Stefanie von Wietersheim Claudia von Boch
MÜTTE R & TÖCHTER Wie wir W O H N E N und was uns V E R B I N D E T
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E I N L E I T U N G
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M E L I S S A V O N
G R Ä F I N
F A B E R - C A S T E L L
M A R I A
A D E L A I D A
E L I Y E S I L
Orientexpress München – Istanbul
34
H E N R I E T T E
A S C H
F L O R I N E
A S C H
Die wunderbare Welt der Florine
52
B E T T I N A
G A E D E
J O S E P H I N E
G A E D E
Ankerplatz und Nomadenbude
68
I N G R I D
K O H L
A S T R I D V O N
P R I N Z E S S I N
L I E C H T E N S T E I N
Lebensinsel Mutter und Tochter
86
S U S A N N E
B O T S C H E N
C H R I S T I N A
B O T S C H E N
Das Familienhaus der Stilikone
106
Ä B T I S S I N F R E I F R A U
V O N
R E I N H I L D D E R
G O L T Z
F E L I C I T A S R U N G E
Weltabgewandt und Mittendrin
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R O S E T T A
N O S B U S C H
D É S I R É E
N O S B U S C H
Coming Home
142
S O N I A
J A C O B O V I T Z
C H A R L O T T E
K N O B L O C H
Im Herzen Israel
158
L O U I S A
C H R I S T I N A
S E I L E R N
S E I L E R N - W E R T H E R N
Ich baue dir ein Haus
176
N I K E
W A G N E R
L O U I S E
W A G N E R
Leben im Arbeitsbau
192
L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S
I M P R E S S U M ,
D A N K
E I N L E I T U N G
T O C H T E R
„Die Kaiserin hat Dich immer geliebt. Doch Du kennst ja ihre Weise, ihre Kinder zu lieben, jederzeit ist eine Art Mißtrauen und Kälte darein gemischt.“ I S A B E L L A V O N P A R M A A N I H R E S C H W Ä G E R I N M A R I E C H R I S T I N E , I N E I N E M B R I E F A U S D E M J A H R 1 7 6 3
M U T T E R
S E I N – W E R D E N
U N S E R E R S T E S Z U H A U S E ist
der von Müttern und ihren Töchtern gibt es
die Mutter. Ist sie doch die erste schützende
immer wieder neue, überraschende Wege
Hülle, die uns umgibt, unser ureigenes, at-
und Abenteuer, Alltagsnervereien, schwere
mendes Haus. Von ihr lernen wir bald nach
Prüfungen, aber auch Glücksmomente und
der Geburt, wie es sich anfühlt, in Sicherheit
Seligkeiten. Und irgendwann kommt im
zu sein, sie ist Taktgeber der Woche, Bild-
gemeinsamen Lebenslauf der vorher kaum
nerin der Alltagsbühne. Sie sorgt für Leben,
erspürte Moment, in dem sich das Kräfte-
Überleben und Wärme – und für Kultur. Sie
verhältnis zwischen Mutter und Tochter än-
richtet das Haus ein, bestimmt die Atmo-
dert. Wenn Stärke und Führung der Mutter
sphäre, in den meisten Fällen auch heute
durch das Alter abnehmen, die Tochter den
noch, Emanzipation hin oder her. Ohne die
Staffelstab von der Mutter erhält. Wenn sie
wichtige Rolle der Väter zu verkennen: Meist
beginnt, die Rolle der Fürsorgerin zu über-
ist es die Mutter, die Kontinuität schafft,
nehmen, oft eine fragile Phase für beide, in
was im Leben auch immer passieren mag.
der sie sich neu definieren müssen.
90 Prozent aller alleinerziehenden Eltern in Deutschland sind nach wie vor Mütter.
Natürlich
gelten
ähnliche
Din-
ge auch im Verhältnis von Müttern und
Mutter-und-Tochter-Geschichten
Söhnen – oder von Vätern und ihren Kin-
sind so alt wie die Menschheit, immer wie-
dern allgemein. Uns hat in diesem Buch
der neu, millionenmal anders. Mütter sind
aber das Verhältnis zwischen Mutter und
geliebtes Ideal oder jahrelanger Terror,
Tochter interessiert. Und zwar nicht nur
dazwischen schimmern unendlich viele
das geistig-emotionale Innenleben, sondern
Nuancen. Es gibt wunderbare, warmherzi-
auch die Außenwelt. Wie sich Persönlich-
ge, witzige, genauso aber abwesende, gleich-
keit, Werte und Familienkultur in den Häu-
gültige, überforderte Mütter. Ersatzmütter,
sern von Müttern und Töchtern zeigen. Wie
Pflegemütter, Adoptivmütter, die sich liebe-
sich die Vorstellung von Stil und Atmosphä-
voll um andere Kinder kümmern – und un-
re ausbildet, wie Kultur weitergegeben und
gelebte Mütter. Diejenigen, die sich gesehnt
der Sinn für individuelle Gestaltung tradiert
haben, Kinder zu bekommen, und denen es
wird. Im besten Sinne: die Frau als Haus-
verwehrt war. Mutter wird man jeden Tag
Frau. Denn Wohnungen und Häuser sind
neu, in Anstrengung und im Lernen und
Behausung, sie geben Sicherheit, Stabilität,
manchmal auch im dauerhaften Kampf, mit
sind Ausdruck eines Lebensgefühls, bieten
Brüchen und Blessuren. Als Tochter wird
unseren Träumen ein Dach – etwas ganz Ele-
man geboren, empfängt, lernt, nimmt über
mentares. Und damit sind wir wieder bei der
ganze Jahrzehnte, oft ohne nachzudenken,
Idee der Mutter als Zuhause, als Grundele-
ein gutes Recht der Kinder. Im Miteinan-
ment des Lebens. Wenn es um das Haus geht,
4
und den Einfluss der Mutter darin, gibt es
diviner Verwandtschaft. Viele dieser Frau-
viele Fragen und Antworten, die faszinie-
enfiguren inspirierten bildende Kunst, Li-
ren. Was sagt unser Zuhause über uns als
teratur und Schauspiel über Jahrtausende.
Menschen, als Angehörige einer Sippe, einer
Leben, Fruchtbarkeit, Nähren, Liebe waren
Kleinfamilie, einer Gesellschaftsschicht?
in den Mutterfiguren eng miteinander ver-
Wie beeinflusst die Berufswahl das Zuhau-
bunden: Erdmutter Gaia mit ihrer Enkelin
se? Kann man Stil lernen? Wie wird er wei-
Aphrodite, der Liebesgöttin; die von ihrer
tergegeben? Wie tradieren sich Geschmack
Mutter Leda aus einem Ei geborene schöne
und die Vorstellung dessen, was als schön
Helena; die Mutter- und Fruchtbarkeits-
gilt? All das sieht man, wenn man Häuser
göttin Demeter mit Tochter Persephone,
genau betrachtet. Und wenn man parallel
auch sie eine Fruchtbarkeitsgöttin.
sowohl Häuser von Müttern als auch von
Im Christentum gab und gibt es neben
Töchtern ansieht, kann man bemerkenswer-
Maria, der Muttergottes, starke Mutterfigu-
te Parallelen, versteckte Zitate oder radikale
ren: die Äbtissinnen. Nicht umsonst heißen
Brüche erkennen. Manche Häuser sind Stoff
sie „Ehrwürdige Mutter“, „Mutter Oberin“
für ganze Lebensromane von Müttern und
oder „Mother Superior“, nicht nur für die
ihren Töchtern. Geschichten zum Anfassen.
Klosterschwestern, quasi ihre Töchter. Im
Es gibt viele faszinierende Mutter-Toch-
deutschen Kulturraum kommt im 18. Jahr-
ter-Paare in Mythologie, Geschichte und Li-
hundert als mächtige Mutterfigur sicher
teratur, die uns Geschichten von Liebe und
vielen die österreichische Kaiserin Maria
lebenslanger Solidarität, von Konkurrenz und
Theresia in den Sinn. Sie herrschte ab dem
Machtkampf, von Weglaufen und Wieder-
Jahr 1740 über ihr riesiges Reich und gebar
kommen, Verlust und Schmerz berichten.
