RESTAURO 1/2020

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Magazin zur Erhaltung des Kulturerbes

NO 1 2020

Wissensvermittlung Mit digitalen Technologien in die Welt der Museen eintauchen NEUER PRÄSIDENT Sven Taubert vertritt jetzt die Interessen der Restauratoren

BILDHAUER-FAMILIE STRAUB Das Oeuvre wurde im Rahmen eines EU-Projektes untersucht

GLÄSERNE GESCHICHTE Ein DDR-Kunstwerk kehrt an seinen Standort zurück


INHALT

TITELTHEMA: MUSEUMSAUSSTATTUNG

Blick in das Historische Grüne Gewölbe in Dresden. Dort wurden im November 2019 Juwelengarnituren gestohlen

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„Exzellente Kunst braucht exzellente Sicherheitskonzepte“ Nicht erst seit dem Einbruch in Dresden im November 2019 gibt es Handlungsbedarf in Bezug auf Sicherheit

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„Wissen und Emotionen“ Digitalwerkstatt Museum: Wie verändern digitale Technologien und Interaktionsprinzipien die Ausstellungs- und Vermittlungspraxis der Museen?

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Zum Greifen nah? Der Pariser Louvre möchte aus Anlass seiner Retrospektive von Leonardo da Vinci mit Virtual Reality dem Gedrängel vor der Mona Lisa beikommen

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„Ein Audio- oder Multimedia-Guide ist mehr als das bloße Wiedergeben von Texten“ Welche Objekte werden durch den Audiovisuellen- oder Multimedia-Guide hervorgehoben? Und welche Informationen benötigt ein Besucher im Raum?

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Mammut-Umzug Wie die Arbeit eines Museums mit Software praktisch aussehen kann, skizziert Harald Wendelin Technischen Museums Wien (TMW)

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Sehen mit den Händen Um Blinden und Sehbehinderten Bilder zugänglicher zu machen, bietet das Paula Modersohn-Becker Museum ein 3D-Modell eines Selbstaktes der Künstlerin an

Zur Kassler Schau „Wie viel Bauhaus steckt in der Documenta?“ gibt es jetzt noch eine virtuelle Vertiefung

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Fortsetzung folgt Anlässlich des Bauhaus-Jubliäums 2019 bietet das documenta archiv jetzt eine vertiefende Ergänzung zu der Ausstellung Kassler Ausstellung im Internet

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Nachdrücklich für die Fotografie Das Unternehmen recom ART wirft in Kooperation mit Künstlern, Kuratoren, Restauratoren und Sammlern die Frage nach dem Original neu auf

KUNST AM BAU 34

Gläserne Geschichte – ein DDR-Kunstwerk kehrt zurück Für die Anwohner des Moskauer Platzes in Erfurt ist es ein Stück wiedergewonnene Identität: das Wandmosaik von Josep Renau

GOLDENE TAFEL

Das DDR-Wandmosaik von Josep Renau kehrte an seinen früheren Standort am Moskauer Platz in Erfurt zurück

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Der schwingungsisolierte Sockel der Goldenen Tafel Die Goldene Tafel aus Lüneburg, ein Hauptwerk der europäischen Gotik um 1400, bekam einen schwingungsoptimierten Sockel

EU-PROJEKT 44

„Transforming the Egyptian Museum Cairo“ Das Ägyptische Nationalmuseum (Kairo) soll neu strukturiert und präsentiert werden mit Hilfe ägyptischer und europäischer Experten

GLAS 46 Ein internationales Experten-Team hat sich über zwei Jahre auf die Spuren der Bildhauer-Familie Straub begeben

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Mythos Glas – Praxistipps Welche Rolle spielen Gewicht und Bruchfestigkeit? Wie spielen Glas und Beleuchtung ideal zusammen? Und wie reinigt man schlierenfrei? 1/2020

Fotos (v. o. n. u.): © Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Hans Christian Krass; www.documenta-bauhaus.de

DIGITALISIERUNG


BILDHAUER-FAMILIE STRAUB 50

Tracing the Art of the Straub Family Erstmals wurde im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes das gesamte Oeuvre der Künstler-Familie Straub untersucht

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Von kompletten Neufassungen und modischem Zeitgeist Dr. Paul-Bernhard Eipper hat sich mit dem historischen Umgang von originalen Fassungen auseinandergesetzt

RUBRIKEN 6

KUNSTSTÜCK Die Albulabahn wurde 1903, die Berninabahn 1910 vollendet. Die Strecke im Oberengadin ist seit 2008 UNESCO-Welterbe

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MESSE Große Erwartungen: Die zweite Cultura Suisse lädt vom 22. bis 24. Januar nach Bern ein

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BLICKPUNKT Kommentar: Kulturpolitik gegen Kulturerbe Der neue Präsidenten des Verbandes der Restauratoren (VDR) heisst Sven Taubert. Ein Interview

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TERMINE Veranstaltungen Impressum Vorschau

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PORTRÄT Peter Schöne, Halle an der Saale

Set Ölfarbe

Titelmotiv Das 2015 begründete Forschungsprojekt Zentrum für digitale Kulturgüter in Museen (ZEDIKUM) an den Staatlichen Museen zu Berlin bündelt einrichtungsübergreifend eine Vielzahl von Digitalisierungsprojekten in den Sammlungen, erledigt konkrete Scanaufträge und entwickelt Werkzeuge zur nachhaltigen Nutzung und Verfügbarkeit digitaler 3D Modelle in Restaurierung, Forschung und Wissenschaftskommunikation, hier die 3D-Digitalisierung eines Keramikobjekts mit dem Streifenlichtscanner im Projekt „ZEDIKUM“.

Das Set bietet den idealen Einstieg, um selbst Ölfarbe aus reinen Pigmenten herstellen zu können.

