Ausgabe 27
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April 2007 | 3,00 €
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Zeitschrift für Ethnologie
Cargo 2.0
Leipzig: seltsame Sitten und Gebräuchen der Lindenauer
Abfallentsorgung in Indonesien
Feldforschungserfahrungen aus zwei Mayadörfern
Editorial
Editorial – Der CARGO Kult lebt weiter
M
anchmal dauert es länger als erwartet bis das Erhoffte wieder aufersteht. Nach mehr als drei Jahren lebt der Kult wieder auf, die CARGO ist zurück. Alles Begann mit einem Aufruf aus Göttingen an alle Ethnologieinstitute und seine Studenten im deutschsprachigen Raum. Man begab sich auf die Suche nach Studenten und Interessierten, die in die Tasten hauen würden, die, wie in den 26 Ausgaben zuvor, ihren Gedanken freien Lauf lassen würden um eine bunte Mischung ethnologischer Inhalte zu kreieren. Diese Idee aus Göttingen vermischte sich mit dem Wunsch hallensischer Studenten eine ethnologische Zeitschrift herauszugeben und wurde somit zum fruchtbaren Gemeinschaftsprojekt. Die nächsten Seiten sind nun also das Produkt dieser Gedanken. Mehr zur Geschichte der CARGO erzählt Roland Drubig, Mitbegründer der CARGO- Bewegung von 1980, im nachfolgenden Artikel. Mit vielen neuen Ideen und Vorstellungen ist die Redaktion der vorliegenden Ausgabe an die Arbeit gegangen. So sollten einerseits die alten Strukturen der CARGO wieder hergestellt werden, andererseits aber auch versucht werden der Zeitschrift ein neues Gesicht zu geben wobei das Logo und das Konzept, wie bei den letzten 26 Ausgaben erhalten wurde. Die CARGO als Plattform und Forum der EthnologiestudentInnen, auf der Ideen ausgetauscht werden, Diskussionen Anregungen finden und eigene Artikel und Gedanken Platz zu Veröffentlichung finden. Mit der vorliegenden Ausgabe wurden Kategorien gebildet, die Inhalte zusammenfassen und in den nächsten Ausgaben wiederkehren könnten. So stehen am Anfang der Ausgabe die Beiträge, die sich ethnologischen Themen aus einer wissenschaftlichen Betrachtung nähern. Hier soll sich weiterhin eine Bandbreite an Themen nebeneinander gesellen und so sind auch in dieser Ausgabe vom Fußball in Benin bis zu Müllsammlern in Indonesien nicht nur unterschiedlich regionale Schwerpunkte vertreten. Michael Schweßinger lädt mit „In darkest Leipzig“ zu einem ethnologischen Spaziergang nach Leipzig ein und Maja Tabea Jerrentrup zeigt an Hand von Plakatwerbung die Strategien und Motivationen von Spendenaufrufen für wohltätige Zwecke auf. Darauf folgen Reiseberichte und Feldtagbuchfragmente, die einen besonderen Einblick auf verschiedene Themen ermöglichen. Philipp Artus etwa wird sich seiner Rolle im Feld bewusst und Susanne Hartmann weißt auf die unterschiedlichen Formen von Feldzugängen hin. Mit einer Reise in die Wirklichkeit lockt Gereon Janzing seine Leser in den mittleren Osten. Ein weiteres Ziel war es der Cargo wieder mehr studentische Inhalte zu geben. So sollen über Institutionen, Veranstaltungen und Netzwerke berichtet werden - Die CARGO will informieren. Aber das ist noch nicht alles. Mit der CARGO besteht wieder die Möglichkeit alle Ethnologiestudenten durch Redaktionen im ganzen deutschsprachigen Raum zu vernetzen, so dass die CARGO, wie bei ihrer Gründung, ein Produkt verschiedener Studenten und Institute werden kann. Revitalisiert wartet sie darauf von vielen interessierten EthnologInnen oder die an der Ethnologie Interessierten, gelesen zu werden. Die Ausgabe 28 steht schon in ihren Startlöschern und soll im nächsten Semester (Oktober 2007) erscheinen. Der Redaktion ist es wichtig, dass die Zeitungen alle Interessierten erreicht. Dies ist natürlich nur mit Hilfe möglich und wir hoffen hier vor allem auf die Verteilung des Wissens über die Mund-zu-Mund Propaganda. Die Inhalte sollen auch für die nächsten Ausgaben wieder reichlich gefüllt werden. Dafür müssen auch in Zukunft Beiträge geschrieben und eingesendet werden. Der Kult ist zurück und erwartet viele die mithelfen ihn wieder wachsen zu lassen. Katharina Iffland & Norman Schräpel
Cargo 27 April 2007
Inhalt Kurze Reminiszenz an die Ursprünge der Cargo 5 Roland Drubig
Ethnologie. Was ist das? Von A, wie Aids, bis V, wie Völkerkunde
7 7
Anett Schädlich
Artikel Schwarze Kinderaugen und weiße Westen Darstellungen in der Plakatwerbung für wohltätige Zwecke
8 8
Maja Tabea Jerrentrup
Fußball zwischen Bolzplatz und Stadion Beobachtungen aus Parakou, Benin
15
Lutz Scharf und Tilo Grätz
In darkest Leipzig. Von den seltsamen Sitten und Gebräuchen der Lindenauer.