18 Kinder; davon waren allein elf Töchter,
Schon die Griechen erzählten sich
von denen acht das Kleinkindalter überleb-
die Sagen von legendären Müttern und
ten. Maria Theresia ließ sich auf Gemälden
Töchtern aus ihrer Götterwelt, diesem eng-
als liebende Ehefrau, zärtliche Mutter und
maschigen, manchmal inzestuösen Netz an
Magna Mater, als mächtige Landesherrin,
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Die Erste Mutter Europas und ihre Lieblingstochter: Kaiserin Maria Theresia von Österreich und ihre Tochter Marie Christine, Herzogin von Sachsen-Teschen, Mitte des 18. Jahrhunderts.
E I N L E I T U N G
Innige Mutterliebe, in ihren Briefen unsterblich gemacht: Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné, korrespondierte leidenschaftlich mit der fernen Tochter Françoise, Comtesse de Grignan, Mitte des 17. Jahrhunderts.
Übermutter, porträtieren. In dieser Töch-
nung zwischen Paris und dem Château de
terschar gab es, wie in allen Familien, Eifer-
Grignan in Südfrankreich. So schrieb sie
sucht um die Gunst der Mutter, gepaart mit
etwa: „Beste Tochter, hören Sie nie auf, mich
einer unterschiedlichen Behandlung der
zu lieben. Ihre Freundschaft ist mein Leben,
Töchter als wertvolles Heiratsgut im Mäch-
meine Seele, wie ich letzthin schon gesagt
tespiel Europas, für das junge Frauen selbst-
habe, auf ihr beruht meine Freude und mein
verständlich eingesetzt wurden – und dafür
Schmerz. Ich gestehe Ihnen, dass Schatten
mehr oder minder sorgfältig und erfolgreich
und Trauer auf dem Rest meines Lebens lie-
erzogen wurden. Darunter waren die un-
gen, wenn ich daran denke, dass ich es so oft
glückliche Marie-Antoinette, die als Königin
fern von Ihnen verbringen muss.“ Ein ande-
von Frankreich aufs Schafott ging, die hoch-
rer Brief an die Tochter endet mit dem Satz:
begabte Anna Amalia, die den schwachsin-
„Ich liebe Sie mit unermesslicher Zärtlich-
nigen Herzog von Parma heiraten musste,
keit. Nie hat es eine so natürliche und echte
Maria Elisabeth, die – von Pocken entstellt –
Liebe gegeben wie die meine für Sie!“ Leider
mächtige Äbtissin in Innsbruck wurde. Al-
sind die Briefe von Françoise an die Mutter
lein Marie Christine, der erklärte und be-
nicht erhalten, wir kennen nicht die Kehr-
neidete Liebling der Mutter, durfte ihrem
seite der Korrespondenz.
Herzen folgen und den auf dem politischen
Die Inbrunst einer Madame de Sé-
Schachbrett eher unbedeutenden Herzog
vigné ist natürlich nur die positive Seite
Albert von Sachsen-Teschen heiraten. Ma-
der mütterlichen Gefühle und sicher auch
ria Theresia sorgte sich auch noch um die
besonders schön in Worten inszeniert. Das
Töchter, als sie den Wiener Hof verlassen
grausame Gesicht des jahrtausendelang
hatten. Berühmt geworden sind ihre Briefe,
vorherrschenden Patriarchats, in dem nur
in denen sie ihre Töchter ermahnte, ihren
die Söhne als Namensträger, politische und
Pflichten als gute Christinnen und Ehefrau-
wirtschaftliche Entscheider so viel mehr
en von Europas Herrschern zu genügen, den
galten als Frauen, machten den männ-
Untertanen mit Sparsamkeit und Gottes-
lichen Nachwuchs zu wertvolleren und
furcht ein gutes Vorbild zu sein.
angeseheneren Mitgliedern der Familie.
Briefe erzählen uns auch wunderbar
Töchter? Minderwertig. Das war zumindest
plastisch von einer weiteren, in ganz Europa
in Europa bis in die Mitte des vergangenen
berühmt gewordenen Mutter-Tochter-Be-
Jahrhunderts so. Von der Ehefrau Thomas
ziehung: Als Inbegriff für Mutterliebe be-
Manns, Katia Mann, ist der legendäre Satz
kannt ist die Französin Madame de Sévigné
überliefert: „Ich war immer verärgert, wenn
(1626–1696), die an ihre Tochter Françoise
ich ein Mädchen bekam.“ Ihre drei Töchter
– verheiratete Comtesse de Grignan – über
hatten es trotz ausgesprochen hoher Bega-
Jahrzehnte hinweg tausende Briefe schrieb.
bungen schwerer als die drei Söhne – wenn
Später wurden diese als Sammlung zu Klas-
auch Katia Manns Abneigung unterschied-
sikern der französischen Literatur und
lich stark ausgeprägt war.
Madame de Sévigné zum Symbol der lieben-
Hass und Ungeduld der Mutter gegen-
den Mutter schlechthin. Voller Anspannung
über ihrer Tochter erscheinen auch immer
fieberte sie den Antwortbriefen der Tochter
wieder in den Erzählungen der amerika-
entgegen, begierig, auch die letzten Klei-
nischen Intellektuellen Susan Sontag, deren
nigkeiten aus ihrem Leben zu erfahren. Sie
Mutter Mildred sie als Kind wiederholt für
ermunterte sie, gab gute Ratschläge – und
Monate bei Kinderfrauen und Ersatzeltern
litt vehement unter der räumlichen Tren-
ließ, um mit ihrem Ehemann in Asien zu
6
E I N L E I T U N G
leben. Sie verbot ihrer Tochter sogar, sie in
zugeben: Ein Leben erzählen, teilen, damit
der Öffentlichkeit „Mutter“ zu nennen, da sie
wichtige Erfahrungen nicht verloren gehen
Angst davor hatte, für alt und unattraktiv ge-
und als Schatz weitergetragen werden. Ihre
halten zu werden. Die amerikanische Mode-
Leserinnen machte sie zu momentanen
redakteurin Diana Vreeland wurde von ihrer
Töchtern, die ihren Lebenslektionen über
Mutter allein schon wegen ihrer großen Nase
Gewalt, Würde, Wahrheit und Überleben
abgelehnt, was sie nicht davon abhielt, sich –
lauschen – zumindest ist dies ihr Wunsch.
aus der Not mach’ eine Tugend – in eine Stil-
Angelou selbst wuchs bei der Großmutter
ikone zu verwandeln. Denn Mädchen hatten
auf, zog erst mit 13 Jahren zu ihrer leib-
lange Zeit vor allem eines zu sein: schön, brav
lichen Mutter Vivian, bekam bereits als
und gute Hausfrauen. Wenn sie überhaupt
High-School-Schülerin einen Sohn, den ihre
gewollt waren. In Zeiten vor der hormonellen
Mutter als Hebamme zur Welt brachte. Das
Empfängnisverhütung versuchten Millionen
Thema Mutter-Tochter ließ sie ein Leben
Frauen mit rabiaten Methoden die Schwan-
lang nicht los. In ihrer schriftstellerischen
gerschaften zu beenden. Man lese dazu nur
Fantasie stellte sie sich vor, auf allen Konti-
Benoîte Groults Erzählungen in ihrem Buch
nenten tausende Töchter aller Hautfarben
Meine Befreiung, in denen von Stricknadeln
zu haben. Sie ersetzte die nicht-existente
und Hinterhof-Engelmacherinnen bis in die
Tochter im wahren Leben außerdem mit
1960er Jahre in Paris plastisch die Rede ist.