Foto: © ZEDIKUM

Erhältlich im Onlineshop unter der Bestellnummer #14306.

www.kremer-pigmente.com

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MUSEUMSAUSSTATTUNG

„Exzellente Kunst braucht exzellente Sicherheitskonzepte“

Fotos:

Nicht erst seit dem Einbruch in Dresden gibt es Handlungsbedarf im Hinblick auf die Sicherheit. Nach dem Juwelen-Diebstahl aus dem Historischen Grünen Gewölbe werden dazu vermehrt Museumstagungen geplant und Sicherheitssysteme überarbeitet

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MUSEUMSAUSSTATTUNG

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Es hätte ein ganz normaler Montag werden können. Pünktlich um zehn Uhr hätten sich die Türen zum Vorgewölbe des Historischen Grünen Gewölbes in Dresden geöffnet. Dort ist die Schatzkunst des Mittelalters und der Frührenaissance ausgestellt. An einem ganz gewöhnlichen Montag wären die Besucher dann einzeln in die spektakuläre Raumfolge der Historischen Ausstellungszimmer eingetreten. Die Schleuse, die den Zugang organisiert, besteht aus zwei hintereinander liegenden Türen. Erst wenn sich die erste geschlossen hat, und einige Sekunden vergangen sind, öffnet sich die zweite. So wird dem Besucher ein kleiner Moment der erwartungsfrohen Sammlung und Vorfreude beschert und der Zugang geregelt. Außerdem achtet das Wachpersonal peinlich-genau darauf, dass die Besucher keine Taschen dabei haben und die Räume nicht in dicken Jacken betreten. So ist es die Regel seit der Eröffnung im September 2006. Nach Verlassen der Schleuse wären die Besucher durch Bernsteinkabinett, Elfenbeinzimmer, Weißsilber und Silbervergoldetes Zimmer ins Wappenzimmer mit anschließendem Juwelenzimmer gelangt. Staunend wären sie von Vitrine zu Vitrine geschlendert, hätten die beiden Mohren mit Smaragd – und Landsteinstufe bewundert, wären von Smaragd-, Saphir-, Rubin- und Karneolgarnitur begeistert gewesen und hätten die vielteilige Brillantrosengarnitur und die Brillantgarnitur ebenso bewundert wie den Schmuck der Königinnen. Wahrscheinlich wären sie ein wenig verärgert gewesen, dass der Grüne Diamant, der sich in der Hutagraffe der Brillantgarnitur befindet, nach New York ausgeliehen wurde und deshalb bis März 2020 in Dresden fehlt. Anschließend hätten sie durch zwei Zimmer mit Bronzen die Säle des Historischen Grünen Gewölbes voller Ehrfurcht verlassen. Es wäre ein perfekter Museumsbesuch gewesen. Doch nichts ist seit dem frühen Morgen dieses 25. November noch so, wie es war im Historischen Grünen Gewölbe. Die Ausstellungsetage ist seit diesem Morgen geschlossen, denn Diebe drangen kurz vor fünf Uhr durch ein Fenster, dessen Gitter sie zuvor teilweise zerstörten, direkt in das Juwelenzimmer ein, zerschlugen mit einer Axt das Glas der Vitrine mit den Brillantgarnituren und stahlen elf Objekte, außerdem Teile von zwei Objekten und mehrere Rockknöpfe. Zu den gestohlenen Stücken gehört der Degen aus der Diamantrosengarnitur, der Bruststern des Polnischen Weißen

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1 Historisches Grünes Gewölbe, Juwelenzimmer, Vitrine mit drei Garnituren: Der Diamantschmuck und die Perlen der Königinnen (links), Brillantgarnitur (mitte), Diamantrosengarnitur (rechts) 2 Epaulette mit dem sog. „Sächsischen Weißen“ aus der Brillantgarnitur Franz Diespach; Christian August oder August Gotthelf Globig; JeanJacques oder André Jacques Pallard; 1782/1789

ABSTRACT "Excellent art needs excellent security concepts" Not only since the break-in in Dresden there has been a need for action with regard to security. Following the theft of jewels from the Historical Green Vault, museum conferences are increasingly being planned and security systems revised.

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MUSEUMSAUSSTATTUNG

„Wissen und Emotionen“

Das Verbundprojekt museum4punkt0 rückte Mitte Oktober 2019 im Symposium „Digitalwerkstatt Museum“ (Berlin) die Methoden, Abläufe und Anforderungen digitaler Entwicklung in den Fokus

ABSTRACT „Knowledge and Emotions“ How do digital technologies and principles of interaction change the exhibition and communication practices of museums? The conference „Digitalwerkstatt Museum“ October 2019 in Berlin addressed these questions. The aim of this event was to provide museum experts with impulses on how they can use the digital possibilities for mediation, research and development.

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„Inklusive digitale Methoden sind für das Museum der Zukunft essentiell“, betont Kajsa Hartig. Ihr Vortrag markierte den Auftakt zur Digitalwerkstatt Museum, zu der 100 Teilnehmer zusammenkamen, die meisten aus dem Kulturbereich sowie aus den Naturwissenschaften. Hartig, die am Stockholmer Västernorrlands Museum das Digital Interaction Department leitet, hat verfolgt, wie sich die Bedürfnisse von Museumsbesuchern geändert haben. Ein wesentlicher Trend: „Der Besucher möchte aktiv sein.“ Die Besucher- und User-Bedürfnisse rücken heute stärker in den Fokus der Museumsarbeit als früher. Gleichzeitig soll diese programmatische Visionen und wissenschaftlich fundierte Strategien verwirklichen. Um beide Stränge zusammenzuführen, bleibt Harigs Erfahrung nach nur eines: „Raus aus der Komfortzone.“ Ihren Zuhörern rät die Schwedin, sich erst einmal kleine Ziele zu setzen, um dann stufenweise auf erworbenen Erfolgen aufzubauen. Außerdem plädiert sie für kleine Teams, die sich aus Mitarbeitern verschiedener Abteilungen zusammensetzen und diverse digitale Formate erproben, oft in Kooperation mit einem externen Experten. Für viele Museumsmitarbeiter sei diese Arbeitsweise neu.

