H/W 2021 –– Ausgabe Nr. 11
GEHEN bedeutet, sich fortzubewegen. Sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Es bedeutet auch, voranzukommen, sich zu verbessern, sich weiterzuentwickeln und offen zu sein für Innovation. TWS ist eine virtuelle Gemeinschaft, in der jeder willkommen ist – unabhängig von seinem sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder geografischen Hintergrund. Einzeln und als Zusammenschluss fördern sie Vorstellungskraft und positive Energie, indem sie innovative Ideen und Lösungen entwickeln, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – auf einfache und ehrliche Weise. CAMPER bedeutet „Bauer“ im Mallorquinischen. Die Entbehrungen, die Einfachheit und die Intimität des ländlichen Lebens, vereint mit mediterraner Geschichte, Kultur und Landschaft – all das beeinflusst die Ästhetik und die Werte unserer Marke. Unser Traditionsbewusstsein und unsere Wertschätzung für Kunst und Handwerk sind die tragenden Säulen unseres Versprechens. Wir stellen nützliche, originelle und hochwertige Produkte her, wobei wir die Vielfalt fördern und stets bestrebt sind, die Produkte durch Innovationen, neue Technologien und unseren Sinn für Schönheit weiterzuentwickeln. Kultur und Menschlichkeit sind die Grundlage unseres unternehmerischen Handelns. KYPROS ist die drittgrößte Insel im Mittelmeer. An der Pforte zum Nahen Osten gelegen, hat ihre strategische Position als Bindeglied zwischen Ost und West dazu geführt, dass sie seit jeher zum Ziel von immer neuen Eroberungen wurde. Soziale Unruhen und kulturelle Stratifikation prägten die Geschichte der Insel, was ihr eine unklare Identität und eine geheimnisvolle Aura verleiht. Das Magazin, THE WALKING SOCIETY , sammelt die Worte und Bilder von Menschen und Landschaften, die Teil dieser virtuellen Gemeinschaft sind – Menschen, die gemeinsam die Welt voranbringen und verändern. Unsere erste Ausgabe erschien im Jahr 2001 und hatte Campers Heimatinsel Mallorca zum Thema. Die ursprüngliche Reihe, in der verschiedene Regionen des Mittelmeerraums vorgestellt wurden, erschien in acht Ausgaben über vier Jahre hinweg bis 2005. Die elfte Ausgabe ist Bestandsaufnahme und zugleich Neuentdeckung einer Insel mit faszinierender Geschichte und vielschichtigen archäologischen Zeugnissen. Wir hinterfragen und enträtselten die Geheimnisse von Kypros und finden heraus, wie die Insel trotz ihrer wechselvollen Vergangenheit eine typische Mittelmeerinsel geblieben ist. WALK, DON’T RUN. 3
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Die Kreativszene und die örtliche Jugend sind stark miteinander vernetzt. Viele der kreativen Talente auf der Insel sind Absolventen renommierter Kunsthochschulen in Großbritannien, die nun auf die Insel zurückgekehrt sind, sich vernetzt haben und ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten.
Die Insel Kypros liegt mitten im östlichsten Teil des Mittelmeeres vor den Küsten der Türkei, des Libanon, Syrien und Ägypten, dem geografischen Punkt, an dem der Osten auf den Westen trifft. Die Topografie der Insel ist typisch für den Mittelmeerraum: ausgedehnte Vegetation, riesige Olivenhaine neben sonnenverbrannten Feldern. Dazwischen die gebräunten Gesichter der Bewohner. Wasser ist auf Kypros nie weit weg. Von der auf einem Hügel gelegenen Ausgrabungsstätte Kourion erblickt man über dem glitzernden Meer die untergehende Sonne, deren abnehmendes Licht auf magische Weise das Farbspektrum in der Umgebung verstärkt. Eine halbe Stunde von hier entfernt liegt ein stiller und felsiger Strand, an dem man sich vom würzigen Wind streicheln lassen kann. Dieser friedliche Flecken Erde, so heißt es, sei der Geburtsort der Aphrodite. Die Landschaft ist in tiefen Grüntönen, leuchtenden Blautönen, gedecktem Weiß und Schattierungen von Gelb gehalten, hier und da vom kräftigen Fuchsiarot der schmalblättrigen Weidenröschen unterbrochen. Die antiken Ruinen, Zeugen von Kypros vielgestaltiger Vergangenheit, überziehen die Insel wie in einem Freilichtmuse7
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In der Vergangenheit erhielten viele griechische Zyprioten aufgrund der unsicheren politischen Lage Flüchtlingsstatus und flohen nach Großbritannien. Infolgedessen besitzt ein Großteil der neuen Generationen einen britischen Pass oder stammt aus multinationalen Familien. Diese Mischung aus Nationalitäten und verschiedenen Kulturen bildet den Grundstein für die florierende Kunstszene der Insel.
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Orestis ist mit seinem markanten Äußeren als Model und Designer aus der örtlichen FashionSzene nicht mehr wegzudenken. Seine Arbeit reicht von Schmuck bis zu experimenteller Strickmode, angesiedelt irgendwo zwischen Kleidung und Performance.
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um. Die Überreste stehen in direkter Verbindung zum griechischen Erbe unserer Tage auf der Südseite der Insel, wo stolze blau-weiße Flaggen wehen. Im Schatten der metallisch glänzenden Wolkenkratzer inmitten der heterogenen Architektur der Städte Nikosia und Limassol gedeihen nach wie vor die Mythen und die einheimische Kultur. Der ständige Wechsel von Land und Stadt und der Konflikt zwischen Nord und Süd machen Kypros zu einem merkwürdigen Ort. Sein faszinierender Charakter, seine Unbestimmtheit und die Vielfalt seiner Bewohner schaffen eine skurrile Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Die Zeit scheint hier stillzustehen, gerade so, als hätten die kulturellen Sedimente und die Sommerhitze eine Art Überdruckkammer geschaffen. Die geografische Lage im Gebiet, das man gemeinhin als Naher Osten bezeichnen würde, bescherten Kypros eine jahrhundertelange wechselvolle Geschichte unter Herrschaft der Venezianer, Perser, hellenischen und türkischen Mächte sowie 300 Jahre unter dem Osmanischen Reich und schlussendlich als Kronkolonie Großbritanniens. Infolge der Verschärfung der sozialen Spannun10
Twins F/W 2021 Camper for Kids Daria stammt ursprünglich aus der Ukraine und kam in jungen Jahren nach Kypros, um den schwierigen Lebensbedingungen in ihrem Heimatland zu entkommen. Sie gehört zur großen osteuropäischen Community, die sich auf Kypros eine Perspektive versprachen.
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Eleni ist Modedesignerin mit einem britischen Elternteil. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Nachhaltigkeit und Abfallvermeidung. Sie fertigt nur das, was benötigt wird, und zwar ausschließlich aus Materialien, die vor Ort in Kypros handgefertigt werden – das Gegenstück zur globalen Massenproduktion.
gen zwischen den beiden vorherrschenden Bevölkerungsgruppen des Landes, den griechischen Zyprioten und den türkischen Zyprioten, und der anschließenden Angliederung der Nordseite an die selbst ernannte Türkische Republik Nordzypern, wird Kypros seit 1980 von einer Pufferzone der Vereinten Nationen in zwei geteilt. Ein Spaziergang im Süden von Nikosia bietet ein unwirkliches Erlebnis, fast wie in einer Filmkulisse. Junge Soldaten patrouillieren entlang eines Grenzwalls aus Sandsäcken im Tarnmuster und bunten Fässern. Auf der anderen, der türkischen, Seite dringen Gebetsrufe von einem Minarett herüber. Auf dieser winzigen Insel leben libanesische, syrische, armenische, griechische, türkische, russische und bulgarische Communitys mit- und nebeneinander. ARCHÄOLOGISCHE REKONSTRUKTION, S. 18 Die Entdeckung der archäologischen Geschichte der Insel und ihr gesellschaftlicher Einfluss anhand von Ausgrabungsstätten und Funden aus dem Cyprus Museum.
JOANNA LOUCA S.70 Im Atelier dieser Webmeisterin trifft Tradition auf Moderne. Wir erfahren, wie hier Grenzen überwunden werden und künstlerische Experimente stattfinden.
NICOLAS NETIEN S.120 Auf Zypern steht die Natur im Mittelpunkt. Der französische Biotechniker Nicolas Netien möchte sie zu neuem Leben erwecken und die Umwelt der Insel regenerieren.
ELINA IOANNOU S.40 Ein Tag im Atelier der zypriotischen Bildhauerin Elina Ioannou, die durch flache Skulpturen ihre eigene Welt an der Schnittstelle von Wirklichkeit und Abbild entdeckt.
