ZEITSCHRIFT FÜR KONSERVIERUNG UND RESTAURIERUNG
NO 7 Zwischen Information und Inszenierung Wie die Digitaltechnik die Präsentation prägt
2019
ZUKUNFT WISSENSCHAFT
ANTWERPEN Vom Industrieareal zum Kunstquartier
BERLIN Restauratoren-Salon zu Restaurierung und Restitution
KÖLN Die Fachmesse Exponatec lockt in die Domstadt
INHALT
Die neue berlinHistory App ist als kostenfreier und werbefreier Download für Android und iOS verfügbar
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Eine App führt jetzt durch ganz Berlin Rainer E. Klemke, ehemaliger Museums- und Gedenkstättenreferent des Berliner Senats, ist Mit-Initiator der neuen berlinHistory App
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Datenwanderung gegen Schlangestehen Museumsmanagement für ein angenehmeres Kunsterlebnis setzt auf neue Technik für alte Probleme
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Zutritt gut gemanagt Die Ausstattung der Salzburger Landesausstellung „Stille Nacht“
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Dokumentation, Kommunikation und Vermittlung Was Digitalisierung jenseits von Audioguides und Medienstationen bedeutet, zeigt der neuerschienene Band der „MuseumsBausteine“
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Multimedia Grand Cru La Cité du Vin in Bordeaux ist eine einzigartige Erlebniswelt zu Weinkultur. Der multimediale Rundgang stammt von der Berliner Firma tonwelt
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Dinosaurier zum Laufen bringen Multitouch-Systeme können den „musealen Erzählraum“ erweitern. Das Berliner Start-up Garamantis entwickelt derartige Technologien
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Mehr Komfort im Museum mit Smart Home Peter Hardt legte in seinem Museum für Asiatische Kunst im oberbergischen Radevormwald besonderen Wert auf eine intelligente Lichtlösung
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„Eine Ausstellung muss funktionieren wie ein Theaterstück“ Ein Interview mit dem Augsburger Büro für Ausstellungsgestaltung Thöner von Wolffersdorff
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„Jedes Museum braucht ein digitales Team“ Das Verbundprojekt museum4punkt0 erprobt digitale Einsatzszenarien für moderne Technologien im Museum
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Die Kölner Exponatec lockt mit Konzepten von morgen Auf in die Dom-Stadt, um sich über Trends in Konservierung und Restaurierung, Transport und Logistik oder Multimedia auszutauschen
Glas als Trennung zwischen Bild und Betrachter hat einen großen Einfluss auf die Wirkung eines Bildes
PRÄVENTIVE KONSERVIERUNG
Restaurator Ulrich Froberg (RGZM) bei der Arbeit an der Kopie des Ludovisi-Sarkophag
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Mythos Glas. Eine Wissenschaft für sich Ein Überblick über die verschiedenen gebräuchlichen Glassorten, insbesondere Museumsglas und dessen Herstellung und Verwendung, Teil 1
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Zum Schutz des Originals Die Akademische Druck- und Verlagsanstalt (ADEVA) aus Graz hat sich auf die Herstellung hochwertiger Faksimiles spezialisiert
METALLRESTAURIERUNG 47
Neueste Erkenntnisse aus Forschung und Restaurierung Über den „Praxisratgeber“ der Deutschen Burgenvereinigung (DBV) zu Konservierung historischer Metallobjekte im Außenbereich
SERIE TEIL 3: RESTAURIERUNGSZENTREN 48 Bei Grabungen im Magdeburger Dom wurden vor zehn Jahren zwei Erzbischofsbestattungen gefunden
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Ohne Restauratoren bliebe die Urne im Erdklumpen Gemeinsam forschen und ausbilden: Das Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz funktioniert, weil Restauratoren und Archäologen zusammenarbeiten 7/2019
Fotos (v. o. n. u.): Unsplash / Tanja Coataga; HALBE Rahmen; RGZM / S. Hölper; © Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Andrea Hörentrup
TITELTHEMA: DIGITALE STRATEGIEN
PORTRÄT 58
Projekt beendet – Promotion geplant Bei Grabungen im Magdeburger Dom wurden vor zehn Jahren zwei Erzbischofsbestattungen gefunden und geborgen. Jetzt sind sie konserviert und teilweise restauriert. Restauratorin Friederike Leibe berichtet
RUBRIKEN 6
KUNSTSTÜCK Antwerpen: Vom Industrieareal zum Kunstquartier
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BLICKPUNKT Die neue Kulturerbe-Messe Cultura Suisse startet in die zweite Runde. RESTAURO sprach mit Messeleiter Peter Plan Live-Restaurierung in Bremerhaven Restaurierung und Restitution: Der „2. Salon der Restaurator*innen“ lädt nach Berlin ein
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FIRMEN & PRODUKTE
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TERMINE Veranstaltungen Impressum Vorschau
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PORTRÄT Sierra Kaag M. A., Registrarin im Wuppertaler Von der Heydt-Museum
Aquarellkasten »Wiener Maler«
Titelmotiv Zwischen Information und Inszenierung: Als lehrende und lernende Institutionen bedürfen Museen auch immer wieder der aktuellen Positionierung. Neue Ausstellungskonzepte antworten darauf mit spektakulären Installationen, hohem Medieneinsatz sowie moderner und interaktiver Informationsvermittlung. Ein gelungenes Beispiel dafür ist die Cité du Vin (Bordeaux). Lesen Sie mehr ab Seite 20.
Kremer Aquarellfarben werden in aufwändiger Handarbeit hergestellt. Höchste Sorgfalt bei der Verarbeitung der reinen Pigmente gewährleistet eine außergewöhnliche und intensive Leuchtkraft.