Wichtig sei es zudem, immer das ganze System zu betrachten. Eine strukturierte Besucherreise, die alle Daten und Kanäle verknüpfe, eigne sich, den interpretativen Rahmen zu bieten. Das Museum sei mehr als ein Gebäude und mehr als die Summe seiner Teile, erinnert Hartwig: „Wenn Du einen Bestandteil änderst, ändert sich das System.“ Da Schuhkartons voller Bilder inzwischen passé seien, müssten Wege gefunden werden, um an digitale Fotos und Geschichten der Besucher zu gelangen. „Das Storytelling ist ungemein wichtig“. Hartig wünscht sich in diesem Kontext offene Experimente, spricht aber auch wohlbekannte Hürden des realen Museumsbetriebes an. Ein immer wiederkehrendes Thema, das viele Museumsmacher kennen, sind knappe Budget und Fristen, die sich vor allem im Rahmen von Projektförderungen bemerkbar machen. Nicht selten mangelt es bei iterativen Prozessen auch an Unterstützung durch das Museumsmanagement. Vom kreativen Arbeitsprozess im Team berichtet die Mediendesignerin Ceren Topcu. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin für digitale Kommunikation bei den Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SMPK) ist sie verantwortlich für das Konzept und die Koordination der Umsetzung einer AR-App für die Gemäldegalerie. Die Staatlichen Museen sind einer der sieben Verbundpartner, die gemeinsam museum4punkt0 bilden. Seit 2017 erprobt das Projekt digitale Angebote für neue Arten des Lernens, Erlebens und Partizipierens im Museum. Topcu beschrieb den Werdegang der Augmented Reality-Anwendung der Gemäldegalerie – von der Recherche über die Inspiration durch ein Moodboard bis hin zum Prototyp. Sie beschrieb auch Momente, als sie „den Wald vor lauter Bäumen“ nicht mehr sah. In diesen Momenten stellte sie sich, um wieder klar zu sehen, stets die Frage: „Machen wir die Menschen glücklich?“ Willi Xylander, Direktor des Senckenbergmuseums für Naturkunde in Görlitz, ist es vor allem wichtig, die Bürger an der immensen Forschungstätigkeit seines Hauses teilhaben zu lassen. Als größte Herausforderung sieht er weniger die Digitalisierung, als vielmehr die Notwendigkeit, über die Bedrohung der Biodiversität unserer Umwelt 1/2020

Foto: RESTAURO / Bildausschnit Plakat / Grafik: Nina Reisinger

Wie verändern digitale Technologien und Interaktionsprinzipien die Ausstellungs- und Vermittlungspraxis der Museen? Unter dieser Leitfrage fand Mitte Oktober 2019 in Berlin die „Digitalwerkstatt Museum“ statt. Ziel dieser Konferenz war es, Museumsfachleuten Impulse dafür zu liefern, wie sie die digitalen Möglichkeiten für Vermittlung, Forschung und Entwicklung produktiv ausschöpfen können


aufzuklären. Diesem Ziel hat sich auch das ARProjekt „Abenteuer Bodenleben“ verschrieben, das In Kooperation mit Lutz Westermann von der Kölner Software- und Medienfirma hapto entstand. Das Museum richtete sich damit sowohl an Jugendliche zwischen 19 und 29 Jahren als auch an Familien. Während erstere bislang ausblieben, kamen die Familien in Scharen. Die VR-Anwendung, die bisher von 5000 Nutzern an 32 Standorten in drei Ländern erprobt wurde, lässt den Besucher mittels HTCV Vive-Beweger und Controller in die Lebenswelt unter seinen Füßen eintauchen. Auf nur einem Quadratmeter Bodenfläche leben mehr Organismen, als es Menschen auf der Welt gibt. Sie sorgen für fruchtbare Böden und bilden damit eine Grundlage unserer Lebensmittelversorgung. Sobald der User die AR-Brille aufsetzt, schrumpft er um das 200fache und befindet sich laut Xylander somit „auf der Größe einer Landassel“: „Aus dieser Perspektive erscheint eine Hornmilbe so groß wie ein Dackel“. Diese Erfahrung durften übrigens auch die Teilnehmer der Museumswerkstatt machen. Xylander gibt zu bedenken, dass eine VR-Anwendung viele Ressourcen an Zeit, Geld und Personal verschlinge. Infotrainer, die über die Organismen aufklärten, müssen geschult und Geräte eingekauft werden. Das immersive Erleben neuer Welten bedeute einen großen Betreuungsaufwand, zumal nicht wenige User unter der Brille Angstgefühle entwickelten. Um so wichtiger sei es, ein Projekt nachhaltig weiterzuentwickeln – auch wenn wie im Falle von museum4punkt0, das kommenden März ausläuft, die Fördergelder längst versiegt sind. Westermann plädiert dafür, die Entwürfe so früh wie möglich mit den Wissenschaftlern des Museums zu teilen und einen konstanten Austausch zu pflegen. Er selbst kommunizierte von Beginn an mit den Spinnen-, Tausendfüßler- und Springschwanzexperten und avancierte dabei nebenbei zum Experten, dem Xylander bescheinigt, „locker einen Bachelor in Biologie bewältigen zu können“. Allerdings funktioniert die Kooperation mit einem externen Experten nicht immer so reibungslos wie bei dem Projekt „Abenteuer Bodenleben“. Über 1/2020

„Iterative Projektarbeit und Vergaberecht“ referierten Christian Seel von der SPKB und der Rechtsanwalt Anes Kafedzic. „Was mache ich, wenn ich gerne mit dem mir vertrauen Spezialisten weiterarbeiten möchte, aber das Projekt ausschreiben muss?“ lautete eine der Fragen, die das Plenum umtrieb. „Es ist ein hochkompliziertes Prozedere, das viel Zeit benötigt“, warnt Kafedzic. „Wer unbedarft an die Sache herangeht, für den kann es teuer werden.“ Der Jurist empfiehlt, transparent vorzugehen und möglichst genau zu dokumentieren, warum die Wahl auf einen bestimmten Medienexperten falle. Oft überzeuge im Streitfall eine ausführliche Dokumentation den Richter: „Wer schreibt, der bleibt“. Über das Aufdecken von Wissenstransfer-Potenzialen durch interaktive Visualisierung im Projekt IKON referierte Christoph Kinkeldey vom Institute of Computer Science der Freien Universität Berlin. Für das Naturkundemuseum Berlin hat sein Institut einen visuellen Prototyp zur Wissensmodellierung entwickelt. „Die Sammlungen und die Infrastruktur sind die Brücken für den Wissenstransfer“, so Kinkeldey. Mittels des Wiki-Systems VIA arbeitet sein Team an einer Cluster-Visualisierung der Forschungsergebnisse aus verschiedenen Abteilungen. Claudia Müller-Birn, Leiterin der Arbeitsgruppe Human-Centered Computing, betont, dass die Software permanent gepflegt werden müsse. Tatsächlich hat sich inzwischen im Museum ein Mitarbeiterteam gebildet, das das Projekt auch nach Auslauf der Förderung selbständig fortführen wird. Vor diesem Hintergrund fordert Antje Schmidt vom Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg eine Förderung von Teams anstelle zeitlich begrenzter Projekte. Auch fordert sie eine stärkere Kooperation von Forschung, Praxis und Unternehmen, zumal sich nur wenige Museen – dazu zählt das Deutsche Museum München – eine eigene Digitalisierungsabteilung leisten könnten. Vielleicht sind museumseigene Digital-Abteilungen einmal Standard. Bis dahin ist sicherlich noch ein weiter Weg zu gehen. Die Museumswerkstatt hat dazu jede Menge kreative Impulse geliefert. Dr. Inge Pett