URBAN GORILLAS S.82 Ohne soziales Engagement geht gar nichts auf Kypros. Im Viertel Kaimakli wollen die „Stadtgorillas“ ihre Stadt mit Hilfe der Bewohner verschönern.
DIE MYTHEN S.16,30,58,88,116,136 Die koreanische Illustratorin Lulu Lin stellt für uns die bekanntesten Mythen der Insel bildlich dar.
LEFKARITIKA S.52 Auf Kypros ist das traditionelle Handwerk das alles verbindende Gewebe. Auf diesen Seiten halten wir die zarten Fäden von Spitzen und Stickereiarbeiten in den Händen.
CHRISTINA SKARPARI S.98 Die Wissenschaftlerin und Gestalterin will die Traditionen bewahren, indem sie Stadt und Land durch ein Festival zusammenbringt. Hier erfahren Sie, wie ihr das gelingt.
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Die Geburt der Aphrodite Hesiod schreibt, dass Aphrodite bei Paphos an der südwestlichen Küste der Insel das Licht der Welt erblickt habe. Der Überlieferung nach wurde sie aus dem Meeresschaum geboren, der entstand, nachdem Kronos seinem Vater Uranus – dem Himmel in Göttergestalt – die Geschlechtsteile abgeschnitten und diese ins Meer geworfen hatte.
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Archäologische Rekonstruktion
Eine Schichtung der Zeitepochen wie auf Kypros mit seiner reichen Geschichte, Vielfalt der Kulturen und archäologischen Funde lässt sich wohl kaum noch einmal finden. Angefangen beim traditionellen Handwerk über die antiken griechischen Ruinen, die unter der Sonne vor sich hin verfallen, bis hin zu den kostbaren Terrakottafiguren – den Spuren der Inselgeschichte kann man nirgends entkommen. Im Laufe der Zeit hat Kypros die Einflüsse seiner Eroberer aus den umliegenden Ländern aufgenommen und gleichzeitig ein eigenes Narrativ daraus entwickelt. Es waren die reichen Kupfervorkommen, die die Insel vor dem Verfall bewahrten und die ihr unverwüstliches Kulturerbe formten und förderten. Für diese Leistung wird die Archäologie von den Inselbewohnern geschätzt. Sie sind stolz auf ihren Kunstschatz und zeigen dies auch. Unter der brennenden Sonne, nur mit Strohhut und ein paar Werkzeugen ausgestattet, kümmern sich Restauratoren stundenlang um die Überreste von Kourion, einem Stadtstaat, dessen Ursprünge auf dem Peloponnes liegen.
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Der antike Stadtstaat Kourion soll eine Gründung der Agriven, den Bewohnern von Argos auf dem Peloponnes, sein.
Später wurde der Name dem Gründer Koureas, Sohn des mythischen Königs Kinyras, zugeschrieben. Die Gegend wurde schon während des Neolithikums, lange vor der Gründung der Stadt, besiedelt.
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Sie legen frei, zementieren und reparieren die weißen Natursteine, um den immensen Wert dieser antiken Architekturen zu bewahren. Aus einem brachliegenden, von der Sommerhitze ausgetrockneten Feld ragt eine makellose Säule auf, die die Tympanonreste eines Tempels trägt. Die archäologischen Funde auf Kypros berichten von einer Zivilisation, die im Neolithikum begann und sich über die Jahrhunderte hinweg unter der Einwirkung ausländischer Herrscher weiterentwickelte.
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Einzelbilder von Fele La Franca
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In den Keramiken und Plastiken aus Marmor, Terrakotta und Echtgold gesellt sich zu den hellenischen Einflüssen eine eigene Erzählung. Dort wo die Schriftzeugnisse versagen, ermöglicht die Entdeckung nahezu vollständig erhaltener Figuren die wahrheitsgetreue Rekonstruktion historischer Gegebenheiten. Es überwiegen Menschendarstellungen. Die zunächst handgefertigten, dann aufgrund der steigenden Nachfrage mit Pressformen serienmäßig hergestellten Kleinplastiken künden von hoch entwickelten Gesellschaften, die auf der Insel die Geschichte hindurch lebten. Die Archäologie wird von den Einheimischen nicht nur geschätzt und verehrt, sondern ist auch solider Wirtschaftsfaktor.
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Der Salzsee Nach der ottomanischen Legende bat ein durstiger Derwisch in einem Weinberg nahe Larnaka im Südosten von Kypros ein alte Frau um Wasser, was ihm aber verwehrt wurde. Daraufhin sprach der Derwisch einen Fluch aus, der den Weinberg in einen Salzsee und die Alte in einen Felsen verwandelte. Der erschöpfte Derwisch verdurstete und aus seiner Hand wuchs ein Johannisbrotbaum.
Die traditionelle Küche mit einheimischen Produkten genießt auf Kypros einen hohen Stellenwert. Die Hauptdarsteller sind Molkereiprodukte und frisches Obst und Gemüse. Bei keiner Mahlzeit fehlen dürfen Walnüsse, Mandeln, honiggetränkte Süßspeisen und öliger Halloumikäse, das wertvollste Lebensmittel auf Kypros. Griechische Salate mit cremigem Feta und würziger Koriander stehen auf jeder Speisekarte. Geruch, Geschmack und Geschichte bilden die perfekte Symbiose und lösen ein Gefühl wohliger Zufriedenheit aus. Dasselbe wohlige Gefühl stellt sich auch am Salzsee von Larnaka ein. Das sanfte Licht der Abenddämmerung wird von der Oberfläche aus sonnengetrockneten S alzkristallen reflektiert, die zwar fest aussieht, sich bei Berührung aber als weich herausstellt. Zwischen den Schatten der Ufervegetation wirft der See das Minarett der Hala-Sultan-Moschee zurück. Die dichten Bäume sorgen für Abkühlung und legen sich wie einFilter vor die untergehende Sonne. Die Atmosphäre kippt ins Märchenhafte. 32
Die zypriotische Küche kann den griechischen Einfluss nicht leugnen. Honig, Salate mit viel Feta und das typisch mediterrane Obst und Gemüse kommen täglich auf den Tisch.
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Korallia ist Künstlerin, die sich multimedial mit ihrer Heimat auseinandersetzt. Wie sie kehrt gerade eine junge Generation von Zyprioten von ihrer Ausbildung im Ausland auf die Insel zurück, wo sie im eigenen Atelier der Kreativität freien Lauf lassen können.
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Stelios, Künstlername Krimson, ist experimenteller Techno- und Elektromusiker, der häufig auf Festivals und Partys auf Zypern auftritt.
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Der See strahlt die gleiche vergängliche Schönheit wie eine Oase inmitten einer Sandwüste aus. Der laute Wind in den Palmen und Kiefern bringt die willkommene Abkühlung vom feuchtheißen Wetter. Da im Sommer der Regen ausgeblieben ist, liegen dick verkrustete Salzschichten auf dem schwarzen Schlamm des Sees und verwandeln diesen so gut wie in Treibsand. Unvermittelt prallt der perlweiße See auf das blaue Firmament. Hier wird der Unterschied zwischen Erde und Luft deutlich. Die malerische Atmosphäre der Insel durchdringt jeden Winkel. Natur und Architektur sind wie zwei Geschwister, unzertrennbar bestreiten sie gemeinsam den Alltag und verwischen die Grenze zwischen Zeit, Raum und Menschen. Auf dem Weg zu Elina Ioannous Elternhaus und Atelier am Rand von Limassol ist das unmittelbare Nebeneinander dieser Bestandteile des zypriotischen Lebens nicht zu übersehen. Besonders deutlich wird das Miteinander von Bauten und Natur auf der Fahrt durch die wunderschönen Landschaften. 39
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Dass Elina Ioannou Architektur studiert hat, ist in ihren Arbeiten nicht zu übersehen. Von der Wahl des Materials – dem einheimischen Kalkstein, der eigentlich zum Bauen verwendet wird – bis hin zu den zweidimensionalen Skulpturen, geht es ihr stets um die Aneignung der sie umgebenden Landschaft, der Überhöhung des Alltäglichen durch die künstlerische Umgestaltung.