21
Michael Schweßinger
Indonesiens informelles Abfallentsorgungssystem und die die es am Leben erhalten
Schwarze Kinderaugen und weiße Westen S.8
24
Anna Fünfgeld
Frisch vom Feld Eine Reise in die Wirklichkeit
27 27
Gereon Janzing
Von ungeahnten Einflüssen des Feldforschers
30
Philipp Artus
Von einer, die auszog, eine ethnographische Feldforschung zu unternehmen 32 Susanne Hartmann
Panorama Ethnologie 35 Moving Anthropological Student Network 35 Benjamin Hirschfeld
Studentische Symposien der Ethnologie 38 Tübingen, Halle, Münster, Göttingen
Fußball in Benin S.15
Valerie Gräser
Ethnologie studieren! 41 Salve Bakkalaureus 41 Über den neuen BA-Ethnologie in Halle © Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Boris Wille
Interview mit Damiel Dahm: „Die Auftrennung der Wirklichkeit“ 45 Hendrik Konzok
Institutionen für Ethnologie 49 Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung 49 Bettina Mann
Institut für Ethnologie Halle
50
Philipp Humpert und Norman Schräpel
Rezensionen Wie Einführungen einführen
52 52
Norman Schräpel
Kalender/Impressum
Cargo 27 April 2007
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Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung S.49
Die Ursprünge der Cargo
Roland Drubig
Kurze Reminiszenz an die Ursprünge der Cargo
A
ls Thomas Hauschild (1995: 42f) in seinem einführenden Beitrag zur Ethnologie im Dritten Reich etwas despektierlich die Ethnologiestudierenden der 1970er Jahre als „sich selbst überlassene Schlüsselkinder“, deren Selbstgefühl zwischen Aufbegehren, Unsicherheit und Beklemmung schwanke, titulierte, brachte er auf den Punkt, was für die 80er und die beginnenden 90er Jahre gleichermaßen zutreffen sollte: Die offizielle Völkerkunde strich angesichts der enormen Zahl an Ethnologiestudierenden in dieser Zeit die Segel und verstand ihre Disziplin nur mehr als ‚Bildungsangebot‘ ohne Aussicht auf eine werthaltige akademische Ausbildung. Hauschilds Schätzung nach müssen in diesem Zeitraum bis zu 50.000 Menschen ihr Ethnologiestudium angesichts der Perspektivlosigkeit des Studiums für ihr späteren Lebensweg abgebrochen haben, ohne dass dies nennenswerten Einfluss auf das Gebaren der etablierten VertreterInnen des Faches gehabt hätte. Wen wundert es also, dass sich die „Schlüsselkinder“ mit den in den Hörsälen unterrepräsentierten Theorieansätzen des Fachs wie den Marxismus, der action anthropology, der Ethnopsychoanalyse, der Kritische Theorie, der Visuelle Anthropologie, der postmodernen Wissenschaftskritik, der Feministischen Anthropologie, der Europäischen Anthropologie oder der politischen Anthropologie beschäftigten und für die Interpretation ihrer eigenen Realität nutzten. Doch dabei blieb es nicht, spätestens mit der Organisierung des sogenannten „Ethno-Treffs“ um das Jahr 1979 herum, entstand ein relativ freier Raum, in dem die Themen diskutiert werden konnten, die in der herrschenden Völkerkunde nur wenig Beachtung fanden. Doch vor allem erfuhren die Teilnehmenden aus erster Hand wie es in den anderen Völkerkundeinstituten im deutschsprachigen Raum so zuging, welchen Schwierigkeiten Fachschaftsarbeit ausgesetzt ist und wer mit wem nicht oder vielleicht doch kann. Die ganzen 80er und 90er Jahre hindurch organisierte jeweils eine andere Fachschaft an ihrem Ort dieses einwöchige Treffen und bot so die Gewähr, dass Diskussionen über Ethnologie auch außerhalb der Institute und Fachkongresse möglich sind. Aus diesen Treffen ist schon sehr frühzeitig, 1980, das
Projekt Cargo – Zeitschrift für Ethnologie hervorgegangen, um ein Netzwerk und Forum von Informationen und Meinungen der einzelnen Ethnologieinteressierten an den verschiedenen Instituten aufzubauen. Und so lesen wir im Vorwort der ersten Cargo-Nummer: „Liebe Ethnos, hier ist sie nun, die „Überregionale Zeitung“ der Ethnologiestudenten. Was als fixe Idee auf dem Tübinger Ethnotreff in den Raum geworfen wurde, nahm in mühseliger Kleinarbeit langsam Gestalt an, und Dank der Hilfe von ein paar Idealisten liegt die fertige Cargo vor euch. Was sie ist und was sie nicht ist – beurteilt es selbst; sie ist auf jeden Fall das Produkt Eurer (Nicht-)Aktivitäten, und damit so gut oder so schlecht, wie die Resonanz Eurer eigenen Fachschaften.... Die Cargo soll in Zukunft einmal pro Semester erscheinen, und zwar jeweils in einer anderen Universitätsstadt.“ Die mühselige Kleinarbeit und die Aufforderung zur Mitwirkung blieb beherrschendes Element der Editorials der weiteren Ausgaben, ebenso wie die beständige Suche nach finanziellen Mitteln für den Druck und auch der angestrebte Erscheinungsturnus konnte eigentlich nie eingehalten werden. Was aber gelang, war die wechselnde Redaktion: Studierende aus Berlin, Tübingen, Mainz, Köln, Wien, Hamburg, Göttingen, Freiburg/Br., München, Marburg, Frankfurt/M und Heidelberg engagierten sich jeweils für das Erscheinen der Zeitung und achteten darauf, dass die abgesprochenen Inhalte, niedergelegt im Vorwort zur ersten Nummer, mal mehr mal weniger ihren Platz fanden: „Was unbedingt rein soll: • Vorlesungsverzeichnis • Lehrkörper, Lehrbeauftragte • Liste von abgeschlossenen und im Verfahren stehenden Magisterarbeiten/Dissertationen • Studienbedingungen/-anforderungen, Zulassung für Anfänger? Für Wechsler? Bzw. Studienplatztausch • evtl. interne Entwicklung des Instituts und Zukunftsaussichten
