARTNERIN Doris Kleilein, Architektin und Autorin, lebt in Berlin, wo sie nach dem Studium das Architekturbüro bromsky gründete, von 2005 – 2018 Redakteurin der „Bauwelt“ war und heute den JOVIS Verlag leitet.

Nachverdichtung gilt als notwendiges Instrument, um die Auswirkungen des Klimawandels­in­Städten­abzufedern.­ In einer Pandemie sind dichte Städte jedoch ein Nachteil. Wie entscheiden wir, was Vorrang hat?

Entscheidend für die schnelle Ausbreitung des Virus ist nicht nur die Dichte, sondern vor allem unsere globalisierte Lebensweise, mit Massentourismus und Geschäftsreisen. Während einer Ausgangssperre ist es sicher angenehmer, in einer aufgelockerten Stadt oder auf dem Land im Haus mit Garten zu leben. Aber weniger Dichte schützt nicht vor dem Virus, das sehen wir immer wieder an den lokalen Ausbrüchen von Covid-19 in Kleinstädten und Dörfern. Wichtig ist, wie Dichte organisiert und gestaltet wird – und letztendlich, ob sich die Gesellschaft solidarisch verhält und die Risikogruppen schützt. 17 GARTEN+ L ANDSCHAFT


STADTPLANUNG & CORONA PROJEKTE UND MASSNAHMEN

MENSCH ÄRGERE DICH NICHT Die Corona-Pandemie hat öffentliche Stadt- und Straßenräume global verändert – und tut dies weiterhin. Für Regierungen und Stadtplaner bietet sie die Chance, langangelegte­Pläne­schneller­umzusetzen­und­kurzfristige­ad-hoc-Projekte­zu­ wagen.­Mehr­denn­je­ist­der­öffentliche­Raum­derzeit­Spielfeld­experimenteller­ Stadt- und Raumplanung. Das Ergebnis ist ein bunter Strauß an spannenden, beispielhaften Programmen der Stadt- und Raumplanung, die weltweit im Zuge der Krise entstanden sind. JULIANE VON HAGEN

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Hagen ist Stadtplanerin und -forscherin. Sie setzt sich seit Jahren mit öffentlichen­Räumen­ auseinander; zunächst an verschiedenen Hochschulen und mittlerweile im eigenen Büro stadtforschen.de.

Bild oben: Den Bau von insgesamt 35 Kilometer Radweg hat die Stadt Mailand für das Jahr 2020 geplant. Der Corso Buenos Aires, eine der wichtigsten Straßen der Metropole, ist dabei Vorreiter.

Bild unten: Mit Parklets oder sogenannten Schanigärten weiten

Obwohl die Zeiten des strengen Lockdowns hinter uns liegen, ist das Leben in den öffentlichen Räumen unserer Städte anders. Das Gebot, Abstand voneinander zu halten, hat großen Einfluss auf unsere Bewegung in der Stadt. Wir schätzen die öffentlich zugänglichen Räume, weil wir uns dort spontan treffen und austauschen, weil wir dort zusammen sitzen und entspannen oder gemeinsam Sport treiben können. Nun schwebt über all diesen Aktivitäten das Gebot von 1,5 Metern Abstand. In Kalifornien sind es sogar sechs Fuß, also 1,8 Meter. In Italien reicht hingegen ein Meter. Aber schon dieser eine Meter Abstand ist je nach Baustruktur und Bevölkerungsdichte einer Stadt kaum einzuhalten. Das Planungsbüro Systematica hat in einer Bestandsaufnahme festgestellt, dass über 40 Prozent der Gehwege in Mailand zu schmal sind, um einen Meter Abstand voneinander zu halten. Die Studie ist noch im Gang, aber schon jetzt hat die norditalienische Metropole reagiert und schafft mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer. Aber nicht nur in Mailand gibt die Pandemie Anlass, die öffentlich zugänglichen Stadt- und Straßenräume genauer zu betrachten und deren Umbau anzugehen. Auch verkehrsgeplagte Metropolen wie Brüssel oder Paris sehen in der Krise die Chance, lange geplante Veränderungen im Stadtraum zügiger umzusetzen. In Städten wie Berlin oder New York City überraschen derzeit temporäre Maßnahmen, die die Menschen zum Laufen und Radfahren animieren. Wiederum andernorts stolpern Städter plötzlich über grafische Hinweise, die sie auf dem Boden an das Abstandsgebot erinnern. VOM PARKPLATZ ZUM PARKLET