Foto: Cité du Vin, Bordeaux
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
Eine App führt jetzt durch ganz Berlin Rainer E. Klemke, ehemaliger Museums- und Gedenkstättenreferent des Berliner Senats, ist einer der Initiatoren der neuentwickelten berlinHistory App. Der mobile Reiseführer soll nicht nur Touristen, sondern auch Berliner mit Wissen überraschen
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1 Wer in Berlin unterwegs ist, der wandelt auf historischem Boden wie hier am Checkpoint Charlie – das weltweit bekannte Symbol für die deutsche Teilung. Der berlinHistory e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Spuren sicht- und erlebbar zu machen und nachhaltig zu bewahren. Die neue berlinHistory App ist als kostenfreier und werbefreier Download für Android und iOS verfügbar
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Vom Mittelalter über DDR-Geschichte bis heute – eine App führt durch Berlin. Sie macht den BerlinBesuch lebendig und lässt die Vergangenheit der Stadt vor Ort erleben. Rainer E. Klemke, der knapp zwanzig Jahre lang Museums- und Gedenkstättenreferent des Berliner Senats war und den Umbau, die Rekonstruktion und die Neugestaltung der Berliner Museen, Schlösser und Gedenkstätten begleitete, ist ehrenamtlicher Vorsitzender des Vereins berlinHistory und einer der Initiatoren der App. Er möchte damit nicht nur die Generation Hashtag erreichen. „Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, all das, was ich die letzten zwanzig Jahre in der Stadt gemacht habe, zu zeigen. Ich wollte den Institutionen, die hier an der Geschichte der Stadt arbeiten, eine Plattform geben“, erklärt er die Idee, die hinter der App steckt. Insgesamt waren neben Klemke vier Mitarbeiter an der Entwicklung der App beteiligt, die innerhalb von zwei Jahren entstand: die
Web-Designer Oliver Brentzel und Klaus König vom dotcombinat, der Historiker und Kulturmanager Martin Recken und Andrea Theissen, ehemalige „Burg-Herrin“ und Museumsleiterin der Zitadelle Spandau. Die Informationen wurden von Historikern gesammelt und eingegeben, teilweise arbeiten diese ehrenamtlich. Außerdem arbeitet das Team mit Institutionen zusammen: „Wir haben über fünfzig Kooperationspartner, wie Museen oder Gedenkstätten, die ihre Informationen auf diese Art und Weise in die Stadt bringen können.“ Ähnlich wie bei Wikipedia können Initiativen, Museen, Archive oder Bürger ihr Wissen in die Plattform einbringen und diese über ein gemeinsames Content-ManagementSystem mit Inhalten füllen. Ziel ist es zudem, die Inhalte von berlinHistory irgendwann nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch in möglichst vielen anderen Sprachen anzubieten. Die App ist als kostenloser und werbefreier Download für 7/2019
DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
Android und iOS herunterzuladen. Bewegt man sich damit durch die Stadt, sieht man seinen Standort und um sich herum viele Symbole zum Anklicken – lauter „Points of interest“. Man erfährt nebenbei viel über die Denkmäler der Stadt, die man in der App an ihren alten Plätzen wiederfindet. „Dann geht man zum Platz der Vereinten Nationen und sieht dort den Lenin wieder stehen. Man erfährt die Geschichte von dem Denkmal und dass es eine Ausstellung in der Zitadelle Spandau zu den Denkmälern gibt und dass wir die größte Festung nördlich des Mains hier in Berlin haben“, sagt Klemke. „Wir wollen bewusst diesen zufälligen Effekt, den man früher beim Zeitung lesen hatte, hervorrufen: Man will mehr wissen, weil man zufällig auf einen Artikel gestoßen ist. Ähnlich ist es mit unserer App, in der man über den Ortsbezug auf interessante Themen stößt.“ Interviews, Biografien, Vorher-Nachher-Bilder, Zeitleisten, Videos und interaktive Karten machen die Geschichte zum lebendigen Erlebnis. Nicht nur Touristen, auch Berliner sollen überrascht werden, wer wo gewohnt hat oder was sich an der Stelle eines Gebäudes früher befand. „Ach schau mal, hier hat Einstein gewohnt“, wird da jetzt also manch einer erfahren. Klemke ist sich bewusst, dass ältere Menschen der neuen Technik zum Teil skeptisch gegenüberstehen. Allerdings ergab eine Studie, dass über 50 Prozent der über 60-Jährigen mittlerweile ein Smartphone haben und es nutzen. Viele nehmen auch ihr Tablet, auf welchem man die Darstellungen noch besser erkennt. „Daher haben wir gerade von älteren Leuten sehr guten Rücklauf, die ja auch die Hauptbesucher der Museen sind“, betont Klemke. „Die gehen auch in die Stadt und wollen etwas erfahren, sie suchen nach Informationen. Wir helfen ihnen, indem wir ihnen die Informationen vor Ort geben. Sie brauchen nicht lange in Netzwerken forschen, von wem ein Gebäude gebaut worden ist.“ Die ganze App funktioniert zwar kostenlos und werbefrei. Allerdings werden Verweise zu Büchern oder anderen Medien gemacht, die einen direkten Bezug zum Thema haben und in welchen die Informationen bei Interesse vertieft werden können. Zum Beispiel wird beim Treptower Park, wo die größte Ausstellung in Deutschland überhaupt stattgefunden hat, die Kolonial- und Gewerbeausstellung 1896, erwähnt, dass es dazu auch ein Buch zu erwerben gibt. „Wir arbeiten 7/2019
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mit Verlagen zusammen, die Berlin-Publikationen herausgegeben haben. Unser Grundprinzip ist, dass wir immer auf Quellen verweisen, wo man mehr erfahren kann. Man steht ja nicht in der Stadt und liest ellenlange Texte, sondern man soll eine kompakte Information bekommen, was hier eigentlich war und ist“, so Klemke. Dann folgt der Verweis: In dem bestimmten Museum, einer Publikation oder der Ausstellung erfahren sie mehr dazu. „Wir wollen die Leute ködern und weisen dann den Weg, wie man zu mehr Informationen kommt.“ Die Plattform hat mittlerweile rund 1000 „Points of interest“ im Programm und täglich kommen neue Punkte hinzu. Zum 20. Juli wurde die berlinHistory App um weiteres Feature erweitert. Zum 75. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats wurde der erste Themen-Layer vorgestellt. Die „Gedenkstätte deutscher Widerstand“ präsentiert in einem exklusiven Bereich ihre Inhalte zum Widerstand gegen
2 Interviews, Biografien, VorherNachher-Bilder, Zeitleisten, Videos und interaktive Karten machen die Geschichte mit der berlinhistory App zum lebendigen Erlebnis
ABSTRACT The berlinhistory App is the new Berlin guide Rainer E. Klemke, former museum and memorial site consultant for the Berlin Senate, is one of the initiators of the newly developed berlinHistory App. The mobile travel guide is intended to surprise not only tourists, but also Berliners with historical knowledge.
