Restauro 01 2010

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Forum für Restauratoren, Konservatoren und Denkmalpfleger

FANTASTISCH PLASTISCH? SCHÄTZE DES ALTEN SYRIEN MALEREI AUF MODERNEN HOLZBILDTRÄGERN BAFRA: MÖBELRESTAURIERUNG IN ENGLAND CONSERVATION OF EPHEMERAL ARTS VERMEER ZUM ANFASSEN BIOFILMS FROM ROMAN CATACOMBS

www.restauro.de

1 Januar/Februar 2010


INHALT DAI Außenstelle in Peking

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VDR: 6. Restauratorentag

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Bildträgerinduzierte »Stockflecken«

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Fantastisch plastisch? Tom Dixon’s Chair

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Museumswissen Nachgefragt Ausstellung Lesezeichen Firmen + Produkte

Foto/© Dr. M. Knaut

Foto: Ulrik Runeberg

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RESTAURO AKTUELL 3 6 8 14 17 20

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RESTAURO THEMEN

Verwölbungsmessungen

Foto/© Markus Bomholt, Stadtmuseum Münster

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Potsdam in Ägypten

Editorial Werkstätten und Institute Blickpunkt Tagungsberichte Internet Forschung

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Ulrik Runeberg Mikrobieller Befall und bildträgerinduzierte Verfärbungen Malereien auf Hartfaserpaneelen und anderen Holzwerkstoffen

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Tim Bechthold Fantastisch plastisch? Tom Dixons S-Chair

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Anita Durand To re-instore An alternative for the conservation of ephemeral arts?

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Monica Roldán and Mariona Hernández-Mariné Photosynthetic biofilms from Roman catacombs 3-D imaging and pigment identification

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Charles Stanish Forging Ahead Or, how I learned to stop worrying and love eBay

RESTAURO RUBRIKEN Foto: Prof. G. Hauff

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Abstracts Autoren Termine Stellenanzeigen Impressum

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INHALT Überlegungen zu ephemeren Kunstwerken

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Biofilme in römischen Katakomben

Foto/©: Axelle Galtier

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Titelbild Eine Studentin der HfBK richtet die Frisur des brieflesenden Mädchens von Vermeer, Foto/© Thomas Scheufler (siehe Artikel auf S. 8)

Die in RESTAURO veröffentlichten Ansichten der Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen. Bildnachweis: Soweit nicht anders angegeben, stammen die Abbildungen von den Autoren.

Forum für Restauratoren, Konservatoren und Denkmalpfleger 116. Jahrgang

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Für die Zukunft gestalten.

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FORSCHUNG

Foto: Prof. G. Hauff

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Potsdams »Ägyptisches Abenteuer«

Foto: Prof. G. Hauff

Steinkonservierung in Tell Basta

Foto: Prof. G. Hauff

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1 Vorbereitung zum Transport der Fragmente vom Grabungsfeld in die »Open-Air«-Werkstatt 2 Ein Student der Expeditionsgruppe beim Strahlen eines Fragments. 3 Montage zur Ergänzung der Fragmente einer typisch königlichen Standfigur mithilfe von 3-D Scans