Freundinnen und Weggefährtinnen wie
Auch wenn diese Praktiken heute in Europa
Oprah Winfrey und Gayle B. King, denen
Geschichte sind – in Ländern wie Indien, Pa-
sie geistig Mutter sein wollte. Letter to my
kistan, Afghanistan oder China gelten Töch-
Daughter ist auch den Frauen gewidmet, die
ter als minderwertig, eine Last, und werden
ihr geistige Mütter waren.
bevorzugt abgetrieben. Die pakistanische
Der Wunsch, das eigene Leben möge
Kinder- und Frauenrechtsaktivistin Malala
nicht unbemerkt verpuffen, andere mögen
Yousafzai, die im Jahr 2014 mit 17 Jahren den
einem doch beim Leben zusehen, etwas vom
Friedensnobelpreis bekam, schreibt in ihrer
Selbst bleiben – ein wohl tief liegendes Be-
Lebensgeschichte I am Malala: „Als ich gebo-
dürfnis vieler Menschen. Unsterblichkeit im
ren wurde, bedauerten die Leute in unserem
Schreiben, Unsterblichkeit in der Tochter
Dorf meine Mutter und niemand beglück-
– ein klassisches Thema bei schreibenden
wünschte meinen Vater. [...] Für die meisten
Frauen. Die New Yorker Autorin Siri Hust-
Paschtunen ist es ein düsterer Tag, wenn
vedt, die Tochter Sophie mit ihrem Mann
eine Tochter geboren wird.“ In Pakistan
Paul in Brooklyn aufzog, zeichnet in ihrem
werden bis heute bei der Geburt eines Soh-
2011 erschienenen Roman The Summer
nes Gewehrsalven abgefeuert – eine Tochter
without Men die komplexen Beziehungen
jedoch hinter einem Vorhang versteckt.
zwischen Tochter, Mutter und Großmutter
Ganz im Gegensatz dazu gibt es Frau-
während einer Lebenskrise der Heldin Mia
en, die sich ein Leben lang sehnlichst eine
nach, der Großmutter und Tochter mit ver-
Tochter gewünscht haben, aber keine beka-
einten Kräften wieder ins Leben helfen. Die
men. Die afro-amerikanische Schriftstelle-
alte Mutter, „das Land von M.“ , ist ihr auch
rin Maya Angelou widmete ein ganzes Buch,
mit Mitte 50 noch heilender Zufluchtsort,
Letter to my Daughter, ihrer imaginierten,
Mutter und Tochter wirksame Therapie.
ungeborenen Tochter – aus dem tiefen Be-
Die Übermutter der südamerika
dürfnis heraus, ihre Lebenserfahrungen
nischen Literatur, Isabel Allende, schuf
an die nächste Frauengeneration weiter-
in ihrem Roman Das Geisterhaus mit den
7
„Paulas vorzeitiger Tod brach mein Herz. Sie war erst 28 Jahre alt, als sie starb, eine anmutige und spirituelle junge Frau, das Licht unserer Familie.“ I S A B E L A L L E N D E Ü B E R I H R E T O C H T E R P A U L A
E I N L E I T U N G
„Ich hatte mit meiner Mutter immer eine sehr enge, omnipräsente Beziehung. Ihre Einstellung, immer nach vorne zu gehen, sich niemals zu verbiegen, war für mich mehr als ein Vorbild: eine Quelle des Lebens.“ N A T H A L I E R Y K I E L Ü B E R I H R E M U T T E R S O N I A R Y K I E L
Frauenfiguren Clara, Blanca und Alba True-
erfuhr sie von Lehrern oder Nachbarn – und
ba ganz andere, eigensinnige und extrem
lernte von diesen Vorbildern, wie man eine
unterschiedliche Mutter- und Tochterge-
liebevolle Familie schafft. Viel später, als sie
stalten, deren Geschichte über drei Genera-
bereits Außenministerin und Senatorin war,
tionen im Chile des 20. Jahrhunderts erzählt
liebte Hillary Clinton es, nach einem langen
wird. Allende verbindet die weiblichen Per-
Tag am Abend mit der Mutter in der Küche
sonen eng mit dem Haus, in dem sie leben.
zu sitzen und ihr ihren Tag zu erzählen – wie
Im Mittelpunkt des Alltags des exzentri-
früher als Kind, wenn sie aus der Schule kam.
schen Trueba-Clans steht Mutter Clara in ih-
Manche Mütter bekommen spät im
rem schließlich verfallenden „Geisterhaus“,
Leben doch noch die unverhoffte Chance,
dem sich mit der Familie organisch verän-
eine
dernden Familiensitz in Santiago. Die Ab-
einzugehen. Patti Smith, die amerika-
gründe einer religiös-masochistisch moti-
nische
vierten Mutter-Tochter-Beziehung scheinen
erlebte als 20-Jährige das Trauma einer
in den Figuren von Claras Schwiegermutter
schmerzvollen, unerwünschten Geburt als
Dona Ester und deren Tochter Férula auf.
ledige Mutter, im Jahr 1966 ein Skandal für
Isabel Allende setzte zwölf Jahre nach dem
ihre religiös-konservative Familie in der
Welterfolg des Geisterhauses ihrer eigenen
Provinz. Patti musste zu einer Ersatzfamilie
Tochter im autobiografischen Roman Paula
ziehen, wo sie niemand kannte. Nach der
ein Denkmal, in dem sie über die schweren
Geburt, bei der die Krankenschwestern sie
gemeinsamen Jahre schreibt, nachdem ihre
schikanierten und bewusst an den Wehen
Tochter unheilbar erkrankt war und starb.
leiden ließen, wurde ihr die kleine Tochter
Der Leidensweg einer Mutter-Tochter-Be-
weggenommen. Das Baby wurde zur Adop-
ziehung und eine Hommage an ihre Liebe.
tion freigegeben und verschwand. Erst viele
positive
Mutter-Tochter-Beziehung
Punk-Sängerin
und
Künstlerin,
Nichts ist verloren, selbst bei einer
Jahre später, 1987, Patti war mit dem Musi-
grausamen Kindheit ohne mütterliche Liebe.
ker Fred Sonic Smith verheiratet, bekam sie
Töchter können als Mütter neu beginnen, es
eine weitere Tochter, die sie bewusst aufzie-
anders machen als die Generation zuvor. Das
hen konnte und die wie sie selbst Musikerin
zeigt das Beispiel von Charlotte Knobloch,
wurde: Jesse Paris Smith. Ihr Freund und
die wir für unser Buch interviewt haben –
Seelenverwandter Robert Mapplethorpe
und auch das Beispiel einer anderen großen
machte ein Foto von den beiden, ein Pola-
Politikerin: Hillary Clinton. Hillary Clinton
roid, das für eine neue ästhetische Art in der
schreibt über ihre Mutter Dorothy Howell
Porträtdarstellung von Müttern und Töch-
Rodham in ihrer Biografie Hard Choices:
tern steht. Ihre erste Tochter jedoch sah sie
„Niemand hat mein Leben mehr beeinflusst
nie wieder – ein Schicksal, das sie mit sehr
als meine Mutter und niemand hat mich als
vielen Frauen teilt, die in dieser Zeit un-
Person, die ich wurde, mehr geformt. [...]
verheiratet schwanger wurden.