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
Multimedia Grand Cru La Cité du Vin in Bordeaux ist eine einzigartige Erlebniswelt zu den Weinkulturen der Welt. Das Berliner Unternehmen Tonwelt konzipierte und produzierte die Vermittlung als multimedialen Rundgang
Fotos: Studio Mamie Boude, XTU Architects / Casson Mann / La Cité du Vin (1, 2)
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Sie wird als „Guggenheim des Weins“ bezeichnet: Die Cité du Vin in Bordeaux. 2016 wurde diese einzigartige Erlebniswelt zu den Weinkulturen der Welt eröffnet. Seitdem bildet die Institution, eine Mischung aus Museum und Informationszentrum, das neue Wahrzeichen der Metropole im Südwesten Frankreichs. Schon von weitem ist das amorphe Gebäude mit seiner auffälligen Fassade aus gut dreitausend verschieden geschnittenen Glas- und Aluplatten in blassem Goldgelb sichtbar. In Bacalan, einem nördlichen Stadtteil von Bordeaux, am linken Ufer der Garonne, steht der imposante Bau. Die Architekten Anouk Legendre und Nicolas Desmazières vom Pariser Büro XTU architects haben sich bei ihrem Entwurf übrigens von einem Pomerol inspirieren lassen: Das skulpturale Gebäude soll den Schwung von Wein in einer Karaffe oder Glas abbilden. Kernstück der Ausstellung in der Cité du Vin ist der „parcours permanent“ im zweiten Obergeschoss. Er ist nicht als fester Rundgang angelegt ist, sondern soll zum selbstständigen Flanieren durch die Welt des Weins animieren. Auf einer Fläche von 3000 Quadratmetern wird hier der Geschichte und Gegenwart der Weinkultur ein Denkmal gesetzt. „Die Cité du Vin ist den Weinen von überall auf der Welt gewidmet und konzentriert sich keinesfalls ausschließlich auf Frankreich oder gar nur auf Bordeaux“, betont Kuratorin Véronique Lemoine. In diesem Themenmuseum soll dem Besucher ein sensorieller Zugang zur Seele des Weines ermöglicht werden, erklärt die Expertin. Informationen gibt es hier multimedial über Bild und Ton: Die Ausstellung mit ihren vielen interaktiven Angeboten ist eine spielerische, aber dennoch lehrreiche Annäherung. Großflächige Projektionen flirren über Wände und Bildschirme. 19 thematische, in sich abgeschlossene Stationen bieten eine Reise durch die Welt des Weins. Die Vermittlung konzipierte und produzierte das Berliner Unternehmen tonwelt mit über 120 audiovisuellen Erlebnissen. Die Firma, 2004 von dem Toningenieur Gürsan Acar gegründet, hat sich sehr erfolgreich auf die Entwicklung von Technologien und Lösungen im Bereich Besucherführungssystemen und Besuchermangement spezialisiert. International – von London (V&A London) über Berlin (Neues Museum, Pergamonmuseum, Alte Nationalgalerie, Gemäldegalerie etc.) bis Paris (Louvre) – sind mittlerweile die klassischen Audio7/2019
führungen oder interaktiven Multimediaführungen von tonwelt im Einsatz. Begonnen hat Firmengründer Acar in den 1990er Jahren mit Contentproduktionen für den Hörfunk und einem Hörbuch über den Deutschen Bundestag. Anfangspunkt seines Unternehmen tonwelt war dann die Entwicklung von Hardware. „Denn warum sind Audioguides eigentlich so schwer und haben so wenig Speicher?“, fragte sich Acar nach der Jahrtausendwende und brachte schließlich kleine handliche Geräte mit über 500 MB auf den Markt. „Im ersten Jahr konnten wir bereits fünf Projekte bedienen“, freut sich Acar rückblickend. „Das Erste war das Olympiastadion in Berlin. Dafür haben wir 100 Geräte produziert und die Contentproduktion in sechs Sprachen übernommen. Inzwischen realisieren wir rund 200 Projekte im Jahr.“ Auch die Audioführungen, die die Besucher durch die Cité du Vin führen, sind in den Studios von tonwelt entstanden. Die diversen Projektionen, interaktive Touch-Tische und Multimedia-Server werden mittels des Smart-Device von tonwelt über Infrarot und Funk aktiviert. Über die smarten „supraGuide TOUCH“ kann der Besucher so die Weinberge der Welt entdecken und das in acht Sprachen: Winzer liefern Insider-Informationen, und Weinjournalist Robert Parker plaudert aus dem Nähkästchen. Insgesamt zehn Stunden audiovisueller Inhalte stehen zur Verfügung. Der sogenannte „compagnon de visite“ schaltet sich praktischerweise in bestimmten Zonen automatisch an: Der Film über die Geschichte von Bordeaux wird sofort in der eigenen Sprache abgespielt. Man kann das Gerät aber auch selbst an jeder Station der Ausstellung aktivieren. „Wir wollen die Besucher nicht überfordern und auch nicht bevormunden“, erklärt tonwelt-Chef Acar. „Daher haben wir uns dafür entschieden, dass ich in den Bereichen, in die ich als Besucher bewusst hineinlaufe, automatisch eine Synchronisierung auf mein Gerät bekomme – und andere, wo ich meine Information selbst abhole.“ Außerdem kann man sich seine Lieblingsthemen innerhalb des Rundgangs auf dem Smart-Device markieren. Dazu werden dann zusätzliche Informationen in einem persönlichen Bereich auf der Cité du Vin-Webseite bereitgestellt und jederzeit abrufbar. Die inhaltliche Auseinandersetzung geht damit auch außerhalb der Ausstellung weiter und schafft Besucherbindung. Damit der Besuch der Cité du Vin für junge Zielgruppen interessant ist, produzierte tonwelt eine
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1–2 Die Cité du Vin in Bordeaux ist ein Themenmuseum, das sich mit Wein als Kulturerbe befasst. Das futuristische Gebäude – es prägt die Skyline der Stadt – entwarf das Pariser Architektenduo Anouk Legendre und Nicolas Desmazières (XTU architects)
ABSTRACT Multimedia Grand Cru La Cité du Vin in Bordeaux is a unique experience of the world's wine cultures. The Berlin-based company tonwelt developed and produced the mediation as a multimedia tour.