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Eingebettet in ein deutsch-ägyptisches Grabungsprojekt erlebt die Studienrichtung Steinkonservierung der Fachhochschule Potsdam ein besonderes »ägyptisches Abenteuer«. Im sogenannten Tell Basta Projekt im östlichen Nildelta, das auf deutscher Seite von Dr. Eva Lange vom Historischen Institut/Ägyptologie der Universität Potsdam und auf ägyptischer Seite von Dr. Mohammad Abd el-Maksoud vom Supreme Council of Antiquities of Egypt geleitet wird, steht vor allem die anwendungsbezogene Arbeit im Vordergrund. Studierende und Lehrende der Studienrichtung Steinkonservierung führen im Rahmen des Projekts Restaurierungsarbeiten an einer monumentalen Granitskulptur König Ramses II. durch, die auf das 13. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Heute befindet sich die wohl bei einem Erdbeben in zwölf Teile zerbrochene Skulptur im Grabungsfeld des Tempels der Göttin Bastet in der altägyptischen Stadt Bubastis (heute Zagazig). Den praktischen Restaurierungsarbeiten ging eine Planungs- und Vorbereitungsphase voraus, zu der bereits im Frühjahr 2009 ein »Späh- und Organisationstrupp«, bestehend aus Wilhelm Ehrt (Student), Dr. Peter Kozub (Werkstattleiter) und Prof. Gottfried Hauff (Projektleiter und Leiter der Studienrichtung Steinkonservierung an der FHP), nach Zagazig reiste. Im Anschluss fanden verschiedene Arbeitstests und Laboruntersuchungen an der FH Posdam statt. Außerdem wurde eine Studienarbeit im Masterstudiengang Bauerhaltung auf den Weg gebracht, bei der die Studenten Simeon Burkhardt und Sarah Hutt, betreut durch Prof. Dipl.-Ing. Gerhard Eisele, die von Dr. Kozub entworfene Vernadelungs- und Aufstellungsmethode der Kolossalskulptur statisch modellieren und absichern sollen. Katja Gustke vom Fachbereich Design unterstützte das Projekt, in-

dem sie gut handhabbare, auf den Maßstab 1:20 verkleinerte Kunstharzmodelle der Skulpturenfragmente anfertigte, wobei ein aus einer früheren Kampagne stammender 3D-Scan-Datensatz zum Einsatz kam. Diese Mini-Modelle dienen als Planungshilfe für die Fragmentmontage, für ein Rekonstruktionsmodell der fehlenden Skulpturenteile (Entwurf: Michael Fielauf) und als Kommunikationshilfe in den Planungsbesprechungen und -verhandlungen mit den deutschen und ägyptischen Kooperationspartnern und dem Auswärtigen Amt der BRD, das die Mittel für das Restaurierungsprojekt bereitstellt. Seit dem 15. September waren drei Studierende der Steinkonservierung, Sophie Hoepner, Michael Fielauf, Oliver Kohn, vor Ort und wurden hierbei abwechselnd von Professor Gottfried Hauff, Dr. Peter Kozub und dem Diplom-Restaurator Karsten Schneider, einem FHP-Absolventen des ersten Jahrgangs, betreut. Ihre Aufgabe ist es, die Fragmente vom Grabungsfeld zum »Open-Air«-Werkstattbereich zu transportieren, wobei zum Teil auf die jahrtausendelang bewährte und dennoch Risiko behaftete Methoden des Hebens und Bewegens der bis zu 3,2 Tonnen schweren Bruchstücke mithilfe von Hebeln, Rollen und Flaschenzug am Dreifuß zurückgegriffen werden musste. Zum Glück konnten für die Wegstrecke zwischen Start und Ziel auch ein Hublader benutzt werden, der mit großer Gelassenheit und in sensibelster Millimeterpräzision von einem ägyptischen Fahrer bedient wurde. Zu den Aufgaben der Studierenden zählt außerdem die Vorbereitung des Rückenpfeilers zur Vernadelung. Um mit einem Kernbohrgerät präzise ausgerichtete Bohrlöcher durch das Fragment führen zu können, muss der Bohrkanalverlauf auf jedem Fragment sorgfältig eingemessen werden, wofür die schweren Fragmente mit dem Dreifuß aufeinander gestellt werden müssen. Die insgesamt sechs Fragmente des Rückenpfeilers sollen am Ende durch das Einbringen nicht rostender

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FORSCHUNG + MUSEUMSWISSEN Gewindestahlstäbe unter Zugspannung verbunden werden. Schließlich werden die Skulpturenfragmente mithilfe von unterschiedlich dimensionieren Feinpartikelstrahlgeräten und Strahlgutsorten von unterschiedlicher Härte, Kantigkeit und Gewicht gereinigt. Dabei geht es um die Beseitigung der weißen Kalkablagerungen, die die Oberflächenästhetik der erhaltenen Fragmente stark beeinträchtigen. Unterstützt wurden die Arbeiten durch die Firma Kärcher, die das Strahlgut und ein Strahlpistole kostenlos bereitstellte und liefert.