Mom gab mir so viel bedingungslose Liebe
Auf dem Muttermythos hat die ame-
und Unterstützung, als ich in Park Ridge,
rikanisch-französische Künstlerin Louise
Illinois, aufwuchs.“ Clintons Mutter stamm-
Bourgeois ein großes Werk gegründet.
te aus äußerst schwierigen Verhältnissen,
Unübersehbar, beeindruckend sind ihre
wurde als Kind von den Eltern verlassen und
Versionen der Mutter. Maman heißen die
wuchs bei der strengen Großmutter auf, floh
fast zehn Meter hohen Spinnenskulpturen
mit 14 Jahren und schlug sich zunächst als
aus Metall, die die Bildhauerin in den Mit-
Haushilfe durch. Liebe und Freundlichkeit
telpunkt ihres Schaffens stellte – die Spinne
8
E I N L E I T U N G
als Mutterfigur und Netzweberin, Netzwer-
Shiva Hagen haben drei Generationen in
kerin. Vorbild dafür war die eigene Mutter,
komplexen Konstellationen künstlerisches
eine Weberin und Restauratorin von Stof-
Wirken weitergegeben. Besonders in der als
fen, die für Louises Leben entscheidend war,
typisch weiblich geltenden Modebranche
vor allem als Gegenpol zu dem gehassten
spinnen sich Dynastien von der Großmutter
Vater, der die Mutter jahrelang mit ihrem
über die Mutter zur Enkelin: so bei Sonia,
Kindermädchen betrog. Die Mutterspinne –
Nathalie und Lola Rykiel in Paris, bei Cris-
ein beschützendes, hilfreiches Wesen.
tina und Laudomia Pucci in Florenz, Adele,
Legendäre Schauspielerinnen und
Anna und Silvia Fendi in Mailand, bei Rosita,
Musikerinnen des 20. Jahrhunderts wuch-
Angela und Margherita Missoni in der Lom-
sen in einem kreativen Fluidum auf, das von
bardei und bei Roberta und Veronica Etro in
Müttergenerationen geprägt wurde wie die
Mailand. In diesen Familien wuchsen weib-
Dynastien von Ingrid Bergman, Isabella Ros-
liche Generationenketten erfolgreich im Ge-
selini und Elettra Rosselini oder Katharina,
schäft weiter, Ideen, Werte und Vermögen
Anna und Nelli Thalbach. Hinter dem Erfolg
wurden von Mutter zu Tochter weitergege-
der italienischen Sängerin Cecilia Bartoli
ben. Die amerikanische Modedesignerin
steht auch – was wenige wissen – ihre Mut-
Tory Burch benannte sogar das berühm-
ter Silvana Bazzoni, selbst Musikprofesso-
teste Schuhmodell ihrer Marke „Reva“ nach
rin, die sich bewusst immer im Schatten der
dem Vornamen der Mutter. Auch in ande-
Tochter aufhielt. Auch in Eva-Maria Hagen,
ren genuin weiblichen Bereichen wie der
Tochter Nina Hagen und Enkelin Cosma
Beauty-Industrie geben Isabelle und Christine d’Ornano bei Sisley, Estée Lauder und deren Enkelin Aerin Lauder einen individuellen Stil weiter, den sie erfolgreich vermarkten. Teil dieser Erfolgsgeschichten ist auch die Faszination der Käufer für die Mutter-Tochter-Welten, die inszeniert werden. Nicht alle Künstlerinnen sahen die Mutterrolle so positiv auch für ihr eigenes Leben. Sich in der Kunst malend, singend oder schreibend mit Mutterschaft auseinanderzusetzen oder wirklich selber 24 Stunden am Tag Mutter zu sein, das sind für manche Frauen zwei ganz unterschiedliche Dinge. Mutterschaft kann ein Werk nähren – oder vollkommen zerstören. Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer aus Südafrika schaffte es, die Belastung als Schriftstellerin und Mutter von Tochter Oriane und Sohn Gerald zu meistern, indem sie ihre Kinder ins Internat schickte. Keine Kinder haben zu wollen, die Mutterrolle abzulehnen, da sie im Leben hindert, einschränkt, Karrieren verbaut, das ist eine Position, die zeitgenössische
9
First Lady – First Daughter. Das berühmteste Mutter- Tochter-Paar der USA: Hillary Clinton und Tochter Chelsea, im Jahr 2013.
E I N L E I T U N G
„Aus dem Haus mußte und sollte das Kind, so muffig und unerfreulich, wie es war.“ K A T I A M A N N Ü B E R I H R E 1 4 - J Ä H R I G E T O C H T E R M O N I K A , I N E I N E M B R I E F A N T O C H T E R E R I K A
Künstlerinnen seit Kurzem ganz offen
Social Media ein verbales Gefecht über das
äußern – und die damit eine leidenschaftli-
wahre Gesicht der Mutterschaft, vor allem
che öffentliche Diskussion angefacht haben.
zwischen Frauen: auf der einen Seite Entrüs-
So sagte die britische Konzeptkünstlerin
tung und Beschimpfung – auf der anderen
Tracey Emin in einem Interview mit You Ma-
Seite die Zustimmung von vielen Frauen,
gazine: „Ich hatte niemals Kinder, da mein
die sagten: Endlich wagt es einmal jemand,
Wunsch, eine erfolgreiche Künstlerin zu
das zu sagen! Den Verlust an Kontrolle über
sein, jegliche mütterlichen Gefühle außer
das eigene Leben, an Freiheit, am eigenen
Kraft setzte.“ Emin hatte mit 26 Jahren eine
Körper, das gefährliche, weil komplett über-
Abtreibung und sagte, sie würde es hassen,
fordernde Streben nach Perfektion zwischen
ihr Atelier verlassen zu müssen, um sich
Mutterschaft, Beruf und Partnerin – wer
um Kinder zu kümmern. Sie ist außerdem
sieht das eigentlich?
überzeugt: „Es gibt gute Künstler, die Kin-
Uns haben bei diesem Buch mit Re-
der haben. Natürlich gibt es die. Sie heißen
portagen in die Lebenswelten von Müttern
Männer.“
und Töchtern zwei Sichtweisen inter-
Es gibt auch Geschichten des Has-
essiert: Wie denken erwachsene Töchter
ses, der Ablehnung, der Überforderung bei
heute über ihre Mütter und ihr Zuhause?
Müttern aus so genannten normalen, ganz
Über ihr eigenes, und das, was sie aus dem
profanen Berufen und Lebenssituationen.
Elternhaus oder besser: dem Mutterhaus
Denn Mütter können zutiefst unglücklich
kennen? Welche Dinge sind ihnen wichtig,
sein. Mutterschaft ist für viele Frauen über-
woran hängen sie? Und: Was haben sie ge-
haupt kein Vergnügen. Das öffentlich auszu-
hasst, als schrecklich empfunden, was ma-
sprechen, war lange ein Tabu. Zu stark der
chen sie ganz anders? Und wie blicken Müt-
Mythos der quasi animalischen oder hei-
ter auf die Lebensbühnen ihrer Töchter?
ligen Mutterliebe. Nach dem Durchsetzen
Wir sind in den vielschichtigen Kosmos der
der systematischen Empfängnisverhütung
Mutter-Tochter-Beziehung auch gereist, um
wurde diese dunkle Seite der Mutterschaft
herauszufinden, welche stilbildende Rolle
mit dem Totschlagargument: „Du hast es ja
Mütter für das Schönheitsempfinden ihrer
so gewollt, beschwerʼ dich nicht!“, vom Tisch
Töchter spielen. Wie ästhetische Vorstel-
gewischt. Umso erstaunlicher ist in der ak-
lungen – sicher oft unbewusst – weitergege-
tuellen Diskussion das Thema „Regretting
ben werden. Wir haben sie immer in beiden
Motherhood“, das nach der Veröffentlichung
Häusern besucht, sind vom Zuhause der
einer Studie der israelischen Soziologin Orna
Mutter in das Zuhause der Tochter gereist
Donath im Frühjahr 2015 erstmals in Heftig-
oder umgekehrt. Um zu sehen, zu fühlen
keit diskutiert wurde. Im Internet und in
und zu riechen. In ausführlichen Interviews
den Printmedien brach kurz danach unter
sprechen sie gemeinsam über ihre Lebens-
„#regrettingmotherhood“ ein Sturm los. Do-
wege und das, was sie geprägt hat. Über
nath dokumentierte in ihrer Untersuchung
Zuhause, Sich-Geborgen-Fühlen, auch über
Lebenswege von Frauen aus unterschied-
Fliehen und Rausmüssen.