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
Dinosaurier zum Laufen bringen Digitale Vermittlungsmethoden wie etwa interaktive Installationen oder Multitouch-Systeme können den sogenannten musealen Erzählraum erweitern und neue Besuchergruppen erreichen. Viele Naturkundemuseen nutzen bereits Technologien, wie sie zum Beispiel das Berliner Start-up Garamantis entwickelt. Etwas zögerlicher ziehen nun immer mehr Gemäldegalerien und andere Kunstmuseen nach
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ABSTRACT How to make Dinosaurs runnig Digital communication methods such as interactive installations or multitouch systems can expand the so-called museum narrative space and reach new visitors. Many natural history museums already use these technologies, such as those developed by the Berlin start-up Garamantis. More and more art galleries and other art museums are following suit with some hesitation.
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Unübersehbar und unwiderstehlich. Bei der Langen Nacht der Museen 2017 waren sie eine der Hauptattraktionen im Berliner Naturkundemuseum: Tristan, das T-Rex-Skelett und sein virtuelles Alter Ego. Den ganzen Abend drängten sich Familien mit Kindern um den Multitouch-Scanner, der den Dinosaurier „zum Leben erweckte“. Da bislang noch nicht eindeutig klar ist, wie der Tyrannosaurus Rex zu Lebzeiten tatsächlich aussah – grau oder bunt, mit Federn oder ohne –, konnten junge Museumsbesucher am Publikumstag ihre Fantasie ausleben und die gedruckte Silhouette des Dinosauriers nach Belieben gestalten. Nach dem Einscannen ihrer Bilder verfolgten die kleinen Forscher mit einer Kamera, wie ihre Kreationen als virtuelle 3D-Darstellung über die Tischoberfläche liefen. Ein Foto ihres Dinos durften die Kinder als Erinnerung mit nach Hause nehmen. „Natürlich galt das Angebot auch für die Väter“
bemerkt Andreas Köster augenzwinkernd. Man merkt dem Kommunikationsleiter von Garamantis selber an, dass laufende Dinosaurier durchaus auch Erwachsene faszinieren können. Garamantis hat den Multitouch-Scanner-Tisch entwickelt, den die Initiative Mittelstand 2017 mit dem Innovationspreis-IT auszeichnete. Das Unternehmen, das digitale Technologien speziell auch für Museen anbietet, wurde 2014 von den Informatikern Oliver Elias und Marcus Dittebrand gegründet. Namensgeber der Firma ist eine libysche Nymphe aus der römischen Mythologie, die von Zeus-Amun entführt wurde und den späteren König Jarbas gebar. Doch die Gründer reizte weniger der Mythos als vielmehr Klangund Schriftbild des Namens. Intuitiv verzichteten sie auf die branchenübliche Aneinanderreihung englischer Begriffe.Auch wenn man Informatikern vermutlich übergeordnet eher Rationalität 7/2019
DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
zuschreibt, spielen Intuition und Emotion für Elias und Dittebrand eine wichtige Rolle: „Erst wenn passgenaue Hardware mit intelligenter Software zu einer Einheit werden, kann darüber auch eine emotionale Informationsvermittlung funktionieren“, so ihr Credo. Dies gelinge allerdings nur, wenn der Benutzer im Fokus steht, ergänzt Köster: „Der Nutzer sollte kein Technikgenie sein müssen, um die Installationen zu verstehen.“ Einige Häuser wie das Berliner Naturkundemuseum sind, wie Köster beobachtete, der neuen Technologien gegenüber besonders offen und fortschrittlich: „Sie nutzen die Digitalisierung erfolgreich als Alleinstellungsmerkmal.“ Ein Großteil der Museen im deutschsprachigen Raum hingegen sei an digitalen Innovationen zwar interessiert, verhielte sich aber zugleich skeptisch und abwartend. Für sie sei es ganz offenbar ein großer Schritt, tradierte Methoden und Ansätzen hinter sich zu lassen. Augmented Reality-Anwendungen können die Wahrnehmungsräume des Publikums erweitern und erleichtern zum Beispiel den Zugriff auf Kontextinformationen. Nach Überzeugung der Jungunternehmer geschehe dies keineswegs auf Kosten des analogen Museums, sondern klar zu dessen Vorteil. Schließlich gerieten viele Museen allein schon aus Platzgründen schnell an ihre Kapazitätsgrenzen, argumentiert Köster. Tatsächlich fristet ein Großteil der meisten musealen Sammlungen ein Schattendasein im Depot. Auch Tafeln bieten nur knappen Raum für tiefergehende Informationen, vor allem, wenn sie mehrsprachig gehalten sind. Digitalgestützte, interaktive Angebote können dieses Defizit in vielen Fällen ausgleichen, indem sie einen „erweiterten musealen Erzählraum“ schaffen. Zum einen erhält der Besucher virtuellen Zugang zu den Exponaten im Depot. Darüber hinaus kann er sich auf spezielle Aspekte konzentrieren – bestenfalls in der eigenen Sprache. „Die Methode des Storytellings bietet außerdem die Chance, ein Exponat in eine Erzählung einzubetten und in ihrem Kontext zu erklären“, führt Andreas Köster dazu aus. Virtual Reality Anwendungen seien für Museen allerdings weniger geeignet, wenn sie die Besucher vom eigentlichen Ort abschotteten. „Mit VRBrillen begibt man sich in eine virtuelle Realität – und damit eben weg von der echten Wirklichkeit“, 7/2019
gibt Köster zu bedenken. „Dafür kann man ebenso gut zuhause bleiben“. Sinnvoll sei es daher vielmehr, eine interaktive Station mit dem musealen Ort zu verknüpfen. Bereits seit vielen Jahren kooperieren die Gründer von Garamantis mit der Ars Electronica, einer der bedeutendsten und renommiertesten Medienkunst-Institutionen weltweit. Mit traditionellen Kunstmuseen sammelt die Firma noch Erfahrungen. Einem an digitalen Innovationen interessierten Kunstmuseum rät Köster, im Vorfeld den Status quo zu analysieren: Was genau bietet das Haus seinen Zielgruppen und wie ließe sich die Erfahrung verbessern und intensivieren? „Wir schauen dann, wo eventuell noch Barrieren in der Rezeption oder Vermittlung der Inhalte bestehen, und versuchen genau diese Defizite mit Hilfe moderner Technologien auszugleichen.