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Sie teilt sich das Atelier mit ihrem Vater, einem der letzten hiesigen Steinmetze. Ihre zypriotische Herkunft liegt ihr am Herzen, auch wenn sie der Ansicht ist, dass ihr das Studium fern der Insel einen unvoreingenommenen Blick auf den Alltag ihrer Heimat eröffnet hat. Der Weg zu Elinas Atelier ist ein unvergessliches Erlebnis. Der Pfad ist gesäumt von einem Reigen ungeschützter Skulpturen, die sich vor dem strahlend blauen Himmel abheben. Auf einem Lagerplatz liegen, unbeeindruckt von der brennenden Sonne, die ausrangierten Stücke. Auch wenn sich über die Jahre die formalen Aspekte Ihrer Arbeiten geändert haben, ist das Thema doch immer gleich geblieben. Sowohl in Ihren Zeichnungen als auch in Ihren Installationen überwiegen alltägliche Szenen und Gegenstände. Wie stark wird Ihre Arbeit von Ihrer Umgebung beeinflusst? Haushaltsgegenstände und Alltagsobjekte üben eine große Faszination auf mich aus. Sie spielen eine wichtige Rolle in meiner Forschung. Diese Szenen verraten viel über uns selbst. Wie wir uns als Menschen im Raum verhalten und mit ihm interagieren. Die Elemente sind gehorsame Diener und stille Beobachter unserer Obsessionen. Für mich sind Möbel, Gegenstände und Küchenutensilien die Zeugen unseres Vorhandenseins, aber auch unserer Schwächen und Obsessionen. Unsere
tiefsten Geheimnisse und ungelösten existenziellen Sorgen leben in den allergewöhnlichsten ausrangierten Gegenständen, den allerunspektakulärsten alltäglichen Begegnungen und den allerflüchtigsten Momenten. Der Einbezug der Architektursprache erlaubt mir eine gewisse objektive Sicht auf den Alltag. Außerdem kann ich durch die Verwendung architektonischer Elemente auf Perspektive und Tiefe verzichten. Ihre Arbeit vermittelt eine chaotische Genauigkeit, insofern als die gestalterischen Elemente häufig dicht gedrängt nebeneinander gestellt werden. Liegt das Chaos an Ihrer Kindheit auf Zypern, einer Insel mit sozialen Unruhen, auf die im Laufe der Geschichte sehr viele verschiedene Länder Anspruch erhoben haben?
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„DIE CHAOTISCHE GENAUIGKEIT, DIE FLÄCHIGKEIT DES RAUMS UND DER STILLSTAND DER ZEIT SIND MEINE ART DES UMGANGS DAMIT. EINE RÜCKBESINNUNG AUF DIE ANTIKE UND JÜNGSTE VERGANGENHEIT, DAS GRELLE LICHT, DIE LANGEN SOMMER UND DIE WIDERSTANDSFÄHIGE PFLANZENWELT IM ZUSAMMENSPIEL MIT DER HINWENDUNG ZUM TRADITIONELLEN MEDIUM DER BILDHAUEREI SIND MEINVERSUCH, DIESE SOZIALE UNRUHE SINNBILDLICH ZU FASSEN.“
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Ich häufe skulpturale Fragmente, Fundstücke, Überbleibsel und Bruchstücke von Architekturornamenten an. Meine übervollen Erzählungen entziehen sich jedoch oft jeglichen Wollens, jeglicher Perspektive oder Schwerkraft. Sie sind wie versteinerte Momentaufnahmen, festgehalten auf Papier oder in Stein erstarrt. Es geht um den Versuch, die Vergangenheit und die Zukunft in festen Gebilden zwischen Relief und dreidimensionalen Figuren zu verknüpfen. Irgendwo in diesem Spannungsfeld, in der Schwebe, bin ich, beobachte ich, existiere ich.
Warum möchten Sie die Dreidimensionalität aus Ihren Werken verbannen? Zwischen Wirklichkeit und Abbildung, Wirklichkeit und Wesentlichem liegt ein sehr schmaler Zwischenraum. Durch die Verflachung des Bildes tritt der Unterschied zwischen den beiden deutlicher hervor. Nach Ihrem Universitätsabschluss in Frankreich sind Sie zurück nach Zypern gegangen. Wie hat diese Erfahrung Ihre Sicht auf das Leben geprägt und was hat sie bei Ihnen bewirkt? Eigentlich wollte ich in Frankreich bleiben, aber meine Eltern haben mich zur Rückkehr überredet. Frankreich und Zypern sind sehr unterschiedlich. Das Besondere an einem Ort fällt einem gar nicht mehr auf, wenn man ihn schon lange kennt. Durch das Leben in Frankreich, die französische Sprache und den Kontakt mit den Einheimischen konnte ich Zypern in einem anderen Licht sehen. Das war auch andersherum der
„ICH BIN DIE TOCHTER MEINES VATERS, EINEM DER LETZTEN STEINMETZE DER INSEL UND DIE GLÜCKLICHE ERBIN EINES VOLL AUSGESTATTETEN ATELIERS ZUR STEINBEARBEITUNG.“ 48
Elina teilt mit ihrem Vater die Werkstatt und Geräte. Häufig verwendet sie das, was von seiner Arbeit übrig bleibt.
Die chaotische Genauigkeit, die Flächigkeit des Raums und der Stillstand der Zeit sind meine Art des Umgangs damit. Eine Rückbesinnung auf die antike und jüngste Vergangenheit, das grelle Licht, die langen Sommer und die widerstandsfähige Pflanzenwelt im Zusammenspiel mit der Hinwendung zum traditionellen Medium der Bildhauerei sind mein Versuch, diese soziale Unruhe sinnbildlich zu fassen.
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Fall. Wenn man außerhalb der eigenen Komfortzone lebt, sieht und versteht man die Dinge klarer und hat einen viel objektiveren Blick auf das eigene Ich.
Was können Sie mir über Ihre Identität und damit auch über Ihre Arbeit als Künstlerin im Zusammenhang mit Ihrem Geburtsland erzählen?
Hat das Leben im Ausland überhaupt Einfluss auf Ihre Arbeitsweise? Wenn ja, wie?
Einerseits bin ich ein Teil der mediterranen Landschaft mit ihren Gold- und Ockertönen, der üppigen Mischung aus Architektur und zypriotischen Bräuchen, andererseits bin ich aber auch eine Weltbürgerin. Außerdem bin ich die Tochter meines Vaters, einem der letzten Steinmetze der Insel und die glückliche Erbin eines voll ausgestatteten Ateliers zur Steinbearbeitung.
Auf jeden Fall! Vor meinen Wegzug hatte ich überhaupt keinen Begriff von zeitgenössischer Kunst – keine Ahnung, was ich damals für Kunst hielt. Für mich war Kunst gleichbedeutend mit handwerklichem Können. Erst in Frankreich wurde mir klar, worum es bei Kunst eigentlich geht. Obendrein wurde ich dort zur Erwachsenen und habe gelernt, dass man auch anders leben kann, jenseits der auf Zypern – wie ja auch in anderen Mittelmeerländern üblichen – abgeschirmten Familienblase. In Ihren Werken finden sich häufig antike Vasen. Interessieren Sie sich für Archäologie? Inwieweit ist die zypriotische Geschichte wichtig für die Gestalt Ihrer Arbeiten? Die Archäologie ist Teil einer Ästhetik. Meine Stücke sehen zwar archaisch aus, sind aber gleichzeitig sehr modern. Anhand der Archäologie erarbeite ich mir ein Verständnis für unsere Vorfahren und deren Lebensweise. Mit der Verwendung des zypriotischen Kalksteins werden die Arbeiten verortet und bekommen einen historischen Bezug zur Insel. Alles kann meine Arbeit beeinflussen. Die Motive stammen aus der hiesigen Pflanzenwelt und kamen schon in der antiken Keramik und der Kunst vor, sodass sie zu einer Art standortbezogener Sprache werden. Die Archäologie ist für meine Arbeit enorm wichtig.
Der Hauptdarsteller meiner neuesten Arbeiten ist der einheimische Stein, mein Augenmerk liegt ganz auf diesem urwüchsigen „Einwohner“ der Insel, diesem im Gegensatz zur feinen Oberfläche von Marmor so bescheidenen Material. Ich bin dankbar dafür, dass die Insel mir so viel zu bieten hat und lebe hier mit echter Hingabe. Wie kann Kunst ein Vehikel für die Zusammenführung der verschiedenen Communitys auf einer so vielgestaltigen Insel sein? Kunst ist eine universelle Sprache. Sie kann von jedem gelesen und verstanden werden. Normalerweise nutzen wir sie, um unsere Ängste und Obsessionen mitzuteilen. Eine der wichtigsten Eigenschaften von Kunst ist die Linderung unserer Ängste. Kunst wird von Menschen für Menschen gemacht. Sie handelt von unseren Sorgen und ist somit lebenswichtig für Menschen. Die Herkunft spielt keine Rolle – die Bedürfnisse, Ängste und grundlegenden Fragen des Lebens sind überall gleich.