MUSEUMSAUSSTATTUNG

„Ein Audio- oder Multimedia-Guide ist immer mehr als das bloße Wiedergeben von Texten“

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1 Der Audioguide als unverzichtbares Element, um neue Dimensionen zu eröffnen wie hier in der Ausstellung „Opera: Passion, Power and Politics“ im Victoria & Albert-Museum in London (2017). Empfangen wurde der Besucher dort mit Musik aus der gleichen Epoche, aus der die Exponate stammen 2 Ursula Mayer, After Bauhaus Archive: Unknown Student in Marcel Breuer Chair, 2006, Siebdruck auf Goldpapier, 86 x 60 cm (Triptychon), Dom Museum Wien, Otto Mauer Contemporary; Bauhaus Archiv, Weimar

ABSTRACT "An audio or multimedia guide is always more than just reproducing text." Which objects are highlighted by the audiovisual- or multimediaGuide? What information does a visitor need in the room? The artistic director of tonwelt, Klaus Kowatsch, explains his approach to the development of content

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Wer den Pariser Louvre besucht und sich für einen Audioguide entscheidet, wird künftig von einer in Deutschland konzipierten und produzierten Führung durch die Säle geleitet: Nach einer europaweiten Ausschreibung war es die Berliner Firma tonwelt, die sowohl bei der Dauer- wie auch bei den Sonderausstellungen Bestplatzierungen erzielte. „Was bei der Vergabe eine große Rolle spielte, war die Qualität der Konzeption“, erläutert der künstlerische Leiter von tonwelt, Klaus Kowatsch. „Deshalb sind wir auch ganz besonders stolz, den Zuschlag bekommen zu haben.“ Vollkommen überraschend ist die Entscheidung nicht: Bei tonwelt kommt eine inzwischen fünfzehnjährige Expertise zum Tragen: Seit 2004 spezialisierte sich die Firma, die als Tonstudio begann, auf die Erarbeitung von audiovisuellen Guides für Museen und andere Sehenswürdigkeiten (vgl. Beitrag in der RESTAURO 7/2019). Und auf das Knowhow des in seiner Branche längst globalen Players aus Berlin setzen so unterschiedliche Institutionen wie Schloss Schönbrunn und die Albertina in Wien, die Weinstadt Bordeaux, das Formel Eins-Museum Checco Costa in Imola oder die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Auch für den Louvre ist tonwelt keineswegs das erste Mal tätig: Seit 2012 erarbeitet der Führungs-Spezialist bereits Audio-Guides für die Projekte der Louvre-Zweigstelle in Lens bei Calais. Auch die noch bis Ende Februar gezeigte, spektakuläre Leonardo-Ausstellung unter der Pariser Louvre-Pyramide, lädt bereits jetzt Besucher aus aller Welt ein, sie mit einer tonwelt-Audioführung am

Ohr zu erkunden. „Für uns ist ein Audiovisuellenoder Multimedia-Guide immer mehr als das bloße Wiedergeben von Texten, die an der Wand oder im Katalog stehen“, erörtert Kowatsch. „Vielmehr soll unser Guide die bereits vorhandenen Medien abrunden und ergänzen – mit Informationen, Stimmungen und Details, die nur akustisch oder audiovisuell transportierbar sind.“ Solche Führungen entstehen nicht auf die Schnelle: „Wir arbeiten grundsätzlich sehr, sehr eng mit dem Auftraggeber zusammen“, skizziert Kowatsch das Vorgehen, „und reisen auch immer zu einer Begehung vor Ort, an der sowohl Kuratoren wie auch Vertreter der Museumspädagogik teilnehmen.“ Gemeinsam wird abgestimmt: Welche Objekte werden durch den Audiovisuellen- oder Multimedia-Guide hervorgehoben? Welche Informationen benötigt ein Besucher im Raum? „Wenn es um einen Guide für eine Dauerausstellung geht, gestalten wir diesen grundsätzlich aus der Perspektive des Erstbesuchers: Kommt dieser in einen Raum, muss man ihn beim Betreten eines Raumes abholen und von dort zu den wichtigsten Highlights hinführen.“ Um auch bei Sonderausstellungen so präzise wie möglich arbeiten zu können, spricht das tonweltTeam hier mit den zuständigen Gremien des Museums detailliert Hängungspläne und Raumabläufe durch, damit sich die Führung später hautnah an das tatsächliche Besuchererlebnis anschließt. Je eher die Guide-Profis bei der Ausstellungsplanung mit ins Boot geholt werden, desto besser. Ideale Verhältnisse habe sein Team beispielsweise bei „Original Bauhaus“ – einer Ausstellung des Bauhaus-Archiv – Museum für Gestaltung in der Berlinischen Galerie gehabt, die noch bis 27. Januar 2020 zu sehen ist, berichtet Kowatsch. „Wir waren bereits ein Jahr vor Ausstellungs-Eröffnung mit in die Planungen eingebunden und haben ein inhaltliches Konzept erarbeitet, für das wir sowohl mit historischen Archivaufnahmen gearbeitet haben wie auch mit Interviews, die wir extra für den Audioguide geführt haben. So haben wir sowohl Originaltöne von Walter Gropius eingesetzt, wie auch Zitate aus unseren eigenen Gesprächen mit der Keramikerin Uli Aigner, die auf Grundlage von Bauhaus-Modellen eigene, aktuelle Serien erarbeitet hat, oder mit einer Genderforscherin der Humboldt-Universität, die den Blick auf die Künstlerinnen am Bauhaus mit ihren Ausführungen zur sich wandelnden Rolle der Frau in den Zwanziger Jahren abrundet.“ 1/2020