Cargo 27 April 2007
Die Ursprünge der Cargo • ohne Zensur • aber mit Anspruch
Die Cargo Nr. 20 in einem Format, dass jeder Bibliothekennorm zuwiderläuft
Was rein kann: • Artikel über die theoretische Debatte innerhalb der deutschen und internationalen Ethnologie (neue Strömungen/ Tendenzen, Einschätzungen, Zukunftsaussichten, Arbeitsbedingungen/-möglichkeiten für Ethnologen u.v.m.) • Artikel über inhaltliche Spezialthemen der Ethnologie (Berichte über Exkursionen, Referate, Buchbesprechungen, Kritiken am Studium der Ethnologie etc.) • Ethnopoesie (Gedichte, Geschichten, Reisebeschreibungen, Bilddokumentationen usw.) • Ethnomalerei (Karikaturen, Zeichnungen, Fotos, Drucke) • Informationen aller Art bzgl. der Ethnologie“ Und so bieten die einzelnen Ausgaben einen interessanten Überblick wie in den 80er und 90er Jahren seitens der Studierenden ihre Perspektiven in den Instituten und ihre eigenen Berufsaussichten als Ethnologen/innen wahrgenommen wurden, welche theoretischen Ansätze und Debatten sie besonders ansprachen und welche Aspekte der Kulturtechnik 'Layout und Druck' sie favorisierten. So war es noch einer extra Erwähnung wert, dass Cargo Nummer 15 gänzlich am PC erstellt worden war, während die Nummer 20 in einem Format erscheinen sollte, das jeglicher Bibliotheksregalnorm zuwiderlief. Cargo sollte halt auffallen und so textete die Redaktion der Nummer 23 aus dem Jahr 1999: „Cargo die einzigartige ethnologische Zeitschrift, die sich ihren Charme seit 22 Ausgaben bewahrt hat. Cargo das vollendete Chaos: seit 15 Jahren ohne feste Redaktion, seit 15 Jahren gut: • ohne Hierarchien • offen für alle (bei uns dürfen sogar Profis schreiben)
Cargo 27 April 2007
Cargo die Institution ohne Institution bleibt etablierte Nicht-Etabliertheit. Wer wissen will, was inner- und außerhalb ethnologischer Institute und Institutionen läuft abonniert Cargo jetzt!!!“ Zu diesem Zeitpunkt war allerdings das Fachschaftsnetz zwischen den Ethnologieinstituten schon unterbrochen, viele von denen, die die Cargo mitgestaltet hatten, verdienten ihren Lebensunterhalt außerhalb ethnologischer Bezüge oder befanden sich auf dem (Irr-?)Weg durch die Institution. Drei weitere Nummern konnten produziert werden, aber seit 2003 ruht die Cargo und wartet auf ihre Revitalisierung. Womit wir bei der Frage angelangt sind, warum die Cargo denn nun Cargo heißt bzw. warum Cargo? „Durch den Zusammenprall der Kulturen der Naturvölker mit der europäischen „Zivilisation“ kam es in unzähligen Fällen zu einer schweren Erschütterung, wenn nicht überhaupt zum Zerfall der tradierten religiösen und kultischen Vorstellungen. Vielerorts erfolgte eine Verschmelzung des christlichen (oder islamischen) Gedankenguts mit der manistischen oder animistischen Ideenwelt. So entwickelte sich in Melanesien der sog. Cargo-Kult: Die europäischen Schiffe wurden als Boten aus einer überirdischen Welt betrachtet und ihre Ladungen (=cargo) erschienen den Eingeborenen, da sie ihnen meist nur schwer oder gar nicht zugänglich waren, geheimnisvoll und wurden in gewissem Sinne kultisch verehrt. Abgesehen davon bezeichnet man mit „Cargo-Kult“ eine Reihe von Erscheinungen, die als „Prophetentum“, „Schwarmgeisterbewegung“, „queer religious hysteria“, „madness“ und „political movements“ seit längerem in der ethnologischen Literatur bekannt sind. Das erscheint uns aber genau für die heutige Ethnologie zutreffend, denn dies alles beinhaltet auch sie. Was ist sie sonst, außer „Cargo“? Dass der Vorschlag ausgerechnet von Fritz Kramer kam, tut nichts zur Sache. Als der glückliche Gewinner he can join(t) the circle and celebrate the „cargo“ with us.“ So jedenfalls stand es in der Nummer 1 von Cargo – Zeitschrift für Ethnologie
Literatur: Cargo – Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 1 – 26, 1982ff. Hauschild, Thomas. 1995. »Dem lebendigen Geist.« Warum Geschichte der Völkerkunde im »Dritten Reich« auch für Nichtethnologen von Interesse sein kann. In: Thomas Hauschild (Hg.). Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich. Frankfurt/M (Suhrkamp). S. 13-61. Dr. Roland Drubig (1955) ist Mitbegründer der CargoZeitschrift für Ethnologie, Ethnologe und Industriekaufmann, Trainer für interkulturelle Kommunikation, Projektmanagement, Berater in wirtschaftlichen Unternehmungen und Fundraisingfragen. Seit 1995 ist er in der Geschäftsführung des Instituts für angewandte Kulturforschung IfaK, 1996 – 2005 war er Vorstandsmitglied des VEN, 1998 2004 koordinierte er die Arbeitsgemeinschaft der Landesnetzwerke (AGL) und seit 2005 ist er Vorstandsmitglied der Bildungsgenossenschaft Südniedersachsen e.G.
Ethnologie. Was ist das?