Nach der Rückkehr der Exkursionsteilnehmer am 20. Oktober haben die Planungen für die nächste Kampagne begonnen: Es soll ein Konzept für die Weiterführung und Vollendung des Restaurierungsprojekts erstellt und die Förderung beim Auswärtigen Amt der BRD beantragt werden. Ansprechpartner für weitere Infos ist Prof. Gottfried Hauff, Studienrichtung Steinkonservierung, Fachhochschule Potsdam, Tel. 03 31/58 0-12 18, Fax -12 99, hauff@fh-potsdam.de, www.fh-potsdam.de

Ausstellung um Ausstellung werden Gemälde in Transportvitrinen aus Kunststoff, Holz und Glas verpackt, um sie vor schädlichen Außeneinflüssen zu schützen. Im Regelfall bieten diese einen guten Schutz, da sich im Vitrineninneren ein Mikroklima ausbildet, das einen Großteil der Schadstoffe von außen fernhält. Dennoch sind die Kunstwerke nie hundertprozentig geschützt, da es oftmals zu Materialemissionen kommen kann. Giftige Gase wie Essigsäure können aus Klebstoffen, Holz, Kunststoffen und anderen verwendeten Baustoffen austreten und sich im Inneren der Vitrine ansammeln. Nicht selten geben auch die Kunstwerke (z. B. Gemälde) selbst schädliche Schadstoffe ab, die sich in dem Gehäuse akkumulieren können. Diese schadhaften Agenzien reagieren dann mit den Kunstwerken (z. B. mit den Pigmenten eines Gemäldes) und haben deren langsame Zerstörung zur Folge. Um diesen unerwünschten Effekten vorzubeugen, entwickelten Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Silicatforschung (ISC) in Würzburg gemeinsam mit verschiedenen europäischen Projektpartnern spezielle Umweltsensoren, die die Schadstoffkonzentration in den Vitrinen messen. Dr. Paul Bellendorf, Kompetenzfeldleiter für Umweltmonitoring und Kulturgüterschutz am Fraunhofer ISC, erklärt die Wirkungsweise dieser sogenannten Glasdosimetern: »Hierbei handelt es sich um ein empfindliches und instabiles Glas, das von der Zusammensetzung her mittelalterlichen Gläsern sehr ähnlich ist. Vor allem der hohe Kaliumanteil macht die Gläser so empfindlich. Bei schlechten Umweltbedingungen, wie z. B. bei einem hohen Anteil SO2, Acetat, Formaldehyd etc. in der Luft, wird die Glasoberfläche korrodiert. Das im Glas enthaltene Kalium und Calcium wird ausgelaugt und Wasser wird eingelagert; es bildet sich die sogenannte Gelschicht. Der Wasseranteil wird vor und nach der Exposition mittels eines Infrarotspektrome-

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Foto/© K. Dobberke, Fraunhofer ISC

Neue Schadstoffsensoren für ein besseres Mikroklima in Vitrinen

ters (FTIR) gemessen und die Werte miteinander verglichen. Auf diese Weise lässt sich der sogenannte Δ-Wert bilden. Dieser ist ein direktes Maß für die Umgebungsbedingungen. Je höher der Δ-Wert, umso größer das Schadenspotenzial am Messstandort. Das besondere an den im EU-Projekt eingesetzten Dosimetern ist, dass sie nicht nur einen einmaligen Jetztwert messen, sondern eine konkrete Aussage über den Einfluss der Umgebungsparameter, kumulativ, über einen längeren Zeitraum geben«. Auch die Sensoren, die das »Norwegian Institute for Air Research« (NILU) entwickelte, basieren auf einer ähnlichen Technik, allerdings wird dort ein Polymer statt eines Glases eingesetzt, während das vom Birbeck College in London entwickelte Dosimeter mittels eines Polymers oder Bleicoupons arbeitet und den Gewichtsunterschied durch den korrosiven Angriff misst. Mithilfe dieser neuartigen Sensoren lässt sich nicht nur das Mikroklima in den Vitrinen entscheidend verbessern, auch die Frage der Haftung lässt sich besser klären: Ist ein Bild nach dem Transport beschädigt, können die Vitrinenhersteller mithilfe der Sensoren genau nachweisen, ob Emissionen aus der Vitrine zu den Schäden geführt haben oder andere Gase. Alle drei Dosimeter sind bereits beim Fraunhofer ISC, dem NILU und dem Birbeck College erhältlich. Weitere Informationen sind einzusehen auf der Website http://propaint.nilu.no.