Fotos: Lena Deinhardstein © Ursula Mayer; Victoria & Albert Museum, London / tonwelt

Welche Objekte werden durch den Audiovisuellen- oder Multimedia-Guide hervorgehoben? Welche Informationen benötigt ein Besucher im Raum? Der künstlerische Leiter von tonwelt, Klaus Kowatsch, erklärt seine Herangehensweise bei der Erarbeitung von Inhalten


MUSEUMSAUSSTATTUNG

Einen besonderen Schwerpunkt nimmt – bei der Bauhaus-Ausstellung, aber auch bei vielen anderen Projekten, ein spezielles Angebot für Blinde und Sehbehinderte ein, denen ein Audioguide einen ganz neuen, intensiven Zugang zu den dargestellten Objekten ermöglichen kann. „Mittlerweile“, weiß Kowatsch, „gibt es kaum noch eine große Ausschreibung, die ein solches Angebot nicht mit beinhaltet.“ Auch Führungen in leichter Sprache sowie ein spezielles Angebot für Kinder gehören fast immer zum Standard. Entsprechend beachtlich ist der Aufwand, der hinter der Produktion alleine schon eines Audioguides steht, der noch keine weiterführenden Multimedia-Angebote umfasst: Involviert sind mindestens zwei Autoren, pro Sprache zwei bis vier Sprecher, zuzüglich Kindern, die bei Kinderführungen zu hören sind, dazu kommen ein Regisseur, das technische Team im Studio, und, und, und… Doch der immense Aufwand lohnt, vor allem, wenn der Audioguide für den Besucher ein unverzichtbares Element des Ausstellungsbesuches wird, ihm zu dem Gesehenen eine ganz neue Dimension eröffnet – ein Konzept, das vor zwei Jahren bei der Aufsehen erregenden Ausstellung „Opera: Passion, Power and Politics“ im Victoria & AlbertMuseum in London auf die Spitze getrieben wurde. Die Ausstellung spannte den Bogen über die gesamte Operngeschichte, von den Anfängen im Italien der Spätrenaissance bis in die Gegenwart. „Wir hatten in den Räumen ,triggerPoints‘ installiert, die automatisch Inhalte auf dem Multimedia-Guide auslösten, sobald der Besucher den Raum betrat. So wurde er mit Musik aus der gleichen Epoche emp-

fangen, aus der die Exponate stammten und konnte das synästhetische Erlebnis eines Opernbesuchs zur jeweiligen Zeit viel authentischer nachvollziehen als ohne diesen akustischen Eindruck.“ Das Konzept funktioniert – nicht weniger packend – auch mit ganz anderen Musikstilen: Bei einer Ausstellung der New York Historical Society über den legendären Rockkonzert-Veranstalter Bill Graham (ab Februar 2020) kann der Besucher mithilfe der Sounds von Janis Joplin, den Doors, David Bowie oder Aerosmith vollkommen in die Glitzerwelt von Rock, Glamrock und Eighties-Pop eintauchen. In vielen Museen und Sehenswürdigkeiten hat Musik in den Audioguides, neben dem Transportieren einer Stimmung oder eines Lebensgefühls, noch eine ganz andere Aufgabe: Für die auch akustisch quicklebendige Stadt Istanbul produzierte tonwelt Audioguides für die 13 wichtigsten Paläste und Museen dieser kulturell unendlich reichen Metropole. In einem so unruhigen Szenario helfen Musikeinspielungen, die Aufmerksamkeit des Besuchers zu fokussieren – sowohl auf die eingesprochenen Inhalte, wie auch auf die Kunstwerke selbst. Ein Kniff, der auch bei den Louvre-Führungen zum Einsatz kommt. „Der Louvre ist das meistbesuchte Museum der Welt“, weiß Kowatsch. „Nicht nur die Säle mit den Highlights, auch Sonderausstellungen wie die LeonardoSchau sind vollkommen überlaufen. Hier sorgen wir mittels Musik dafür, dass der Besucher trotz des Gewimmels zur Ruhe kommt und seine Sinne überhaupt erst öffnen kann für die Schönheit der Kunst.“

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Dr. Claudia Teibler

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DIGITALISIERUNG

Nachdrücklich für die Fotografie Das Original in der Kunst gilt als Ausdruck einer genialen Schöpfung mit einmaliger Aura. Heute lassen sich Originale 1:1 immer wieder neu erschaffen – jedenfalls in der zeitgenössischen Fotografie. Das Berliner Unternehmen recom ART wirft – in enger Kooperation mit Künstlern, Kuratoren, Restauratoren und Sammlern – die Frage nach dem Original neu auf

ABSTRACT Emphasis on photography The original in art is regarded as the expression of a brilliant creation with a unique aura. Today, originals can be recreated 1:1 again and again – at least in contemporary photography. The Berlin company recom ART – in close cooperation with artists, curators, conservators and collectors – raises the question of the original anew.

