Kríti
GEHEN bedeutet, sich fortzubewegen – sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Voranzukommen, neue Wege zu beschreiten, offen zu sein für Innovation. The Walking Society ist eine virtuelle Gemeinschaft, in der jede*r willkommen ist – unabhängig von sozialem, kulturellem, wirtschaftlichem oder geografischem Hintergrund. Einzeln und als Zusammenschluss fördern die Mitglieder dieser Gemeinschaft Vorstellungskraft und positive Energie, indem sie wertvolle Ideen und Lösungen entwickeln, um die Welt zu verbessern. Auf einfache und ehrliche Weise.
CAMPER bedeutet im Mallorquinischen „Bauer“. Die Einfachheit des ländlichen Lebens vereint mit mediterraner Geschichte, Kultur und Landschaft – all das beeinflusst die Werte und die Ästhetik unserer Marke. Unsere Wertschätzung für Kunst und Handwerk und unser Traditionsbewusstsein sind die tragenden Säulen unseres Versprechens: Wir bieten originelle, funktionale und hochwertige Produkte in ansprechenden und innovative Designs. Menschlichkeit, die Förderung kultureller Vielfalt und die Erhaltung des historischen Erbes sind die Grundlage unseres unternehmerischen Handelns.
KRÍTI hat eine wilde Seele und ein uraltes Herz. Auf der als „Zeus des griechischen Archipels“ bekannten Insel sind die Geschichten miteinander so stark verwoben, dass die Grenze zwischen Realität und Mythos verschwindet.
THE WALKING SOCIETY Die siebzehnte Ausgabe des Magazins The Walking Society nimmt uns mit auf eine Reise zur Wiege der modernen Zivilisation, auf eine Insel mit Schnee und Meer, auf der die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und niemand ohne eine Runde Raki vom Tisch aufsteht.
S. 22 DER KAMELUMZUG Tief im Inneren Kretas treffen wir den Mann, der hinter einer der skurrilsten Traditionsveranstaltungen der Insel steht: dem Kamelumzug, der eigentlich aus Eseln bestand. S. 34 ILIANA MALIHIN Eine Erzählung über Schwierigkeiten und Wiederkehr. Wie Iliana nach einem verheerenden Feuer ihr Unternehmen neu aufbaut und die Geschichte eines Weins mit dem Geschmack von Kríti. S. 43 DAS LABYRINTH Die altbekannte Legende aus Sicht des Minotaurus und all derer, die die Welt selbst für ein Labyrinth hielten. S. 50 DAS GRIECHISCHE BAND Mäander, wie man sie noch nie gesehen hat. Eine unkonventionelle Ode an die Freiheit in Form von Achselhaaren (und mehr). S. 58 TÁLŌS Die Legende vom unbesiegbaren Bronzeriesen, der die Insel vor Eindringlingen bewachte, indem er sie dreimal am Tag zu Fuß umrundete. S. 64 ELAFONĪSI Der schönste Strand von Kríti, wo der Sand die Farbe des Sonnenuntergangs hat und das Meer versucht, ihm diese zu stehlen.
S. 86 MACH DEN GRIECHEN Eine Bildstudie über ein Volk im Profil, erzählt anhand der häufigsten Körper- und Geisteshaltungen. S. 107 SARIKI Die Geschichte des Sariki: vom traditionellen kretischen Kleidungsstück hin zum Anhängsel für den Rückspiegel. S. 115 DIE MINOISCHEN GÖTTINNEN Votivfiguren aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. mit erhobenen Armen, die das Jenseits anrufen, um das Menschliche mit dem Göttlichen zu verbinden. S. 122 NIKOS TSEPETIS Eine Reise in Nikos Tsepetis' facettenreiche Welt anhand seiner Projekte Hotel Ammos, Red Jane Bakery und das neu entstehende Garten. S. 130 KRETISCHE TRACHTEN Von Volkstänzen bis zum Alltagsleben ist die traditionelle kretische Tracht Ausdruck des ständigen Dialogs zwischen Vergangenheit und Zukunft. S. 144 LAUTER KLEINE JOHNS Der Maler John Craxton und seine Liebe zu Kríti sind Thema eines Zeichenworkshops für Kinder, geleitet von der visionären Lehrerin Eltha Yiakoumaki.
Kríti hat viele Gesichter und mindestens ebenso viele Superlative. Sie ist nicht nur die größte der griechischen Inseln, sondern liegt auch an einem der südlichsten Punkte des Mittelmeeres. Sie erstreckt sich über 260 Kilometer von Ost nach West und wird dabei von einer langen Gebirgskette durchzogen, die sie aus dem Meer emporhebt und ein bis zu 60 Kilometer breites Rückgrat mit ungewohnt schneebedeckten Gipfeln bildet.
Wegen seiner Größe gilt Kríti als der Göttervater Zeus des griechischen Archipels und ist zugleich dessen Geburtsort. In der antiken Mythologie hieß es, Zeus habe in einer Höhle auf Ida, dem höchsten Berg von Kríti, das Licht der Welt erblickt. Dort wurde er von Nymphen mit Honig und Ziegenmilch aufgezogen – beides ist auch heute noch fester Bestandteil der kretischen Kultur. Wie immer gehen die Versionen darüber, was als Nächstes passierte, weit auseinander. Fest steht, dass die Insel bald zu einem Symbol für Vollkommenheit, Wohlstand und die Gunst der Götter wurde, auch wegen Talos, dem unbeugsamen Bronzeriesen und Beschützer.
Ein weiteres berühmtes, erst viele Jahrhunderte später geborenes Kind Krítis ist der Autor und Dichter Nikos Kazantzakis, in dessen Werk die tragische Schönheit der Landschaft so treffend eingefangen wurde wie in keinem anderen. In seinem autobiografischen Roman „Rechenschaft vor El Greco“ findet sich folgende Beschreibung:
„Es gibt eine Art Flamme auf Kreta, wir können sie Seele nennen; etwas Stärkeres als Leben und Tod; es gibt den Stolz, den Trotz, die Tapferkeit
und mit ihnen etwas anderes, Unfassbares, das dich stolz und gleichzeitig bange macht, ein Mensch zu sein.“
Einige Jahre zuvor hatte Kazantzakis in einem ebenso mutigen wie unklugen Unterfangen diese griechische „Hartnäckigkeit“ unter Beweis gestellt, denn er arbeitete an einer Neufassung der Odyssee. So wollte er alle seltenen Wörter retten, die nach und nach aus dem griechischen Wörterbuch verschwanden. Dafür befragte er die Dorfältesten und hütete ihr Wissen, denn er wusste, dass auf Kríti die Vergangenheit nicht vergessen werden darf.
Als Wiege der minoischen Hochkultur, einer der ältesten der Welt, war die Insel lange Zeit ein Umschlagplatz von Völkern und Kulturen. Nach dem Untergang des minoischen Reiches hinterließen die durchziehenden Mykener, Dorer, Römer, Byzantiner, Araber, Venezianer und Osmanen auf Kríti ihre Spuren. Dieses bunte Mosaik historischer Einflüsse ist noch heute in den archäologischen Stätten und architektonischen Schichten zu erkennen.
So ist zum Beispiel die im Nordwesten liegende Stadt Chanià wie Venedig, dem ein anderes Schicksal widerfahren ist. Daneben wirken die Dörfer wie weiße Würfelhaufen, die von müden Göttern gespielt und liegengelassen wurden.
Vor allem aber fesselt die wilde und zugleich gezähmte Natur den Blick. Am Fuße der Bergkette weichen die Hügel dem Ruf des Meeres, aus dem sich dieses kleine Paradies zaghaft erhebt.