Sog. Umweltwirkungssensoren, die Glasdosimeter auf der Basis säureempfindlicher Spezialgläser, überwachen das Klima in Transport- und Lagervitrinen für Gemälde.

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AUSSTELLUNG

© BDA, Foto: Irene Dworak

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© BDA, Foto: Irene Dworak

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»Frisch restauriert«: Passionsreliefs aus dem Stephansdom Ausstellungsreihe »Gefährdet – Konserviert – Präsentiert« wird fortgesetzt

1 Geißelung Christi (Detail), vor der Restaurierung, Stephansdom, Wien 2 Geißelung Christi (Detail), nach der Restaurierung, Stephansdom, Wien 3 August Stefan Kronstein, Blick auf die Schatzkammer des Stephansdoms mit den Passionsreliefs, 1882

© Österreichische Nationalbibliothek, Wien

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Eines der bedeutenden Kunstwerke des Stephansdoms ist der Reliefzyklus der Passion Christi aus dem frühen 16. Jahrhundert. Aus großen Breitenbrunner Kalksandsteinblöcken gemeißelt, schildert er detailreich den Leidensweg Christi. 2008/09 wurden die Skulpturen durch das Bundesdenkmalamt restauriert und naturwissenschaftlich untersucht. Bevor die Reliefs künftig im Stephansdom neu positioniert werden, können Interessierte sie im Rahmen der Ausstellungsserie »Gefährdet – Konserviert – Präsentiert« bis zum 7. Februar im Schaudepot Schatzhaus Mittelalter im Unteren Belvedere aus nächster Nähe betrachten. Von dem ehemals mindestens elf Reliefs umfassenden Kunstwerk, das früher seinen Platz an der Außenwand der Schatzkammer beim Chor hatte, haben sich sechs erhalten. Einige fielen den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer, ein Relief ging bereits in der Barockzeit beim Einbau eines Fensters verloren. 1581 wurden die Reliefs, die aus dem Umkreis Michael Tichters stammen, erstmals farbig gefasst. Davon sind noch heute Reste vorhanden. Die erhaltenen Szenen wurden 1942 abgenommen und 1952 im Kircheninneren an der Südwand des Apostelchors montiert. Die Reliefs waren so stark beschädigt, dass ihre Abnahme und Bearbeitung im Atelier erforderlich war. Dabei galt es, den historisch gewordenen Zustand der Reliefs zu berücksichtigen und in den Restaurierungsprozess einzugliedern. Die