lichen sozialen Schichten und Partnerkon-
In den Interviews bewegten wir uns in
stellationen, die freimütig zugaben, es bereut
selbstverständlicher Leichtigkeit rückwärts
zu haben, Mutter geworden zu sein. Genau-
und vorwärts durch die Generationen-
er, sie liebten ihre Kinder, seien aber in der
kette, kamen auf legendäre Urgroßmütter,
Mutterrolle oft überfordert und unglück-
Enkelinnen, schweiften ab zu dominanten
lich. Innerhalb von Stunden begann in den
Tanten zweiten Grades. Überall tauchten
10
E I N L E I T U N G
sie auf: Frauen, die die weiblichen Mitglie-
wenn die Tochter schon mit uns in einem
der besonders prägten mit Aussprüchen,
Raum saß – und dann die Mutter durch
Werten, Zielvorgaben. Es war mir oft so, als
die Tür trat. Unbewusst richteten sich die
lugten die Geister der Vorfahrinnen immer
meisten Töchter rein körperlich, aber auch
wieder um die Ecke. Manchmal stand die
innerlich auf, sie veränderten sich sicht-
Fotografin Claudia von Boch, immer unter
bar in ihrer Präsenz. Diese Verwandlung in
Hochdruck an Licht, Szenenporträts, Still-
Körpersprache und Verhalten war für uns
leben und Ausschnitten arbeitend, wie ein
faszinierend. Erst mit der Mutter entstand
Mäuschen lauschend hinter der Tür und
bei unseren Geschichten ein anderer, ein
hörte fasziniert zu.
erfüllter Raum, so stark und selbstbewusst
Überraschend für uns kamen einige
die Töchter alle sind. Sie wurden Tochter.
Themen immer wieder, so unterschiedlich
Manchmal dachten wir daran, wie es wohl
unsere Interviewpartnerinnen, egal in wel-
für sie eines Tages sein wird, wenn sie die-
chem Land, in welcher sozialen Schicht:
se Bewegung des Aufrichtens nicht mehr
das Gefühl des Alleinseins auch bei den
haben, weil die Mutter nicht mehr für sie da
erwachsenen Töchtern, wenn die Mütter
sein wird. Bei allem Streit, subkutanen Ver-
weit entfernt leben oder beruflich einge-
letzungen – die meisten der interviewten
bunden sind. Auch bei vielen gestandenen
Töchter bewundern ihre Mutter und fürch-
Frauen scheint die Sehnsucht durch nach
ten sich davor, an ihren Tod zu denken.
der Mutter, die da ist mit ihrer Wärme, die
Durch die zunehmende Berufstätig-
beruhigt, mit Rat und Tat zur Seite steht,
keit der Mütter hat sich auch ihr Verhältnis
die versorgt. Auch oder gerade, wenn sie
zu den Töchtern geändert – eine Entwick-
Managerin, Politikerin oder sonst sehr
lung, die durch den Ausbau der sehr frühen
beschäftigt ist. Ein sehr althergebrachtes
Kinderbetreuung weitergehen wird. Zwi-
Mutterbild. Emotionen fragen nicht nach
schen Müttern und Töchtern wurde in den
Political Correctness und Emanzipation.
Gesprächen viel über Zwänge und Freiheit
Auf der anderen Seite stellte sich bei den
diskutiert: Sind arbeitende Mütter der Gip-
älteren Müttern, die wir interviewten,
fel der Freiheit? Für die Mütter? Für die Kin-
immer irgendwann die Frage: Wenn die
der? Ist die Mutterrolle im Gegensatz zum
Töchter aus dem Haus sind, was dann? Den
Arbeitsleben nicht eine große Freiheit, ein
Töchtern mit den Enkeln helfen, als Not-
Schlupfloch, ein Plan B – oder eine zusätz-
falldienst immer einsatzbereit sein, stop-
liche Last?
fen, pflegen, das Leben noch einmal der
Eine Überraschung war, wie oft abwesende
Familie hingeben? Oder in die Öffentlich-
Dritte bei unseren Gesprächen dabei zu sein
keit gehen, einen Beruf ausüben? Auch da
schienen: die bereits verstorbenen Ehemän-
sehen wir, wie sich die Zeiten geändert ha-
ner und Väter. Ich vermied bei den Interviews
ben. Unsere Interviewpartnerinnen Char-
bewusst, das Thema Männer aktiv anzuspre-
lotte Knobloch und Reinhild Freifrau von
chen, aber sie erschienen meist spontan in
der Goltz begannen ihr „großes“ Leben in
den ersten Minuten unserer Unterhaltungen
der Öffentlichkeit mit Ende 50. Ein Modell,
als unsichtbare Anwesende. Auf sie wurde
das in einer Zeit, in der viele Frauen 90 Jah-
Bezug genommen, manche wurden als für-
re alt werden, sicher immer mehr Nachah-
sorgliche Lebenspartner geschildert, andere
merinnen findet. Und eine schöne Vision.
schonungslos als herrschsüchtige Tyrannen
Ein fast bühnenreifer Moment war bei
dargestellt, sowohl von den Müttern, als auch
unseren Doppelinterviews der Augenblick,
von den Töchtern. Männer ihrer Zeit, die im
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Zarte Keimzelle einer Schauspielerinnen-Dynastie: Ingrid Bergman mit Tochter Isabella Rosselini, im Jahr 1953.
Innige Mutter-TochterBeziehung zwischen Israel und Deutschland. Die in Tel Aviv lebende Ärztin Sonia Jacobovitz mit ihrer Mutter Charlotte Knobloch im Gespräch für dieses Buch, im Sommer 2014.
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geboren
hingegen sind konfrontiert mit einer Vielzahl
waren und klar patriarchalisch dachten.
von Lebensoptionen, für manche eine anders
Umso interessanter war es zu erfahren, wie
schwere Last, wenn sie sich dem Druck der
die noch oft im alten Rollenbild erzogenen
Selbstoptimierung nicht gewachsen fühlen.
Mütter damit umgingen und wie die um oder
Zugegeben: In unserem Buch er-
nach 1968 geborenen Töchter damit zurecht-
scheinen relativ harmonische Mutter-Toch-
kamen. Bei nicht wenigen war die Antwort:
ter-Paare. Insofern ist unser Bild ein sehr
„So wie meine Mutter wollte ich nicht mit
eingeschränktes und kann keineswegs re-
einem Mann leben!“ Allen ist ein epochaler
präsentativ sein. Töchter, die sich ducken,
Bruch in den Beziehungen zwischen den
verstecken, ihre Mütter hassen oder hoch-
beiden Generationen bewusst. Dieser Bruch
problematische Beziehungen haben, hätten
wirkt sichtbar auch über die Generationen
uns gar nicht in ihr Haus gelassen. Denn über
hinweg in das 21. Jahrhundert, über Erzäh-
das Mutter-Tochter-Verhältnis zu sprechen
lungen und Einstellungen. Alle Töchter se-
und dann noch eine Fotografin mit der Ka-
hen das hart erkämpfte Privileg des eigenen
mera einzulassen, ist für viele eine zu große
Berufs und der finanziellen Unabhängigkeit
Überwindung. Und bei manchen vielleicht
als segensreich für das eigene Lebensglück
vermintes Gelände. Manche Mütter oder
an, da sie weniger Kompromisse als ihre Müt-
Töchter sagten uns erst zu, zogen sich dann
ter eingehen müssen. Umso stärker kristal-
aber zurück. Andere schmetterten unsere
lisierte sich in den Interviews heraus: Jeder
Bitte sofort vehement ab. Typisch dafür war
ist Kind seiner Zeit. Die Muttergeneration ist
die Email, die mir die französische Philoso-
im Rückblick stolz, keine Erziehungsberater
phin Elisabeth Badinter im Winter 2014 auf
gelesen zu haben wie ihre Kinder oder Enkel.
meine Bitte um ein gemeinsames Interview
Diese Mütter hatte nach dem Zweiten Welt-
mit ihrer Tochter Judith in Paris schrieb:
krieg keiner gefragt: Willst du dich verwirk-
„Madame, vielen Dank für Ihre Anfrage.
lichen? Es ging schlicht und einfach um das
Aber ich spreche niemals über meine Toch-
Aufbauen, das Geldverdienen. Die Töchter
ter und mich. Mit freundlichen Grüßen.“
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E I N L E I T U N G
Elisabeth Badinter hat mehrere Standard-
intendantin Nike Wagner und Tochter
werke des Feminismus geschrieben, da-
Louise, Tänzerin und Choreografin, die
runter ihr viel beachtetes Buch Der Konflikt.