Die Früchte dieser geordneten Natur machen jede Mahlzeit zu einem sakralen Ritual. Milch, Honig, Olivenöl und Wein bilden in den Häusern und Tavernen das Grundgerüst einer Ernährung, die göttlich und mediterran zugleich ist.
Man steht eigentlich nie vom Tisch auf. Es ist nur ein Vorwand, der Moment, in dem alles wieder so wird wie vorher und vielleicht sogar so, wie es später sein könnte. Falls doch jemand den Versuch wagt, dann muss er vorher einen Raki trinken. Das typische kretische Getränk ist ein Schnaps, der in jeder Hinsicht zur Ehre des Vergangenen dient, aber auch ein Zeichen der einheimischen Gastfreundschaft ist.
Niemand ist hier ein*e Fremde*r und jede*r ist ein Gast. In den kleineren Dörfern erzählt man sich Geschichten von alten Zeiten, als das Leben noch ruhig und unaufgeregt verlief. Diese Zeiten haben allerdings auf wunderbare Weise in den entlegensten Winkeln dieser Gegend überlebt.
Unter allen griechischen Inseln hält Kríti die meisten Rekorde. Hier reichen sich Vergangenheit und Gegenwart die Hand und hier kämpfen Menschen gegen das Verschwinden der Worte. Auf Kríti ist es zwar noch gestern, aber auch schon morgen.
Konstantinos ist Gründer des Unternehmens Minoan Pottery, das seit 25 Jahren Keramikvasen in der antiken Tradition von Thrapsano herstellt. Bevor er uns die Herstellung der Vasen zeigt, erklärt er: „Das Wichtigste ist das, was man nicht sehen kann“.
DER KAMELUMZUG
Tief im Inselinneren, zwischen Weinbergen und Olivenbäumen, liegt das Dorf Nívritos. Hier lebt der 90-jährige Michalis Psomas, der angebliche Erfinder einer der bizarrsten Traditionen der Insel. Er spricht nur Griechisch und vor dem Gespräch müssen erstmal alle einen Raki trinken. Draußen herrschen 40 Grad, aber das scheint ihn nicht zu stören, immerhin entspricht die Temperatur dem Alkoholgehalt im Glas.
Bis in die 1950er gab es auf der Insel keine nennenswerte Karnevalstradition. Jedes Dorf feierte so gut es eben ging in kleinen Gruppen mit Familie und Freund*innen. Michaelis war jedoch der Überzeugung, dass aus dem Thema mehr herauszuholen sei. Nach monatelangen Recherchen im heimischen Keller kam ihm die zündende Idee, die den kretischen Karneval bis heute lebendig hält: ein Eselskostüm, das aus einer Decke, dem Schädel eines (toten) Tieres und ein paar Menschen als Träger*innen darunter besteht. Das Konzept war schlicht und dennoch raffiniert, denn man brauchte dafür nach alter minoischer Tradition handgewebte Stoffe. Während des Umzugs verschränkten und überlagerten sich die Motive und ließen die Tiere immer wieder anders wirken.
Die beeindruckten Nachbardörfer wollten sich daraufhin die Parade abschauen, wobei ihnen ein wesentlicher Teil, nämlich die Esel, entging. Sie dachten, da Kamele vor sich zu haben – was eindeutig zeigt, wie exotisch das Tier damals gewesen sein muss, das gerade erst in die kretische Vorstellungswelt eingegangen war. So führten sie die Tradition fort, ohne je ihren Irrtum zu entdecken. Es dauerte nicht lange und aus der falschen Lesart wurde die offizielle Version und die Wahrheit dahinter kannten nur Michalis und seine Familie.
Nach einer kurzen Unterbrechung in den 1980ern ist die Kamelparade seit 1995 ein Pflichttermin für die Einheimischen. In den Nachbardörfern jenseits des Tals werden auch andere Kostüme, wie zum Beispiel Ziegen, gezeigt. Trotzdem sind die Kamele nach wie vor typisch für den Inselkarneval – und ebenso typisch für die ewige Faszination des Unbekannten, die noch immer die entlegensten Teile von Kríti auszeichnet.
Michalis ist der Schöpfer des traditionellen Kamelumzugs. Die Tiere sollten eigentlich Esel darstellen, was die Einheimischen aber nicht ganz verstanden. Nach anfänglichem Unmut hat Michalis sich mittlerweile mit dem Erfolg der amüsanten Verwechslung abgefunden.
Von der eigenen Herkunft und Neugeburt sprechen wir mit
ILIANA MALIHIN
In der Zentralregion Réthymno ist Melambes ein bergiges Gebiet, das zur Küste hin allmählich sanft abfällt und auf dem Weinstöcke und Olivenbäume in stillen, jahrhundertealten Kämpfen um ihr Bleiberecht zu ringen scheinen. Die übrige Fläche teilen sich Wildgewächse und wenige karge Flächen, auf denen die Sonne die Oberhand hat. Ein leichter Nebel legt sich über den Ausblick in die Ferne, doch das Meer hinter den Bergen bleibt sichtbar.
All das kennt Iliana so gut wie sich selbst, wenn nicht noch besser. Einige ihrer Weinberge sind älter als die Winzerin. Die ältesten sind zweihundert Jahre alt und die jüngsten so alt wie Iliana. Ilianas Projekt entstand 2019 aus einer bedingungslosen Liebe für das Land und dem Wunsch, der Welt von Krítis Aromen zu berichten. 2022 vernichtete dann ein verheerendes Feuer einen Großteil ihrer Weinberge, doch Iliana gab nicht auf. Wie ein Phönix aus der Asche ging sie aus dem Brand gestärkt hervor und konnte über eine Crowdfunding-Kampagne die Gelder für einen Neuanfang beschaffen. Heute blickt sie mit einem Stolz auf ihre starken Reben, den man nur empfinden kann, wenn man mit etwas in- und auswendig vertraut ist und endlich nach vorne schauen kann.
Stell dich kurz vor. Du bist zwar noch jung, hast aber schon eine Menge Erfahrung vorzuweisen. Was hat dich in die Welt des Weins geführt?
Der Einstieg war untypisch, denn ich bin in Athen geboren und aufgewachsen, weit weg von der Natur, war aber jeden Sommer auf Kríti bei meinen Großeltern auf dem Dorf. Wir hatten einen kleinen Weinberg und ein paar Olivenbäume. Mein eigenes Öl heißt Emmanuel, im Andenken an meinen Großvater, der seine Liebe zu dieser Gegend an mich weitergegeben hat. Mit siebzehn
Jahren habe ich hier an der Uni Landwirtschaft studiert. Meinen Master in Önologie habe ich dann zwar wieder in Athen gemacht, doch mir war die ganze Zeit klar, dass meine Heimat hier ist. Im Studium lag mein Schwerpunkt auf der weißen Rebsorte Vidian, die es nur bei uns gibt. Deswegen erlangte ich in der griechischen Weinszene schnell eine gewisse Bekanntheit und habe dann ab 2018 meinen ersten eignen Wein gekeltert, aus der alten Vidiano-Rebsorte von hier und der Assyrtiko-Sorte von Santorini. Zum ersten Mal war ein griechischer Wein ein Verschnitt von Rebsorten von zwei Inseln. Die Flaschen waren auf Anhieb ausverkauft!
Wie viele Flaschen waren das?
Knapp über tausend.
Ein sehr erfolgreicher Einstieg.
Bescheiden aber wichtig. Von da an wollte ich weitere Weinberge kaufen und landete eigentlich eher zufällig bei dem hier. Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen und wusste sofort, dass ich hier richtig bin. Also mieteten wir 2019 das Gebäude, renovierten es und richteten das Weingut ein.
Was waren 2019 beim Start des Projekts deine Ziele?