Restaurants ihre Gastronomiefläche­auf­ Parkplätze aus, um die unter­Auflagen­ eingeschränkten Innenräume auszugleichen. Im Münchner Westend bieten die Parklets außerdem Platz für Sitzgelegenheiten, Pflanztröge,­Fahrradständer und Sandkästen. Die Pilotprojekte gestalten das Viertel zwar nicht dauerhaft, doch Teile der Parklets bleiben erhalten.

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Die aktuelle Studie vom Büro Systematica zur Größe der Gehwege in Mailand findet nicht im luftleeren Raum statt. Von hohem Verkehrsaufkommen und entsprechender Luftverschmutzung geplagt, experimentiert die norditalienische Metropole seit vielen Jahren mit Umbaumaßnahmen im öffentlichen Stadt- und Verkehrsraum. Durch die aktuelle Krisensituation gewinnen die bisherigen Bemühungen neue Aufmerksamkeit und können schneller als geplant umgesetzt werden. So baut Mailand in diesem Sommer viele Kilometer Radwege, die erst für die kommenden Jahre auf der Agenda standen. Aber auch Fußgänger bekommen mehr Raum. Schon lange

erproben die Norditaliener fußgängerfreundliche Umgestaltungen von Straßenkreuzungen. 2018 starteten sie in einigen Quartieren das Projekt „Piazza Aperte“, das wenig genutzte Straßen- und Kreuzungsbereiche in öffentliche Stadtplätze verwandelte. Die Resonanz war so groß, dass das Programm seit 2019 „Piazze Aperte in ogni quartiere“ heißt und man es auf alle Quartiere ausgeweitet hat. Zunächst experimentieren die Verantwortlichen mit temporären, kostengünstigen Umgestaltungen. Erst wenn sich die als tauglich erweisen, baut man die früher den Autos vorbehaltenen Verkehrsräume in Quartiersplätze um. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich in mit Grünraum unterversorgten Quartieren Parkanlagen regelrecht in ihr Umfeld ausdehnen dürfen und die Bürgerinnen und Bürger dort zum Spielen, Sitzen und Erholen einladen. Mutig ist auch der Schritt, Autostellplätze in Flächen für die Außengastronomie zu verwandeln: Damit Restaurants die in Innenräumen entstehenden Einschränkungen draußen kompensieren können, dürfen sie ihre Tische und Stühle auf Parkplätze ausdehnen. Wer Diskussionen um knappen Parkraum kennt, weiß wie symbolträchtig „Parklets“ sind. ZUSAMMENSEIN AUF DER STRASSE

Auch in Brüssel und Paris bietet die Corona-Krise die Möglichkeit, Ansätze zur Verkehrswende schneller umzusetzen als geplant. Die belgische Hauptstadt ist schon lange bemüht, das Verkehrschaos in der Stadt zu lindern. Eine groß angelegte Kampagne animiert die Bürgerinnen und Bürger auf verschiedenen Ebenen, mehr Rad zu fahren und das Fahrrad zum alltäglichen Fortbewegungsmittel zu machen. Auf dem Weg zu dieser „Velorution“, wie es ein Schweizer nennt, hilft die aktuelle Krisensituation. Sie ermöglicht zügigere Fortschritte bei geplanten Umbaumaßnahmen und eröffnet Spielräume für neue Ansätze. So haben Fußgänger, Fußgängerinnen und Fahrräder in der Brüsseler Innenstadt neuerdings Vorrang. Die innerstädtische Pentagon Zone ist nämlich spontan zur „Zone de Rencontre“ geworden, zur Begegnungszone. In dieser bewegen sich Fußgängerinnen, Fußgänger, Radfahrer und Radfahrerinnen frei auf Gehwegen und Fahrspuren. Busse und Bahnen müssen Rücksicht nehmen und dürfen maximal 20 Kilometer pro Stunde fahren.