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Arbeitsintensiv, luxuriös und auf zeitgemäße Art überreich – die Lefkara-Spitzen gehören zu den wichtigsten einheimischen Handarbeitstechniken.
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Die akkurate Stickerei hat eine eigene Geschichte und wird seit Jahrzehnten von den alten Bewohnerinnen der Bergdörfer Pano und Kato
ausgeübt, die diese wiederum gemeinschaftlich an ihre Töchter und Nachbarinnen weitergeben. Die Muster zeigen die Einflüsse der venezianischen
Kaufleute, die im 15. Jahrhundert auf die Insel gelangten. In Nikosias Handicraft Centre, dem Handwerkszentrum, pflegt Vera diese besondere Sticktechnik und gibt ihr Wissen an Interessierte weiter. Anzutreffen ist Vera im Spitzenzimmer, wo sie schweigend Seiden- und Leinentücher bestickt. An manchen Stücken arbeitet sie sechs Monate,
an besonders facettenreichen Stickereien bis zu drei Jahre. Währenddessen sucht ihr Ehemann bei Sammlern im Internet nach alten Spitzen für das Museumsarchiv. Das große Archiv ist für Forscher und Besucher gleichermaßen zugänglich und soll das Wissen über das schöne alte Handwerk lebendig halten.
Die Geburt des Adonis Adonis entstammt der mit dem Fluch der Aphrodite belegten inzestuösen Beziehung zwischen Myrrha und ihrem Vater Kinyras, dem König von Zypern. Nachdem er erkennt, wer seine Geliebte wirklich ist, versucht der wütende Kinyras seine Tochter zu töten. Ihr gelingt die Flucht und die um Hilfe angerufenen Götter verwandeln sie in einen Myrrhenbaum. In der Form des Baumes gebährt Myrrha Adonis, der dann von Persephone, der Königin der Unterwelt, gefunden und aufgezogen wird.
Es gibt auf der Welt keine zweite Stadt wie Nikosia. Sie wirkt wie absichtlich aus Versatzstücken verschiedener Betonviertel des Mittleren Ostens zusammengesetzt. Neben niedrigen verstaubten Häusern mit großen „Zu verkaufen“-Schildern an der Fassade ragen glänzende Hochhäuser in die Höhe. Dazwischen eingestreut stehen gelbe Häuser im Kolonialstil, die mit ihren weißen Säulen antiken griechischen Tempel nacheifern. Das Uneinheitliche der städtischen Architektur ist ein Spiegel des komplexen Geflechts aus zusammengewürfelten Realitäten, der unterschiedlichen Bewohner der engen Wohnviertel, und des Drucks im Umfeld der Grünen Linie. Schlichte Graffiti und Plakate mit knalligen Botschaften bedecken die Häuserwände. In den Gassen ist ein Hauch von unterschwelligem Widerstand zu spüren. Ältere Ladenbesitzer starren die Passanten mit ausdrucksloser Miene an, deren Anwesenheit auf der Straße ihnen nicht zu passen scheint. 62
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Ein Spaziergang durch die Stadt ist ein ganz spezielles Erlebnis. Ladenschilder von vorgestern und muffige Schaufenster vermitteln den Eindruck, als sei im Geschäftsleben die Zeit stehen geblieben. Gleichzeitig sind moderne Bauprojekte das Zeichen einer florierenden Wirtschaft und der großen Nachfrage auf dem Immobilienmarkt. Die Straßen zur anderen Seite der Insel werden kurzerhand von dicken Mauern zerschnitten, vor denen junge Soldaten patrouillieren und sich die Zeit und Langeweile mit Gekicher und Witzereißen vertreiben. Sobald sich jemand dem Posten nähert, weicht ihr treuherziges Lächeln umgehend einer ernsten Miene. Das Stimmengewirr der multiethnischen Bewohnerschaft erfüllt die Straßen. Kypros ambivalenter und ganz eigener Charakter wird von diesem permanenten Gegensatz von Alt und Neu, Fremde und Tradition befeuert und findet seinen Niederschlag auch in den Arbeiten der meisten zypriotischen Künstler.
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Im Atelier der zypriotischen Künstlerin Joanna Louca werden alte Webtechniken aufgegriffen und in die Neuzeit übertragen. Beim Betreten der lichten Werkstatt im Süden Nikosias wird man von aufgereihten Spulen unterschiedlicher Größe und übersichtlich in Metallregalen angeordneten Stoffproben empfangen.
JOANNA LOUCA Drinnen biegen sich die Tische unter den Webexperimenten, dahinter liegen die mit Leinen, Baumwolle und Wolle umwickelten Spindeln. Die bestückten Holzwebstühle sind jederzeit startbereit, um Joannas Muster in Gewebe zu verwandeln. Die Beweise für Joannas Können überziehen die Wände und reichen bis zum Boden. 70
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Als Absolventin der renommierten Londoner Kunsthochschule Goldsmiths College schlägt Joanna mit ihrer Kunst die Brücke zwischen Tradition und Zukunft. Dazu gehören auch Experimente mit innovativen 3M-Materialien wie Nylonfasern in Neonfarben. Kunstausstellungen und Unternehmenskooperationen sollen das alte zypriotische Handwerk in die Welt tragen.
Offenbar besteht eine untrennbare Verbindung zwischen Zypern und dem Vereinigten Königreich, vielleicht aufgrund der gemeinsamen Geschichte der beiden Inseln. Sie haben lange Zeit in London gelebt, bevor Sie sich wieder in Nikosia niederließen. Wie hat diese Dualität Sie beeinflusst? Das Weben ist ein besonderes Verfahren, in dem sich Geschichte ausdrückt und das zu den ältesten Handwerkskünsten auf der Insel gehört. Meine Arbeit findet ihren Anfang in der gründlichen und respektvollen Auseinandersetzung mit den traditionellen zypriotischen Techniken. Außerdem muss man in unserem digitalen Zeitalter unbedingt die handfesten Techniken und Handwerke bewahren, die einst kurz vor dem Aussterben standen.
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In meinen über zehn Jahren in London und der dortigen Kunstszene hatte ich häufig Gelegenheit, mein Wissen als Weberin zu vertiefen und anzuwenden. Durch meine freiberufliche Arbeit konnte ich mich der Weberei unter den verschiedensten Aspekten nähern und allmählich wuchs das Bedürfnis nach einem eigenen Atelier und einer individuellen künstlerischen Ausdrucksweise. Das Atelier funktioniert wie ein Versuchslabor, in dem ich Webverfahren ausprobiere und Weben als räumliche und gedankliche Artikulation und Kommunikation ausübe. Auf Zypern ist es viel einfacher, ein Atelier zu gründen, sowohl räumlich als auch aufgrund der Verfügbarkeit von handwerklich vorgebildeten Mitarbeitern. Seit der Eröffnung 2001 sind wir ständig gewachsen. Das Tempo, das ich bei meinem Wegzug aus
London im Kopf hatte, konnte ich hier tatsächlich umsetzen. Ihre Arbeit ist ganz klar von der althergebrachten Textilherstellung Zyperns beeinflusst. Wo sehen Sie da Ihre Anknüpfungspunkte? Das Weben steht seit jeher für unsere kulturellen Werte. Die Farben, die Muster und die für diese Gegend typischen Kettenbreiten hatten einen enormen Einfluss auf meine Arbeit. Innovative anstelle von herkömmlicher Garne, zusammen mit Hightech-Fäden mit traditionellen Techniken ausgearbeitet, geben Raum fürdas ständige Experimentieren. Bei gewebten Stoffen werden Fäden miteinander verknüpft. Die einfache Bindung ist mehrschichtig, sie ist voller räumlicher Bewegung, die so in keinem anderen Medium machbar ist. Dieser vorgegebene Prozess vom Entwurf eines Musters bis hin zu einem Stück Stoff, das man in der Hand halten kann, hat mich so fasziniert, dass ich mich mit den technischen As-
pekten und Möglichkeiten der Handwerkskunst unbedingt eingehender beschäftigen wollte. Sehen Sie Ihr Atelier als einen Tempel für die Bewahrung alter einheimischer Webtechniken und es als Ihre Bürgerpflicht, diese an die nächsten Generationen weiterzugeben? In erster Linie ist mein Studio mein Tempel. Hier finde ich Seelenfrieden. Hier kann ich alle Informationen, die von außen auf mich einströmen, in einem Textil verarbeiten. Irgendwann möchte ich anderen die Möglichkeit bieten, das Handwerk besser kennenzulernen. Ich spüre es jetzt schon, obwohl ich mit meiner eigenen Arbeit noch so viel zu entdecken habe. Wie gelingt es Ihnen, zwischen Ihrer kommerziellen und künstlerischen Arbeit zu trennen? Oder gehören die beiden unweigerlich zusammen?