Am Anfang folgte ich einfach meinem Instinkt. Ich wollte etwas Neues machen, wusste aber nicht genau was. Recht schnell war mir klar, dass ich für Veränderung in Réthymno sorgen wollte. Ich wollte die Einheimischen unterstützen und die alten Weinberge wiederbeleben. Das sind die einzigen Rebstöcke, die noch aus der Zeit vor der Reblausplage, die im 19. Jahrhundert mehr als 80 Prozent der Rebstöcke weltweit vernichtet hat, stammen. Sie sind fast 200 Jahre alt. Daher haben wir uns aus den umliegenden Dörfern diejenigen ausgesucht, die die gleiche Weinbaukultur haben und uns mit lokalen Erzeuger*innen zusammengeschlossen. Jetzt steht das Ziel deutlich vor meinen Augen, doch es kam gewissermaßen erst nachträglich. Ich will, dass die Menschen in ihren Dörfern eine Zukunft haben und dort bleiben oder wieder zurückkommen. Meine Hoffnung ist, dass sie dadurch ein besseres Leben führen können.
Wenn man dir so zuhört, möchte man gleich herziehen.
Es ist aber wirklich anstrengend hier!
Es ist sicher sehr abgelegen. Was ist so besonders an der Gegend?
Melambes war früher einmal ein echt bezaubernder Ort, aber inzwischen ist er verwaist. Früher hatte hier jeder einen Weinberg für die eigene Versorgung. Man baute Wein für sich und das Dorf an, für Feiern und beim Geselligsein. In der Hauptstadt Irákleio wiederum wurde der Wein gewerblich produziert. Die Reblaus hat dann praktisch alle Weinberge in Europa zerstört. Wie auf dem Rest der Insel hätten sie neu angepflanzt werden müssen, aber weil man die Trauben nur für den eigenen Genuss anbaute und es keinen wirtschaftlichen Druck und keine Gelder für den Neuanfang gab, machte das keiner – und deswegen haben wir hier heute die ältesten Weinberge auf Kríti.
Letztendlich hat sich die Ursprünglichkeit des Ortes gelohnt.
Ganz genau. Für mich ist der Boden von Réthymno ganz besonders. Bei uns gibt es Felsen, die fast nirgendwo sonst auf der Welt zu finden sind. Und vor allem haben wir die Berge, auch wenn wir direkt am Meer liegen.
Was macht die Vidiano-Traube, mit der du dich seit deinem Studium beschäftigst, so besonders?
Es ist eine sehr spezielle Traube. Sie ist ziemlich groß und sehr aromatisch und erinnert an den Geschmack von Aprikosen und Pfirsichen, auch ein bisschen an Kamille. Vorher war sie kaum
bekannt, jetzt ist sie der Star von Kríti. Es gibt sie eben nur hier.
Heute sitzt du mit einem Lächeln im Gesicht hier und es scheint alles in die richtige Richtung zu gehen. Doch 2022 wütete ein verheerendes Feuer in deinen Weinbergen und vernichtete fast alles. Was war das für ein Gefühl?
Brände kommen hier häufig vor, allein seit 1964 waren es vierzehn. Sie sind ein großes Problem, das aber niemanden zu stören scheint. Das Feuer 2022 war mein erstes, aber die Einheimischen sind schon daran gewöhnt. Sie haben sich im Laufe der Jahre mit ihnen arrangiert. Doch auch sie waren nach all den Bemühungen, das Land wiederzubeleben, echt sauer. Es hieß, das Feuer sei unbeabsichtigt von einem Imker gelegt worden. Es war zwar ein Unglück, aber das echte Problem war, dass die Feuerwehr zu spät eintraf. Dadurch konnte sich das Feuer ausbreiten, und das ist für uns das Unverzeihliche. Es brannte vier Tage durch und zerstörte 21.000 Hektar Land. Das ist ein riesiges Gebiet. Eine echte Katastrophe.
Und was war das für ein Gefühl?
Einfach furchtbar! Die Weinberge sind mein Zuhause, da gehöre ich hin. Es fühlte sich an wie der Tod meines Vaters vor sechs Jahren.
Das war sicher schwer, aber du hast außergewöhnlich reagiert. Innerhalb kürzester Zeit habt ihr eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen, die über 50.000 Euro einbrachte. Ihr habt sie „Wiedergeburt aus der Asche“ genannt und das kann man wörtlich nehmen. Wie ist euch das gelungen?
Es hat etwa zehn Tage gedauert. Ich lag mit Fieber im Bett und konnte nicht aufstehen. Der Schock war zu heftig. Aber meine tollen Freund*innen hatten die Idee mit dem Crowdfunding und haben die Spendenaktion auf die Beine gestellt. Die Resonanz in Griechenland und auch im Ausland war groß. Hier auf Kríti haben sämtliche Restaurants einen ganzen Tag lang nur meine Weine ausgeschenkt. Das gab mir viel Zuversicht und dann wurde es schnell zu einer gemeinsamen Sache.
Wie schön, dass ihr euch alle zusammengetan habt. Bist du heute wieder voll im Einsatz oder spürst du noch die Auswirkungen des Feuers?
Wir kämpfen noch mit den Folgen. Die Ausbeute ist viel geringer, weil die komplett verbrannten Weinberge brach liegen. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme, die nicht zu unterschätzen sind. Wir haben immer noch keinen Brandschutz und werden dafür Spendengeld einsetzen, allerdings reicht der Betrag dafür nicht aus. Das ist also erst der Anfang und es gibt noch viel zu tun.
Es ist trotzdem wieder ein guter Anfang. Aber zurück zu dir: Vor dem Brand hast du fünf Weinsorten produziert. Heute sind es drei mehr, als Ersatz für die ausgefallenen Weinberge. Erzähl uns was über die neuen Sorten!
Jeder Wein stammt aus einem bestimmten Dorf oder aus einer bestimmten Mischung von Rebsorten. Die ersten drei Weine sind von hier [Melambes], die wir aber wegen des Brandes nicht mehr ernten können, stattdessen haben wir jetzt Lefkós und Liatiko Rosé. Der vierte Wein kommt aus Fourfouras und der letzte aus
„Schon als kleines Mädchen in den Schulferien spürte ich diese magnetische Anziehungskraft, so stark, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Ich bin wohl ganz einfach eine Tochter Krítis.“
Meronas. Jeder von ihnen schmeckt besonders. Die Rebsorten werden entweder nach dem Dorf ihrer Herkunft oder dem Alter der Rebstöcke unterschieden.
Im Buch „Manifest der Dritten Landschaft“ beschreibt Gilles Clément das Ethos des Gärtnerns. Im Kern geht es darum, so viel wie möglich „mit“ und so wenig wie möglich „gegen“ die Natur zu tun. Ich finde, das ist deiner Low-Intervention-Philosophie (Strategie des minimalen Eingriffs) sehr ähnlich. Woraus besteht deine Strategie?
Meine „Low-Intervention-Philosophie“ erfordert viel Geduld von den Erzeuger*innen, weil sie die Veränderungen beobachten und erkennen müssen, was der Weinberg gerade braucht. Wir arbeiten nämlich nicht nach irgendwelchen Vorgaben, sondern gehen jeden Weinberg ganz individuell an. Wir verlangen von unseren Weinanbauenden, dass sie viel Zeit in den Weinbergen verbringen und beim Rebschnitt besonders vorsichtig sind, weil davon ein erheblicher Teil der Ernte abhängt. Wir dürfen nicht versuchen, die Rebe zu steuern. Wir müssen uns zurückhalten, beobachten und so wenig wie möglich eingreifen. Das ist es, was die Natur braucht. So ähnlich ist die Philosophie bei unseren Weinen, denn wir ändern nichts am ursprünglichen Produkt. Deshalb müssen wir bei der Ernte sehr aufpassen. Wir respektieren den Wein und das Terroir, aus dem er stammt, ohne etwas zuzusetzen oder wegzunehmen, was seinen Geschmack verändern könnte.