über ihre berühmten Vorfahrinnen aus dem
Die Frau und die Mutter. Expertin für das The-
Wagner-Clan nachdenken; die Modeunter-
ma Mütter zu sein, bedeutet nicht unbedingt,
nehmerin Susanne Botschen, deren Tochter
dass man persönlich darüber sprechen
Christina den Unternehmergeist der Mutter
möchte. Umso glücklicher waren wir über
besitzt, aber bewusst die Nachfolge in ih-
die souveräne Offenheit derjenigen Mütter
rer Firma ausschlug; die kreative Berliner
und Töchter, die ihre Türen zu unseren Re-
Start-up-Unternehmerin Josephine Gaede
portagen öffneten. Oft erschien als Motiva-
und ihre Mutter Bettina, die gemeinsam ein
tion dafür der Satz: „Ich tue das für meine
neues Business aufbauen; die starke Nach-
Tochter“, oder: „Ich möchte eine bleibende
kriegsunternehmerfrau Ingrid Kohl, deren
Erinnerung an meine Mutter schaffen.“
Tochter, Astrid Prinzessin von Liechten-
Wir ziehen vor diesen Frauen mit ih-
stein, das Familienunternehmen in Italien
ren vitalen, beweglichen Beziehungen den
weiterführt und die gemeinsam in einem
Hut – dafür, dass sie sich auf unser Projekt
Drei-Generationen-Anwesen leben; die mit
einließen. Auf unseren Reisen sahen wir sie
ihren 45 Jahren in der Fachwelt bereits be-
plötzlich überall: Mütter und Töchter. Hand
rühmte Architektin Christina Seilern, die
in Hand, Arm in Arm, stumm nebeneinan-
ihrer Mutter, der Kunsthändlerin Louisa
der, hintereinander. Im Café des Grand Pa-
Seilern-Werthern ihren kompromisslosen
lais in Paris, auf dem Flohmarkt in Jaffa, im
Sinn für die gute Form und ihre Lebens-
Supermarkt auf dem Mecklenburger Land,
stärke verdankt.
in einem Bio-Restaurant in Notting Hill,
Mutter und Tochter. Eine ständige Be-
zwei Hinterköpfe mit den gleichen Haaren,
wegung. Ein Wachsen, Sich-Anschmiegen,
die eine 13, die andere 45. Alle wären eine
Lösen, Streiten und Sich-Finden. Sich Zu-
Geschichte wert gewesen.
hause sein. Zwei Lebensgeschichten, die sich
Stellvertretend für all diese Paare
durchdringen. Wir möchten zeigen, wie.
erscheinen hier zehn Mütter und Töchter, die eine gewisse kulturelle und konfessio-
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und
nelle Vielfalt widerspiegeln sollen: die jüdi-
Leser, so viel Freude und Staunen beim Ent-
sche Mamme Charlotte Knobloch mit ihrer
decken dieser Geschichten, wie wir beim
Tochter Sonia in Tel Aviv; die italienische
Schreiben und Fotografieren dieses Buchs
Mamma Rosetta, Mutter der Schauspielerin
hatten.
Désirée Nosbusch; die protestantische Äbtissin Reinhild Freifrau von der Goltz und
Ihre Stefanie von Wietersheim
ihre von familiärem Pioniergeist geprägte Tochter Felicitas; die in einer moslemischen Familie in Istanbul lebende südamerikani-
„Beim Schreiben dieses Buchs dachte ich oft an die Frauen aus der Familie meiner Mutter. Daran, wie sie gelebt haben, leben und was sie verbindet. Eine Kette über vier Generationen. Deshalb sei meiner Großmutter Anna Elisabeth, meiner Patentante Susanne, meiner Cousine Anne Christine und meiner Nichte Nadine dieses Buch gewidmet.“ S T E F A N I E V O N W I E T E R S H E I M
sche Mutter Maria Adelaida Eliyesil, deren Tochter Melissa Gräfin von Faber-Castell in Deutschland ähnliche Integrationsprozesse durchwandert wie ihre Mutter 30 Jahre zuvor; die beiden Pariserinnen Florine und Henriette Asch, die aus einem jüdischen Straßburger Bankhaus stammen; Festspiel-
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O R I E N T E X P R E S S M Ü N C H E N – I S TA N B U L I S T A N B U L . An den Hängen des Bosporus weht ein Meer roter Flaggen mit dem weißen Halbmond. Un-
ten auf der Wasserstraße zwischen Schwarzem Meer und Marmarasee fahren riesige Containerschiffe, Militärboote und Yachten hin und her. Laut erklingt das Rufen der Muezzins aus den Lautsprechern der umliegenden Moscheen. In den rituellen Gesang mischt sich leise Salsamusik und das Klirren von Eiswürfeln. Wir sind im Garten von Maria Adelaida Eliyesil. Die Kolumbianerin sitzt im korallenroten Flatterkleid am Pool ihres Hauses im Stadtteil Bebek. Sonnenlicht bricht sich in zwei riesigen Ringen, die sie an ihren schmalen Händen trägt, Arbeiten eines Goldschmieds vom Großen Bazaar Istanbuls. Familienpudel Alfie schmiegt sich immer wieder an ihre schwindelerregend hohen Jimmy-Choo-Gladiatorsandalen mit den breiten Lederriemen, die bis weit über die Knöchel gehen. Die 55-Jährige ist Ehefrau des türkischen Geschäftsmanns Eliyesil, der zur liberalen Wirtschaftselite des Landes gehört. Neben ihr sitzt Tochter Melissa, verheiratete Gräfin von Faber-Castell. Sie ist zu Besuch aus Deutschland bei ihrer Mutter, wie fast jeden Monat. Melissa – eine Erscheinung wie aus den Märchen von 1001 Nacht im Internetzeitalter: eine schwarzhaarige Schönheit in Palazzo Pants, bunt besticktem Oberteil, immer das Smartphone in der Hand. Eine Wanderin zwischen Orient und Okzident. Internat in der französischsprachigen Schweiz, dann in den USA Studium von Wirtschaftswissenschaften und Design. An der New Yorker Columbia University lernte sie ihren späteren Ehemann Charles kennen. Mit dem Vater redet die 30-Jährige Türkisch, mit der Mutter Spanisch, gemeinsam spricht die Familie Englisch. Melissa wohnt seit Kurzem in München-Bogenhausen. Bogenhausen. Nach New York schon sehr ruhig und klein. Nicht einfach. Heimat? Ist für sie immer noch Istanbul. Comfort Zone und Happy Place. Das liegt an der Mutter – und dem Mutterhaus direkt am Bosporus, der Schnittstelle zwischen Asien und Europa. Wenn Melissa über ihr Istanbul spricht, geht die im ersten Kontakt so zurückhaltende Frau ganz aus sich heraus. Und man spürt: Da ist ein Urgefühl, das Seele und Körper zuhause hält. Die Kosmopolitin ist verbunden mit diesem Boden, diesem Wasser, diesem Himmel. Melissas Mutter machte vor drei Jahrzehnten eine ähnliche Erfahrung wie ihre Tochter. Auch sie lernte ihren Mann Necmettin beim Studium im Ausland kennen, in Miami. Die blutjunge Psychologie-Studentin heiratete ihren türkischen Freund heimlich. Heute lacht sie bei dem Gedanken an diese strahlende Zeit voller Passion.