Anett Schädlich
Von A, wie Aids, bis V, wie Völkerkunde
Wir wollten wissen, was Menschen auf die Frage „Was ist Ethnologie?“ antworten Anonym, Warnemünde: „Das ist was Medizinisches. (Pause) Mit Theologie.“
Lothar, Rostock: „Hat das was mit Aids zu tun?“
Herr Gutsche, Bonn: „Das sind die entstandenen Volksgruppen.“
Torsten, Berlin: „Das ist Sprachwissenschaft, oder?“
Anonym, Berlin: „Da denk ich an Afrika. Wegen Ethno-Look.“
Kitty, Rostock: „Das ist die Wissenschaft der Völkerverständigung.“
Albert und Benedict, Rostock: „Das hat irgendwas mit der Erde zutun, wegen ET.“
Anna, Rostock: „Ist das in kurz Ethik? Wenn ja, dann hat das was mit Werten und Normen zu tun.“
Bernhard Kuhsen, Rostock: „Das hat doch mit Völkerkunde zu tun.“
Tilo, Rostock: „Das ist die Völkerkunde.“
Frau Rannike, Warnemünde: „Das ist doch Ethik und Werte des Menschen.“
Jana, Rostock: „Wertelehre, denn Ethos ist von den menschlichen Werte abgeleitet und Logos ist die Lehre.“ Bernd und Ramona, Werder: „Es geht um ethnische Säuberungen und Rassengeschichte.“ Cargo 27 April 2007
Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen
Maja Tabea Jerrentrup
Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen Darstellungen in der Plakatwerbung für wohltätige Zwecke
„W
ir wollen Ihr Geld, Ihre Zeit, Ihre Unterstützung. Und zwar möglichst viel davon“. Das ist die Botschaft, die Werbung für wohltätige Organisationen transportieren muss. Häufig wird sie in Bildern und Schlagzeilen verpackt, die stark abweichen von herkömmlicher Werbung. Sie versucht, auf anderem Weg „ins Gehirn der Masse“ (Gries/Ilgen/Schindelbeck 1995:3) einzudringen und anders zu motivieren. Motivation1 lässt sich als die „Gesamtheit der emotionalen und kognitiven Prozesse kennzeichnen, die Verhalten steuern und antreiben“ (Schneider/Schmalt 1994:16), also als bewusst oder unbewusst erlebter Zustand, der einem Verhalten vorangeht. Wie in der Werbung typisch, aber ganz besonders für das Medium des Plakats relevant, kann Motivation im vorliegenden Kontext v.a. durch die Kunst der Reduktion und Komprimierung erreicht werden: „Nicht der ausführlichen Information dient es [das Plakat] überwiegend, sondern der knappen, unmittelbaren Ansprache, der Überredung durch wiederholte, ständige Konfrontation“ (Kamps 1999:3). Unmittelbare Ansprache funktioniert besonders gut über die Darstellung von Menschen, wobei die Plakate der Werbung für wohltätige Zwecke meist eine Mischung aus individuellem Schicksal und Generalisierung (Vgl. Messaris 1997:198) zeigen. Sie präsentieren i.d.R. Einzelschicksale, die stellvertretend für eine größere Anzahl dem Rezipienten unbekannter Men-
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schen stehen. Für diese Präsentation gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten: Die Werbetreibenden können die Bedürftigen, oder aber die Helfer darstellen. Bei beiden ist wiederum die Vorher- und die Nachher-Situation denkbar: Dort ein nahezu hoffnungsloses Schicksal, oder aber erste Anzeichen von dankbarem Wohlergehen, hier ein wohlhabender Westler mit schlechtem Gewissen, dort der glückliche Helfer. (Potentielle) Helfer und Bedürftige werden auch nicht selten gemeinsam in einem Plakat präsentiert. In diesem Artikel sollen mehrere Plakate, die stellvertretend für Plakatkategorien stehen, vorgestellt werden. Besonderes Augenmerk soll auf mögliche Wirkungen der Plakatmotive gelegt werden. Da Werbung ein Endziel verfolgt, ist die Betrachtung der durch sie erzeugten Motivationen beim Rezipienten besonders wichtig. Auch eventuelle “Nebenwirkungen” sind relevant, zum Beispiel welche Bilder die Rezipienten von dem Anderen, dem Bedürftigen, vermittelt bekommen.
A. Bestandsaufnahme: Typische Bildmotive in der Werbung für wohltätige Zwecke Zur Kategorisierung von Plakatmotiven gibt es zahlreiche Möglichkeiten.
Im Folgenden ist eine thematisch-inhaltliche Einordnung gewählt, weil die Frage nach den erzeugten Motivationen und die Kritik ebenfalls auf inhaltlichen Aspekten beruhen. Die Angaben über Häufigkeiten beziehen sich auf ein Sample von 312 Plakaten für mein Buch „Werbung für wohltätige Zwecke im Medium des Plakats“.
Traurige Kinderaugen - Einzelschicksale Mehr als die Hälfte aller Werbeplakate für wohltätige Zwecke präsentieren Einzelschicksale Bedürftiger (Vgl. Jerrentrup 2005a). Der Klassiker ist das Bild eines exotisch aussehenden, traurig schauenden, hilflosen und einsamen Kindes. Mit einem derartigen Bild wirbt etwa Care (2006) oder Plan (2003). Meistens fungieren die dargestellten Bedürftigen als Emotionsträger. Sie ergreifen auf den Plakaten nicht selbst das Wort, sondern eine fremde Autorität “spricht”, nicht selten in Form einer Aufforderung, wie bei Care: “Schicken Sie Zukunft”. Eine scheinbare Ausnahme bildet das Plakat von Plan (2003), auf dem der Text „Öffne deine Augen für meine Welt. Werde Pate!“ teilweise über das Foto eines Wasser trinkenden Mädchens gelegt ist. Dennoch, auch hier “spricht” keine Bedürftige, denn sie trinkt gerade Wasser, kann also gar nicht das Wort ergreifen. Wie das Wasser sind ihr die Worte nur in den Mund gelegt. Zudem handelt es sich
Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen
Zusammen mit Anne Will von den Tagesthemen soll auch der Rezipient für Afrika spenden. Gemeinsam für Afrika.