Für wen machst du deine Weine?
Für alle! Angefangen bei jungen Menschen, die zum ersten Mal mit Wein in Berührung kommen und auf der Suche nach einfachen und unverfälschten Produkten sind, bis hin zu erfahrenen Genießer*innen, die etwas Besonderes suchen. Ich mache authentische Weine für jede*n. Nur was auf dem Etikett steht, ist auch drin. Das gilt ebenso für die Geschichte hinter dem Wein. Er nimmt uns alle, egal wie weit weg wir sind, mit auf eine Reise nach Kríti und zu den Aromen der Insel.
Die Etiketten sind sehr gut gestaltet. Jedes von ihnen ist ein kleines Kunstwerk. Was steckt hinter den Etiketten?
Die hat mein Cousin entworfen. Jedes hat eine ganz bestimmte symbolische Bedeutung für den Wein, auf dem es klebt. Die Bilder von jungen Mädchen stehen zum Beispiel für junge Trauben, während die ältere Frau auf ältere Reben verweist. Dann gibt es noch Verweise auf die Morphologie des Bodens und bei bestimmten biodynamischen Produktionsverfahren auf den Mond. Das Etikett, das mir am meisten Spaß macht, ist das mit den drei Händen: Bei einem normalen Wein würde man zwei sehen, aber das passt nicht, also haben wir drei genommen.
Deine Weine haben unterschiedliche Ursprünge und Aromen, aber wie würdest du den Geschmack von Kríti beschreiben?
Auf jeden Fall Salbei. Dann Meersalz, Bergwind, Olivenöl, Milch. Es gibt so viele Aromen.
Was bedeutet Kríti für dich? Warum hast du dich entschieden, hier zu leben?
Das war nur so ein Gefühl. Schon als kleines Mädchen in den Schulferien spürte ich diese magnetische Anziehungskraft, so stark, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte. Ich bin wohl ganz einfach eine Tochter Krítis.
Was hast du für die Zukunft vor?
Ich möchte meinen Wein weltweit bekannt machen und die kretische Tradition auch aufs Festland bringen. Wenn man regionale Produkte kostet, dann ist das fast so, als wäre man dort, wie auf einer Reise, aber nicht mit allen Sinnen. Aktuell exportieren wir in die USA, nach Neuseeland und Europa, aber ich hätte gerne noch mehr Länder dabei. Und ich will in Zukunft vor Feuern sicher sein. Ich möchte die Produktion ausweiten und den Menschen helfen, ein besseres Leben zu führen. Ich träume von einem anderen Leben, sowohl für die Dörfer als auch für die Winzer*innen. Ein Leben, in dem niemand mehr gezwungen ist, wegzuziehen.
Nach der Zerstörung kommt die Wiedergeburt. Iliana kennt die tägliche Belastung am eigenen Leib und dokumentiert den Neuanfang in einem kleinen Fotoalbum. Kleine Wunder, hinter denen eine Riesenmenge Arbeit steckt.
LABYRINTH
Es führen viele Wege ins Labyrinth hinein, aber keiner heraus. Das mag paradox klingen, trifft aber den Kern: ein Labyrinth ist eine räumliche Täuschung, in der die Zeit gefangen ist. Nur aus der Draufsicht kann man es erkennen – daher ist nur Göttern und Vögeln der Zugang erlaubt. Und so fliegt das himmlische Privileg über die irdische Komplexität hinweg und sucht den Sinn im menschlichen Versagen, um ihn im Labyrinth zu finden. Andernorts ent-
stehen aus ähnlich verschlungenen Wegen unsichtbare Mauern. In „Das Aleph“ von Jorge Luis Borges aus dem Jahr 1949 heißt es, dass die Welt an sich ein Labyrinth ohne Ausweg sei und man deshalb nicht noch mehr davon errichten müsse. König Minos war da anderer Meinung.
Der Legende nach wollte der Herrscher von Kríti, ein Sohn des
Zeus und der Europa, seinen Thronanspruch mithilfe des Wohlwollens der Götter durchsetzen, woraufhin ihm Poseidon einen schönen weißen Stier zum Geschenk machte. Nun war Minos aber von dessen Schönheit so fasziniert, dass er beschloss, das Tier zu behalten anstatt es wie versprochen zu opfern. Damit zog er den Zorn des Meeresgottes auf sich, der aus Rache dafür sorgte, dass sich Pasiphae, die Gemahlin des Königs, in das Tier verliebte.
Aus der mit Hilfe des raffinierten Erfinders Daedalus vollzogenen Vereinigung mit dem Stier ging der Minotaurus hervor, ein monströses Wesen mit Menschenkörper und Stierkopf. Als Minos, der sich zwar vor der Kreatur ekelte, es aber nicht fertigbrachte, sie zu töten, Daedalus erneut um Hilfe bat, entwarf dieser ein komplexes Labyrinth ohne Ausweg, aus dem auch der im Inneren gefangene Minotaurus nicht herausfinden konnte.
Der Minotauros war weder Mensch noch Gott und wusste nur, was er nicht war. Als er in den verspiegelten Wänden um ihn herum eine Vervielfältigung seiner selbst sah, empfand er für einen kurzen Augenblick so etwas wie Glück. Als er jedoch erkannte, dass er allein inmitten eines Meeres von Minotauren stand, die seine Gesten nachahmten, geriet er in einen tierischen Ragezustand. Friedrich Dürrenmatt hat dem Minotaurus eine Ballade gewidmet, in der
er als ein Wesen dargestellt wird, das aus der Welt ausgeschlossen und zugleich in diesem höllischen Apparat eingesperrt war. Das Labyrinth existiert nur wegen ihm und, so stellt der Minotaurus am Ende seines Lebens fest, eine Kreatur wie er hätte niemals auf der Welt sein dürfen.
Lediglich der Minotaurus in Dürrenmatts Ballade erlangte vor seinem Tod einen Begriff von sich selbst, während die anderen einfach die Verurteilung durch ihr Wesen akzeptierten und jeden verschlangen, der sich ins Labyrinth wagte. Alle neun Jahre musste Athen Kríti ein Opfer bringen, indem es sieben Jungen und sieben Mädchen dem Minotaurus zum Fraß vorwarf.
Eines Tages beschloss Theseus, der Prinz von Athen, dem schrecklichen Brauch ein Ende zu bereiten. Er meldete sich freiwillig als einer der Opferknaben und brach auf, das Ungeheuer zu besiegen. In Knōsós begegnete er Ariadne, der Tochter des Minos, die sich in ihn verliebte. Sie wollte Theseus unbedingt helfen und hatte die rettende Idee.
Sie gab ihm ein Knäuel mit rotem Faden, das er auf seinem Weg durch das Labyrinth entrollte. Nach dem erbitterten Kampf mit dem Ungeheuer musste er den Faden nur wieder aufwickeln, um den Ausgang zu finden und die Kinder in Sicherheit zu bringen. Die Vögel, die den Kampf beobachtet hatten, stürzten sich daraufhin in das ihnen wohlbekannte Labyrinth und fraßen die Überreste des Minotaurus. Seitdem zeugt von diesem Ort und seiner Geschichte allein die Legende.
Bei einem Besuch des Palastes von Knōsós, dem wichtigsten Zentrum der minoischen Zivilisation, kann man den Ursprung der Überlieferung ohne weiteres nachvollziehen, denn die Architektur war einst um mehrere sich überlagernde Etagen herum gegliedert und derart komplex, dass man sich leicht verlaufen konnte. Heute stehen nur wenige Überreste des Palasts, doch ein Gang durch seine Ruinen fühlt sich an, als würde man die Sackgasse zum Labyrinth noch
einmal ablaufen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf kann man den Weg erahnen, auf dem die menschliche Existenz verlorenging – und auf dem Borges zuerst zum Propheten wurde.