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M A R I A : „Ich bin heute eine fast fanatische Botschafterin der türkischen
Kultur und Istanbuls geworden. Aber der Anfang war sehr schwer. Ich habe alles darangesetzt, mich zu integrieren, die Sprache zu lernen, die Eigenheiten der Türken zu akzeptieren. Ich wollte nicht meinen Charakter ändern, aber mich anstrengen. Ich war fasziniert von dieser Stadt auf zwei Kontinenten, die vor 30 Jahren noch viel ursprünglicher und anders war als heute. Aber ich war und bin eine Ausländerin hier in Istanbul. Meine Kinder sind die stärkste Verbindung zum fremden Land geworden, in das ich geheiratet habe, sie sind meine Wurzeln. Meine Tochter Melissa und mein Sohn Sadi haben mich erst zu einem Teil der Türkei gemacht. Aber ich wollte ihnen auch meine Wurzeln in Kolumbien zeigen und diese andere Stärke mitgeben.“ M E L I S S A : „Die türkische Gesellschaft ist normalerweise sehr geschlos-
sen, die Türken sprechen nicht gern Englisch – auch wenn sich das nun ändert. Es ist closed. Meine Mama hat es geschafft, diese Grenze zu durchbrechen. Sie hat die Gabe, überall Freunde zu finden. Sie geht in die Wüs-
„Da ich selber meine Mama in Kolumbien so jung verloren habe, wollte ich meinen Kindern alles geben. Selber eine starke, präsente Mutter sein.“ M A R I A A D E L A I D A E L I Y E S I L
te und kommt mit zehn Freunden zurück. Das würde ich in meinem Leben auch gern erreichen: mich voll an die deutsche Kultur anpassen, und gleichzeitig meinen deutschen Freunden meine türkische und kolumbianische Seite nahebringen, auf die ich sehr stolz bin.“ M A R I A : „Mein Vorteil war, dass meine neue türkische Familie voll hinter
mir stand. In einer sehr konservativen, fundamental religiös orientierten Familie wäre das viel schwieriger gewesen. Die Familie Eliyesil war sehr offen und liberal, und wir hatten auch keine religiösen Probleme. Ich bin Katholikin, Melissa ist katholisch getauft. Mein Mann ist Moslem und unser Sohn Sadi ist Moslem. Mein Schwiegersohn Charles ist Protestant, und Melissa hat protestantisch geheiratet.“ M E L I S S A : „Wir leben Christentum und Islam zusammen. Weihnach-
ten kommen alle Moslems der türkischen Familie hier ins Haus und wir feiern gemeinsam. Alle sind extrem modern.“ M A R I A : „Ich habe in der türkischen Familie jede Freiheit als Christin.
Meine eigene katholische Familie aus Kolumbien ist da viel konservativer und strikter! Meine Großmutter war entsetzt, weil sie dachte, ich kann meine Kinder nicht taufen lassen und sie wachsen als Heiden auf. Ich fragte meinen Ehemann, und er war sehr klug und sagte, ‚in Ordnung, so lange die Kinder überhaupt einen Glauben haben‘. Ich habe mit beiden Kindern meine einfachen Gebete, zum Beispiel Abendgebete gesprochen, die Essenz in jeder Religion. Das hatte die türkische Familie auch schon bei mir akzeptiert. Viele meiner westlichen Freunde hier hatten damit viel größere Probleme. Es ist ein gegenseitiges Commitment. Ja, Kultur macht uns verschieden. Aber wir alle lachen und weinen wegen derselben Dinge. Wir drücken es anders aus, weil wir es anders lernen.“ Fühle ich mich in meinem Leben wirklich zuhause? Bin ich glücklich oder unglücklich? Gerade für nach außen hin so grenzenlos selbstsicher wirkende Menschen mit internationalem Lebenslauf ist die private Integration in eine
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oben: Raum für die Familie. Wie ihre Tochter liebt Maria Fotoinseln ihres Clans. linke Seite: Zimmer mit Aussicht auf den Bosporus. Mutter Maria Adelaida Eliyesil stammt aus Südamerika und lebt seit 30 Jahren in Istanbul im Stadtteil Bebek.
Turkish Delight. Schmiedeeiserner Coffeetable mit Glasplatte aus London; an der Wand zwei gepr辰gte Lederst端hle mit handbemalten, vergoldeten Mustern aus Istanbul. Das Bild stammt vom t端rkischen K端nstler Komet.
Das italienische Renaissance-Sofa steht neben zwei Altarleuchtern aus einer katholischen Kirche. Das arabische Gemälde stammt aus dem Haus von Melissas Urgroßvater. Die Inschrift lautet übersetzt: „Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Gnädigen.“
Asiatisch inspirierte Symmetrie: Der Garteneingang mit seiner roten Kommode – wie die Vasen ein Fundstück aus einem Antiquitätengeschäft in Istanbul – dient als kühlende Schleuse von der Terrasse ins Haus.
Ein üppig schönes Esszimmer. Das neoexpressionistische Bild mit den Schmetterlingen Fratillary & Admirals ist ein Werk des amerikanischen Künstlers Hunt Slonem.
M A R I A
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andere Alltagskultur immer noch eine enorme Herausforderung. Auch für Melissa von Faber-Castell, die Kongresse in New York, Istanbul, Tel Aviv und München organisiert. Dazu trägt sie einen sehr deutschen Namen. Jedes Kind kennt den Namen Faber-Castell. Fühlt sie sich in der deutschen Gesellschaft sehr fremd und anders? M E L I S S A : „Ja, es ist schon anders. Der Wechsel nach Deutschland war
das Schwierigste in meinem Leben, denn die Sprachbarriere war wirklich hart. Wenn man gar nichts versteht. Ich kannte Deutschland kaum und hatte auch in der Schule wenige deutsche Freunde. Ich habe Sprachkurse gemacht und hatte Einzelstunden. Ich verstehe viel, aber ich scheue mich oft, Deutsch zu sprechen. Denn als Perfektionistin, die dazu seit der Kindheit schon drei Sprachen spricht, habe ich erwartet, dass ich auch im Deutschen glänze, sobald ich nur den Mund aufmache. Mein Deutschlehrer sagt immer: Bevor du läufst, musst du erst krabbeln lernen! Meine Arbeit hat eine wichtige Rolle im Anpassungsprozess an das Leben in Deutschland gespielt. Ich wollte unbedingt sofort hier arbeiten, zum Glück habe ich Steffi Czerny bei DLD Burda getroffen, die nicht nur meine Chefin, sondern auch meine deutsche Mentorin wurde. Wir organisieren internationale Konferenzen über die Digitalisierung der Welt und die damit verbundenen Zukunftsthemen. Ich habe ein eigenes, faszinierendes Berufsleben, das macht mich unabhängig von meinem Ehemann. Ich wache auf und habe eine Mission. Meine Mutter hat mich immer unterstützt, mein Ding zu machen, und sie hat mich gepusht. Das, was mir am besten gefällt und es mir erleichtert, ist, dass die Deutschen ihre Kultur und Kultur im Allgemeinen so leidenschaftlich lieben. Das kenne ich aus der kolumbianischen und türkischen Gesellschaft,
„Meine Mutter ist ein gutes Beispiel für mich, weil ich nun eine Generation später dasselbe in Deutschland lebe, was sie vor 30 Jahren in der Türkei erlebt hat.“ M E L I S S A G R Ä F I N V O N F A B E R - C A S T E L L
das ist das gemeinsame Band. Sehr geholfen hat mir auch die Familie meines Ehemanns, die mich so offen und warm empfangen hat.“ Mutter und Tochter wirken sehr vertraut, fast wie Schwestern. Fast. Natürlich sieht man, dass zwischen ihnen ein Altersunterschied besteht, aber er ist unscharf. Nicht nur in der äußeren Erscheinung. Maria Adelaida Eliyesil ist sowohl den Freunden ihrer eigenen Generation als auch denen ihrer Tochter nahe: Sie empfängt sie zu Drinks und Abendessen in ihrem Haus, sie gehen in Clubs und reisen. Unmöglich, sich Maria Adelaida Eliyesil in Schneiderkostüm, Handschuhen, sensible shoes und praktischer Margaret-Thatcher- Tasche mit ehrwürdigen älteren Damen vorzustellen, während die Tochter eine Sternennacht auf einem Boot durchtanzt. Beide tragen dieselben Kleider und Schuhe und haben identische Lebensbühnen. Ein kompletter Bruch zur Generation vor ihnen. M A R I A : „Wir werden uns in den Generationen generell ähnlicher, glaube