“ Für eine Gemäldegalerie fällt Köster spontan der Einsatz einer sogenannten Gigapixel-Installation ein. Auf einem Screen oder einer Projektionsfläche ist das Gemälde zunächst eins zu eins abgebildet. Mittels Touch-Gesten kann sich der Besucher immer weiter in das Bild hineinzoomen und einzelne Ausschnitte vergrößern. Die Darstellung bleibt dabei scharf, während jeder Pinselstrich und auch das kleinste Detail erkennbar sind. „So erhält der Besucher einen ganz neuen Zugang zu einem Bild, das er normalerweise nur aus einem Sicherheitsabstand heraus betrachtet“, erläutert Köster einen der Vorzüge der Gigapixel-Installation. Zusätzlich seien auch andere digitale Aufnahmen des Gemäldes, wie beispielsweise Röntgenaufnahmen, oder tiefergehende Erläuterungen zum Werk abrufbar. „Wichtig ist hierbei, dass der Besucher den Screen intuitiv und spielerisch bedienen kann und sich in räumlicher Nähe zum Original befindet: So ist ein ständiger Bezug gegeben.“ Bei der Entwicklung neuer Installationen bemühe Garamantis sich, Traditionelles und Modernes zu verbinden und eine Brücke zwischen Analogem und Digitalem zu schlagen, erklärt Köster. Die interaktive Vitrine etwa basiere auf der bekannten Grundidee einer normalen Vitrine. Doch indem der Besucher das Multitouch-Glas berühre, könne er die Seherfahrung durch ein interaktives Storytelling ergänzen. „Dennoch steht das Exponat im Mittelpunkt des Geschehens – die Technik erweitert und erklärt es lediglich“. Ebenso wie
Das Berliner Start-up Garamantis bietet digitale Technologien speziell auch für Museen an. Hier die Präsentation des preisgekrönten Multitouch-Scanners auf einer Messe
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
Mehr Komfort im Museum mit Smart Home Im oberbergischen Radevormwald können Besucher des privaten Museums für Asiatische Kunst jetzt seltene Schätze aus ganz Südostasien und dem Himalaya entdecken: Peter Hardt präsentiert dort rund zweihundert Exponate seiner Sammlung. Ganz besonderen Wert legte der Galerist dabei auf eine intelligente Lichtlösung
1 Das Museum für Asiatische Kunst in Radevormwald präsentiert etwa 200 teils antike Exponate aus Südostasien und dem Himalaya
ABSTRACT More comfort in the museum with Smart Home Visitors to the private Museum of Asian Art in Radevormwald discover rare treasures from all over Southeast Asia and the Himalayas: Peter Hardt presents around two hundred exhibits from his collection there. The gallery owner attached particular importance to an intelligent lighting solution.
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Selbst am Abend wird deutlich, dass im Städtchen Radevormwald südlich von Wuppertal im Bergischen Land ein ganz besonderes Chi herrscht. Dann lächelt ein dezent beleuchteter Buddha hinter der hochaufragenden Glasfront sanft hinunter auf die Passanten und gibt ihnen ein Stück Gelassenheit mit auf ihren Weg. Diese Buddha-Statue ist eines der Glanzstücke des Museums für Asiatische Kunst, das der Galerist Peter Hardt 2014 in einer etwa hundert Jahre alten Scheune mit angrenzender Lagerhalle einrichten ließ. Mit Hilfe einer großzügigen Architektur, aber auch der Lichtgestaltung des vor Ort ansässigen Gebäude- und Beleuchtungssteuerungs-Spezialisten Gira wird Hardts umfassender Sammlung besonderer Glanz verliehen. Begonnen hatte alles vor über 35 Jahren, als Hardt mit seiner 2005 verstorbenen Frau Ingrid per Fahrrad nach Asien aufbrach, und nach der
Rückkehr von diesem einzigartigen Abenteuer anfing, Reisemitbringsel auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Aus dieser Begeisterung für die tief spirituelle Kunst fernöstlicher Kulturen entstand nicht nur eine der wichtigsten Kunsthandlungen Deutschlands für diesen Bereich, sondern auch eine rund 200 Exponate aus fünf Jahrhunderten umfassende Sammlung, die nun in dem eindrucksvollen Privatmuseum und seinen Außenanlagen gezeigt wird. Das Spektrum reicht von den HimalayaStaaten Tibet, Nepal und Bhutan über diverse Regionen Indiens bis hin zum südostasiatischen Raum, von Buddha- und Götterstatuen bis hin zu Stupas und Ritualglocken. Die sehr speziellen Räumlichkeiten – aus der Scheune wurden die Zwischenböden entfernt und das Dachgebälk offengelegt – machen eine atmosphärisch dichte Inszenierung der Exponate möglich, stellen aber besondere Herausforderungen 7/2019
Fotos: Ulrich Beuttenmüller für Gira
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
an die Beleuchtung. Da das Gros der Sammlung aus rundplastischen, oft gezielt in der Raummitte platzierten Objekten aus edlen Metallen besteht, standen bei der Lichtsetzung allerdings weniger konservatorische Aspekte im Vordergrund, als die möglichst ebenmäßige Ausleuchtung der Statuen und rituellen Gegenstände. Die Experten von Gira begegneten dieser Aufgabe mit von oben herabhängenden Paneelen und Schienen. Auf ihnen sind Hallogen- und HQI-Strahler installiert, die sich auf diesen Gittern je nach Bedarf platzieren, verschieben und individuell ausrichten lassen. Um diese überaus komplexe Beleuchtungssituation zu steuern, wurde das Kontrollsystem KNX (Kurzform von Konnex > Verbindung, ein Bussystem für die Gebäudesteuerung) installiert, das alle Lichtquellen miteinander so intelligent vernetzt, dass sie von zentraler Stelle aus einzeln bedient und zum Teil auch gedimmt werden können. Möglich ist aber auch das Abrufen verschiedener, das ganze Museum umspannender Lichtszenarien – beispielsweise für den normalen Museumsbetrieb, für Reinigungsarbeiten oder auch für Abendveranstaltungen, für die das Museum von Firmen oder Privatpersonen gebucht werden kann. Als Schaltzentrale hinter diesem KNX-System fungiert ein leistungsstarker Home-Server, auf dem alle Informationen zur Beleuchtungssituation, aber auch zu den Einstellungen von Jalousien und Alarmsystem zusammenlaufen. Hier werden sämtliche von den Einzelkomponenten gesammelte Daten ausgewertet, von hier werden auch die Befehle an die einzelnen Elemente des Systems
gesandt. Bedient wird der Server zentral an einem hinter dem Empfangstresen installierten TouchDisplay, auf dem auch sämtliche vorprogrammierte Szenarien abgerufen werden können. Von dort, oder von dem am Eingang installierten Tastsensor lässt sich die Beleuchtung auch mit einem Fingertipp auf „Abendmodus“ schalten. Dadurch dunkelt das gesamte Museum ab, nur das Licht am Ausgang brennt noch weitere dreißig Sekunden, damit in Ruhe abgeschlossen werden kann. Hell erleuchtet bleibt danach lediglich das „Schaufenster“ mit der großen Buddha-Statue, damit diese ihr besonderes Chi auch in die Radevormwalder Nacht senden kann.
