Stein 03 2012

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Zeitschrift f체r Naturstein

Gestalten Maschinen Fugen

Palladio in Wallau Wandarm-Gelenkmaschinen

Richtig verfugen

Chance Kunststein

M채rz 2012


Inhalt

Gut zu wissen

07 Mobil Steinerne Schätze in Budapest

Erst misstrauisch beäugt, dann überlegen belä­ chelt, und nun kaum noch wegzudenken aus dem Tagesgeschäft: Quarzwerkstein hat den Markt für Steinmetzen erweitert.

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Zementäre Mörtel, dauer­ elastische Dichtstoffe oder Schienen? Fugen werden je nach ihrer Funktion mit unterschiedlichen Mate­ rialien und Arbeitstechniken geschlossen.

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Chefsache Anschubhilfe für angehende Unternehmen

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Chefsache Begabung zahlt sich aus.

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Sehen lernen Goethe und der Weimarer Klassizismus

18 Steinmensch Unternehmen abzugeben 20

Vor Ort Palladio in Wallau

24 Angesprochen Kundenansprache im Internet

Baustelle

Die Wandarm-Gelenkmaschi­ ne ist so etwas wie die Eier legende Wollmilchsau des ­Steinmetzen. Sie treibt lange Hohlbohrer, sägt Ausschnitte in Küchenplatten, schleift Konturen von Grab­malen und eignet sich auch zur Ober­ flächenbearbeitung mit Stockt­ellern oder Bürsten.

Callwey Verlag STEIN Streitfeldstraße 35 D-81673 München Postfach 800409 D-81604 München Fon +49 89/43 60 05-0 Fax +49 89/43 60 05-164 redaktion@s-stein.com www.s-stein.com

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Der neue alte Wiener Westbahnhof Die alte Halle des Wiener Westbahnhofs wurde aufwendig saniert.

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Farbfassungen auf Naturstein Ein Überblick über die unterschiedlichen Materialien und Farbsysteme

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Sandstrahltechnik treibt filigrane Blüten Einsatz für die Partikelstrahltechnik: Eine Blütenborte in München

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Als BahnhofCity Wien West eröffnete am 23. November 2011 der in den letzten drei Jahren moder­ nisierte Wiener Westbahn­ hof. Auch wenn die ursprüngliche Bahnhofs­ halle zwischen den neu errichteten Gebäudekom­ plexen eine untergeord­ nete Rolle zu spielen scheint, kann deren Erhal­ tung als durchaus lohnend bezeichnet werden.

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Quarzwerkstein

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Kleine Kunststeinkunde Die Verwendung von Kunststein im historischen Kontext

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Markt und Möglichkeiten Quarzwerkstein erweitert den Markt für Steinmetzen.

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Ohne Fugen geht es nicht Fugen: Materialien und Arbeitstechniken.

Wandarm-Maschinen

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Die Alleskönner mit dem Gelenkarm Welche Vorteile die Wandarm-Maschine bringt.

Messe-Highlights

Richtig Verfugen

47 Seitenblicke Wachsjacke oder Friesennerz?

Unternehmen & Produkte

61 Naturstein, Maschinen, Werkzeuge und mehr 3 Betreff 6 Nachrichten 15 Recht 26 Medien 82 Vorschau/Impressum/ Fotonachweis

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Wir setzen die Trends ! www.destag-just-naturstein.de

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Gestalten

Palladio in Wallau – modernes italienisches Design in Naturstein Was verbindet den Renaissance-Architekten Andrea Palladio, den italienischen Designer Raffaello Galiotto und die Natursteinfirma Ströhmann Steinkult in Hofheim-Wallau? In der Ausstellung »Palladio e il design litico« erfahren Sie es! Von Susanne Lorenz

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er den Namen Andrea Palladio (1508–1580) hört, denkt zweifellos zuerst an dessen Renaissance-Villen in Oberitalien, die wegen ihrer Schönheit und Ausgewogenheit berühmt sind. Doch setzte der gelernte Steinmetz seine ästhetischen Grundsätze auch in den Innenräumen und deren architektonischer Ausstattung um. Ergebnis sind elegante Gesamtkunstwerke, die durch ihre harmonische Form, konsequent bis ins kleinste Detail fortgesetzt, beeindrucken. Dass Palladios Formensprache und ästhetische Ideen auch heute noch, nach 500 Jahren, an Aktualität nichts eingebüßt haben und zeitgenössischen

Die Marmorwanne ist aus einem Block gearbeitet – Unikat und Prototyp zugleich.