Friedrich Durrenmatt, “The
A
in Selected Writings, Volume 2, Fictions, 1985
DAS GRIECHISCHE BAND
In der Beschreibung von Karl Kerényi ist das griechische Band die Gestalt des Labyrinths in Linienform. Man meint, die Griechen hätten sich mit Freude in präzisen und verschlungenen Linien verloren, um einen Gedankengang visuell nachzuverfolgen. Die griechischen Wirbel fesseln wie kleine hypnotische Fallen noch immer den Blick der Betrachter*innen und verweisen auf die Unendlichkeit, die sie einst verkörperten. Das auch unter dem Begriff „Mäander“ bekannte Motiv, in Anspielung auf den gewundenen Verlauf des türkischen Flusses Maeander, ist weit über seinen ursprünglichen künstlerischen und architektonischen Kontext hinausgewachsen und wird heute vielfältig gebraucht.
Hätte Kríti noch immer einen Bewacher, dann gäbe es auf der Insel heute wahrscheinlich keine Brände, schwächere Winde und weniger Hitze. Doch jener Halbgott, der einst zum Wächter der Insel bestimmt war, wurde – geblendet von lauter Liebe und dem Wunsch nach Vorherrschaft –ausgerechnet von Menschenhand getötet.
In der griechischen Mythologie war Tálōs ein unbesiegbarer Riese aus Bronze, ein Geschenk von Zeus an Minos zur Bewachung der Insel Kríti. Er war halb Gott und halb Mensch und nur verletzlich durch eine einzige Ader, die vom Kopf bis zur Ferse verlief.
Zur Verteidigung der Insel gegen Eindringlinge umrundete er sie tagtäglich dreimal.
Näherte sich ein Feind, bewarf er ihn mit riesigen Felsbrocken oder zerquetschte ihn in seiner Umarmung. Oft warf er sich davor ins Feuer und wurde dabei so glühend heiß, dass seine Berührung noch unheilvoller wurde.
Bis auf die einzelne Ader, die an seiner Ferse endete und der sich niemand zu nähern wagte, war der Riese scheinbar unbesiegbar. Doch eines Tages wurde Tálōs bei der Ankunft des Schiffes der Argonauten überlistet. Die in Jason, den Anführer der Argonauten, verliebte Medea belegte Tálōs mit einem starken Zauber, er geriet ins Schwanken und starb beim Sturz auf einen Felsen.
Seitdem ist Zeus' rebellische Insel schutzlos in dieser Welt und dem Treiben der Winde und der ewigen Kette menschlicher Schicksale ausgesetzt.
ELAFONĪSI
Es gibt auf Kríti einen Strand, dessen Sand die Farbe des Sonnenuntergangs hat: der rosafarbene Strand von Elafonīsi auf der Westseite der Insel. Die Straße dorthin schlängelt sich in vielen Kurven durch vergessene Dörfer, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Doch kaum ist man da, hat die Natur das Sagen.
Elafonīsi ist eine Insel und zugleich der Küstenabschnitt, der ihr gegenüber liegt. Um sie zu erreichen, muss man im Wasser einem Weg folgen, der seine Route mit den Gezeiten ändert. Die Färbung erhält der Sand von über die Jahre von den Wellen zerkleinerten Muschelfossilien, die nur deshalb an Land gespült wurden, damit alles so schön rosa aussieht.
Genau wegen des Rosas kommen heute Tourist*innenscharen von überall her und staunen. Manche sind farblich passend angezogen, um, so kann man vermuten, die Farbe noch mehr zu unterstreichen. Andere füllen Sand in leere Flaschen und werden damit zu strafpflichtigen Sanddieb*innen. Die Nachbarinsel schaut sich den Andrang aus der Ferne an und ist froh, dass sie verschont bleibt. Ein Stück weiter warten die Einheimischen ungeduldig auf den Sonnenuntergang. „Abends sind die Tourist*innen immer weg und dann wird der Sand noch viel rosiger“, freuen sie sich.
MACH DEN
Die antike minoische Kunst vermittelt den Eindruck, dass das kretische Volk ausschließlich im Profil existierte. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um eine gezielte künstlerische Gestaltung, bei der der Inhalt gegenüber der Form und die Repräsentation auf Kosten des Realismus bevorzugt wurde. Man verstand die Abbildungen eher aus einer symbolischen als aus einer ästhetischen Perspektive. Dafür spricht auch die Flachheit der Figuren, die wie Scherenschnitte wirken. Aus den schwarzen Konturen treten die unverwechselbaren Gesichtszüge der kretischen
GRIECHEN
Physiognomie hervor: große Augen, weicher Blick, kräftige Nasen. Und dann sind da noch die Hände und Körper, die wie die Phoneme einer unbekannten Sprache im Raum stehen. Heute sind die wenigen Spuren dieser Epoche in der klimatisierten Luft entfernter Museen erhalten, aber die unverwechselbare Haltung – lächelnd und im Profil – findet man hier noch immer.
SARIKI
Das Sariki schmückt heute die Rückspiegel alter Autos oder die Hüften von Mädchen am Strand, dabei war es ursprünglich eine ausgesprochen ernsthafte Angelegenheit. Das Sariki ist ein turbanähnlicher Kopfschmuck, der aus einem Häkeltuch mit einem Rand aus Fransen und Quasten besteht. Seine Ursprünge gehen auf die türkische Herrschaft zurück, in deren Zuge es zum Symbol des kretischen Widerstands wurde.
Doch das wahre Geheimnis hinter den Sariki ist die Farbe. Schwarz steht für Trauer und wird sowohl bei Beerdigungen als auch in der darauffolgenden Trauerzeit getragen. Wie ein Junge aus der Gegend erklärt, soll damit ausgedrückt werden, dass das Leben vorbei ist, wobei die Quasten wie Tränen um das Gesicht fallen. Weiß hingegen steht für feierliche Anlässe und vor allem für Hochzeiten. Hier sind die Quasten die Freudentränen und symbolisieren die Makellosigkeit eines Lebens ohne Kummer.
Wie so oft bleibt da für Graubereiche des Lebens kein Platz, was vielleicht auch erklärt, warum das Sariki allmählich ausgedient hat. Gleichwohl ist es bis heute ein Sinnbild für die kretische Mentalität. Denn bei Tisch und darüber hinaus gehört alles allen und niemandem, sei es Freud und Leid, griechische Salate und Saganaki [gebratener Käse]. Denn nur so kann man von allem probieren.
DIE MINOISCHEN GÖTTINNEN
Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch einen kretischen Weinberg und stoßen auf eine Tonstatue, die ihre Hände wie zur Unterwerfung erhoben hat. Jetzt stellen Sie sich vor, dass diese Statue aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. stammt und nicht als einzige im Weinberg steht.
Was sich wie der Anfang eines Volksmärchens anhört, passierte in Wirklichkeit in Gazi an der Nordküste Krítis und führte zur Entdeckung einer ganzen Schar kleiner minoischer Göttinnenfiguren. Die Weinberge waren dereinst Gemeindeheiligtümer, in denen die Figuren die Verbindung von Erde und Himmel, Mensch und Göttern herstellen sollten.
Für die einen bedeuten die erhobenen Arme ein Zeichen des Gebets und des Segens, während andere sie als Gruß der Göttin beim Erscheinen unter den Sterblichen deuten. Welcher Interpretation man auch folgen mag, die immer wiederkehrende Geste der Beschwörung eines unsichtbaren Gegenübers verwundert die Betrachtenden.