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2 Komfortabel und leicht bedienbar: Licht, Jalousien, Belüftung, Sicherheitstechnik und Audiosysteme lassen sich zentral über einen Touchscreen mit einem Finger steuern
Dr. Claudia Teibler
Wie das KNX-System funktioniert KNX-Systeme sind weltweiter Standard in der Gebäudeautomation. Basis ist ein grünes Kabel, das bei einem Neubau oder einer Renovierung zusätzlich zur herkömmlichen Stromleitung verlegt wird, um die verschiedenen KNXfähigen Elemente der Haustechnik miteinander zu vernetzen. Ergänzt wird das Kabelsystem durch passende Sensoren, Empfangsgeräte und Displays. Ist dies alles installiert, können die Geräte untereinander kommunizieren. Zu voreingestellten Zeiten schalten sich daher im Museumsraum ganze Lichtszenen automatisch an. Ein Fingertipp – und sämtliche Elektroinstallationen werden energiesparend ausgeschaltet. Alle Funktionen sind über die verschiedenen Display-Geräte oder per App mit dem Smartphone oder Tablet zuhause oder von unterwegs bedienbar. Neben dem direkten Steuern lassen sich über die dazugehörigen Programme auch zeitliche Abläufe einrichten.
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Die Schweizer Fachmesse für Museen, Denkmalpflege und Kulturgüter
22. - 24. JANUAR 2020 | BERNEXPO www.cultura-suisse.ch
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DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
„Jedes Museum braucht ein digitales Team“
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Gemeinsam Kunst aus neuen Blickwinkeln erleben: Eine Augmented Reality-App ermöglicht es, verborgene Malschichten oder kunsthistorische Inhalte spielerisch kennenzulernen. Der Prototyp wurde wurde zur „Langen Nacht der Museen 2018“ mit Besuchern getestet
ABSTRACT „Every museum needs a digital team“ Virtual Reality, Augmented Reality and 3D Modelling: The joint project museum4punkt0 tests digital application scenarios for modern technologies in museums. Visitors to the Berlin Gemäldegalerie can now „X-ray“ a work by Hans Holbein and open and close a late medieval altar with a special app.
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Der Besucher klappt die Flügel des Triptychons von Taddeo di Gaddo aus dem Jahr 1334 auf, betrachtet die Heiligen auf den rückseitigen Tafeln und betastet schließlich das Mittelbild mit der thronenden Madonna. Es klingt wie der Albtraum eines jeden Konservators. Babette Hartwieg, Leiterin Restaurierung und Kunsttechnologie der Berliner Gemäldegalerie, bleibt allerdings völlig entspannt. Die Altarbetrachtung ist rein virtueller Natur und vollzieht sich allein auf den Tablets der Besucher. Augmented Reality-Anwendungen wie diese zeigen ein breites Spektrum längst nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten, nicht nur für Kunstvermittler, sondern auch für Restauratoren. So ermöglicht die AR-App auf den Tablets eine zusätzliche, digitale Ebene über die auf dem Display dargestellten Inhalte zu legen und dadurch die Realität zu „erweitern“. Auch ein Altar, dessen Einzelteile in aller Welt verstreut sind, kann auf diese Weise virtuell vereint und in seinem Originalzustand dargestellt werden. Das spare nicht nur Kosten, führt Babette Hartwieg an, sondern erspare den Kunstwerken auch viele Reisen und damit das Risiko von Beschädigungen. „Außerdem“, so die Chefrestauratorin, „können wir bei der Restaurierung zurückhaltender sein in Bezug auf Ergänzungen“. Mit digitalen Methoden könne zudem deutlich und anschaulich die Autorenschaft dokumentiert werden: Welcher Pinselstrich ist noch original, welcher wurde restauriert?