Sitzkissen aus ChiampoMarmor und Avorio aus Kroatien, 74 x 74 x 26 cm, hergestellt von V ­ icentina Marmi mit einer CNC-­ Maschine von Donatoni,­ Quadrix DV 825. Dahinter die »Leitplanke« aus ­Botticino-Marmor Sitzhocker, Bank und Bade­ wanne: Die handwerkliche Präzision kommt an jedem Ausstellungsstück zum ­Ausdruck.

Designern als Inspirationsquelle dienen, verdeutlicht die Ausstellung Palladio e il design litico, die nach ihren Stationen in Vicenza und Verona, in Dubai und in Harrogate (England), nun exklusiv bei Ströhmann Steinkult in Wallau zu sehen ist und anschließend nach Paris weiterreist. Initiiert und ermöglicht wurde die Ausstellung vom Consorzio Marmisti Chiampo, einem Zusammenschluss von Naturstein verarbeitenden Betrieben im Valle del Chiampo in der Gegend um Verona, mit besonderem Engagement der Firma Decormarmi. Unter Regie des Consorzio befasste sich der italienische Designer Raffaello Ga-

liotto, ansässig in Chiampo, mit der universellen Formensprache des großen Renaissancekünstlers Andrea Palladio, der ebenfalls in dieser Region seinen Wirkungskreis hatte. Galiotto studierte in und an den Gebäuden Palladios intensiv dessen Linienführung und identifizierte schließlich ein stets wiederkehrendes Profil. An den verschiedensten Gebäudeteilen und Schmuckelementen tritt das geometrische Modul in veränderlicher Gestalt auf, es ist die Basis für zahlreiche Objekte Palladios: Die Form setzt sich zusammen aus mehreren Kurven, teils gegenläufig geschwungen, und ornamentalen Biegungen, einer großen gebo-

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Gestalten

Links: Duschkabine, gefertigt von Farinon Giovanni & figli aus italienischem Calacatta Stazzema-Marmor (CNC-bearbeitet) Rechts: Dusch­ kabine aus Rosso Asiago-Marmor aus ­Italien, gefertigt von F.lli Adami mit CNC, Module verklebt mit Adesilex PG1 ­ von Mapei

genen Kurvenlinie und der geraden Sockelzone in variierender Höhe am Fuße. Ausgehend von diesem Basismodul entwarf Raffaello Galiotto diverse Objekte und Gegenstände, wobei die Grundform in veränderten Ausprägungen auftaucht: Steilere oder abgeflachte Variationen kommen neben vereinfachten Varianten vor. Um die Universalität des zugrunde liegenden Profils und dessen Modernität zu verdeutli-

chen, hat Galiotto sie auf eine Vielzahl von Anwendungen transponiert. Die Objekte, die in der Ausstellung zu sehen sind, umfassen funktionale Gegenstände aus Haus und Wohnung, aber auch weitergehende De­ signideen. Dabei stellen die Skulpturen in erster Linie De­ signprototypen dar, die verdeutlichen, was mit Naturstein alles möglich ist. Plastische Objekte wie Waschbecken, Duschkabinen und Badewannen, aber auch skulptu-

rale Stücke wie Vasen oder Oberflächenbearbeitungen für Wand- und Bodenbeläge können bestaunt werden. Marmorne Kissen, Sitzbänke und Hocker sowie eine Leitplanke aus edlem Botticino Classico Marmor, die sich mit ihrer geschwungenen Relief-Form als Abkömmling Palladios outet und den größten Tribut an heutige Erfordernisse darstellt, zollen dem großen Renaissancekünstler ihren Respekt. Galiottos Exponate bestechen

durch ihre ausgewogenen, harmonischen Formen, die Palladios Designprinzipien durchscheinen lassen, aber ohne Zögern auch für heutiges Produktdesign angewandt werden können. Auch hinsichtlich der verwendeten Materialien hat sich Raffaello Galiotto eng am RenaissanceVorbild orientiert: Vorwiegend Kalksteine und Marmor aus der Region rund um Verona kamen zum Einsatz, sodass hier auch die Leistungsfähigkeit und

Wandreliefs mit Palladio-Profil modern interpretiert in unterschiedlichen Ausführungen

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Quarzwerkstein

Erst misstrauisch beäugt, dann überlegen belächelt, und nun kaum noch wegzudenken aus dem Tagesgeschäft: Quarzwerkstein hat den Markt für Steinmetzen erweitert. Von Anne-Marie Ring

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mmer öfter finden Bauherren mit Quarzwerkstein ihren »Naturstein«Favoriten. Und immer mehr Steinmetzen finden mit Quarzwerkstein eine neue Zielgruppe, denn Bauherren mit Berührungsängsten in Sachen Naturstein lassen sich gerne von den Vorzügen industriell produzierten Quarzwerksteins überzeugen: Exakt definierte Farben, auch in modischen Tönen und vielfältigen Variationen. Genau hier liegt der Unterschied zum Naturstein, wenigstens rein optisch.