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„Für uns ist das fotografische Kunstwerk an der Wand nicht das Original, es ist nur ein Teil des Originals“, erläutert Markus Paul Müller. Müller ist einer der drei geschäftsführenden Gesellschafter des Berliner Unternehmens recom ART, das 1985 als Schwarz-Weiß-Fotolabor in Stuttgart gegründet wurde und seitdem sämtliche Entwicklungen der Fotografie mit durchlaufen hat. Das Original sei vielmehr die Summe aller vom Künstler autorisierten materiellen Formen der Fotografie, so Müller – vom Negativ über die Originaldatei und Teststreifen, die schriftlich fixierte Idee, die Edition bis hin zu den Kopien und Künstlerbüchern. Mehr noch: Auch die künstlerische Intention, die Produktion und alle Kompromisse, die gemacht werden, um eine Arbeit zu realisieren, flössen ein in das Original. Mithilfe digitaler Medien ließen sich das „Aussehen und die Wirkung“ eines Werkes erfassen:

„Wir ahmen also keine Kopie nach, sondern produzieren exakt mit den gleichen Materialien und Methoden das Werk neu.“ Bilder werden nicht mehr reproduziert durch Abzüge oder Kopien, die sich immer ein bisschen vom Erstdruck unterscheiden und sich von Kopie zu Kopie weiter davon entfernen, sondern als „Klon“. Müller erläutert, dass recom ART mit dem Cruse-Scanner, der direkt vom Original scannt, mit dem 2009 entwickelten Referenzscan ein „absolut farblich korrektes“ Digitalisat erziele. Zwar widerspreche die Philosophie des Neudrucks als Teil des Originals der gängigen westlichen Logik – nicht zuletzt der sammelnden Institutionen – sei aber selbst keineswegs „originell“. So beschreibt der Philosoph Byung-Chul Han in seinem 2011 erschienenen Buch „Shanzhai: Dekonstruktion auf Chinesisch“ Shanzhai – übersetzt bedeutet das in etwa „Fakes“ – als „besondere Spielart der 1/2020

Fotos: recom Art, Berlin

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DIGITALISIERUNG

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Kreativität“. Bereits seit Urzeiten werde nach chinesischem Verständnis die Kopie in einer „totalen Inversion des Verhältnisses zwischen Original und Kopie“ selbst zum Original. Eine Sichtweise, mit der recom ART sich seit geraumer Zeit auseinandersetzt und in hohem Maße identifizieren kann. Dem Objekthaften, Besitzbaren des Kunstwerkes stellen die Pioniere von recom ART die Idee eines Originals gegenüber, das mehr ist als ein vergänglicher Ausdruck. Während Shanzhai hierzulande jedoch eher mit „Diebstahl geistigen Eigentums“ bzw. Produktpiraterie gleichgesetzt wird, druckt recom ART nur – nach detaillierter inhaltlicher und rechtlicher Abstimmung – Werke, die der Künstler bzw. Nachlassverwalter autorisiert hat. Müller betont, dass es sich dabei stets um Nachdrucke und nie um Kopien handele. Auch nachgedruckte Motive beschädigter Editionskopien würden zum Bestandteil des Originalwerks, wenn sie 1/2020

zu den anderen autorisierten Kopien passten, entwickelt Müller die Idee weiter. Entscheidend sei vielmehr die Qualität des Nachdrucks und ob dieser vom Künstler oder von jemandem, der die Absicht des Kunstwerks versteht, genehmigt ist. Zunehmend interessierten sich auch deutsche Museen für einen offenen Zugang zum Original. „In letzter Zeit haben uns viele Kuratoren und Restauratoren besucht. Offensichtlich bahnt sich in Deutschland ein Umdenken an.“ Ein Umdenken, wie es in den USA bereits in vollem Gange sei. Im Mai hatte Müller im San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA) an einem FotografieSymposium teilgenommen. Die Künstlerinitiative des SFMOMA hatte die Veranstaltung über den Nachdruck von Farbfotografien als Erhaltungsstrategie initiiert. Ihr Wunsch war ein neu definierter Ansatz des Museums bezüglich des Nachdrucks und beim Erwerb, der Verwaltung und der Präsentation

1 Datenbank-Management bei recom ART (Screenshot) 2 Blick in den Abstimmraum von recom ART in Berlin

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GOLDENE TAFEL

Der schwingungsisolierte Sockel der Goldenen Tafel im Landesmuseum Hannover Die Goldene Tafel aus Lüneburg gilt als ein Hauptwerk der europäischen Gotik um 1400. In den vergangenen Jahren wurde das Objekt umfassend restauriert. Im Auftrag des Landesmuseum Hannover konstruierte und berechnete Expertin Dr. Kerstin Kracht in Zusammenarbeit mit der Architektin Kerstin Tegeler und der Firma museumstechnik GmbH den objektspezifischen, schwingungsoptimierten Sockel. In der Schau „Zeitwende 1400 – Die Goldene Tafel als europäisches Meisterwerk“ ist das Kunstwerk im Landesmuseum Hannover bis Ende Februar 2020 zu bewundern

1 1/2 Blick in die Ausstellung im Landesmuseum Hannover mit Vorder- und Rückenansicht der Goldenen Tafel – eines der kostbarsten Werke in der renommierten Mittelaltersammlung des Museums

ABSTRACT The vibration-isolated pedestal of the Golden Table in the Landesmuseum Hannover The Golden Tablet from Lüneburg is regarded as a major work of European Gothic architecture from around 1400. The object has been extensively conservated in recent years. Expert Dr. Kerstin Kracht, together with architect Kerstin Tegeler and museumstechnik GmbH, constructed the object-specific, vibration-optimised plinth. The art object can can be admired in the exposition „The Golden Table as a European Masterpiece“ in the Landesmuseum Hannover until the end of February 2020.

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Die Goldene Tafel aus Lüneburg gilt als ein Hauptwerk der europäischen Gotik um 1400. In den vergangenen Jahren wurde das Objekt umfassend restauriert. Im Auftrag des Landesmuseum Hannover konstruierte und berechnete die Expertin Dr. Kerstin Kracht in Zusammenarbeit mit der Architektin Kerstin Tegeler und der Firma museumstechnik GmbH den objektspezifischen, schwingungsoptimierten Sockel. In der Schau „Zeitwende 1400 Die goldene Tafel als europäisches Meisterwerk“ ist das Kunstwerk im Landesmuseum Hannover bis Ende Februar 2020 zu bewundern. In der Zeit um 1400 schufen große Schreiner, Bildschnitzer und Maler ein Hochaltarretabel von herausragender Bedeutung: die Goldene Tafel für die Benediktinerabteikirche St. Michaelis zu Lüneburg – eines der kostbarsten Werke in der renommierten Mittelaltersammlung des Landesmuseums Hannover. Mit der finanziellen Förderung durch die Volkswagenstiftung, die Klosterkammer Hannover und die FAMA Kunststiftung wurde das Retabel in einem groß angelegten interdisziplinären Forschungsprojekt in den Jahren 2012 bis 2016 von Historikern, Kunsthistorikern und Kunsttechnologen intensiv