Foto unten: Eveline Klink/Green City e.V.; Foto oben: Comune di Milano

AUTORIN Dr. Juliane von


Partizipation­blieb­während­der­Corona-Pandemie­erst­einmal­auf­der­Strecke.­ Beteiligung ohne Anwesenheit vor Ort – wie sollte das funktionieren? Die Autoren Marieluise­Brandstätter­und­Florian­Kluge­von­nonconform­identifizieren­drei­ Bürotypen, die während des Shutdowns mit Bürgerbeteiligung sehr unterschiedlich umgegangen sind. Welchem Typ gehört Ihr Büro an? MARIELUISE BRANDSTÄTTER, FLORIAN KLUGE

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Illustrationen: nonconform, Eva Kraler

BETEILIGUNG IN DIGITALEN ZEITEN


STADTPLANUNG & CORONA BETEILIGUNG WÄHREND DES LOCKDOWNS

AUTOREN Mag. Marieluise Brandstätter studierte Publizistikund Kommunikationswissenschaft sowie BWL an der Universität Wien und ist seit 2017 als Projektleiterin bei nonconform am Standort Wien tätig.

Prof. Dr.-Ing. Florian Kluge, Landschaftsarchitekt, ist Gesellschafter der nonconform ideenwerkstatt. Das Büro mit sieben Standorten in Österreich und Deutschland ist Spezialist für kreative Beteiligungsprozesse. Kluge ist zudem Professor für Projektmanagement und leitet das Institut für Prozessarchitektur an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in

Für Bürgerbeteiligungsbüros stellte Corona schnell eine existenzielle Bedrohung dar. Die für Beteiligung so essenzielle Anwesenheit vor Ort war nicht mehr möglich, Kommunen und Fördergeber minimierten ihre Aufwände und legten ganze Projekte auf Eis. Kurzfristig auf digitale Beteiligung umzustellen, brachte zusätzliche Schwierigkeiten mit sich: Es bedurfte neuer Verträge, zusätzlicher Hardund Software und erweiterter Kompetenzen. Büros mussten ihre Prozesse ins Digitale übersetzen, neue Formate und Abläufe definieren. Scheinbar kleine Umstellungen galt es aufwändig vorzubereiten. Im Umgang mit Corona lassen sich drei Bürotypen identifizieren: Die „Vorreiter“, die immer schon digitale Beteiligungsverfahren begleitet haben, sind jetzt gefragt. Sie können von ihrem Wissensvorsprung profitieren und dienen als Vorbild. Die „Umsteller“ begreifen die Herausforderung als Chance. Um digitale Beteiligung erfolgreich zu betreiben, benötigen sie jedoch einen großen Innovationsschub: Umsteller müssen neue Verfahren erarbeiten, experimentell testen und ständig weiterentwickeln. Der dritte Typus – der „Abwarter“ – hofft, dass die Corona-Ausnahmesituation bald vorüber ist. Seine Taktik ist es, von alten Aufträgen zu zehren, Kurzarbeit zu nutzen und mit analogen Formaten zu arbeiten, sobald dies wieder möglich ist. VORREITER ODER SKEPTIKER?

Alfter.

Formelle Bürgerbeteiligung geht dank Corona neue Wege: Kommunen setzten vermehrt auf digitale Partizipation.

Ähnliches zeichnet sich in den Kommunen ab: Corona begegneten viele zu Beginn mit Stillstand und Ratlosigkeit, dann mit Krisenmanagement. Bürgerbeteiligung rückte auf der Prioritätenliste weit nach unten. Erst als sich monatelange Beschränkungen abzeichneten und die digitale Kommunikation verstärkt in den Ver waltungen Einzug hielt, begannen diese, sich mit digitaler Beteiligung auseinanderzusetzen. Regelungen wie das Planungssicherstellungsgesetz traten in Kraft und ermöglichten neue Wege bei der formellen Bürgerbeteiligung, Gespräche über neue informelle Verfahren wurden aufgenommen. Auftraggeber, die Online-Beteiligung nutzen möchten, müssen sich darauf einlassen – mutig vorangehen, Bürgerinnen und Bürger aktiv animieren und neue Tools testen. Die progressiven unter ihnen sehen die Chance, ihre Gemeinde digital zu positionieren und eine Vorreiterrolle einzunehmen. Vorsichtige plagt weiterhin eine gewisse Skepsis, doch auch sie testen in überschaubarem Rahmen neue Verfahren aus. Trotzdem bleiben manche Kommunen auf der Strecke:

Überrollt von der Entwicklung verschieben sie Beteiligungsprozesse auf unbestimmte Zeit. SOCIAL MEDIA STATT PLAKATKAMPAGNE

Auch für jene, die beteiligt werden sollen – die Bürgerinnen und Bürger – hat Corona eine Menge verändert. Die digitale Kommunikation ist in fast jedem Haushalt angekommen, viele nutzen Messenger und Videotelefonie beruflich wie privat. Anders verhält es sich mit der digitalen Beteiligung: Die Sorge, etwas falsch zu machen und nicht zu wissen, was einen erwartet, hält viele Interessierte vorerst ab – vor allem ältere, digital Unerfahrene. Gleichzeitig ist es im digitalen Raum ungleich schwieriger, eine kreative und spontane, aber auch verbindliche und vertrauensvolle Atmosphäre herzustellen. Das Vieraugengespräch während Workshops ist ebenso schwer zu ersetzen wie das Vorbeischauen und die persönliche Präsenz vor Ort. Alte und neue Kommunikationskanäle, Überzeugungsarbeit und erste Erfahrungen sind notwendig, um Ängste zu nehmen und Lust auf das Mitwirken zu machen. Zugleich birgt die digitale Beteiligung die Chance, jene Generation stärker zu involvieren, die mit digitalen Werkzeugen gut vertraut ist. Bisher schwer erreichbar, können die Jungen in ihrem Alltag digital adressiert werden. Die Reichweite des Beteiligungsprozesses hat keine örtliche Grenze, Aufrufe auf Social Media zu teilen, kann mehr bewirken als eine Plakatkampagne vor Ort. Digitale Werkzeuge, die das gemeinsame Arbeiten online intuitiv und spielerisch gestalten, eröffnen neue Möglichkeiten: Aus der Not geboren, entsteht ein neues erweitertes Methodenportfolio. TECHNIK ALS MITTEL ZUM ZWECK

„nonconform live“ ist ein Beispiel, wie man auf die Corona-Krise reagieren und neue digitale Beteiligungsverfahren entwickeln kann. Schon wenige Tage nach Krisenbeginn hat das österreichisch-deutsche Büro nonconform seinen Werkzeugkoffer um eine Web-Plattform erweitert. Sie vereint drei Online-Kommunikationstools, die für jedes Projekt individuell und maßgeschneidert kombiniert werden: Auf der digitalen Ideenwand – einer WebPlattform – können Nutzerinnen ihre Themen und Ideen einbringen. Die Moderatoren ergänzen den gesammelten Input, fassen zusammen, stellen Fragen und präsentieren Ergebnisse. Die Ideenwand liefert ein stets aktuelles Gesamtbild der Ideen und des 29 GARTEN+ L ANDSCHAFT


FREIRAUM ALS PROTAGONIST

ULRIKE BÖHM, CYRUS ZAHIRI, KATJA BENFER

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Illustration: Elisabeth Moch

Wir bauen unsere Städte stetig um und passen sie veränderten Bedingungen an. Aktuell sind das: Gesundheitsvorsorge, Umweltqualität und Klimaanpassung. Covid-19­macht­den­Bedarf­an­gut­gestalteten­Plätzen­und­Parks­offensichtlich.­ Sie übernehmen eine Reihe von wichtigen Ausgleichsfunktionen. Programme für einen­zeitgemäßen­Stadtumbau­werden­vor­allem­hier­ansetzen­müssen.­Das­ Büro­bbzl­aus­Berlin­bezieht­Position.