Steinreliefs waren sehr verschmutzt, schwarz verkrustet und verwittert. Abgesehen von zahlreichen Ausbrüchen ist auch die originale Farbfassung nur noch in reduzierter Form erhalten. Das Naturwissenschaftliche Labor des Bundesdenkmalamts war dabei behilflich, Informationen zur ersten Polychromie und zu den Überarbeitungen zu liefern. Die konservatorischen Maßnahmen umfassten eine Wiederbefestigung von lockeren Reliefpartien, eine Reinigung und Freilegung der noch vorhandenen Reste der Farbfassung sowie eine partielle Festigung von gefährdeten Bereichen. Mithilfe von verschiedenen Reinigungsund Retuschiermethoden sowie großem Fingerspitzengefühl versuchten die Restauratoren ein ästhetisch nachvollziehbares, homogenes und authentisches Altersbild zu erreichen. Die Restauratoren hinterließen ein Detail in der Kreuzigungsszene für die Präsentation im Belvedere ungereinigt. Auf diese Weise bekommt der Ausstellungsbesucher einen Eindruck von dem stark verschmutzten Zustand der Steinoberfläche vor der Restaurierung. Die Reinigung dieses Details erfolgt erst dann, wenn die Reliefs wieder in den Stephansdom rückgeführt werden. Schautafeln präsentieren den Besuchern die wichtigsten Informationen und Forschungsergebnisse, die mit dem Kunstwerk und seiner Restaurierung verbunden sind. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger wissenschaftlicher Katalog (ISBN 978-3-901508-75-2, 15 Euro, erhältlich in den Shops des Belvedere) erschienen, der das Werk aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: In einem ersten Teil werden historische und kunsthistorische Hintergründe erläutert und anschaulich bebildert. Der zweite Teil des Kataloges widmet sich der Restaurierung des Kunstwerkes: Markus Santner stellt neue Erkenntnisse zur Restauriergeschichte der Passionsreliefs vor. Im Beitrag von Markus Santner, Gertrud Zowa und Johann Nimmrichter geht es um Technologie, Konservierung und Restaurierung. Robert Linke beschreibt die naturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Polychromie der Passionsreliefs. Den Abschluss der Beiträge bildet eine Erläuterung zum verwendeten Sandstein. Ein Tafelteil, der Abbildungen nach der Restaurierung zeigt und die Restaurierung dokumentiert, vervollständigt den sehr informativen Katalog. Mehr Infos: Täglich 10 bis 12 Uhr, Belvedere, Prunkstall, Rennweg 6, 1030 Wien, Tel. 00 43/1/79 55 70, info@belvedere.at, www.belvedere.at

Hinweis Weitere Ausstellungen stellen wir Ihnen auf den Seiten 65 und 66 vor.

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LESEZEICHEN

Das Neumünster zu Würzburg. Baugeschichte-Restaurierung-Konzeption

Rembrandt. The Painter at Work

Jürgen Emmert, Jürgen Lenssen (Hrsg.), Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2009, 216 Seiten, 121 farbige Abb., 35 S/W Abb., Fadenheftung, ISBN 978-3-7954-2185-4, Euro 39,90

Ernst van de Wetering, University of California Press, Berkeley, Los Angeles, 2009, 354 Seiten, 228 farb. Abb., 107 S/W Abb., ISBN 978-0-520 2-5884-6, US $ 39,95

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Würzburger Neumünster stark beschädigt und konnte unlängst in einer über zweijährigen Restaurierung glanzvoll wiederhergestellt werden. Während die Arbeiten in den ersten Nachkriegsjahren vorrangig der Benutzbarkeit des Gotteshauses dienten, konnte nun erstmals der gesamte Innenraum mit seiner Ausstattung sorgfältig restauriert werden. Verschiedene Funde wie Epitaphien aus dem 16. und 17. Jahrhundert führten dabei zu neuen Erkenntnissen und bereichern die Bau- und Ausstattungsgeschichte des Neumünsters. Die einzelnen Kapitel gehen auf die baugeschichtlichen Phasen der Kirche ein, von Romanik über Barock bis hin zur Gegenwart. Die 14 Autoren (Historiker, Denkmalpfleger und Restauratoren) der einzelnen Beiträge dokumentieren reich bebildert die Restaurierung des Innenraumes, der Wandmalereien, Skulpturen etc. Auf diese Weise werden neueste Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht und dem Leser in vielen Details die Architektur und Ausstattung der Kirche näher gebracht.