Quarzwerkstein: Einschlüsse in Kalkstein und Granit, denen die Liebhaber echten Steins große Wertschätzung entgegenbringen, werden von anderen Käufern als Mangel empfunden. Die industrielle Fertigung von Quarzwerkstein schließt solche »Mängel« aus.

Materialkomposition Quarzkomposit ist ein Verbund aus natürlichen Quarzen, Harz und Farbpigmenten in genau definierten Anteilen. Durch Beimischung von Glimmer, Spiegelglasbruch oder Perlmutt oder durch Einstreuung von Halbedelsteinen entsteht das Grundmaterial für Tafeln, deren großer Vorteil in der beliebigen Reproduzierbarkeit liegt. Kompression, Vakuum und Vibration

verkürzen den Prozess der »Steinwerdung« auf wenige Minuten. In diesem Sinne ist der neue Verbundwerkstoff durch den Ausdruck »Engineered Stones« treffend charakterisiert. Auf Stärke herunter geschliffen, mattiert oder poliert eignet sich Quarzwerkstein für die ausdrucksstarke Gestaltung von Küchenarbeits- und Waschtischplatten, als Tisch- und Thekenplatten in Cafés, Restaurants und Kantinen oder – als Wand- und Boden­ platten – für den Innenausbau im weitesten Sinn. Ge­ rade im gehobenen Segment eröffnet Quarzwerkstein aufgeschlossenen Steinmetzen und Verlegern die Chance auf neue Zielgruppen. »Quarzwerkstein ist weniger beratungsintensiv als Naturstein«, sagt Matthias Bischoff von Bischoff Natursteine. Der gelernte Steinmetz arbeitet seit gut zehn Jahren mit Quarzwerkstein, den er auf einer Messe in Italien entdeckt hatte. Fasziniert von den potenziellen Möglichkeiten zählte Bischoff schon bald zu den Pionieren für die Verarbeitung und Vermarktung von Quarzwerkstein in Deutschland. Heute erwirtschaftet der Betrieb im baden-württembergischen B ­ eilstein

Zodiaq im Farbton Snow White wurde am Buffet für die Thekenoberfläche und die Deckenverkleidung verwendet.

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Quarzwerkstein

Markt und Möglichkeiten

Problemlos möglich: die Integration von Lüftungsschlitzen in die Decke aus Quarzwerkstoff.

Außen: Die 100 x 60 cm großen Bistro-Tische sind auf Gehrung gearbeitet.

Hauptverwaltung Marc Cain, Bodelshausen Die ansprechend gestaltete Kantine im Neubau der Hauptverwaltung von Marc Cain, Bodelshausen, wird von Mitarbeitern und Gästen gleichermaßen begeistert aufgenommen. Da Essen Leib und Seele zusammenhält – letztlich soziale Bindungen schafft – hat das Management von Marc Cain diesem Treffpunkt einen hohen Stellenwert eingeräumt. Innen kontrastiert der dunkel gebeizte Eichenparkettboden mit den hochglänzenden Tischen aus Zodiaq Quartz Surfaces Snow White, einem leuchtenden Farbton, der frische, strahlende Eleganz vermitteln soll. Die etwas über drei Meter l­angen und ein Meter breiten Tische – auf Gehrung verklebt – sowie die T­ hekenoberfläche samt Deckenverkleidung am Buffet wurden von dem Z­ odiaq-Partner Illenberger Steinmetz GmbH, Nattheim-Steinweiler, gefertigt.

rund 40 Prozent seines Umsatzes mit Engineered Stone.