STADTPLANUNG & CORONA PLÄDOYER FÜR EINEN ZEITGEMÄSSEN STADTUMBAU

AUTOREN Die Landschaftsarchitektinnen Ulrike Böhm und Katja Benfer gründeten Anfang 2003 zusammen mit dem Architekten Cyrus Zahiri das Büro bbzl böhm benfer zahiri landschaften städtebau in Berlin.

Im Frühjahr dieses Jahres haben wir alle unter dem Vorzeichen der Pandemie Verzicht geübt. Auf unserer gemeinsamen Verzichtsliste standen: Bewegungsfreiheit, Konsum-, Freizeit- und Sportangebote, Veranstaltungen aller Art und das Reisen. Dabei reduzierten Kontaktsperre und Selbstisolation alle Bewegung auf ein Hin und Her zwischen dem Privaten, dem Arbeitsplatz und dem Angebot an öffentlichen Räumen in direkter Nähe. Noch kürzer und ereignisloser wurden die Wege für diejenigen, die Arbeit und Wohnen zusammengelegt haben. Wohnungsnah gelegene Plätze und Parks waren über Wochen die einzigen Orte, die für einen Aufenthalt außer Haus genutzt werden durften. Alle Bewegungs- und Sportaktivitäten fanden ausschließlich im öffentlichen Raum statt. Hauptsächlich als Erholungs- und Aufenthaltsorte konzipiert, nahmen und nehmen Parks und Plätze noch immer all jene Nutzungen auf, denen sonst eigentlich spezialisierte Flächen zur Verfügung stehen. Sie ersetzen Sport, Übungs- und Spielflächen, werden zu Lern- und Arbeitsorten und dienen zudem als Aushilfs-Bars und Ersatz-Clubs. Erste Schätzungen gehen von zusätzlichen Nutzungen in Höhe von 30 Prozent aufgrund von Corona aus. Damit geraten viele städtische Freiräume an ihre Belastungsgrenze. Vielerorts fällt es schwer, den geforderten Sozialabstand einzuhalten. Zu den großzügig zugeschnittenen Ausnahmen, die die Einhaltung der Vorgaben erlaubten, gehören in Berlin der ehemalige Flughafen Tempelhofer Feld oder der Große Tiergarten, das barocke Jagdgrün der Hohenzollern. Andernorts sind die Wege oft zu schmal dimensioniert, nicht zuletzt, da sich Fußgänger und Radfahrer diese inzwischen oft teilen müssen. Bei Regen fehlen Unterstellmöglichkeiten, die groß genug sind. Und auch jegliche Sitzmöglichkeiten sind rasch belegt. In Berlin Friedrichshain musste der Boxhagener Platz im März sogar wegen Überfüllung geräumt und gesperrt werden. Mit etwa 150 Personen konnten auf der Fläche die Abstandsregeln nicht mehr eingehalten werden. Da trotz Aufforderung durch die Polizei keiner den Platz zur Wiederherstellung der Abstände verlassen hat, wurde der Platz schließlich geräumt. Findige Bürgerinitiativen haben den deutlich reduzierten Individualverkehr als Chance genutzt, um Ideen zu testen, die das

Freiraumangebot erweitern. Unter anderem wurden in Berlin an Sonn- und Feiertagen kurze Straßenabschnitte gesperrt. Die Flächen sollten vor allem die fehlenden Spielmöglichkeiten durch die gesperrten Spielplätze ausgleichen. Bereits beim ersten Testlauf Anfang Mai zeigte sich aber, dass parkende Autos, stark gewölbte Oberflächen und Reifenabrieb auf dem Asphalt nicht unbedingt zu Aufenthalt und Spiel einladen. Zudem mussten die Sitz- und Spielutensilien erst hin- und dann wieder zurücktransportiert werden. Das etwas ernüchternde Fazit: Temporäre Spielstraßen bieten Gelegenheit zu nachbarschaftlichem Miteinander, entlasten aber nicht zu knapp bemessene öffentliche Freiräume. Es geht – wieder einmal – um eine Neuaufstellung. Gesundheitsvorsorge und Schutz vor schädlichen Umwelteinflüssen gehören seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Motiven von Städtebau und Freiraumplanung. Stellvertretend sei hier an die Volksparkbewegung erinnert, die Berliner Plätze von Erwin Barth oder die Planungen des Berliner Stadtbaurats Martin Wagner. So hat sich über Jahrzehnte hinweg ein feststehendes Repertoire an Freiraumtypen und -programmen gebildet. Unter Berücksichtigung der aktuellen Veränderungen ist zu prüfen, wie sich dieser Kanon erweitern und aktualisieren lässt. Dazu lassen sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten identifizieren: ZUSCHNITT