untersucht. Insbesondere wurden die einzigartige Geschichte, der Stil und die Konstruktion sowie die materielle Beschaffenheit des doppelt wandelbaren Altars analysiert. Anschließend wurde das Retabel in einem ebenfalls groß angelegten Projekt mit bis zu sechs Restauratorinnen von Anfang 2016 bis März 2019 restauriert. Finanziert wurde das Restaurierungsprojekt von dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Klosterkammer Hannover sowie dem Bündnis Kunst auf Lager mit der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Rudolf-August Oetker-Stiftung, der Kulturstiftung der Länder und der VGH Stiftung. Mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit wurden die Schmutzschichten und verbräunte Überzüge entfernt, alte Retuschen abgenommen und die Fehlstellen geschlossen. Während der Restaurierung legte das Landesmuseum Hannover großen Wert auf Transparenz: In einer offenen Werkstatt konnten Besucher den Fortschritt der Arbeiten verfolgen. Während der öffentlichen Führungen konnten sich die Interessierten über die Arbeit der Restauratorinnen informieren. Außerdem wurde ein 1/2020


GOLDENE TAFEL

Fotos: © Landesmuseum Hannover

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Patenschaftsmodell entwickelt. Privaten Förderern wurde es auf diese Weise ermöglicht, sich an einer der umfangreichsten Restaurierungsmaßnahmen der Gegenwart in der deutschen Museumlandschaft zu beteiligen. Seit dem 27. September 2019 erstrahlt die Goldene Tafel in neuem Glanz und kann in der Sonderausstellung „Zeitenwende 1400 – Die Goldene Tafel als europäisches Meisterwerk“ im Landesmuseum Hannover bewundert werden (siehe Infokasten rechts). Teil des Projektes war auch die Planung und Realisierung eines schwingungsisolierten Sockels für die Neupräsentation der Goldenen Tafel. Dieses Teilprojekt wurde von der Ernst von Siemens Kunststiftung finanziert. Hintergrund war eine bereits vor 25 Jahren erfolgte Einsicht. Wegen seiner fragilen Aufhängungen und des geschädigten Holzes sowie der empfindlichen Goldüberzüge musste dieses opulente Werk vor Stößen und Vibrationen aus der Umgebung geschützt werden. Namenhafte Professoren der Schwingungstechnik von der Technischen Universität Berlin und der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Prof. Waldemar Stühler und 1/2020

Prof. Hans Günther Natke, untersuchten damals die Schwingungen des Fußbodens in den Ausstellungsräumen des Landesmuseums Hannover. Sie stellten fest, dass die Schwingungen des Fußbodens durch das Objekt selbst verstärkt werden

„Zeitenwende 1400 – Die Goldene Tafel als europäisches Meisterwerk“ Die Goldene Tafel, der Hochaltaraufsatz der Benediktinerkirche St. Michaelis in Lüneburg, diente der Inszenierung eines wertvollen Kirchenschatzes und zählt zum Schönsten, was sich aus der Zeit um 1400 erhalten hat. Erstmals seit der Auflösung des Gesamtwerks werden die einzelnen Bestandteile wieder gemeinsam präsentiert. Die Ausstellung spürt den Gründen für die Entstehung des Kunstwerks, seiner exzeptionellen, früh einsetzenden Wahrnehmung als Geschichtsmonument von überregionaler Bedeutung und seiner herausragenden künstlerischen Qualität nach. Mit prominenten Leihgaben aus dem In- und Ausland wird ein reiches Panorama der Kunst um 1400 gezeichnet. Nach einer umfassenden Restaurierung kann die Goldene Tafel nun in neuem Glanz erstrahlen. Die Sonderausstellung im Landesmuseum Hannover läuft bis zum 23. Februar 2020. Weitere Informationen finden Sie unter: www.landesmuseum-hannover.de

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MUSEUMSAUSSTATTUNG

Sehen mit den Händen

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ABSTRACT Seeing with your hands In order to make images more accessible to the blind and visually impaired, the Paula ModersohnBecker Museum now offers a 3D model of the artist's self-paced act.

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Es ist eines der wichtigsten Werke der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts auf dem Weg in die klassische Moderne: Paula Modersohn Beckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“, gemalt im für die Künstlerin typischen, formal reduzierten, im Ausdruck aber zugleich sehr expressiven Stil. Das Gemälde ist das erste Bild, auf dem sich eine Frau selbst als Akt darstellt und entstand im Februar 1906, an einem Scheideweg in der Biographie der Künstlerin: Gerade hatte sie ihren Mann und die Künstlerkolonie Worpswede

verlassen und war nach Paris gegangen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, blickt sie den Betrachter fragend an. Ihre Hände hat sie schützend um den vorgewölbten Bauch gelegt, wie eine Schwangere. Allerdings: Zu diesem Zeitpunkt ist Paula ModersohnBecker nicht schwanger. Warum sich die Künstlerin dennoch so darstellte, gibt der Kunstgeschichte Rätsel auf, bis heute. Dieses Rätsel waren einer der Gründe, warum das heute im Bremer Paula Modersohn-BeckerMuseum befindliche Bild für ein ganz besonderes Projekt ausgewählt wurde: Anlässlich der Ausstellung „Ich bin Ich“ mit Selbstbildnissen der Künstlerin wurde das Gemälde als Relief in Eichenholz gefräst, um es auch sehbehinderten und blinden Besuchern näher bringen zu können. „Wir standen vor der Fragestellung: Wie können wir Selbstbildnisse für einen Personenkreis erfahrbar machen, dem das eigene Spiegelbild nicht präsent ist“, erinnert sich Anne Beel, im Museum für die Kunstvermittlung zuständig, an die Anfänge der Idee. Üblicherweise wird bei Angeboten für Sehbehinderte mit Requisiten gearbeitet, die auch im Bild dargestellt sind, und die betastet werden können. Oder mit Düften, die die gezeigten Objekte verströmen. Auf dem „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ trägt Paula Moderson-Becker eine Bernsteinkette. Aber die allein hilft beim Erfassen des Gehalts dieses Bildes kaum weiter. Relativ schnell war die Idee geboren, deshalb das ganze Gemälde mittels 3D-Druckverfahren ertastbar zu machen. Doch was zunächst relativ einfach umsetzbar schien, entpuppte sich als komplexes Problem. „Das war für uns eine genauso große Herausforderung wie für den Produktdesigner, den wir hinzugezogen haben“, berichtet der Direktor des Museums, Dr. Frank Schmidt. Dieser erarbeitet zunächst in mehrwöchiger Arbeit ein Modell – per Hand. Denn tatsächlich birgt das Hinzuentwickeln einer dritten Dimension zu einem zweidimensionalen Kunstwerk viele Hürden. Zum einen muss entschieden werden: Welche Details machen auch in einer räumlichen Umsetzung Sinn? Und welche verwirren – was beispielsweise für die Punkte des Hintergrunds galt. Dann muss die Körperhaltung definiert werden, und zwar so, dass sie der Haltung auf dem Gemälde entspricht, aber auch im Dreidimensionalen ihre anatomische Richtigkeit hat. Allein dieses ständige Abgleichen und Überprüfen nahm mehrere Tage in Anspruch. Das fertige Modell musste dann digitalisiert und in 1/2020