„DAS WEBEN IST EIN BESONDERES VERFAHREN, IN DEM SICH GESCHICHTE AUSDRÜCKT UND DAS ZU DEN ÄLTESTEN HANDWERKSKÜNSTEN AUF DER INSEL GEHÖRT.“ 76
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Mit der kommerziellen Arbeit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Sie schafft mir den Raum, ins Atelier zu gehen und mit meinen großformatigen Wandarbeiten zu experimentieren, auch mit Arbeiten, die zwar nicht für einen bestimmten Raum in Auftrag gegeben werden, aber aus denen Neues entstehen kann. Weben ist zeitaufwendig und arbeitsintensiv. Hat Ihnen die Einrichtung des Ateliers in Nikosia geholfen, sich besser mit diesem Konzept des langsamen Lebens zu verbinden? Zypern ist eine Insel, daher herrscht hier ein ganz anderes Tempo als in einer hektischen Stadt wie London. Ich habe mehr Zeit, kann mich im Atelier besser konzentrieren, ohne äußere Ablenkungen wie zum Beispiel eine tolle Ausstellung oder spannende Locations. Natürlich ist häufiges Reisen für mich sehr wichtig, damit ich über das aktuelle Geschehen in der Textil- und Designwelt auf dem Laufenden bleibe. Zypern ist mein Rückzugsort, wo ich mich in meinem Atelier zentriere und meditiere. Welche Beziehung besteht Ihrer Meinung nach zwischen der natürlichen Beschaffenheit und geografischen Lage der Insel und den für Zypern typischen Kunsthandwerkstraditionen? Blickt man auf die Geschichte Zyperns, so war es mal eine Insel mit einer florierenden Seiden- und Baumwollproduktion. Jedes Dorf hatte seinen eigenen Weber oder eigene Weberin mit einem Webstuhl, auf dem Stoffe und Ausrüstungsgegenstände für den
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Alltagsgebrauch hergestellt wurden. Aufgrund seiner geografisch bedeutenden Lage im Mittleren Osten hinterließen wechselnde Fremdherrschaften ihre Spuren auf Zypern. Die zentrale Lage im Mittelmeer hat auf jeden Fall ihre Spuren in den zypriotischen Traditionen hinterlassen. Bei Töpferwaren und Textilien sind die fremden Einflüsse zwar noch klar erkennbar, aber wir haben uns diese angeeignet und sie nach unseren eigenen kulturellen Werten abgewandelt. Um Ihre Frage zu beantworten: Für mich besteht da eine sehr enge Verknüpfung. Inwieweit ist Ihre Kunst eine Hommage an das Land? Von dem, was ich mit meinen Augen in der Landschaft hier wahrnehme, bin ich ganz stark beeinflusst. Die Jahreszeiten sind hier klar ausgeprägt, vor allem der Sommer mit seinen Braunund Sepiatönen und dem typischen mediterranen Ambiente. Daraus speist sich meine eigene Farbplatte. Die Natur war schon immer eine Inspirationsquelle, denn ich fühle mich ihr sehr verbunden, und das geht auch unbewusst in meine Arbeit über. Welche Funktion hat die Webereitradition in der hiesigen Gemeinschaft und wie schlägt sich das in Ihrer Tätigkeit nieder? Meiner Ansicht nach ist das Weben ein ausgesprochen gemeinschaftliches Handwerk, denn an einem unverwechselbaren Stoff sind mehrere Personen beteiligt. Seidenraupenzüchter, die Person, die das Garn spinnt, an eine andere Person, die sich
„MEIN STUDIO IST MEIN TEMPEL. HIER FINDE ICH SEELENFRIEDEN. HIER KANN ICH ALLE INFORMATIONEN, DIE VON AUSSEN AUF MICH EINSTRÖMEN, IN EINEM TEXTIL VERWEBEN.“
hinsetzt und den Stoff webt, und die Stickerin, die ihn in etwas ganz Neues verwandelt. Für mich persönlich ist das Weben keine Tätigkeit für einen allein. Nur mit mir allein, die hinter dem Webstuhl sitzt, würde die Werkstatt nicht funktionieren. Außerdem braucht man schon aus praktischen Gründen gleichzeitig zwei oder drei Leute, um den Webstuhl aufzustellen. Es ist ein Kreislauf. Jeder Faden, jede Webart, jedes Muster erzählt eine Geschichte. Was will die Handwerkerin und Künstlerin hinter dem Objekt beim Betrachter auslösen?
In jedes Objekt fließt ein tiefer Seelenzustand, ein Gefühl, eine Vorstellung, ein menschlicher Austausch ein. All das wird auf eine haptisch wahrnehmbare Oberfläche übertragen, die je nach persönlichem Erfahrungshorizont vom Betrachter gelesen und gedeutet werden kann. Was ich beim Betrachter hervorrufen möchte, ist ein Gefühl, eine Erinnerung, eine Empfindung. Der Webstuhl an sich ist ein Werkzeug, aber die handgewebten Textilien stellen das Zusammenspiel der durchdachten Konzepte und handwerklichen Fähigkeiten des Künstlers dar. Der gemeinsame Sinngehalt, die Verkörperung und Vermittlung kultureller und ästhetischer Werte wird in den Textilien greifbar.
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Urban Während sich im Atelier von Joanna Louca um die traditionelle Volkskunst gekümmert wird, beschäftigen sich die Urban Gorillas in Kaimakli, einem ruhigen Stadtteil im Nordosten von Nikosia, mit dem Begriff des öffentlichen Raums.
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Die „Stadtgorillas“ wollen künstlerische Interventionen auslösen und den verschiedenen ethnischen Gruppen, die innerhalb der Grenzen des heterogenen Bezirks leben, die Teilhabe ermöglichen, indem sie mit den Einheimischen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Funktionen zusammenarbeiten. Ihr Ausdrucksmittel sind Bewegung und Interaktion mit der urbanen Landschaft. Migranten und die ungehörten Stimmen der marginalisierten Einheimischen stehen im Mittelpunkt ihrer Festivals und multidisziplinären Veranstaltungen.
Maria und Elisabet gehören der gleichen Tanzgruppe an. Ihre Tanztechnik reicht von Jazz über zeitgenössischen Tanz bis hin zu Capoeira. Bei beeindruckenden Performances wird ihr Körper zum Instrument für die Auseinandersetzung mit dem Raum.
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Sie möchten wenig genutzte Räume visuell transformieren, die Menschen an die öffentlichen Räume heranführen und Plätze als öffentliche Treffpunkte wiederbeleben. Die Tanzperformances der Festivals dienen dazu, das Konzept der Interaktion zwischen Körper und Raum zu konkretisieren. Durch die Verschmelzung der verschiedenen Disziplinen entsteht eine Art räumlicher Poesie. Die Arbeit der Urban Gorillas ist filmisch nur schwer zu dokumentieren, aber sie unterstreicht die Idee des sozialen Engagements zur Verbesserung der Nachbarschaft und schafft gleichzeitig eine neue Ästhetik.
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Kaimakli ist ein ruhiges Viertel im Norden Nikosias, das für sein dörfliches Aussehen bekannt ist, das allerdings durch die Pufferzone zweigeteilt ist. Hier leben die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und Flüchtlinge aus der ganzen Region.
Pygmalion und Eburnea Wie Ovid erzählt, begann die Geschichte mit einer wunderschönen Elfenbeinstatue einer Frau. Der mythische König Pygmalion verliebt sich unsterblich in seine Schöpfung und schläft jede Nacht neben ihr, in der Hoffnung, dass sie zum Leben erweckt würde. Am Festtag der Aphrodite fleht Pygmalion die Göttin der Liebe an, die Statue Mensch werden zu lassen, damit er sie zu seiner Frau machen könne – was ihm Aphrodite schließlich auch gewährt. Aus dieser Verbindung geht die Tochter Paphos hervor, nach der später die Stadt benannt werden soll, in der ein berühmter Tempel der Aphrodite steht.
Kunst ist in Kypros ein wesentlicher Bestandteil des sozialen Aufstiegs und der Integration, weshalb der Erfolg des Sinfonieorchesters auch nicht überrascht. Seit 1987 besteht das Cyprus Youth Symphony Orchestra, in dem Kinder fundierte Grundlagen für die spätere Karriere als Profimusiker erwerben können. Hier kommen besonders begabte und engagierte Jugendliche im Alter von 9 bis 26 Jahren zum Komponieren dynamischer Melodien zusammen, um das musikalische Erbe der Insel zu fördern und die Insel als Kulturstandort in der Welt bekannt zu machen. Gleichzeitig bieten sie über ihre aktiven Social-Media-Kanäle unbeschwerte Unterhaltung. Kinder allen Alters und Herkunft werden hier zu erstklassigen Komponisten ausgebildet.