Sogar die Gesichter ähneln einander, wenn auch mit unterschiedlichen
NACHPALASTZEITLICHE MINOISCHE TERRAKOTTA GÖTTIN
Ausdrücken. Einige lächeln beruhigend, während andere mit rätselhaften Zügen hypnotisieren. Die Figuren unterscheiden sich in kleinen Merkmalen, wie zum Beispiel im kronenartigen Kopfschmuck, der für die Bestimmung ihres Wesens entscheidend ist.
Die mächtigste Göttin trägt ein Diadem aus Mohnkapseln, die starke halluzinogene Eigenschaften haben. Es wird angenommen, dass sie im Zusammenhang mit Schlaf, Tod und der Möglichkeit der Beeinflussung dieser Zustände steht, was zum Beispiel zu wundersamen Heilungen führen kann. Sie beschwor außerdem die Traumwelt und stand in direkter Verbindung mit dem Jenseits, was sie faszinierend und gefürchtet zugleich machte.
Ihre ebenbürtige Rivalin ist die Schlangengöttin. In der am häufigsten gefundenen Ausführung hält die Figur eine Schlange in jeder Hand. In einer anderen Variante richten sich die Schlangen wie eine kleine Armee aus dem Kopfschmuck auf. Beide Male ist die Göttin sowohl Beherrscherin der Natur als auch eine mächtige und gleichzeitig gefährliche Beschützerin, die Einfluss auf Fruchtbarkeit
und Erneuerung, Wetter und Naturkatastrophen nehmen kann.
Nach der Erde kommt der Himmel: Die dritte Göttin lächelt und Vögel nisten in ihrem Kopfschmuck. Sie kommt seltener als die anderen vor und steht als Mittlerin, deren Aufgabe die Weissagung und Verkündigung ist, zwischen der irdischen und der himmlischen Welt für die göttliche Sphäre. Die Vögel sind ihre Boten.
Niemand weiß, wie viele Kronen noch unter den Schichten der antiken Erde schlummern, wie viele noch namenlose Göttinnen das Schicksal dieser Insel bestimmen. „In Griechenland hingegen“, schreibt Henry Miller in „Der Koloss von Maroussi“, „sind die Veränderungen scharf, fast schmerzhaft. An einigen Stellen kann man innerhalb von fünf Minuten [die Wandlungen von] fünf Jahrtausende[n] erleben. Alles ist gezeichnet, gemeißelt, eingraviert, sogar das Ödland hat etwas Ewiges an sich.“
S. 116
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S. 120
„Mohngöttin“ mit erhobenen Armen, Terrakotta, Spätminoisch, Gazi
Göttin mit erhobenen Armen und Kopfschmuck mit Schlangen, Terrakotta, Spätminoisch, Kannia
Göttin mit erhobenen Armen und Kopfschmuck mit Vögeln, Terrakotta, Spätminoisch, Karfi
MIT ERHOBENEN ARMEN UND
VOGELKOPFSCHMUCK
Die vielen Leben des
NIKOS TSEPETIS
Nikos Tsepetis empfängt uns gemeinsam mit seinem unzertrennlichen Boston Terrier Johnny am Eingang zu seiner neuen Bäckerei. Doch bevor wir hineingehen, zeigt er uns erst einmal seine Wohnung in unmittelbarer Nähe. Wir fahren mit einem vollständig verspiegelten Aufzug in den siebten Stock in ein gepflegtes Loft, in dem sich alles in einem einzigen Raum abspielt. Die Hauptwand öffnet sich zu einem großen Fenster mit Blick auf die Altstadt von Chanià und das blaue Meer. Die Wohnung ist ganz in Weiß gehalten, wobei das eine oder andere bunte Detail absichtlich als Blickfang platziert wurde. Ein blaues Bücherregal mit schiefen, leeren Brettern (die Bücher stehen überall herum, vor allem auf der Küchenzeile); ein roter Thonet mit einem verknoteten Bein; das Foto eines Interieurs, das mit dem Loft in Dialog tritt, als wäre es ein anderer Teil davon, wie ein Raum im Raum. Im Badezimmer bewahrt er alles auf, was er lieber nicht präsentieren möchte, wie zum Beispiel einen Berg Zeitschriften und einige Kunstwerke. Auf der anderen Seite des Raumes bemerken wir ein Loch im Boden, das sich bei näherem Hinsehen als Dübelloch für eine Skulptur von Simone Fattal herausstellt.
So anziehend die Wohnung ist, wartet doch die Red Jane Bakery ein paar Minuten entfernt auf uns. Nikos spricht über das Projekt, von der Vorgeschichte des Namens bis hin zur Zusammenarbeit mit Michael Anastassiades. Es geht auch um das Ammos Hotel, das Segen und Fluch zugleich und der Grund für sein Bleiben auf Kríti ist, und über Garten, sein zukünftiges „Baby“, bei dem das Design nicht mehr im Mittelpunkt stehen wird. Seine Devise? Ständige Veränderung, denn die Ruhe ist eine Falle.
Zuerst warst du Journalist, dann Unternehmer mit einer Begeisterung für Design. Was steckt dahinter?
Ich war zehn Jahre lang Journalist. Jetzt betreibe ich ein Hotel, dessen Bau von meinem Vater in den 80ern angefangen wurde, dann aber nach der Hälfte der Zeit abbrach und der Staffelstab an mich überging, bis es 1996 aufmachte. In den ersten Jahren arbeitete ich sowohl im Hotel als auch weiterhin als Journalist, bis ich dann Mitte der 2000er das Schreiben ganz sein gelassen habe.
Was waren deine journalistischen Themen?
Hauptsächlich Politik. Ich habe Fotos gemacht und Artikel geschrieben. Es waren die goldenen Jahre, die Blütezeit. Alle bekamen ihr Geld, und zwar sehr gutes.
Das ist nun vorbei.
Durch die Krise ist sich alles anders. Ich hatte damals eine kontroverse Kolumne und daher dauernd Angst, verklagt zu werden. Deshalb haben Journalist*innen in Griechenland kein eigenes Vermögen. Doch ich hatte immerhin das Hotel und konnte es mir nicht leisten, das zu verlieren. Meine Arbeit heute besteht darin, mich um andere zu kümmern.
War das das Hotel Ammos?
Ja, genau. Es heißt „Ammos“, was auf Griechisch „Sand“ bedeutet.
Das passt, bei dem herrlichen Blick auf das Meer. Wie kam es dazu? Was war die Vision hinter Ammos?
Wie schon gesagt, ich bin wie durch Zufall da hineingeraten. Ohne meinen Vater wäre ich nie Hotelier geworden. Weil die Hälfte des Hotels ja schon stand, naja, hatte ich einfach keine andere Wahl. Ich musste was daraus machen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, im Ausland Film zu studieren. Aber bringt ja nichts, sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen, ich bin halt dann Hotelbetreiber geworden. Bei Ammos will ich Essen und Design, meine beiden Leidenschaften, zusammenbringen, und zwar so, dass die Gäste, die für ihren Aufenthalt zahlen, respektvoll behandelt werden. Ich bin eigentlich nie zufrieden mit dem, was ich mache. Es gibt immer etwas, das besser sein könnte.
Du bist Perfektionist.
Das ist eben so. Nimm zum Beispiel die Bäckerei. Die ist durch Zufall entstanden. Ich habe das Haus gesehen und wollte es sofort kaufen. Aber zuerst musste ich mir über die Nutzung Gedanken machen. Ich wollte keine Design-Galerie einrichten, in der ich Produkte ausstelle oder verkaufe.
Design muss im Kontext stehen. Es braucht einen sinnvollen Einsatz.
Ja. Mir gefällt die Vorstellung, etwas zu bewirken, anstatt nur Gegenstände zu verkaufen.