Der bereits erwähnte gestiegene Zulauf in Parks und auf Plätze lässt sich an Platzmangel und Gedränge sowie an starken Abnutzungserscheinungen ablesen. Entsprechend ist kritisch zu prüfen, ob der Zuschnitt bestehender innerstädtischer Freiflächen ausreicht. In den Blick zu nehmen sind angemessen dimensionierte Neuausweisungen sowie Erweiterungsmöglichkeiten für Bestandsanlagen. GESUNDHEITSVORSORGE

Die vergangenen Monate haben gezeigt, wie wichtig Aspekte der Gesundheitsvorsorge im öffentlichen Raum sind. Sport ist hier nur ein Punkt. Freiräume sind immer auch Orte des „Being away“, die alternatives, von der Norm abweichendes Verhalten ermöglichen. Es geht folglich nicht nur um Gesundheitsvorsorge für den 35 GARTEN+ L ANDSCHAFT


Urbane Gärten sind längst eine feste Größe in deutschen Großstädten. Durch die Corona-Pandemie,­verbunden­mit­dem­Social­Distancing,­zeigt­sich­nun­deutlich­ihr­ Wert­für­unsere­Städte­und­ihre­Bewohner.­Als­multifunktionale­Grünflächen­sind­sie­ ein­wichtiger­Baustein­auf­dem­Weg­zur­klimaresilienten­Stadt,­in­denen­Lebensmittel­ nachhaltig­erzeugt­werden.­Als­Bonus­bieten­sie­der­Bevölkerung­grüne­Naherholung,­ sozialen­Austausch­und­Abkühlung­in­den­heißen­Sommermonaten. RENATE KÜNAST, MICHAEL SCHEER

40 GARTEN+ L ANDSCHAFT

Illustartionen: Elisabeth Moch

EVERGREEN URBAN GARDENING


STADTPLANUNG & CORONA DER WERT DES URBAN GARDENING FÜR DIE STADT

AUTOREN Renate Künast ist Politikerin, Juristin und Sozialarbeiterin. Sie war unter anderem Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Sie ist Mitglied des deutschen Bundestages und lebt in Berlin.

Michael Scheer ist Biologe und seit 2006 Geschäftsführer der gemeinnützigen Gesellschaft für integrative Beschäftigung mbH, die seit 2014 ihre urbane Landwirtschaft Gemüsewerft an drei Standorten in Bremen betreibt.

#stayathome ist seit März diesen Jahres das Schlagwort für die stark veränderten Lebensbedingungen aller Großstädterinnen und Großstädter. Der klassische Urlaub fiel für die meisten aus und ist aufgrund möglicher neuer Hotspots weiterhin ein ungewisses und finanziell riskantes Unterfangen. Ebenso mussten wir alle auf unsere übliche Freizeitgestaltung verzichten: Schwimmbäder, Sportclubs, Biergärten und Kinos waren geschlossen. Die Frage, wo und wie man sich außerhalb der eigenen Wohnung erholen kann, stellten sich viele. Social Distancing legte noch nach: Wann und wie darf man wieder andere Menschen treffen? Und obwohl das Homeoffice und die digitale Kommunikation sich zunehmender Beliebtheit erfreuen – soziale Kontakte lassen sich nicht digitalisieren. Einmal mehr zeigt sich, dass in der Stadt nicht nur gewohnt, gearbeitet und konsumiert, sondern auch gelebt, sozial interagiert und regeneriert wird. Sozialer Austausch muss daher für die gesamte Bevölkerung möglich und finanzierbar bleiben. Die Davos-Deklaration, ein Statement der europäischen Kulturminister zur Baukultur, charakterisiert die künftige Baukultur – das ist neu – als integrierten Ansatz, der nicht nur in der Kultur verankert ist, sondern auch sozialen Zusammenhalt aktiv stärkt, Nachhaltigkeit sicherstellt und zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der gesamten Bevölkerung beiträgt. Die internationale Staatengemeinde identifiziert grüne, umweltgerechte und inklusive Stadtentwicklung sowie die Umsetzung nachhaltiger Konsumgewohnheiten und Produktionsmuster als integralen Bestandteil globaler Nachhaltigkeit. Die Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt und das Weißbuch Stadtgrün des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat sind weitere politische Impulse für eine grüne Stadtentwicklung. WOHLFAHRTSWIRKUNG VON URBAN GARDENING