In den meisten deutschen Museen steckt die Digitalisierung allerdings noch in den Kinderschuhen. So zumindest sieht das Monika Grütters, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Um Abhilfe zu schaffen, fördert sie das Projekt „museum4punkt0 – Digitale Strategien für das Museum der Zukunft“ mit 15 Millionen Euro. Es entspreche der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung, die digitale Entwicklung zu nutzen, um mehr Teilhabe – auch im kulturellen Bereich – zu erzielen. „Digitalisierung soll überall zur Chefsache werden“, fordert Grütters mit Nachdruck. Neben Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, haben sich bislang fünf weitere Museumchefs, die offensichtlich die Zeichen der Zeit erkannt haben, dem museum4punkt0-Projekt angeschlossen. Neben dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss und den Museen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht Senckenberg arbeiten auch das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz und das Deutsche Museum an digitalen Prototypen. Davon erhoffen sich die Direktoren vor allem, neue Besuchergruppen zu gewinnen und bestehende Besuchergruppen zu binden. Verantwortlich für die AR-App der Gemäldegalerie ist Ceren Topcu, die den Prototypen konzipiert und dessen Umsetzung koordiniert hat. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für digitale Kommunikation bei den Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Bei der langen Nacht der Museen im vergangenen Sommer wurde die Anwendung erstmals öffentlich getestet. Mit Erfolg – die Zielgruppe der 13 bis 29-jährigen Besucher fand mithilfe des iPads, das ihnen im Museum ausgehändigt wurde, schnell und intuitiv einen Zugang zu den kunsthistorischen Inhalten. Ganz im Sinne der Erfinder: „Offensichtlich trägt die Technik dazu bei, Schwellenängste abzubauen“, freut sich Ceren Topcu. Einfacher, sicherer und kostengünstiger wäre es langfristig jedoch, AR-Apps zu entwickeln, die auf den privaten Smartphones der Besucher genutzt werden könnten. Für die Staatlichen Museen zu Berlin erprobt das international zusammengesetzte DigitalTeam, dem auch Ceren Topcu angehört, derzeit diverse Einsatzszenarien für Virtual Reality, 3DModellierung oder eben Augmented Reality. Für 7/2019
Foto: © Neeeu Spaces GmbH
Virtual Reality, Augmented Reality und 3D-Modellierung: Das Verbundprojekt museum4punkt0 erprobt digitale Einsatzszenarien für moderne Technologien im Museum. Mit einer App etwa können Besucher der Berliner Gemäldegalerie ein Gemälde von Hans Holbein „röntgen“ und einen spätmittelalterlichen Altar auf- und zuklappen, wie es ihnen beliebt
DIGITALE STRATEGIEN FÜR NEUE ERLEBNISWELTEN
viele Mitarbeiter der Staatlichen Museen markieren diese Begriffe eine Welt, in der sie noch nicht zu Hause sind. Vielleicht hätten einige Kollegen deshalb zunächst Vorbehalte gehabt, berichtet Topcu, die selber Medienwissenschaften und Kommunikationsdesign studiert hat. Um im Dialog zu bleiben und die unterschiedlichen Fachexpertisen in das Projekt einfließen zu lassen, trifft sich das Digital-Team in der Entwicklungsphase mit den Kuratoren und Restauratoren der Gemäldegalerie zum gelegentlichen Brainstorming. Gemeinsam überlegen sie, wie etwa eine gelungene „Besucherreise” aussehen könnte – mit individuellen Ausstellungsinhalten, Vermittlungsinstrumenten und Serviceangeboten. Grundlage ist dabei das Modell von John H. Falk, einem Experten für „selbstbestimmtes Lernen“. Falk postuliert, dass Lernprozesse durch die Motivationen, Bedürfnisse und Interessen des Individuums bestimmt werden. Auf Basis von Hunderten von Tiefeninterviews sowie der Analyse bisheriger Museumsbesucherstudien hat Falk fünf Besuchsmotivationstypen identifiziert: Forscher, Vermittler, Professionelle und Hobbybesucher, Erfahrungssuchende und diejenigen Besucher, die ihr Wissen auffrischen wollen. Doch auch neue Gruppen jenseits des Stammpublikums wollen erschlossen werden. „Der Wunsch vieler Menschen nach Erleben ist groß“, betont Hartwieg. Es gelte jedoch, für den Museumsbesucher den Mittelweg zu finden zwischen Eventcharakter einerseits und der Vermittlung von Schlüsselfakten und Bedeutungsperspektiven auf der anderen Seite. Im Zentrum solle die Kunst stehen: „Wir wollen keine Engel, die aus dem Bild herausspringen“. Dass Kunstgeschichte durchaus auch ohne springende Engel spannend zu erleben ist, erwies sich während der Langen Nacht der Museen unter anderem vor dem Porträt des Kaufmanns Georg Gisze. Mithilfe der AR-App konnten die Nutzer das Gemälde von Hans Holbein „röntgen“ und so nachvollziehen, welche Kompositionsänderungen der Künstler während des Malprozesses vorgenommen hatte. Da Metalle beim Röntgen die Röntgenstrahlen absorbieren, erstrahlen sie im Röntgenbild hell. Das von Holbein genutzte Bleiweiß ist daher auf den Röntgenaufnahmen gut zu sehen. Und so 7/2019
erkennt der Besucher auf der Radiografie, dass der Künstler die rechte Raumecke des Gemäldes von Georg Gisze ursprünglich auf der gegenüberliegenden Seite der Leinwand angelegt hatte. Ebenso veränderte Holbein die Position des Kaufmanns: Während er Gisze anfangs noch frontal darstellte, ist dessen Kopf heute im Dreiviertelprofil zu sehen. Ein gut verborgenes kunsthistorisches Geheimnis, das dank Röntgentechnik zum Vorschein kam und das die Besucher nun nach Bedarf heranzoomen und im Detail betrachten können. Alle neuentwickelten digitalen Prototypen erprobt das Team von museum4punkt0 in mehreren Testdurchläufen und bleibt dabei im permanenten Austausch mit dem Besucher. „Der Prozess ist dynamisch“, erklärt Ceren Topcu die Methode. „Beim Design Thinking werden Ideen getestet, evaluiert, verworfen, verwandelt – wichtig ist ein nutzerorientiertes Ergebnis.