Genau das ist dir mit dem Hotel gelungen. Manche sagen, es ähnelt der Improvisation im Jazz. Wie hast du die einzelnen Stücke ausgewählt?
Es erinnert an Jazz, denn es entstand nicht auf einmal, sondern über einen sehr langen Zeitraum. Ich habe mich über dreißig Jahre hinweg schrittweise verändert und das Ammos mit mir. Das fing schon bei der Eröffnung an. Das Hotel hat nun einmal die sehr gute Lage. Der Service war gut, die Leute waren freundlich und die Zimmer waren sauber, aber dahinter stand kein Plan. Die erste Phase war eher „unaufgeregt“. Weil ich damals kein Geld hatte, musste ich auch keine Entscheidungen treffen. Es dauerte Jahre, bis ich mir darüber im Klaren war, was ich wollte und den Mut zur Veränderung aufbrachte. Bei Sachen wie der Bäckerei ist es leicht, denn es gibt ein klares Vorhaben, das man nach Plan durchzieht. Bei Red Jane hat sich seit dem Tag der Eröffnung nichts geändert und es klappt. Da bleibt alles wie es ist. Es ist viel anstrengender, wenn man nicht von Anfang an weiß, wohin man will, oder wenn man nicht das nötige Budget dafür hat.
Dann wird es aber auch interessanter!
Weil es ein viel langwierigerer und auf jeden Fall viel „unangenehmerer“ Prozess ist.
Als Erstes fiel auf, dass in allen Zimmern statt eines Fernsehers ein Exemplar des griechischen Buches Alexis Sorbas von Nikos Kazantzakis lag.
Schon, aber die Leute haben sie einfach mitgenommen. Nach dreihundert Exemplaren habe ich damit aufgehört. Es gibt immer noch keine Fernseher, aber auch keine Bücher mehr. Doch der Gedanke dahinter bleibt bestehen, der verschwindet nie.
Warum gerade das Buch? Was bedeutet es für dich?
Inzwischen weiß das keiner mehr, aber „Alexis Sorbas“ war damals ein echtes Phänomen. Durch den Film veränderte sich in den 1960ern das Bild von Griechenland radikal. Er wurde zu einer Ikone, genauso wie das Bild von Jane Fonda, der Namenspatin der „Red Jane Bakery“. Zum ersten Mal setzte sich eine so prominente Person für ein Foto auf den Panzer des Feindes. Das war ein Scheidepunkt, ein klarer Bruch. Das gilt auch für „Sorbas“. Der Name wurde zum Synonym für alle Griech*innen.
Und jetzt ist er zum Klischee geworden?
Schon möglich. Aber es ist doch spannend, dass das Buch hier auf Kríti spielt. Der Film hat einen Oscar gewonnen. Regisseur Michael Cacoyannis und auch Kameramann Walter Lassally waren Könner. Beim Dreh verliebte sich Lasally in die Insel, kaufte ein Haus und lebte für den Rest seines Lebens hier. Unterm Strich: Wenn ich mich für ein Buch entscheiden müsste, dann das.
Genau. Ammos ist aber nicht dein einziges Projekt. Erst letztes Jahr hat die Red Jane Bakery eröffnet, in der wir gerade sitzen. Im Internet steht, es sei „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen.
Ich habe mich sofort beim ersten Anblick in das Haus verliebt und wollte es kaufen, doch die Besitzer wollten nicht. Vier Jahre später überlegten sie es sich anders. Zu dem Zeitpunkt war es eine Werkstatt und ich hatte keine Ahnung, was ich damit machen sollte. Das Haus wurde in den 1930er Jahren von einer Eingewandertenfamilie gebaut, die vor dem Krieg in der Türkei geflüchtet war. Aber es ist jetzt nicht so, als ob ich nach einer Location für eine Bäckerei gesucht habe!
Danach mussten wir stattdessen à la carte am Tisch servieren und selbst gebackenes Brot und Croissants sollten das weggefallene Buffet wettmachen. Daraus entstand die Idee mit der Bäckerei, weil wir ja nun eh selber backten und ich davon ausging, dass wir nur zwei oder drei Mitarbeitende mehr brauchen würden – am Ende brauchten wir dann 20.
Bekanntlich spielt der Name Red Jane auf den Skandal um Jane Fondas Foto aus dem Vietnamkrieg an. Warum der Name?
Der spukt mir schon seit langem im Kopf herum, ich mochte den Klang und die Bedeutung. Ich hatte ihn für einen neuen Laden schon lange in petto. Hauptgrund für die Wahl war aber die Geschichte dahinter, als Jane Fonda sich in Vietnam auf einem feindlichen Panzer fotografieren ließ und als Verräterin beschimpft wurde. Mich fasziniert das Thema „Verrat“.
Warum hast du es dann gekauft?
Das ist einfach passiert. Unser Hotel war bis zum Einbruch von Covid für sein spektakuläres Frühstücksbuffet bekannt.
Hältst du die Red Jane Bakery gewissermaßen für einen Verrat an deinem Land?
Ja und nein.
Vielleicht ist „Abgren zung“ der bessere Begriff?
Ich weiß nicht so recht. Die Produktauswahl und die skurrile Architektur sind sicher von außen beeinflusst, aber ich sehe es eher als ein Gesamtkonzept. Zuerst wollte ich den Laden einfach so nennen, ohne die Story dahinter zu erzählen. Doch dann kam die Geschichte raus.
Eine avantgardistische Bäckerei, aber auch ein Tempel für zeitgenössisches Design. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Michael Anastassiades?
Er fiel mir sofort ein, denn er war die ideale Besetzung. Er sollte sich das Haus ansehen und wir würden gemeinsam daran arbeiten. Er war sofort Feuer und Flamme. Wir haben speziell für die Bäckerei hergestellte Platten aus traditionellem athenischem Marmor verwendet, allerdings in Rot. Michael konzipierte auch die Beleuchtung, die der eigentliche Hauptdarsteller in seiner Arbeit ist. Er wollte alles so ähnlich wie möglich belassen und die Fassade ist komplett unverändert geblieben. Aber Michael übernahm nicht nur die Gestaltung. Er hat bei allen Entscheidungen mit angepackt. Wir haben auch gemeinsam die Rezepte erarbei-
„Ich habe mein ganzes Wesen reingesteckt: Ich bin gereist, habe Menschen getroffen, mich weitergebildet und bis zur Erschöpfung gegessen. Innendrin bestehe ich nur noch aus Kohlenhydraten. Doch das war es wert!“
tet, zusammen gegessen, sind zusammen gereist. Er hat sogar das Logo entworfen. Nur die Bank, auf der wir sitzen, hat er nicht entworfen.
Kommen wir nun zum Angebot, das mit Unterstützung von Eyal Schwartz, dem Mitbegründer des e5 Bakehouse in London, entstanden ist. Wie passt die kulinarische Tradition Kretas zu einem Angebot mit so einer modernen und internationalen Stimmung?
Kríti hat eigentlich keine große Gebäck- oder Bäckertradition. Wir haben Paximadi, ein trockenes Brot aus Gerste.
Ist das das Brot, das man für Dakos [ein traditionelles kretisches Essen, so ähnlich wie Bruschetta, gewürzt mit Tomaten, Öl, Salz, Oregano und Feta] nimmt?
Genau das. Ich wollte in der Bäckerei nicht einfach nur das anbieten, was es hier eh schon gibt und was man nicht verbessern kann. Deshalb haben wir verschiedene Techniken entwickelt. Wir versuchen höchstens, ein paar griechische Zutaten auf die nordische Tradition zu interpretieren, um sie den Einheimischen näher zu bringen.
Hast du jemals darüber nachgedacht, woanders zu leben?