Dieses in Englisch geschriebene Buch wurde 1997 erstmals herausgebracht und ist seither mehrmals nachgedruckt worden; dabei blieb es aber unverändert, abgesehen von der Korrektur von Druck- und Indexfehlern. Seit längerer Zeit war dieses Buch nicht mehr erhältlich – jetzt liegt es als erste revidierte Neuausgabe wieder vor. Der Autor hält im Vorwort fest, dass diese Ausgabe in den meisten Aspekten und auch im Schriftbild mit der Erstausgabe identisch sei, abgesehen von kleinen Veränderungen im Haupttext. Hingegen wurden wichtige zusätzliche Illustrationen eingearbeitet, und zwar jeweils am Kapitelende, dort, wo zuvor Seiten ganz oder in Teilen weiß geblieben waren, so zum Beispiel auf Seite 152f. Das hat erlaubt, die Seitenzahlen, die Nummerierung der Abbildungen und der Anmerkungen der Erstausgabe komplett beizubehalten. Beim Vergleich der Fotonachweise beider Ausgaben ergibt sich, dass viele Abbildungen der Gemälde (Gesamt- oder Detailansichten) nicht mehr dieselben Fotos als Vorlage haben. Die Abbildungen von den neueren Fotos der gleichen Bilder sind im Detail z. T. erheblich schärfer, frischer – im Engli-

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schen würde man sagen »crisper« – also eindeutig besser; auch geben die neuen Abbildungen die Malmaterie wesentlich haptischer wieder – die visuelle Information ist besser und der Genusswert größer geworden. Der für die erste Ausgabe fast typische orange und leicht matschige Ton der an und für sich hervorragenden Abbildungen ist einem feinen kühleren Farbton gewichen. Das hat eine erhebliche Steigerung der Farbdifferenzierung erlaubt, was sich reihenweise nachweisen lässt, z. B. an den Abbildungen auf Seite 163, die speziell in den dunklen Partien nun erheblich differenzierter sind als in der ersten Auflage; und außerdem die zwei Kopfausschnitte von Selbstbildnissen Rembrandts auf den Seiten 218 und 219. Offensichtlich ist seither gegilbter Firniss abgenommen worden, was sich z. B. beim Vergleich der Abbildung(en) der S. 219 eindeutig nachweisen lässt. Das »Glossary«, die »Notes«, die »Biographical Data « und die »Bibliography« sind identisch, der »Index« hingegen ist um fast 100 Stichworte, also knapp eine Seite, erweitert worden. Da trotz dieser feinen Verbesserung die Paginierung die gleiche geblieben ist, macht es auch Sinn, dass ich auf meine sehr ausführliche Besprechung dieses so wichtigen Werks in der Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung (ZKK) von 2/1998 (S. 410–424) hinweise, in der ich das Buch nicht nur besprochen, sondern auch so gut wie möglich zusammengefasst und zitiert habe, da ich – offensichtlich zu Recht – befürchtete, dass es wahrscheinlich nicht ins Deutsche übersetzt werden würde; so ist wenigstens einiges vom Inhalt und der hervorragenden Methodik van de Weterings in Deutsch zugänglich gemacht worden. Bis jetzt gibt es trotz mehrerer

Anläufe keine deutsche Ausgabe, hingegen eine spanische, eine katalanische und eine inoffizielle polnische Übersetzung. Das Buch ist bisher über 22 000 Mal verkauft worden; es gehört an amerikanischen Universitäten und einigen deutschen Fachhochschulen im Bereich Kunstgeschichte zur Pflichtlektüre; also müssten die Verleger sich bei diesem noch immer hochaktuellen und (fast) einmaligen Hauptwerk zeitgenössischer, kunsttechnologisch und kunstwissenschaftlich solide untermauerter, archivarisch bestens belegter und fachübergreifender KunstgeschichtsSchreibung nicht die geringste Sorge machen, es könne zum Verkaufsflop werden – es ist sehr bedauerlich, dass diese Annahme aber noch immer vorzuherrschen scheint. Wenn Sie nicht Englisch können, können Sie (leider) auch nicht wissen, was Ihnen da entgeht – der Italiener sagt in so einem Fall »peccato« (schade). Hans-Christoph von Imhoff hc.vonimhoff@restauro.de Anmerkung 1

Siehe Buchbesprechung »Gunnar

Heydenreich: Lucas Cranach the Elder – Painting, materials, techniques and workshop practice«, in RESTAURO, 5/2008, S. 285–290

Bücher zum Rezensieren Sie möchten ein Buch besprechen? Die aktuelle Liste der Bücher zum Rezensieren finden Sie auf der Restauro-Website unter: www.restauro.de/Rezensionen Die Besprechungsexemplare liegen für Sie in der Redaktion bereit und werden Ihnen auf Wunsch zugeschickt. Bitte wenden Sie sich via E-Mail an die Redaktion (restauro@restauro.de).