um ein kleines, unmündiges Kind, dessen Durst für den elementaren Durst nach Zuwendung stehen mag. Motivation: Die meisten Plakate, die Einzelschicksale zeigen, wollen in erster Linie Mitleid erregen. Mitleid zielt fast schon auf physische Bedürfnisse des Rezipienten, denn er fühlt sich in die Situation des Leidenden ein, leidet mit ihm durch die „Aufhebung der Differenz zwischen ego und alter“ (Visscher 1996:25). Potentielles eigenes, künftiges Leid, gezeigt durch die Darstellung der anderen Person, wird vor allem dann zum Thema, wenn explizite Todesbedrohung dargestellt ist, sei es etwa durch Aids, durch Katastrophen oder durch Alter. „Die öffentliche Skandalisierung des Todes als Zeichen menschlicher Schwäche und Sterblichkeit ist kein Novum. Auch in der Vergangenheit waren Todesfälle, vor allem wenn es sich um ‘nicht natürliche’ Fälle handelte, häufig Auslöser sozialen Engagements“ (Baringhorst 2002:241) und religiöser oder ideologischer Überhöhung als Märtyrer. So verleiht der Verweis auf den Tod dem Rezipienten einerseits Macht über das Leben anderer, zugleich lässt er aber auch durch die Assoziation der christlichen Märtyrer ein Gefühl der Ehrerbietung aufkommen. Kritik: Über die konkrete Situation oder die genauen Bedürfnisse der Betroffenen sagen Einzelschicksal-Plakate normalerweise nichts. Liegt es doch in der Natur des Mediums und seiner flüchtigen Rezeption, dass keine allzu detaillierten Informationen gege-
ben werden können. Die gern gewählte Darstellung von Kindern führt unwillkürlich dazu, dass der Dritten Welt2 Eigenschaften wie „naiv“, „unselbständig“ und „abhängig“ zugesprochen werden. Eine Einladung zur vertieften Reflektion über die Situation Bedürftiger erhält der Rezipient kaum, oft wird nicht einmal gezeigt oder angedeutet, wo sich der Notleidende befindet und warum er in diese Situation geraten ist.
Schwarz und Weiß - Helfer und Bedürftige zusammen Helfer und Bedürftige lassen sich besonders gut gemeinsam zeigen, wenn sie sich optisch deutlich voneinander unterscheiden. Offenbar ist es ein Anliegen oder gar eine Notwendigkeit, dass sogleich klar wird, wer Helfer ist und wer Bedürftiger. Das Miteinander von Menschen, bzw. die Anspielung darauf mittels Farbsymbolik, findet sich in der Auszählung in knapp 10% der Bildmotive. Miseror präsentierte 2000 ein Bild mit einem Gesicht, dessen linke Gesichtshälfte die eines schwarzen, die rechte eines weißen Mädchens ist, welche sich in ihren Gesichtszügen sehr ähneln. Die Betonung liegt also auf Gemeinsamkeiten. Die Aktion „Gemeinsam für Afrika“, die das Wort „Gemeinsam“ sogar im Titel trägt, wählte hingegen eine ganz andere, einfachere Darstellungsweise (2004): Vor dem verschwommenen, großen Bild eines afrikanischen Kindes sieht man eine
deutsche Prominente bzw. einen Prominenten, etwas kleiner, dafür scharf abgebildet. Wohl ungewollt führt das Plakat Zusammenhänge vor Augen: Afrika erscheint als hilfloses Kind, verschwommen und fern, aber übermächtig groß. Obgleich das Kind niedlich ist, kann es allein durch seine Größe eine potentielle Bedrohung darstellen. Die Person im Vordergrund hingegen ist klein, jedoch erwachsen und namhaft. Scharfe Konturen lassen sie wirklicher und tatkräftiger wirken. Verstanden als Metapher wird die Dritte Welt fast bedrohlich groß, jedoch schwach dargestellt, der Westen hingegen als klein aber fähig; beide stehen bezugslos voreinander und weisen keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Der Titel „Gemeinsam für Afrika“ muss so als „Gemeinsam“ zwischen Rezipient und Prominenten verstanden werden, nicht als „Gemeinsam“ von Westler und Afrikaner. „Verzeihung, Ihr Sparschwein hat gerade eine Krankenschwester verschluckt!“ steht auf einem Plakat der Kindernothilfe von 2006. Die Worte „Verzeihung“ und „verschluckt“ sind besonders groß gedruckt. Ebenso werden Passanten von anderen Plakatmotiven der Kampagne darauf hingewiesen, dass an ihren Ohren Brunnen hängen und sie sich mit Schulbüchern eingecremt haben. Es ist eine gesichtsund klanglose Stimme, die anklagt, geradezu beschuldigt. Dinge wie die Körpercreme und der Ohrschmuck werden verurteilt, könnte das Geld doch besser zur Befriedigung der Grundbedürfnisse anderer Menschen
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Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen verwendet werden. Diese anderen jedoch bleiben bei diesem Plakat Fremde, völlig im Unbekannten. Es wird auf jede bildliche Darstellung der Geber oder Nehmer verzichtet und verlangt vom Betrachter ein gewisses Maß an Vorwissen und Abstraktion. Wohlhabend und bedürftig stehen sich in den Worten „Sparschwein“ und „Krankenschwester“, „eingecremt“ und „Schulbücher“ gegenüber, begegnen sich als Alternativen. Die Stimme ist die einer moralischen Instanz, möglicherweise des eigenen Gewissens, welche Nord und Süd zusammenführt. Jedoch kann auch eine Gegenreaktion stattfinden, nämlich Verärgerung darüber, dass eine fremde Instanz, die dann eben nicht vom eigenen Gewissen übernommen wird, dem Betrachter sein Sparschwein oder sein Bedürfnis nach Körpercreme als Zeugnis von Unmoralität darstellen will. Motivation: Auf die beiden erstgenannten, v.a. aber auf das MisereorPlakat, trifft die Aussage von Brigitte Spieß zu: „Die Begegnung von Rassen und Kulturen