Schon mein ganzes Leben lang, aber jetzt bin ich zu alt dafür. Letztendlich war es reiner Zufall. Wenn es das Hotel nicht gegeben hätte, wäre ich zum Studieren ins Ausland gegangen und würde jetzt etwas anderes machen.
Was wäre das gewesen?
Film. Zeitlang habe ich das versucht, aber es hat nicht geklappt. Davor habe ich Politikwissenschaften studiert. Es ist doch so: man kann nicht alles machen. Die eigenen Möglichkeiten sind halt begrenzt.
Zukunftspläne? Denkst du schon an dein nächstes „Baby“?
Ja. Ich eröffne ein neues Lokal ganz in der Nähe, diesmal in einem anderen Gebäude, einem aus den 1950er Jahren.
Wir machen dort einen Weinladen auf, in dem wir in Flaschen und offen ausschenken. Außerdem habe ich das Grundstück nebenan gekauft, um darauf einen Garten anzulegen.
Schließt du dich dem Naturwein-Trend an?
Ich mag Naturwein, aber in Griechenland ist das Angebot noch etwas dürftig. Ich möchte aber keine guten Weine aussortieren, nur weil sie kein Naturwein sind.
Was hat es mit dem Garten auf sich?
Er wird von Helli Pangalou gestaltet, die unlängst ein sehr interessantes Projekt für die griechische Nationaloper in Athen betreut hat.
Wie soll er heißen?
„Garten“, nach dem deutschen Wort. Die Leute können dort ein Glas Wein trinken und eine Kleinigkeit essen.
Sind wie bei Red Jane auch wieder andere renommierte Designer*innen beteiligt?
Nein, der Entwurf kommt von mir und meiner Freundin Alexia Mylonogianni. Ich will mich nicht wiederholen. Red Jane war herausfordernd genug, ein echtes Egoprojekt.
Denkst du, dass die Leute die ganze Arbeit, die im Projekt steckt, auch wahrnehmen?
Ich glaube schon. Nicht nur das Design, sondern auch die Atmosphäre, die die eigentliche Essenz von gutem Design ist. Auch die Qualität des Essens. Wenn das Brot nicht schmeckt, ist mir egal, wie gut der Laden aussieht. Hier geht es um so viel mehr. Ich habe mein ganzes Wesen reingesteckt: Ich bin gereist, habe Menschen getroffen, mich weitergebildet und bis zur Erschöpfung gegessen. Innendrin bestehe ich nur noch aus Kohlenhydraten. Doch das war es wert!
Wenn es eine Insel gibt, auf der die Bräuche nie aus der Mode kommen, dann ist es Kríti. Hier hat jedes Dorf sein eigenes Fest, und jedes Fest seine eigene Sprache. Kein*e Einwohner*in würde jemals zugeben, dass sie alle gleich aussehen; es ist die vermeintliche eigene Überlegenheit, die die Dörfer zusammenhält. Der Klang der Lyra, die Volkstänze, die berauschende Euphorie sind nur einige der vielen Arten der Erinnerung und des Feierns, mit einer symbolträchtigen Theatralik, eine Wiederholung von etwas. Gleichzeitig dienen sie dazu, die Konturen einer bestimmten Welt nachzuzeichnen, die anderswo am Rande des Aussterbens steht. Zwischen diesen vielen verschiedenen Bräuchen, die alle doch irgendwie gleich sind, findet sich auch eine ganz bestimmte Kleiderordnung, die rein byzantinischen Ursprungs ist. Ausladende Kleider mit Ballonärmeln; schwarze Westen mit goldenen Ornamenten und roten Gürteln; Stiefel und Schürzen ... Jede Tracht erzählt eine Geschichte. Manchmal ist es die Geschichte der einstigen oder zukünftigen Träger*innen, aufgelockert durch ein bedrucktes T-Shirt oder ein Paar Turnschuhe. Doch genau das macht Kríti aus: Der Eigensinn der alten Welt prallt auf den Elan des modernen Lebens. Das Ergebnis? Eine Schichtung der Kulturen, in der jede Existenz ihren Platz findet.
KRETISCHE TRACHTEN
Lauter Kleine Johns
Artemis Christos Katrina
Marina
Eltha Yiakoumaki ist nicht wie andere Lehrer*innen. Die gebürtige Chanierin absolvierte eine Ausbildung zur Erzieherin in Thessaloniki und eröffnete 2006 ihre eigene Kindertagesstätte. Da sie die herkömmliche Pädagogik immer als beengend empfand, schlug sie im Jahr 2021 einen freieren Weg ein. Nach Jahren des Experimentierens entwickelte sie die für sie typische Verbindung aus Kunstbegeisterung und unkonventionellem pädagogischem Ansatz, bei dem die Persönlichkeit jedes
Kindes im Vordergrund steht. Zu diesem Zweck bedient sie sich der großen Namen der Kunstgeschichte, die sie ihren jungen Schüler*innen im Alter von vier bis neun in themenbezogenen Workshops einmal pro Woche näher bringt. Zunächst zeigt sie ihnen die Werke und erzählt aus dem Leben der eigenwilligen Schöpfer*innen, wählt dann die aussagekräftigsten Bilder aus und zeichnet deren Umrisse. Anschließend erklärt sie die theoretischen Grundlagen und lässt den Kindern ab da freie Hand.
Hätten sich John Craxton und Eltha Yiakoumaki jemals getroffen, wären sie wahrscheinlich auf Anhieb gut miteinander ausgekommen. Weil beide Kríti so mochten, wird John Craxton zum Gegenstand einer von Elthas Malstunden.
Bei Eltha bestand die Liebe zur Insel seit Kindestagen, bei Craxton wuchs sie erst spät auf einer seiner vielen Fluchten aus London.
Der 1922 geborene Craxton kam aus einer Musiker*innenfamilie und seine Kunst führte ihn weit weg vom hektischen Stadtleben hin zu Landschaften, in denen er sich wiederfinden konnte. Kríti brachte Harmonie in seine kantigen Kompositionen. Hier merkte er, dass das Leben die höchste Form der Kunst ist und meistens kein Unterschied zwischen beiden besteht.
Dank Kríti begriff Craxton den Wert gemachter Erfahrungen gegenüber reiner Darstellung. Heute entdecken viele kleine Johns unter der Regie von Eltha, dass die Erfahrung über die Realität hinausgehen kann, wenn sie durch den Filter der Kunst betrachtet wird.
Jeder Felsen auf Kríti erzählt eine Geschichte, geformt von den Winden und den Taten der alten Götter. Am Strand von Ligres gibt es Menschen, die diese Felsen auswendig kennen und sich jeden Morgen vergewissern, dass keine fehlen, denn bekanntlich werden sie gerne vom Meer entführt.
Redaktion und Erstellung
Alla Carta Studio
Brand Creative Director
Achilles Ion Gabriel
Brand Director
Gloria Rodríguez
Fotografie
Maxime Imbert
Styling
Francesca Izzi
Illustrationen
Francesca Albergo
Englische Texte
Robin Sara Stauder
Produktion
Hotel Production
Mit besonderem Dank an Emmanuelis Angelakis
Christos Bairabas
Alex Brack
Eva Grimm – Cretan Folk Art and Antiques Gallery
Konstantinos Houlakis – Minoan Pottery
Guillaume Mercier
Nivritos Cultural Association
Oloapitreps
Ioannis Papadakis
Arianna Sesia
Sorry Mummy
Evelina Evangelia Stoltidou
Studio Levi
Universo Maglia
Image Credits
© Maxime Imbert
© Fele La Franca, Videostills: S. 80–85
© Iliana Malihin, S. 41
© Heraklion Archaeological Museum, S. 116–121
Druckerei
Artes Gráficas Palermo, Madrid
ISSN: 2660-8758
Pflichthinterlegung: PM 0911-2021
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