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Apollonas ist zwar noch ein Jugendlicher, hat aber schon eine Sinfonie komponiert, die regelmäßig bei den Konzerten des Stammorchesters aufgeführt wird.
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Panayotis spielt Trompete und lebt in einer ruhigen Wohngegend vierzig Minuten von Nikosia entfernt.
Die Zwillingsschwestern Anastasia und Katerina spielen beide das gleiche Instrument: das Waldhorn. Neben den offiziellen Auftritten der Symphoniker treten sie häufig bei lokalen Kulturund Wohltätigkeitsveranstaltungen auf.
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Fotis hat sich schon seit Kindertagen ganz der Geige verschrieben. Sein Talent sichert ihm einen festen Bestandteil im Jugendorchester Kypros.
In Anlehnung an die traditionelle Musiktradition des Landes spielt im Orchester neben den Bläser- und den Perkussionsensembles die Violine eine tragende Rolle. Alle beherrschen sowohl die klassische als auch die zeitgenössische Musik, um auch den anspruchsvollsten Zuhörer zufriedenzustellen. 25 ausgewählte Musiker aus den Streicher-, Blechbläser- und Perkussionsgruppen ziehen bei beeindruckenden Auftritten im Pallas-Theater in Lefkosia und bei verschiedenen Kulturveranstaltungen in ihren Bann. Das kleine Theater befindet sich im Zentrum der kulturellen Seele von Lefkosia und ist die Antriebskraft hinter der Wiederbelebung der Altstadt. Wiederbelebung ist auch das Schlüsselwort für die bäuerlich geprägten Dörfer im Einzugsbereich der größeren Städte wie Nikosia, Limassol und Lefkosia. Um aktive Stadtbewohner mit Bauern und Landbewohnern ins Gespräch zu bringen, veranstaltet Christina Skarpari, Kuratorin und Hochschuldozentin, das „Xarkis-Festival“, mit dem sie von Ort zu Ort zieht und in dessen Mittelpunkt Kunst, Handwerk und Menschen stehen. 95
Teix F/W 2021
CHRISTINA Christina Skarpari ist eng mit dem kleinen Dorf Fyti verbunden, das für seine Stickarbeiten bekannt ist. Schon seit Längerem beschäftigt sie sich praktisch und theoretisch mit der Wiederentdeckung ihres Erbes und verbindet sich mit den ländlichen Gemeinschaften in den Bergdörfern der Insel.
SKARPARI 99
Der Kuratorin und Dozentin an der Londoner Designhochschule Central Saint Martins geht es dabei vor allem um die Umgestaltung der gesellschaftlichen Narrative zur Wechselwirkung von hyperkapitalistischen Systemen und autarken Traditionen. Angeregt durch das Bedürfnis, die in der zypriotischen Kultur weitverbreitete distanzierende Idee des „Anderen“ aufzulösen, rief Christina 2013 das „Xarkis Festival“ ins Leben, das verschiedene Gemeinschaften der Insel mobilisieren und zusammenbringen soll. Welche Verbindung haben Sie zur Insel und wie beeinflusst das Verhältnis zu Ihrer Nationalität Ihre Identität? Liegt dort einer der Gründe, dass Ihr Festival keinen festen Standort hat? Ich bin auf Zypern geboren und aufgewachsen und Zypern-Griechin. Bis zu einem gewissen Punkt hinterfragt ein Teil meines Verstandes die aktuelle Spaltung des Landes nicht mehr. Der andere Teil versucht, sich bewusst zu sein, dass wir aus vielen Aspekten bestehen. Ich versuche, mir des Hellenozentrismus bewusster zu werden und ihn in gewisser Weise zu durchbrechen. Als Kind wurde mir viel über das Leben meiner Eltern auf dem Dorf und ihre Verbundenheit mit der Natur, der Landwirtschaft und den Tieren erzählt. Ich selbst habe das nicht mehr erlebt. Bis Anfang zwanzig kannte ich
das Landleben nur aus Touristendörfern und hatte keinerlei praktische Erfahrung damit. Die entstand eher aus Zufall, aus Neugierde, als ich vor acht Jahren mit dem Korbflechten anfing. Es war ein ziemlich intuitiver Wunsch, mich mit dem Dorfleben und den Menschen dort näher zu beschäftigen und herauszufinden, worin sich unsere Werte und unsere Art zu leben voneinander unterscheiden. Deine Arbeit ist tief in der Tradition, den Bräuchen und den interpersonellen Beziehungen durch den Austausch von Wissen und Handwerkstechniken verankert. Wie wird dadurch das Gemeinschaftsleben gefördert und welche Bedeutung hat diese Art von Dialog für Orte wie Zypern? Für mich bedeutet Gemeinschaft das
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Rain F/W 2021
Das verfallende Dorf Fyti lebt noch immer von seinen Stickereien. Zwei Familien halten das traditionsreiche Handwerk am Leben, indem sie für das Spitzenmuseum landestypische und experimentelle Stücke anfertigen.
Um die jahrhundertalten Fertigkeiten vor dem Vergessen zu bewahren, holt Christina etablierte Künstler aus Nikosia ins Boot und in die Dörfer.
Fyti hat gerade einmal noch 80 Einwohner. Aufgrund der aktuellen Tourismusflaute und den fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten, steht das Dorf womöglich bald vor dem Verschwinden.
Zusammentreffen von Menschen aus „traditionellen“ ländlichen und „nicht-traditionellen“ städtischen Räumen, oder auch zeitlich begrenzten Gemeinschaften oder festen Gemeinschaften, zwischen denen man hin- und herzieht; und nicht nur die Entwicklung von Greifbarem, sondern auch von Werten und Ideen. Wenn das in veränderlichen Gemeinschaften geschieht, dann werden so das Zugehörigkeitsgefühl und die kulturelle Identität gestärkt. Solche Begegnungen haben Gewicht und es kann ein alternatives Paradigma für Orte wie Zypern entstehen.
Ich denke, dass man Nachhaltigkeit erreichen kann, indem man mehr wechselseitige Beziehungen schafft und versucht, integrativ vorzugehen. Die Herausforderung besteht darin, sich immer wieder die Gründe für das eigene Handeln vor Augen zu halten und dass es nicht nur um einen selbst geht. Wenn wir über Gemeinschaft sprechen, sollten wir nicht über „die da“ und „wir“ sprechen, sondern eher über „wir alle“. Was können die jungen von den älteren Inselbewohnern lernen? Was haben Sie persönlich aus diesen Begegnungen mitgenommen?
„ICH MÖCHTE MENSCHEN AUS VERSCHIEDENEN SOZIALEN SCHICHTEN ZUSAMMENZUBRINGEN.“ Ich möchte Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten zusammenzubringen, um Strategien zu entwickeln. Durch aktive, gemeinsame Arbeit lässt sich eine gemeinsame Widerstandsfähigkeit in diesem Bereich erreichen. Es geht um inklusives Zusammenarbeiten – in aller Verschiedenheit. Sie arbeiten direkt an der Basis, um Tradition (Kunsthandwerker) und Innovation (Designer) miteinander zu verbinden und Beziehungen aufzubauen. Wie können solche Initiativen dazu beitragen, eine nachhaltige Lebensgrundlage für die Einheimischen zu schaffen?
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Die Bewohner von Traditionsdörfern haben üblicherweise eine engere Verbundenheit mit den Rohstoffen und der Natur im Allgemeinen. Indem wir unsere Beziehungen zu solchen Vertretern der Tradition ausbauen, eröffnen sich für uns meiner Meinung nach Wege zu einer fortschrittlichen, inklusiven und umweltbewussten Zukunft, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Dabei können wir zum Beispiel viel über das Zusammenspiel von Landleben und umweltgerechtem Leben lernen und wie wir die damit verbundenen Aspekte in unserem Alltag und in veränderlichen Zusammenhängen umsetzen können.