ist ein beliebtes emotionales und soziales Mehrwertversprechen von Produkten verschiedenster Art“. (Spieß 1995:85) Soziale Bedürfnisse werden angesprochen, aber auch Neugier und Exotik schwingen mit. Eine besondere Rolle spielt gerade bei Gegenüberstellungen, wie in dem Plakat der Kindernothilfe zu finden, das Sicherheitsbedürfnis. Adressiert wird es durch Schuldgefühle wegen der persönlichen Besserstellung des Rezipienten. Die Schuldgefühle aktualisieren das sogenannte Gerechte-Welt-Motiv. Den Psychologen Lerner und Simmons zufolge hat jeder Mensch ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes, mehr oder weniger unbewusstes Bedürfnis, in einer gerechten Welt zu leben: „When a person is confronted with the sight of someone suffering the observer will be compelled to decide that either he lives in a cruel, unjust world where innocent people can suffer or that he lives in a just and good world and the victim deserves his suffering“ (Lerner/ Simmons 1966:209). Menschen wünschen sich also, dass ihre Welt gerecht ist, denn Gerechtigkeit bedeutet auch Berechenbarkeit, bedeutet, dass guten Handlungen gute Ergebnisse folgen und umgekehrt. Ohne ein Mindestmaß an einer derartigen Gewissheit wäre das Leben völlig unkalkulierbar, was als unangenehmer Kontrollver-
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lust empfunden werden müsste. Dieses Bedürfnis nach einer gerechten Welt kann dazu führen, dass unschuldige Opfer sogar charakterlich abgewertet werden können - um die Welt „gerecht“ zu machen. Gerecht machen kann man sie aber auch, indem man unverschuldetes Leid behebt. So ist es auch sinnvoll, dass Plakate nicht von einer ungeheueren Menge Leidender sprechen, sondern i.d.R. Einzelschicksale herausgreifen oder im Textelement zeigen, dass schon ein kleiner Beitrag viel bewirken kann. Nur so kann der Rezipient überhaupt die Möglichkeit sehen, mit seinen begrenzten Mitteln Änderungen herbeizuführen. „Wie beim Textlesen dient auch beim Bildlesen kulturspezifisches kollektives Wissen als Verstehensgrundlage“ (Schmidt 1996:157) und zugleich als Grundlage, auf der die Werbetreibenden aufbauen können. Schuldgefühle gegenüber fremdem, unverschuldetem Leid sind auf besondere Weise in der westlichen Kultur verankert. Westliche Religion und Philosophie gehen davon aus, dass jeder Mensch fundamental gleich gestellt und mit gleichen Rechten ausgestattet ist. In Kulturen hingegen, die von einer anderen Basis ausgehen, etwa von Eigenverantwortung über den Status seiner Geburt durch die Verdienste in früheren Leben, mag das Ansprechen von Schuldgefühlen so nicht funktionieren. Kritik: Die Darstellungen von Nord und Süd in einem Bild verlangen viel Sensibilität. Es ist leicht, mittels Farben alte Denkschemata zu aktualisieren, aber zugleich eine fast sträfliche Verkürzung. Während das Misereorbild trotz Rückgriff auf das Farbschema doch eher Gemeinsamkeiten zeigt, zeugt das Plakat von „Gemeinsam für Afrika“ von westlicher, weißer Dominanz, fast von Arroganz, da ein erwachsener Prominenter einem namen- und hilflosen Kind gegenübergestellt wird. Das Infragestellen der eigenen, verhältnismäßig komfortablen Lebenssituation angesichts des Leids in der Welt, v.a. die Darstellung der Kausalität „eigener Wohlstand - Leid der Welt“ mag vom Rezipienten leicht als unfair empfunden werden und zu Verärgerung führen. Auch bedeutet eine Schuldzuweisung, auf Grund derer die Geldüberweisung zu einer Art Freikaufen wird, dass das Helfen eher negativ und mit Verzicht besetzt wird, als mit etwas Positivem, wie dem Interesse an
anderen Lebensweisen.
Ich kann… und will - Die Helfer In knapp einem Fünftel der Einzelschicksal-Motive begegnen uns nicht die Bedürftigen und nicht die Darstellung eines Miteinanders, sondern allein die Helfer. „Ich kann“ ist die Schlagzeile von Amnesty International-Plakaten von 2003, die zeigen, dass jeder Mensch trotz all seiner Schwächen eine bedeutende Fähigkeit besitzt, nämlich sich über Amnesty für andere einzusetzen. Ebenso wie die Plakatserie „Abenteuer Menschlichkeit“ des Roten Kreuzes verwendet auch Amnesty mal bekannte, mal unbekannte Personen, was die Unbekannten - stellvertretend für jeden unbekannten Helfer - auf die Stufe der Prominenten erhebt. Amnesty setzt voraus, dass dem Rezipienten die Arbeit der Organisation vertraut ist und er daher nur seine Fähigkeit nutzen muss, diese zu unterstützen. Was jedoch als Fähigkeit dargestellt wird, erweist sich auf den zweiten Blick als Allgemeinplatz: Amnesty helfen kann jeder, könnte man folgern, es ist also nichts Besonderes. Gleichwohl soll es etwas besonders Wichtiges, Bedeutsames sein. Motivation: Derartige Darstellungen sprechen in erster Linie das Geltungsbedürfnis an. Zugleich wird auch das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung aktualisiert, indem Helfen als Teil der persönlichen Lebensgestaltung dargestellt wird. Begleitend zu einigen dieser Plakatserien gibt es Aktionen, bei denen Fragen gesammelt oder weiterführende Informationen bereit gestellt werden. Kritik: Der Fokus der Darstellung liegt nicht auf den Geschehnissen in der Dritten Welt, sondern es sind Westler, die im Vordergrund stehen. Ein vertieftes Verständnis für die Probleme der Bedürftigen ist damit weder beabsichtigt, noch erzielbar.