ich. Wir sprechen ähnlich, denken ähnlich, wir verhalten uns ähnlich. Und wir hören die gleiche Musik. In der Generation meiner Mutter war ein riesiger Graben zur Generation über ihr! Früher war eine 50-Jährige ganz alt, uralt und anders – und eine 30-Jährige jung. Seit zehn Jahren fühle ich mich fast
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wie Melissas Schwester. Auch wenn ich manchmal eine alte Mutter bin, die ihr sagt, ‚mach das so und so‘. Aber meine Tochter hat den magischen Knopf, mein Alter zu ändern! Ich gehe viel mit ihr und ihren Freunden aus.“ M E L I S S A : „Mama war immer eine junge Mutter, wir sind wohl auch
deshalb so eng miteinander. Sie ist the life of the party. Und es ist sehr seltsam, ich habe das Gefühl, meine Mutter wird jünger und jünger! Sie ist die Sonne. Sie ist das Feuer. Sie ist ein Bücherwurm und gibt mir ständig Literatur, die ich unbedingt lesen muss oder sagt mir, welche Ausstellungen ich wo auf keinen Fall verpassen darf. Aber sie sagt mir auch, welche Kleider ich anziehen soll. Ich habe das Glück, dass wir dieselben Größen haben und dass ich ihren Geschmack liebe. Die beste Boutique für mich ist Mamas Kleiderschrank, außerdem ist sie umsonst! Früher habe ich sogar ihre mir etwas zu kleinen Schuhe angezogen, das war chinese torture. Manchmal kauft sie dasselbe Paar Schuhe zweimal und steckt mir ein Paar heimlich in meinen Koffer, bevor ich wieder nach München fliege. Sich um sich kümmern, sich schön zu machen, sich zu pflegen, das ist ein sehr großer Teil von Mamas kolumbianischer Seite. Sie würden nicht glauben, wie großartig zurechtgemacht ihre 80 Jahre alte Tante immer ist: gesundes Leben, keine Sonne, Schönheitsrituale mit allen möglichen Cremes, schöne Kleider ... Was auch immer passiert: Sie ist immer präsentabel. In Kolumbien ist das Teil der Kultur.“ M A R I A : „Es ist ein Teil von mir. Mein schönes Zuhause und dass ich prä-
sentabel bin. Ich stehe morgens auf – und mache mich sofort fertig. Auch wenn ich nur kurz rausgehe. Meine Mutter war auch so. Ich glaube, mit der Zeit werden wir die Spiegelbilder unserer Mütter.“
„Du musst alles dafür tun, dass Deutschland dein Zuhause wird. Du musst dich anpassen, aber auch deine eigene Kultur in dein neues Land bringen.“ M A R I A A D E L A I D A E L I Y E S I L
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Da Melissa einmal im Monat bei der Mutter in Istanbul ist, war der Einschnitt durch die Heirat nach Deutschland nicht sehr hart für Maria Adelaida Eliyesil – auch wenn sie zugibt, dass sie es lieber hätte, wenn Melissa in Istanbul leben würde. Welche Rolle spielt bei dieser engen Mutter-Tochter-Beziehung eigentlich der Vater? Hat er überhaupt einen Platz in diesem Geflecht? M A R I A : „Bei uns ist der Vater der Gott. Vor allem für Melissa.“ M E L I S S A : „Bei uns vieren ist das absolut wahr. Und Mama, du bist viel
strenger mit uns! Mein Vater ist viel weicher, wie ein großer Teddybär. Mit links: Szenenwechsel. Bei Tochter Melissa in München. Sie ist als typische Vertreterin der Tochtergeneration eine Karrierefrau und organisiert für DLD Burda Kongresse auf der ganzen Welt.
mir ist er vielleicht auch weicher, weil ich ein Mädchen bin. Aber am Ende des Tages gehe ich mit den meisten Problemen zu meiner Mutter. Wir teilen viel in Gesprächen. Sie hat alle Antworten, Trost und Rat. Ich glaube, das Schwerste für alle Eltern ist, wenn man die Kinder traurig sieht und nicht helfen kann. Ich sehe das bei mir selber. Manche Probleme will ich gar nicht mit meiner Mutter teilen und sie traurig machen, aber letztlich brauche ich dann ihre Stärke.“
rechts: Zeitsprung. Das in Silber gerahmte Foto auf der Spiegelkommode zeigt Melissas kolumbianische Großmutter Ligia in ihrem weißen Kommunionkleid.
M A R I A : „Wenn die Tochter erwartet, dass man stets Rat geben kann, und
man selber nicht weiter weiß, dann ist das sehr schwer. Das kann auch nach hinten losgehen, und man ist dann ein Leben lang schuld, weil man etwas falsch gemacht hat. Man muss vor allem zuhören! Ich hatte den Vorteil, dass ich Psychologie studiert habe. Ich konnte in der Türkei aber nicht wirklich als Psychologin arbeiten, weil das Hauptwerkzeug des Berufs die Sprache ist, und zwar sehr differenziert, mit allen Untertönen und Farben. Das war schwer für mich. Ich hatte immer einen sehr starken mütterlichen Instinkt. Außerdem starb meine eigene Mutter sehr früh. Da ich das älteste Kind war, übernahm ich die Mutterrolle für meinen 16-jährigen Bruder und meine 20-jährige Schwester – ich trug damit sehr jung viel Verantwortung. Am Anfang war es fürchterlich, aber letztlich haben wir alles gut hingekriegt.“ M E L I S S A : „Und nun bin ich im Alter, Kinder zu bekommen.“ M A R I A : „Heute finde ich es schwieriger, sich etwas aufzubauen, als Frau
eine Karriere zu machen und dann noch Kinder zu erziehen. In meiner Generation hatten wir weniger Druck, alles zu schaffen. Ich bedaure nichts, aber meine eigene persönliche Karriere hätte ich schon gern gemacht. Ich habe mich so sehr den Kindern gewidmet und nun, wo sie aus dem Haus sind, ist ein echtes Vakuum in meinem Leben.“ Karriere und Familie. Ein großer Unterschied in den Lebensläufen von Mutter und Tochter. Man spürt bei Maria Adelaida Eliyesil eine gewisse Traurigkeit, ihren Beruf aufgegeben zu haben. So reich ihr Leben an der Seite ihres Ehemannes auch war und ist. Es ist ein Wunde. Eine Wunde, die bei vielen Frauen ihrer Generation zu spüren ist. Und die sie ihren Töchtern ersparen möchten. M A R I A : „Früher hat der Mann alles in der Außenwelt gemanagt und das
Geld verdient. Die Ehefrauen waren unterwürfiger. Heute haben die Frauen ihren Platz, ihre Stimme, ihre Karriere. Auch ihre Stimme in der Ehe und in der Politik. Das ist gut. Die Ehen haben sich geändert. Auch in der Türkei!
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keine Bindung ist enger. Und doch hat jede Beziehung eine andere Dynamik, der man sich nicht entziehen kann. Bestsellerautorin Stefanie von Wietersheim besuchte bekannte Mütter und Töchter, u. a. Intendantin Nike Wagner und Tochter Louise, Politikerin Charlotte Knobloch und Tochter Sonia sowie Moderatorin Désirée Nosbusch und Mutter Rosetta. Die Autorin erfuhr in vertrauten Gesprächen, was für eine Liebe, Herausforderung und Bewegung in ihren Bindungen steckt und wie sich ihr Wohn- und Lebensstil ähnelt oder unterscheidet. Entstanden sind persönliche Porträts, deren Lebens geschichten tief blicken lassen. Fotografin Claudia von Boch hielt die Begegnungen und Wohnungen in ausdrucksstarken Bildern fest.
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ISBN 978-3-7667-2126-6
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