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THEMEN Tim Bechthold

Fantastisch plastisch? Tom Dixons S-Chair

Im Jahr 1987 entwirft der britische Designer Tom Dixon den Prototyp eines Freischwingerstuhls der später in der Serienproduktion der italienischen Firma Capellini zum Designklassiker avanciert. Es handelt sich um den sogenannten S-Chair. Dieses singuläre Objekt befindet sich seit Beginn der 1990er-Jahre im Besitz der Neuen Sammlung, The International Design Museum Munich. Der folgende Artikel erörtert die dramatischen Alterungsvorgänge der Sitzbespannung aus dünnem Latexgummi und diskutiert die Konzeption notwendiger Maßnahmen im Hinblick auf sowohl konservatorische als auch kuratorische Überlegungen. Die Entwicklung und Umsetzung einer adäquaten Erhaltungsstrategie sowie die Konzeption eines geeigneten Ausstellungskonzeptes werden vorgestellt.

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1 Prototyp S-Chair, Tom Dixon, 2. Hälfte 1980er-Jahre, Privatbesitz 2 Prototyp S-Chair, Tom Dixon, 1987, Die Neue Sammlung

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Einleitung Ende der 1980er-Jahre entwirft der britische Designer Tom Dixon die ersten Prototypen für den sogenannten »S-Chair«; später auch »Wicker-Chair«. Hierfür schweißt er s-förmig geschwungene Metallrohre aus unlegiertem Stahl auf den Eisenkern von KFZ-Lenkrädern. Die Sitz- und Lehnfläche des Stuhlrahmens umwickelt er mit gebrauchten Gummischläuchen aus Autoreifen. (Abb.1) Charakteristisch für die frühen Entwürfe des Autodidakten Dixon ist die hohe Virtuosität, mit der er das dekorative und strukturelle Potential von recycelten Materialien und Industrieabfällen für seine Möbelentwürfe auslotet. Dixon selbst beschreibt diese Schaffensphase wie folgt: »London at the time was still full of scrap metal yards and the skips were piled full of promising bits & pieces due to the eighties boom ... all of which presented themselves to me as potential chair backs

Von 1997 bis 2002 studierte Tim Bechthold an der Technischen Universität München am Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft. In dieser Zeit beschäftigte er sich im Rahmen mehrerer studienbegleitender Projekte (Museum für Angewandte Kunst, Wien; Vitra Design Museum, Weil am Rhein, Die Neue Sammlung, München) mit der Alterung und Restaurierung Moderner Materialien. Im Jahr 2002 diplomierte er zum Thema »Polyurethane im Möbeldesign der 1960er-Jahre«. Der Autor betreut seit Juli 2002 als leitender Restaurator die Designbestände der Neuen Sammlung, The International Design Museum Munich, in der Pinakothek der Moderne, München und ist Initiator der Fachkonferenz FUTURE TALKS 009.