“ Die Finanzierung von museum4punkt0 läuft im März 2020 aus. Was dann kommt, ist noch ungewiss. Sind die Bemühungen vielleicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein? Jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung – darüber sind sich Babette Hartwieg und Ceren Topcu einig. Und ein nachhaltiger noch dazu, denn das neugewonnene Know-how aus den sieben beteiligten Institutionen werde gebündelt und vernetzt und die Ergebnisse stünden später allen Kultureinrichtungen in Deutschland zur Nachnutzung zur Verfügung. „Deutschland hat ganz klar einen digitalen Aufholbedarf“, konstatiert Babette Hartwieg. Um internationalen Standards zu entsprechen, mangele es an finanziellen und menschlichen Ressourcen. Häufig bedeute die fehlende Digitalisierung auch in ihrem Bereich einen lästigen Zeitverlust, etwa bei der Übergabe eines Leihobjektes durch einen Kurier. „Während der Kollege aus São Paulo lediglich sein iPad zückt, um eine digitale Schadenskartierung zu erstellen, muss ich mehrere Formulare ausfüllen, um den Zustand eines Exponats zu attestieren“. Ceren Topcu ist überzeugt: „Jedes Museum braucht ein digitales Team“. Doch bis das geschieht, muss sich wohl noch einiges ändern. Wenn der Besucher im gesamten Kulturforum auf ein gesichertes W-LAN zurückgreifen könnte, wäre das ein guter Anfang. Dr. Inge Pett 35
SERIE RESTAURIERUNGSZENTREN TEIL 3
Ohne Restauratoren bliebe die Urne im Erdklumpen Gemeinsam forschen und ausbilden: Das Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie am Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz funktioniert, weil Restauratoren und Archäologen zusammenarbeiten
Fotos: RGZM / S. Hölper (1); RGZM / V. Iserhardt (2)
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ZUKUNFT WISSENSCHAFT
„Forschungsergebnisse sind eine Teamleistung von Restauratoren, Naturwissenschaftlern und Archäologen“, heißt es in der Selbstbeschreibung des Leibniz-Forschungsinstituts für Archäologie am Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz. Dieser Satz kennzeichnet nicht nur das Selbstverständnis des Instituts, sondern die tägliche Arbeit. Wenn der Direktor für die Werkstätten und Labore, der Archäologe und Professor Markus Egg, durch die Werkstätten führt, zeigt er momentan gern einen mit Gipsbinden eingewickelten Erdklumpen. Er enthält eine stark zerscherbte Urne aus einem Gräberfeld in Italien, die ohne Restauratoren weiterhin ein eingewickelter Erdklumpen bleiben würde. Zwar stehen dem Leibniz-Institut viele Geräte für die zerstörungsfreie Untersuchung zur Verfügung, doch die Restaurierung der archäologischen Objekte mache die wissenschaftliche Bearbeitung überhaupt erst möglich, erklärt Uwe Herz, der Leiter der Restaurierungswerkstätten. Denn umfassend erforschen können die Archäologen die Urnen nur im geöffneten Zustand. Deshalb ist in Mainz ganz klar, dass Archäologen und Restauratoren voneinander profitieren. „Archäologendünkel gegenüber Restauratoren gibt es, aber nicht hier am Haus“, sagt Markus Egg und ergänzt, dass die Archäologen des Römisch-Germanischen Zentralmuseums viel Erfahrung damit hätten, welchen Wert eine Restaurierung für ihre Arbeit habe. „Der Clou bei uns ist, dass wir von Anfang an gemeinsam besprechen, wie wir vorgehen“, sagt Egg. Früher hätten die Archäologen eben nur die Objekte erforscht, die gut erhalten waren. „Uns eint das Interesse, so viele Informationen wie möglich aus einem Objekt herauszuholen. Restaurieren bedeutet heute nicht mehr, ein Objekt schön zu machen, sondern maximalen Informationsgewinn und unverfälschten Erhalt“, sagt Uwe Herz. Gegründet wurde das Römisch-Germanische Zentralmuseum, das kurz RGZM genannt wird, bereits 1852 auf Beschluss der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. Zu seinen satzungsgemäßen Aufgaben gehört seitdem auch die Herstellung „wissenschaftlicher Kopien“. Solche für die vergleichende Forschung geeigneten Duplikate „dienen der kontinuierlichen Weiterentwicklung einer kopienbasierten wissenschaftlichen Referenzsammlung der wichtigsten archäologischen Fundkomplexe/-objekte der Alten Welt“, heißt es in der Selbstbeschreibung über eine der frühesten Aufgaben der Werkstätten, die seitdem gepflegt und weiterentwickelt wurde. 7/2019
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Der Wert dieser Sammlung für die Forschung ist groß. Häufig entstanden und entstehen auch Sicherungskopien und Kopien für Ausstellungen. Technik und Material der Kopien sind dabei höchst unterschiedlich. Der moderne 3D-Druck ist nur eine mögliche Methode, die Abformung mit Silikonkautschuk eine andere, die seit langem gern und häufig genutzt wird. „Denn eine Kopie in Silkonkautschuk ist in den Oberflächenstrukturen genauso gut beforschbar wie das Original“, sagt Uwe Herz und verweist auf feinste Politurspuren, die im Silikon perfekt abgebildet werden – perfekter als mit den modernen Druckverfahren. Auch glänzende Oberflächen könnten mit Kopien aus dem Drucker nicht dargestellt werden, sagt Markus Egg und demonstriert, dass mit Hilfe des gut formbaren Kautschuks, die ursprüngliche Originalform beispielsweise eines komplett verformten Gefäßes simuliert werden kann. Heute ist das RGZM eines von acht deutschen Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft. In den Restaurierungswerkstätten werden Objekte aus Keramik, Glas, Edelmetallen, Buntmetallen und Eisen bearbeitet. Es gibt außerdem Werkstätten für die Nassholzkonservierung, für die Abformung zur Kopienherstellung und für Kolorierung. Dazu kommen ein digitales Fotostudio, die Abteilung für wissenschaftliche Grafik sowie Mess- und Analysegeräte. „Die Restaurierungswerkstätten sind sowohl eine forschungsunterstützende als auch eine forschende und direkt in die Forschung eingebundene Organisationseinheit“, sagt Uwe Herz zusammenfassend über die Aufgaben. Als Forschungsinstitut bearbeiten die Mainzer die eigenen Sammlungen und kooperieren häufig
1 Restaurator Ulrich Froberg bei der Arbeit an der Kopie des LudovisiSarkophag 2 Blockbergung einer eisenzeitlichen Urne aus Wörgl (Tirol)
ABSTRACT The urn would remain in the lump of earth without conservator Researching and training together: The Leibniz Research Institute for Archaeology at the Römisch-Germanisches Zentralmuseum in Mainz works because conservators and archaeologists work together.
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