Urbane Agrikulturen – darunter versteht man die Gesamtheit aller Gemeinschaftsgärten, interkulturellen Gärten und urbanen Landwirtschaften – erfüllen eine Vielzahl der in den genannten Positionspapieren gesetzten Ziele: Sie sind Orte des gemeinsamen Gärtnerns und begreifen sich zudem als Veranstaltungs- und Diskussionsforen für gesellschaftspolitische und lebensumweltbezogene Themen. Städtebaulich gelten sie als gewinnbringende Grünflächen, schaffen umweltgerechten Zugang zu urbanem Grün, wirken sich positiv auf das Klima aus und

bieten innerstädtischen Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Die Formen urbanen Gärtnerns sind vielfältig, und kaum ein Projekt gleicht dem anderen. Einige von ihnen haben sich zu städtebaulichen Ikonen mit weltweitem Bekanntheitsgrad entwickelt. Urbane Gärten entstehen meist bottom-up und sind kulturell verankert. Eine Besonderheit des Urban Gardening sind die sozialen Gemeinschaften, die daraus entstehen und unterschiedlichste Altersgruppen, Kulturen, Religionen und soziale Schichten integrieren. Urbane Gärten stehen für Social Design, eine Form der Architektur, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und den Entstehungsprozess mitgestaltet. Sie alle zeichnen sich durch die Nutzung zentraler innerstädtischer Flächen und die Herstellung von vorwiegend essbaren Nutzpflanzen aus. Sie haben mehrheitlich ehrenamtliche und partizipative Betriebsstrukturen, und jede und jeder kann mitmachen. Im Unterschied zu öffentlichen Grünflächen kann der Stadtgarten eigenhändig und nach eigenem Gusto in der Gemeinschaft gestaltet werden, was zu einer hohen Identifikation, zu gärtnerischen Erfolgserlebnissen und aktiver Erholung führt. GRÜN ALS KRISENPUFFER

2050 werden 68 Prozent der Menschheit in Städten leben. Wohnraum wird verdichtet und Verkehr neu aufgestellt. Und natürlich braucht die Stadt dann auch ausreichend Grün und frische Luft. Die zentrale Frage der Städte ist es, wie dies erfolgreich organisiert werden kann. Erhalt und Ausbau von innerstädtischen Grün- und Wasserflächen als gesundheitsfördernde Naturräume werden sich zunehmend zum städtebaulichen Nadelöhr entwickeln und mit dem Flächenanspruch für Wohnungsbau, Gewerbe und Verkehr in Konkurrenz stehen. Für künftige Planungsprozesse und Entscheidungen müssen sich die Paradigmen verändern. Es geht um nicht weniger als unseren künftigen Raum für ein gesundes Leben, und der muss maximal grün aussehen. Wir brauchen Bäume, Stadtparks, vertikale Gärten und Dachgärten. Und eben auch Orte, die Menschen im Stadtteil tatsächlich selbst gestalten und bebauen und in denen sie Natur und Nahrungsmittelproduktion erleben können. Die Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit öffentlicher Räume, in denen soziale Rücksicht und Distanz möglich ist, offen gelegt. Eine Stadt muss ihren Bürgern und Bürgerinnen solche Räume bieten. Urbane Gärten sind eine Vorbereitung auf weitere potenzielle Krisen. Eine existenzsichernde Förderung und ihre städtebauliche 41 GARTEN+ L ANDSCHAFT


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