Automatenaugen und das Hunger-Label Jedes Bildmotiv eines Plakats stellt gewissermaßen eine Stilfigur dar, insofern die Plakatgestalter bemüht sind, eine Idee oder ein Konzept ideal in ein Bild zu kondensieren. Es lassen sich aber auch Stilfiguren im engeren Sinne erkennen, die in ca. 20% der Plakatmo-
Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen
Dem Dunklen Licht spenden - schon Kleingeld hilft, die Augen des Schwarzen zu öffnen. Christoffel-Blindenmission.
tive auftauchen. Die Augen eines Schwarzen auf dem Plakat der Christoffel-Blindenmission (2003) sind durch Geldschlitze ersetzt, eine Darstellung, die auf den ersten Blick schockieren mag und zum Nachdenken anregt. Nicht jede Assoziation wird jedoch in die beabsichtigte Richtung weisen. Der Mann erscheint verdinglicht wie ein Automat. Automaten dienen der raschen, unpersönlichen Art des Zahlens. Nahe beim Automaten liegen die Assoziationen „Fass ohne Boden“ und die Begriffe „verschlingen“, „verschlucken“, „abkassieren“. Auch das Motiv der verschlossenen oder blinden Augen kann unerwünschte Assoziationen hervorrufen: „Blind“ zu sein wird in unserem Sprachraum oft als Substitution für „ahnungslos“ verwendet, für jemanden, der das Offensichtliche nicht
erkennen kann oder will. Dem Schwarzen, so ließe sich schließen, werden damit folgende Eigenschaften verliehen: ahnungslos, hilflos, maschinenartig, nicht menschlich, Geld schluckend. Gewünscht hingegen ist vermutlich die Assoziation der Einfachheit: Geld rein - Ergebnis raus, etwas gespendet, schon kann er wieder sehen, schon ist ihm geholfen und der erste Schritt getan, dass er sich selbst weiter helfen kann. Die Schlitze lassen zudem an Kleingeld denken, an kleine Summen. Dies suggeriert dem Betrachter, dass er mit wenig Geld viel bewegen kann, dass er durchaus Macht hat, die Situation des Schwarzen zu ändern. „Hunger. Addis Abeba. Calcutta. Khartdun“ liest man auf einer Anzeige von World Vision, die von der Gestaltung her Werbung für teure Designer-
mode assoziieren lässt: Eine extrem schlanke Frau in bunter, auf den zweiten Blick abgerissener Kleidung verharrt in einer krabbelnden Pose, die man vielleicht für stylisch halten könnte. Auch dieses Plakat wirft Fragen auf, bewegt seinen Rezipienten dazu, nachzudenken. Das westliche Schlankheitsideal wird ins Groteske gezogen, ebenso wie die extravagante Modewelt sich parodiert sieht. So vereint das Bild Nord und Süd in sich, ohne beide explizit zu zeigen. Es ist ein Vergleich, bei dem sich der Westler unwohl fühlen muss. Doch auch Menschen aus den angesprochenen Städten oder Ländern mögen sich ärgern. Einem Inder würde auffallen, dass die alte Schreibweise des heutigen Kolkata gewählt wurde, die an die Kolonialzeit erinnert. Zudem gilt für viele Inder Kolkata als moder-
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Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen
Gucci? Nein, die Frau trägt Hunger, wird von ihm gar niedergedrückt. World Vision.
ne Metropole, tatsächlich als Stadt, in der indische Modelabel florieren. Eine Gleichstellung der ganzen genannten Städte mit Armut und Hunger muss für Menschen aus diesen Ländern von Unwissenheit und westlicher Großspurigkeit zeugen3. Motivation: Stilfiguren im hier dargestellten Sinne sind oft kreative Spielereien mit Themen, die nicht selten ein Schockelement beinhalten. Derartige Bilder bleiben oft gut in Erinnerung und regen zum Nachdenken an. Meist lassen sie viel Spielraum für Antworten, wenngleich eine natürlich „Helfen“ sein sollte, aber auch „Umdenken“, „kritisch betrachten“ etc. können möglichen Schlussfolgerungen sein. Somit adressieren Stilfiguren beim Rezipienten neben basalen Bedürfnissen wie dem nach Sicherheit oder Sozialkontakten oft auch in Maslows Bedürfnispyramide höher stehende Bedürfnisse, wie die Welt zu verstehen und zu gestalten.
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Kritik: „Ein stark neuartiger Reiz (zieht) zwar die Aufmerksamkeit auf sich; aber eben nur auf sich!“ (Mayer/ Däumer/Rühle 1982:146); vom eigentlichen Werbeinhalt wird u.U. abgelenkt. Ob vom Rezipienten die erwünschten Antworten auf die richtig extrahierten Fragen gefunden werden, ist unsicher. Unter Umständen entstehen falsche Assoziationen. Möglicherweise wird die letzte Botschaft des Plakats - „Wir wollen Ihr Geld, Ihre Zeit, Ihre Unterstützung“ gar nicht verstanden. Beim Anschneiden kritischer Themen führt die für das Medium notwendige Verkürzung u.U. zu Allgemeinplätzen oder ungerechtfertigten „Schnellschüssen“.