Neben Ökosensibilität und den objektbasierten und handwerklichen Werten bietet die Traditionen auch noch andere immaterielle Werte, die ebenfalls erhaltenswert sind. Dazu gehören Achtsamkeit als Teil des Wohlbefindens, Einfühlungsvermögen, Zusammenarbeit und Gemeinschaft. Diese Werte sind wichtig, vor allem da wir in Zeiten leben, in denen wir uns immer mehr voneinander entfernen. Allerdings ist das Problematische am traditionellen Erbe, dass die Zuschreibung meistens aus einer Machtposition heraus geschieht und somit ein Top-Down-Ansatz konzeptuell unausweichlich ist. Ich möchte solche Strukturen unterbrechen und Wege finden, den Wert des „einfachen Volkes“ zu verdeutlichen und zu würdigen. Ich versuche, einen gleichberechtigten Dialog zu führen, dessen Grundlage eine für beide Seiten nützliche Zusammenarbeit ist, wie zum Beispiel mit Frau Theano und Diamando aus Fyti, oder Domna in Koilani, Eleni und Pambos vom Cyprus Handicraft Service in Nikosia, Nikos und Xenis aus Polystypos und so weiter. Das Ganze ist übrigens sehr zeitkritisch. Wir müssen ganz schnell die gefährdeten Praktiken neu beleben, vor allem weil die Träger des Erbes immer älter und immer weniger werden, und weil die bestehenden Fördermaßnahmen an ihre Grenzen stoßen. Um auf das Xarkis-Festival zurückzukommen, aus welchem Impuls heraus ist es denn entstanden? Wie haben Sie es auf die Beine gestellt und wie wird es von der Community wahrgenommen?
Meine tiefere Auseinandersetzung mit dem handwerklichen Erbe und der ländlichen Lebensweise begann 2013. Zu dem Zeitpunkt war gerade der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Das Festival begann als soziales Experiment zur Erforschung von Nachhaltigkeit und Selbstversorgung in einem hyperkapitalistischen Umfeld. Es ging darum, mit dem zufrieden zu sein, was man hat. Da wir fast keine Förderung erhielten, war es anfänglich ein von vielen Freiwilligen auf eigene Faust organisiertes Fest. Ich besuchte zunächst verschiedene Dörfer, um herauszufinden, was ein guter Ausgangspunkt sein könnte. Dann traf ich mich mit Einheimischen und führte Gespräche, um eine gemeinsame Ebene zu finden. Anschließend habe ich Bekannte aus der Kunstwelt zum Mitmachen überredet. Am Anfang hatten viele so ihre Zweifel an der Machbarkeit. Aber es war ein voller Erfolg! Von der Organisation her gab es logischerweise ein paar Wackler. Es hatte diesen unprofessionellen Charme. Wir hatten zwar keine Ahnung, wie man ein Festival organisiert, waren aber voller guter Absichten. Wie fließt Ihr Engagement vor Ort in Ihre wissenschaftliche Karriere ein und umgekehrt? Ich habe großes Glück, sowohl im akademischen Rahmen als auch praktisch vor Ort zu arbeiten, da sich beides gegenseitig befruchtet. Meine Bachelor-Studierenden am Central Saint Martins in London bekommen von mir die Aufgabe, sich mit globalen Themen auseinanderzusetzen. Dieses Jahr konzentrieren wir uns verstärkt auf die Umweltkrise, allerdings aus einer
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Chryso ist eine der wenigen verbliebenen Käser und Käserinnen für Halloumi-Käse auf der Insel. Ihr Rezept verrät Sie keinem. Neben Honig und Olivenöl gehört Halloumi zu den wenigen Exportartikeln auf Kypros.
Teix F/W 2021
„WENN WIR ÜBER GEMEINSCHAFT SPRECHEN, SOLLTEN WIR NICHT ÜBER „DIE DA“ UND „WIR“ SPRECHEN, SONDERN EHER ÜBER „WIR ALLE“.“ gesellschaftlichen Perspektive, indem wir erkennen, welche Rolle Faktoren wie Klasse, wirtschaftliche Lage und Wohnort spielen und welche Auswirkungen sie haben. Mein anderer Studiengang als Dozentin ist ein Master in Design für soziale Innovation und nachhaltige Zukunft. Der Kurs hat unter anderem den Vorteil, dass die Studierenden ihre Abschlussarbeit in verschiedenen Teilen der Welt erarbeiten. So bekommen sie einen vertieften Einblick in globale Themen. Meine prakti-
sche Erfahrung mit dieser kleinen Insel, die zwar nach dem Gesetz, aber nicht unbedingt geografisch zu Europa gehört, ist wirklich nützlich, weil ich nicht nur die Studierenden anleiten kann, sondern auch von ihren Erfahrungen in anderen Zusammenhängen lernen kann, die oft sogar noch schwieriger sind. Kann Kunst Ihrer Meinung nach die Lage in Ländern mit komplizierten Vergangenheiten und Geschichten – so wie Zypern – verbessern? Menschen haben die bemerkenswerte Fähigkeit, miteinander in Beziehung zu treten, wenn man ihnen die Zeit, den Raum und die dafür nötigen Möglichkeiten eröffnet. Ich denke, dass Kunst, Design und Kunsthandwerk Beziehungen und Situationen nicht nur verbessern, sondern auch verändern können, wenn sie durch sozial engagierte und reaktionsfähige Ansätze erforscht werden. Das gilt insbesondere für Orte, die wie Zypern von einer eher turbulenten Vergangenheit geprägt sind. Durch das Kennenlernen des Gegenübers und des „Anderen“, durch den Austausch von Geschichten und gelebter Erfahrungen und Praktiken, können wir die im Laufe der Zeit entstandenen Lücken abbauen, damit neue Verbindungen und ein besseres Zusammenleben entstehen können.
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Auf dem Weg von Fyti durch die Hügellandschaft der Insel erblickt man zwischen Olivenhainen, kahlgeschorenen Gerstenfeldern und wogenden Palmen eine einsame Kirche in der Wildnis. Ohne Dach und fast ohne Seitenwände ruht Agios Sozomenos einsam in der Mitte eines stillen Tals, wo Himmel und Erde unvermittelt aufeinandertreffen. Dereinst bestand das aufgegebene Dorf aus einem verwitterten und leerstehenden Haus, freistehenden Rundbögen und einer unfertigen Kirche. Heutzutage gedeiht in dieser beschaulichen Gegend nurmehr eine einheimische Giftschlangenart namens Fina.
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Milah F/W 2021
Das Meeresungeheuer von Ayia Napa Das geheimnisvolle Meeresungeheuer, von den hiesigen Fischern auch als „freundliches Ungeheuer“ bezeichnet, soll vor der Küste der Stadt Ayia Napa im Südosten Zyperns leben. Eine Abbildung des Ungeheuers, das oft mit der Figur der Skylla aus der griechischen Mythologie in Verbindung gebracht wird, ist in den Mosaikfragmenten im Haus des Dionysos, einer römischen Villa in Paphos aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., zu bestaunen.
Finas kommen überall in der üppigen Vegetation der Insel und in den hochgelegenen Dörfern vor. Sie leben auf den trockenen Böden der Insel und sind zwar eine Gefahr für die Bauern, aber auch ein wesentlicher Bestandteil des Ökosystems von Kypros. Die Landwirtschaft – auf Kypros seit jeher ein wichtiger Wirtschaftszweig und Versorger einer ländlich geprägten Gesellschaft, die am Rande der Industrialisierung lebt – ist durch den besorgniserregenden Temperaturanstieg und den fehlenden Regen großen Belastungen ausgesetzt. Hochwertiger Wabenhonig, Olivenöl und andere regionale Spezialitäten bilden die Lebensgrundlage der Insel und werden gemeinschaftlich gewonnen. Ihre Herstellung in den abgelegenen Bergdörfern geschieht mit altertümlichen Anbautechniken.
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NICOLAS NETIEN
Nach vielen internationalen Zwischenstationen brachte vor acht Jahren ein Projekt in der UN-Pufferzone den Biotechniker Nicolas Netien von Frankreich nach Zypern – seitdem ist er geblieben. Es gelang ihm, ein besonderes Verfahren nach den Gesichtspunkten der Permakultur zu entwickeln, mit dem sich die gesündesten Olivenbäume weltweit kultivieren lassen. 120
Karst F/W 2021
Mit seinem aktuellen Projekt will Nicolas den durch Klimawandel und falsche Umweltpolitik entstandenen Raubbau an der Natur beheben, schließlich können Mensch und Natur an einem Ort wie Zypern nicht ohne einander leben. Derzeit baut er einen nachhaltigen Landwirtschaftsbetrieb auf, bei dem vor allem das Bienenwohl im Vordergrund steht. Eine vielfältige Pflanzenwelt ist einer der Gründe, dass hier von einem Imkermeister hochwertiger Honig produziert wird.
Weshalb und wie lange leben Sie schon auf Zypern? Ich kam 2013 wegen eines Projekts in der UN-Pufferzone hierher. Ich sollte eine agro-ökologische Olivenplantage aufbauen. Wir fingen bei null an und bepflanzten 40 Hektar Land nach den Grundsätzen der Permakultur. Die Rede ist vom Olivenhain Atsas, dessen Öl den Weltrekord für das gesündeste Öl hält. Wie haben Sie das geschafft? Das Geheimnis für einen gesunden Pflanzenanbau ist die Nährstoffversorgung, genau wie beim Menschen.