or table legs. Unhindered by commercial concerns (I had my night job,) or formal training I made things just for the pleasure of making them. It was only when people started to buy that I realised I had hit on a form of alchemy ... I could turn a pile of scrap metal into gold.«1 Der seit 1992 im Bestand der Neuen Sammlung, The International Design Museum Munich, befindliche S-Chair stammt aus dem Jahr 1987 und zählt zu den oben erwähnten, frühen handgearbeiteten Stücken Tom Dixons. Die Sitzbespannung dieser Version besteht jedoch anstelle gebrauchter Reifenschläuche aus einem schwarzen Schlauch aus 0,7 mm dünnem Latexgummi, welcher ähnlich einem maßgeschneiderten Fetischkleid über die Sitzrahmung gezogen wurde. (Abb. 2) Im rückseitigen, unteren Bereich wird dieser über einen vertikalen Reißverschluss verschlossen und so auf Spannung gebracht. Im Interview erwähnt Dixon aufschlussreiche Details zur Fabrikation dieses Modells: »… I probably made between 4 and 8 of these chairs and at the time my studio was next door to a sex shop, where I was introduced to a man that was manufacturing small batches of rubber and fetish gear for people that like to wear that kind of thing …«2 Nach acht Jahren Aufbewahrung im Depot wird der S-Chair für vier Jahre Bestandteil der permanenten Ausstellung des Neuen Museums in Nürnberg. Das Auftreten erster Schadensbilder führt im Januar des Jahres 2004 schließlich dazu, den Stuhl 1/2010


THEMEN 3

zur Konsolidierung und weiteren Untersuchung in das Restaurierungsatelier der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne München zu verbringen. Innerhalb weniger Monate nimmt die Alterung dramatische Ausmaße an. (Abb. 3+4) Der folgende Bericht charakterisiert das Material Latexgummi und seine drastischen Veränderungen in der Alterung. Am Beispiel des S-Chairs der Neuen Sammlung wird exemplarisch die Entwicklung einer adäquaten Erhaltungsstrategie und eines geeigneten Ausstellungskonzeptes erörtert. Latexgummi Herstellung Als Ausgangsprodukt für Latexgummi dient Naturkautschuk. Dieser ist im Milchsaft (Latex) von tropischen Pflanzen enthalten und wird hauptsächlich aus dem Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) gewonnen. Naturkautschuk besteht aus langen Polyisopren-Ketten (cis-1,4 Polyisopren), welche durch Zusatz von Schwefel, man spricht in diesem Fall von Vulkanisierung, zu Latexgummi vernetzt werden können. Mit steigendem Schwefelanteil nimmt der Grad der Vernetzung im Molekül zu. Latexgummi kann somit in seiner gewünschten Endhärte variiert werden. Mit Zugabe von Schwefel startet bereits bei Raumtemperatur eine allmähliche Vernetzung im Molekül. Um diese willkürliche Reaktion zu kontrollieren wird Ammoniak zugesetzt. Durch den basischen pH-Wert bleibt die Mischung flüssig und somit lagerfähig. Mit Verdunstung des Ammoniakanteiles beginnt die Vulkanisierung. Hitze kann den

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Vorgang beschleunigen, ist jedoch nicht zwingend notwendig.

3+4 Zustand Mai 2004

Alterung Die Alterung von Latexgummi ist mit einer Veränderung der mechanischen Materialeigenschaften verbunden. Der Materialabbau wird im Wesentlichen durch vier Faktoren bedingt:3

1. Oxidative Prozesse Man unterscheidet zwischen zwei parallel ablaufenden Vorgängen: Kettenspaltung und Quervernetzung des Polymers. Während die Kettenspaltung ein Erweichen und Klebrigwerden des Materials zur Folge hat, führt die Quervernetzung zur allmählichen Versprödung und Verbräunung durch die Bildung konjugierter Doppelbindungen im Molekül. Die Anwesenheit von kurzwelligem Licht (bis ca. 410 nm) bzw. Wärme sowie der Kontakt zu metallischen Verbindungen (Mangan, Kupfer) katalysiert oxidative Vorgänge. 2. Ozoneinwirkung Durch Ozoneinwirkung entstehen im Polymer instabile Verbindungen, die bei mechanischer Beanspruchung des Materials leicht gespalten werden können. Senkrecht zur einwirkenden Kraft bilden sich lineare Risse. Ist das Material ungedehnt, entsteht lediglich eine verhärtete Oberflächenschicht, die sogenannte »Passivschicht«, die ähnlich einer metallischen Patina das darunter liegende Material vor weiteren Abbauprozessen schützt. 39


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