Fotos: Museen Böttcherstraße, Bremen / Peter Schwartz (1, 2, 3); Museen Böttcherstraße, Bremen (4)

Um Blinden und Sehbehinderten Bilder zugänglicher zu machen, bietet das Paula Modersohn-Becker Museum ab jetzt ein 3D-Modell eines Selbstaktes der Künstlerin an


MUSEUMSAUSSTATTUNG

eine Vorlage für eine automatische Fräse umgearbeitet werden. Zwei Tage brauchte das Gerät, um bei dem dafür vorgesehenen Eichenholzblock an den entsprechenden Stellen Schicht für Schicht abzutragen, bis eine Relief-Replik des Gemäldes im Verhältnis 1:2 entstanden war. Diese wurde dann noch geschliffen und geölt, um zu verhindern, dass sich das 3D-Bildnis beim Betasten rau anfühlt oder sich gar Splitter lösen. Ohne die Unterstützung der Waldemar-Koch-Stiftung wäre das aufwendige Projekt nicht zu finanzieren gewesen. Umso gespannter war das Museumsteam auf die Reaktionen der ersten blinden und sehbehinderten Besucher. Diese waren völlig begeistert – durch das Relief war es ihnen möglich, die komplette Körperhaltung, sogar die Neigung des Kopfes zu erfassen. „Das waren für uns Aha-Momente – wir waren überglücklich“, erinnert sich Anne Beel. Die Aufmerksamkeit, die die dreidimensionale Version des Selbstbildnisses auf sich zog, war auch unter nicht-sehbehinderten Museumsbesuchern so groß, dass das Relief, anders als ursprünglich geplant, nun ebenfalls ausgestellt wird, allerdings in einer Vitrine. Wirklich zu betasten wird es auch weiterhin nur im Rahmen von Spezialführungen sein. „Das Relief ,funktioniert‘ nur im Rahmen einer Führung wirklich gut, bei der auch Hintergrundwissen vermittelt wird, so dass die Teilnehmer ein bisschen wissen, was sie erspüren, wenn sie sich damit beschäftigen“, erklärt Beel. Schon der Aufwand, der hinter der Erstellung des Reliefs steht, hält Direktor Frank Schmidt auch davon ab, weitere Teile seiner Sammlung in 3D-Modelle umzusetzen. „Längst nicht jedes Bild eignet sich dafür – es darf, wie wir vom Blinden- und Sehbehindertenverein erfahren haben, nicht zu detailreich sein, sonst kann es beim Tasten nicht mehr als Ganzes erfasst werden.“ Der Landesbehindertenbeauftragte Joachim Steinbrück beispielsweise schilderte im Zuge der Projektumsetzung seine Erfahrungen mit einem 3D-Modell von Leonardos „Letztem Abendmahl“. Dieses sei aufgrund seiner Vielfigurigkeit so verwirrend gewesen, dass es einem Sehbehinderten nicht mehr möglich gewesen sei, Personen oder Details zuzuordnen. Und noch etwas muss ein Gemälde mitbringen, um sich sich für eine solche Umsetzung zu eignen, ergänzt Anne Beel: „Das Bild muss eine Geschichte haben, die man gut erzählen kann – dies war mit ein Grund, warum wir uns genau für das ,Selbstbildnis zum 6. Hochzeitstag‘ entschieden haben.“ 1/2020

æ Die Ausstellung ist noch bis zum 9. Februar 2020 zu sehen; eine Führung für sehbeinträchtigte Personen findet am 22. Januar 2020 statt

Sollte es möglich sein, noch ein zweites Bild dreidimensional umzusetzen – Frank Schmidt hätte schon eine Idee: Die von ihm geleiteten Museen in der Böttcherstraße beherbergen neben dem Paula Modersohn-Becker-Museum auch noch das Ludwig Roselius-Museum mit unschätzbaren Altmeistern, darunter das Cranach-Porträt von Martin Luther. Auch dieses würde alle Kriterien für eine sinnvolle dreidimensionale Umsetzung perfekt erfüllen. Vorerst aber wird es bei dem Relief von Modersohn-Beckers Selbstbildnis bleiben, mit dem Gedanken, dass das Tast-Relief mit dem häufig verliehenen Gemälde auf Reisen gehen könnte, um auch Sehbehinderten andernorts die Erfahrung zu ermöglichen, die eine blinde Besucherin nach der Beschäftigung des Reliefs in Worte fasste. „Ich kenne natürlich Paula Modersohn-Becker. Aber jetzt habe ich sie zum ersten Mal richtig gesehen.“ Dr. Claudia Teibler

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1 3D-Relief von Paula ModersohnBeckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“

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2 Zwei Tage brauchte die Fräse, um im Eichenholzblock an den entsprechenden Stellen Schicht für Schicht abzutragen, bis eine Relief-Replik des Gemäldes im Verhältnis 1:2 entstanden war 3 Blindenschrift im 3D-Relief 4 Ertasten des 3D-Reliefs

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