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Wenn alle Nährstoffe vorhanden sind, dann verbessert sich das Immunsystem. Für eine gute Nährstoffversorgung braucht es eine Symbiose mit den entsprechenden Bodenmikroorganismen. Ein funktionierendes Bodenökosystem versorgt den Baum mit allen Spurenelementen, damit ein herausragendes Erzeugnis entsteht. Die Permakultur ist weit mehr als nur ein landwirtschaftliches Anbauverfahren, sie ist eine Philosophie. Mit ihr kann man in Symbiose mit der Umwelt leben, anstatt sie nur auszubeuten. Jetzt, acht Jahre später, arbeiten Sie an einem ähnlichen, aber noch
viel ehrgeizigeren Projekt: der nachhaltige Landwirtschaftsbetrieb Bio-Solea. Wie kam es dazu und worum geht es diesmal? Die Idee dazu hatte Cristosantos Agiyanis, der Besitzer des Grundstücks, schon 2012. Er kaufte in Galatea vier Hektar Land, um das Gebiet zu regenerieren und mit einem Landwirtschaftsbetrieb eine Lebensgrundlage zu schaffen. Als er dort während der Pandemie mehr oder weniger festsaß, kam ihm die Idee, doch gleich mit dem Ausbau loszulegen. Wir stehen aber noch ganz am Anfang. Das eigentliche Ziel ist die Förderung der biologischen Vielfalt und einer widerstandsfähigen Umwelt. Das ist uns ein echtes Anliegen, in das wir viel investieren. Einige der Pflanzen, die auf dem Gelände wachsen, sind hier nämlich nicht ursprünglich beheimatet, wie zum Beispiel die Kiefern. Diese sind besonders problematisch, weil sie eine Brandgefahr darstellen. Die wurden von Ortsfremden als Baumaterial angepflanzt und wir müssen jetzt sehen, wie wir mit ihnen klarkommen. Wir versuchen, den Wachstumsprozess der Pflanzen zu beschleunigen, indem wir unseren eigenen Kompost entwickeln, der speziell auf jede einzelne Pflanze zugeschnitten ist, denn jede ist anders und benötigt andere Nährstoffe. Inwiefern bereichert das die Menschen vor Ort und ebnet den Weg für die nachkommenden Generationen von Zyprioten? Wir arbeiten im Einklang mit der Natur, damit fruchtbare landwirt-
schaftliche Ökosysteme entstehen, die hochwertige Erzeugnisse hervorbringen, die gesund für den Menschen und positiv für die Umwelt sind. Es sollen ganzheitliche Räume für die kommenden Generationen entstehen, an denen man mehr über die Natur erfährt und lernt, sie zu respektieren, zu lieben, zu schützen und in Harmonie mit ihr zu leben. Unsere Arbeit hat Auswirkungen auf die Umwelt: Wir erhöhen die biologische Vielfalt und verringern mit unserem Brandschutzmanagement das Brandrisiko. Wir erhöhen die Wasserrückhaltefähigkeit des Bodens und stärken so die Klimaresilienz. Unser Antrieb ist die Liebe zur Natur und der Wille, unsere Umwelt und ihre Artenvielfalt zu schützen und wiederherzustellen. Wir wollen als Beispiel für nachhaltiges Wirtschaften vorangehen und neue Impulse in der Region setzen. Welche Rolle spielt die Natur im Leben der hiesigen Bevölkerung? Die Natur ist nie weit weg, sowohl räumlich als auch gedanklich. Die meisten Zyprioten betrieben vor ein oder zwei Generationen noch selbst Landwirtschaft und haben daher eine starke Bindung an die Dörfer und Felder ihrer Familie. Das Tolle hier sind die sehr unterschiedlichen Landschaften: Innerhalb eines Tages können Sie sowohl im Schnee in den Bergen Spaß haben als auch an einem schönen Strand schwimmen gehen. Außerdem hat Zypern das vielfältigste Bodenökosystem weltweit.
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„DAS EIGENTLICHE ZIEL IST DER AUFBAU VON BIOLOGISCHER VIELFALT UND EINER WIDERSTANDSFÄHIGEN UMWELT.“ Was haben Sie auf der Insel gefunden, was es in Ihrem Heimatland nicht gab? Es gibt diese Redensart, dass der Prophet im eigenen Land nicht viel gilt. Ohne die Menschen hier hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt, an so bedeutenden Projekten zu arbeiten. Wie stark vernetzt sind Sie mit den Einheimischen? Verlassen Sie sich bei Ihrer Arbeit auf das Fachwissen der hiesigen Landwirte oder funktioniert das eher wie ein Austausch? Wir sind in der Gemeinschaft fest verankert, denn die meisten unserer Mitarbeiter kommen aus den umliegenden Kleinstädten. Jeder kennt uns. Es ist ein kleiner Ort. Die Bergdörfer Zyperns sind fast ausgestorben. Wir tragen also dazu bei, dass die Gemeinden auf nachhaltige Weise wieder wachsen. Sobald der Betrieb fertiggestellt ist, gibt es viele Arbeitsplätze für die Menschen aus der Gegend. Allein unsere Produktion versorgt unsere 150
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Mitarbeiter das ganze Jahr über mit Nahrung und bietet ihnen eine Lebensgrundlage. Sie helfen uns, wir helfen ihnen. Das ist ein Geben und Nehmen. Sie arbeiten an der Eröffnung von Jugendbildungszentren zu den Themen Umwelt, Biologie und Ökosysteme sowie an einem botanischen Garten. Werden dort auch Förderprogramme zur Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Insel angeboten? Um ein Bildungszentrum wie unseres erfolgreich aufzubauen, muss man Kontakte knüpfen und die Leute da draußen kennenlernen und Wege finden, um die Gemeinschaften miteinander zu vernetzen. Das hier ist eine Insel mit vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Jeder ist bei uns willkommen. Die einzige echte Grenze hier ist das Meer. Außerdem ist ein Programm, das für ein Verständnis der Natur wirbt, ohne die Vermittlung von Mitgefühl, Liebe und Respekt für die Umwelt als Ganzes eigentlich nicht denkbar.
„DIE NATUR IST NIE WEIT WEG, SOWOHL RÄUMLICH ALS AUCH GEDANKLICH. DIE MEISTEN ZYPRIOTEN BETRIEBEN VOR EIN ODER ZWEI GENERATIONEN NOCH SELBST LANDWIRTSCHAFT UND HABEN DAHER EINE STARKE BINDUNG AN DIE DÖRFER UND FELDER IHRER FAMILIE.“
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Auf Bio-Solea wird der Honig nicht gefiltert. Die Herstellung verläuft komplett nach biologischen Kriterien. Die Einhaltung ethischer Kriterien sorgt für eine nachhaltige Bienenzucht.
Mit den kräftigen Sepiatönen und der Süße des herrlichen Honigs weckt eine Reise durch Kypros das Verlangen nach mehr. Das überreiche Erbe bleibt im Gedächtnis haften, ohne, dass man mit Eindrücken erschlagen wird. Die komplexe Zivilisationsgeschichte mit THE WALKING SOCIETY
ihrer Schichtung fühlt sich wie eine Reise durch die Jahrhunderte im Querschnitt an. Erst durch die entspannte Atmosphäre der Entschleunigung landet man wieder in der Gegenwart und erkennt, wo man sich befindet: auf einer Mittelmeerinsel.
KYPROS
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Die PentadaktylosBergkette und die Riesen Der Legende nach entstand die Pentadaktylos-Bergkette vor Jahrmillionen, als die Erde von Riesen bevölkert war. Während eines Streits warf ein Riese eine Handvoll Steine auf seinen Widersacher, die jedoch das Ziel verfehlten und auf einem Hügelkamm landeten. So entstand die „Fünf Finger“ genannte Felskette, deren Form wie eine geballte Faust aussieht.
Redaktion und Erstellung Alla Carta Studio Brand Art Director Gloria Rodríguez Magazine Fotografie: Olgaç Bozalp Illustrationen: Lulu Lin Texte: Naomi Accardi Herstellung: Hotel Production S.26-27 Einzelbilder von Fele La Franca Videos Regie: Fele la Franca Redakteur: Claudio Di Trapani Kameramann: Andrea Nocifora Musik: Dirt O'Malley Mit besonderem Dank an: Maria Anaxagora Constantinos Economides Cyprus Youth Symphony Orchestra Polys Peslikas camper.com © Camper, 2021
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