In Küche, Bad und anderswo Konsequentes Marketing hat Engineered Stone im Segment der ­Küchenarbeitsplatte fest verankert. Zu den namhaften Marken führender Hersteller (Caesar­stone vom gleichnamigen Hersteller Caesarstone, Sile­ stone von Cosentino, Quarella oder Zodiaq von DuPont, um nur einige zu nennen) gesellt sich eine Reihe weiterer Anbieter. Eine ausführliche Marktübersicht findet sich in STEIN, Heft 3/2011. Der im Vergleich zu Naturstein geringere Pflegeaufwand ­ und die hohe Unempfindlichkeit gegenüber Flecken, auf die die Anbieter

von Engineered Stone gerne verweisen, sind allerdings nicht unumstritten; ebenso das Argument, dass Quarzwerkstein weniger anfällig ist für die Besiedelung mit Schimmel­ pilzen und Bakterien. Beim zuletzt erwähnten Punkt setzt eines der führenden Unternehmen nun auf eine neue Technologie: Bei Sile­stone soll – im Vergleich zur ungeschützten Oberfläche – nach Hersteller­ angaben die kontrollierte Freisetzung von Silber­ionen, die während des Herstellungsverfahrens fest im Material verankert wurden, das Wachstum von Bakterien über einen Zeitraum von 24 Stunden bis zu über 90 Prozent reduzieren. Der Schutz vor Bakterien und Schimmel aus dem Material heraus ist besonders vorteilhaft für schwierig zu

erreichende Ecken und Kanten. Damit bietet Cosentino einen effektiven ­Hygieneschutz – der aber nicht die übliche Reinigung ersetzt. »Ästhetische Klarheit, strahlende Schönheit und ausdrucksstarke Farben prägen die Persönlichkeit von ­Zodiaq Quartz Surfaces. Die Quarzkris­ talle verleihen den Oberflächen Tiefenwirkung und eine luxuriöse Anmutung. Das Resultat der natürlichen Lichtreflexion ist ein modernes und lebendiges Produkt mit einzigartiger Ausstrahlung.« Wer mit solch starken Worten für sein Produkt wirbt, hat die gehobene Käuferschaft im Auge.

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Maschinen

Die Alleskönner mit dem ­Gelenkarm

Die Wandarm-Gelenkmaschine ist so etwas wie die Eier legende Wollmilchsau des ­Steinmetzen. Sie treibt lange Hohlbohrer, sägt Ausschnitte in Küchenplatten, schleift Konturen von Grab­malen und eignet sich auch zur Oberflächenbearbeitung mit Stocktellern oder Bürsten. Von Richard Watzke

Zuerst wird die Plattenrückseite auf einer CNC-­ Säge eingefräst, dann entfernt der Topffräser auf der Thibaut T 108 die übrig gebliebenen Stege.

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Maschinen

Links: SIMA-Geschäfts­ führer Mario Prevedel prüft die Rückseite der Silestone-Platte. Für den Auftrag muss sie auf ­ 1,2 cm verdickt werden.

Die Platte wurde gewendet, dann werden die Steckdosenlöcher gebohrt.

D

Fertig: Die Platte ist bereit ­ für die Weiterbearbeitung auf dem CNC-Bearbeitungszentrum.

ie an der Wand oder an einem Ständer befestigte Maschine mit dem Gelenkarm überdauert alle Zeiten und Technik-Trends. Sie ist robust, nicht selten über Jahrzehnte im Einsatz und auch ohne Computerkenntnisse einsetzbar. Für handwerklich ausgerichtete Betriebe ist sie eine Basismaschine, in größeren Betrieben federt sie Kapazitätsengpässe der CNC-Bearbeitungszentren ab. Der Tiroler Steinmetzmeister Mario Prevedel würde nie auf seine Wandarm-Maschine vom

EIne Duschtasse mit schräger Ablauffläche wird im CAD/ CAM-Programm vorbereitet.

Typ T 108 S verzichten. Prevedel hat sich mit seinen elf Mitarbeitern auf Küchenplatten und den Thekenbau in der Gastronomie spezialisiert, daneben fertigt er aber auch Grabmale nach eigenen Entwürfen. Obwohl der Betrieb in Wörgl mit zwei CNC-Bearbeitungszentren auf kurze Lieferzeiten getrimmt ist, ist die Wandarm-Maschine nach wie vor fester Bestandteil des Produktionsablaufs: Während ein Mitarbeiter auf der T 108 die Rückseite einer Küchenplatte mit dem Topffräser ab-

Die Duschtasse aus Schiefer wird auf einem CNCBearbeitungszentrum zuerst stufenweise vertieft, dann werden die Abstufungen fein geschlichtet.

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Baustelle

Der neue alte Wiener Westbahnhof Als BahnhofCity Wien West eröffnete am 23. November 2011 der in den letzten drei Jahren modernisierte Wiener Westbahnhof. Auch wenn die ursprüngliche Bahnhofshalle zwischen den neu errichteten Gebäudekomplexen eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, kann deren Erhaltung als durchaus lohnend bezeichnet werden. Von Stephanie Hodek

A

nders als in Stuttgart haben die Wiener, zumindest was die Erhaltung ihrer Westbahnhofhalle betrifft, keinen Grund, auf die Straße zu gehen. Zwar forderte die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) Immo­ bilienmanagement GmbH in ihrem Architekturwettbewerb unter anderem einen »Modernisierungsschub«, jedoch galt es, die ursprüngliche Halle in den Entwurf mit einzubeziehen. Ein Abriss des seit 1998 denkmalgeschützten Gebäudes aus den 50er-Jahren stand nicht zur Debatte. Kontrovers diskutiert wurde vielmehr die architektonische Einbindung der ursprüng-

lichen Halle. »Wie eine Schraubzwinge klemmen die beiden Blechkonserven die alte Halle zwischen sich ein und quetschen ihr das letzte Stück Reise­ abenteuer und Grandezza aus. Flächenmaximierung nennt sich diese Form der Adipositas«, so schrieb die Österreichische Tageszeitung »Der Standard« über die Umsetzung von Neumann & Steiner. Es waren jedoch die Architekten selbst, die sich gegen die von der ÖBB vorgeschlagenen Veränderungen der Halle, mit mehr Einbauten und anderen Zu- und Abgängen, für eine Wiederherstellung der historischen Bausubstanz einsetzten,

wie Richard Wittasek-Dieckmann vom Bundesdenkmalamt (BDA) Österreich, Abteilung für Technische Denkmale, zu bedenken gibt. Über eine sehr erfolgreiche Instandsetzung der alten Bahnhofshalle sind sich sowohl das Bundesdenkmalamt wie auch der Bauherr einig. Für Dr. Wittasek »stellt nun die Halle ein herzeigbares Beispiel einer denkmalgerechten Sanierung dar«.

Die »Bahnhofsoffensive« Seit dem Jahr 2000 erneuert die ÖBB im Rahmen der »Bahnhofsoffensive« die am stärksten frequentierten

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Baustelle Die Schauseite der nördlichen Außenfassade Richtung Europaplatz blieb montiert und wurde lediglich gereinigt.

Bahnhöfe Österreichs. Neben der Modernisierung des Wiener Westbahnhofs gilt auch der komplette Neubau eines Hauptbahnhofs am Südtiroler Platz als eine der durchaus aufwendigeren Baustellen innerhalb der Reorganisation des Schienenverkehrs. Von den Erweiterungsbauten »über Tage« abgesehen erschwerte vor allem auch der unterirdische Flächenzuwachs die Umbauarbeiten des Westbahnhofs. Um unter dem Gebäude ein dreigeschossiges Einkaufszentrum entstehen zu lassen, musste die historische Halle untergraben und neu fundamentiert werden. Erfreulicherweise erfolgte keine Setzung, sodass sowohl das Mauerwerk wie die elf Meter hohen Glasfassaden unversehrt blieben. Bereits zuvor waren die Natursteinplatten des sowohl außen- wie auch innenseitig komplett steinsichtig verkleideten Baus größtenteils abgenommen und eingelagert worden. Lediglich die Fassadenbekleidung der

Fast majestätisch, vollplastischen Säulen gleich sind die raumhohen, quaderförmigen Stützelemente wie die wandseitigen Strebepfeiler mit dem graubräunlichen »Grauschnöll« verkleidet.

großflächigen Schauseite, das heißt die nördliche Außenfassade Richtung Europaplatz, blieb montiert und wurde lediglich gereinigt. Teilweise verrostete Stahlanker, welche bis zu fünf auf Pressfuge gesetzten Platten Halt bieten sollten, machten die Demontage der Platten an den übrigen Flächen unumgänglich. Die Standsicherheit der Fassade war nicht mehr gewährleistet. Steinmetzmeisterin Karin Deisl, die dem Architekturbüro Neumann & Steiner im Hinblick auf steintechnisch relevante Belange beratend zur Seite stand, erstellte eine eingehende Vordokumentation mit entsprechendem Maßnahmenkatalog. Ziel war es, so viel Altmaterial wie möglich zu regenerieren. Da Karin Deisls Großvater einst die Platten versetzte, war der Steinmetzmeis­terin eine gelungene Wiederherstellung des Wiener Westbahnhofs ein persönliches Anliegen.

Auf Hochglanz poliert erstrahlt der Innenraum der Halle nicht nur durch die Reflexion der Sonne, auch die sich in die geometrisch reduzierte Raumästethik einfügenden parallelen Lichtbänder an der Flachdecke erzielen bei Dunkelheit einen ähnlichen Effekt.

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