B. Auf der Suche nach guten Darstellungsmöglichkeiten Auch wenn für die wohltätigen Organisationen natürlich die Rezep-
tion des westlichen Spenders im Vordergrund stehen muss - denn auf ihn soll die Werbung wirken, ihn soll sie motivieren, sein Geld soll fließen - ist Werbung für wohltätige Zwecke diffiziler als herkömmliche Werbung und muss neben dem Wunsch nach unmittelbarer Wirksamkeit auch weitere Aspekte bedenken. Gerade wenn Menschen gezeigt werden, über deren Lebenssituation wir uns nur rudimentär auskennen, kann jede weitere Darstellung dazu führen, dass sich ein falsches Bild aufbaut, was letztlich auch dem westlichen Rezipienten schadet, indem es seine Weltsicht verkürzt und seine politische Meinungsbildung verfälscht. Christine Mangold spricht bezogen auf die Arbeit in der Werbung von einem „Spagat“: Die Leistungsempfänger sind meist nur als Fotoobjekte in Kampagnen eingebunden, „dürfen dabei aber nicht allzu sehr funktionalisiert werden.“ (Mangold 1999:96)
Schwarze Kinderaugen und Weiße Westen Afrika, ein großes hungriges Kind? Eines der Hauptprobleme liegt in der angemessenen Repräsentation der Bedürftigen und ihrer Situation. Es ist einfacher, die Not in dem Wort „Hunger“ zu fassen, als politische Zusammenhänge darzustellen. Es ist effektvoller, ein leidendes Kind zu zeigen, als einen alkoholsüchtigen, verkommenen Mann in den Dreißigern, dem der Betrachter einen Selbstverschuldungsvorwurf machen könnte. Politisch-wirtschaftliche Zusammenhänge werden entweder ausgeblendet, so dass sich das Plakat nur auf eine meist emotional aufgeladene Momentaufnahme beschränkt, oder es operiert mit simplen Schuldzuweisungen und Schwarz-Weiß-Malereien. So findet sich meist eine binäre Semantik, die Machtverhältnisse paternalistischer Gesinnung assoziieren lässt. Der höhere Wohlstand westlicher Gesellschaften erweist sich dabei häufig als Skandalon, wie Sigrid Baringhorst darstellt. „Die moralische Empörung wird jedoch nicht in eine konkrete politische Dimension übergeleitet: strukturelle Faktoren wie die ungerechte Weltwirtschaftsordnung oder verantwortliche Akteure wie Weltbank, IWF oder die eigene Regierung und deren geringe Solidaritätsbereitschaft bleiben zumindest bei den Spendenappellen der großen NROs ausgeblendet“ (Baringhorst 1998:113)4. Selbstverständlich kann ein einzelnes Plakat nicht umfangreich informieren. Ein sinnvoller Ausweg aus diesem Problem kann es sein, bewusst zu verkürzen, aber zugleich Fragen offenlassen, welche die Verkürzung deutlich machen. Dabei muss das Risiko falscher Antworten in Kauf genommen werden. Michael Schirner zufolge darf man dieses Risiko aber zugunsten der Teilnahme des Rezipienten am kreativen Prozess hinnehmen: „Reduzierte Plakate sind Do-it-yourself-Plakate.“ (Schirner 1999:1770) Derartige Plakate verwirklichen die Bedeutung „Werbung“, etwas wird „bewegt“. Der Rezipient setzt die Bedeutung „advertisement“ - sich (dem Thema) zuwenden - in die Tat um5.
Ich spende gern? Wenngleich Spendeneinnahmen das Hauptziel der Werbenden sind, können sie nicht das einzige darstellen. Zunächst soll der Rezipient sich
ja für eine Organisation entscheiden und dieser nach Möglichkeit treu bleiben. Außerdem nutzt ein Mindestmaß an Wissen über die Dritte Welt den Organisationen, die dann auf diesem Vorwissen aufbauen können. Weiter gefasst ist es natürlich auch im Sinne einer funktionierenden Demokratie, dass Menschen nicht nur auf das Kindchenschema programmierte, gedankenlose Wesen darstellen, sondern möglichst informiert und interessiert an der Gestaltung der Welt mitarbeiten6. Wie zu Anfang dargestellt, verwenden nicht wenige Plakate die Person des Helfers oder zumindest einen Verweis auf ihn als Plakatmotiv. Von einem Mindestwissen über die Situation in der Dritten Welt darf ausgegangen werden, so dass es nicht nötig ist, immer Bilder von dieser zu zeigen. Der potentielle Helfer tritt v.a. in zwei Versionen auf: Als noch nicht Helfender mit plötzlichen Gewissensbissen oder als glücklicher Helfer. Damit sind es zwei unterschiedliche psychologische Motive, die angesprochen werden. Im ersten Fall sind es v.a. Sicherheitsbedürfnisse, im zweiten Selbstverwirklichungsbedürfnisse. Hinzu kommen in beiden Fällen auch Geltungsbedürfnisse, denn es geht um die Macht des Westlers, Unheil zu beseitigen. Einen Westler zu zeigen heißt einerseits, dem Risiko verkürzter Darstellungen aus dem Weg zu gehen, denn die Situation des Westlers ist den Rezipienten geläufig. Gerade, wenn Selbstverwirklichungsbedürfnisse aktualisiert werden, erleichtert das Plakat es dem Rezipienten, Helfen bejahend als Teil seiner Lebensgestaltung zu integrieren, sich dabei aktiv und sinnvoll zu fühlen. Andererseits kann man den Fokus auf die Helfer auch als egoistische Vereinfachung ansehen, die Helfen in die Nähe von Konsumgütern rückt. „Ich rauche gern“ war der Slogan einer Zigarettenmarke, so könnte man diese Plakate unter dem Slogan „Ich spende gern“ zusammenfassen mit dem Unterton: „wem, wie und warum ist eigentlich egal“. „Spenden“ statt „Helfen“ wurde hier absichtlich gewählt, denn das unpersönliche Spenden (Baringhorst 1998:65) scheint dieser Art von Helfen, die den Fokus auf den Westen legt, näher zu liegen.
Anregungen Wie sollte demnach Werbung für wohltätige Zwecke aussehen? Wenn-
gleich eine optimale Werbung mit gutem Effekt und zugleich angemessenem Inhalt wohl fast unmöglich sein wird, lassen sich folgende Anforderungen festhalten: - angemessene Darstellung von Bedürftigen. Es sollte möglichst wenig auf paternalistische Denkschemata zurückgegriffen werden. Schließlich ist auch die Entwicklungszusammenarbeit zu Recht schon lange abgerückt von Ideen der „nachholenden Entwicklung“, die ihre Widerspiegelung in dem unfähigen Dritte-Welt-Kind findet. Der Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“, den sich viele NGOs auf die Fahne geschrieben haben, sollte möglichst auch in der Werbung Niederschlag finden, indem die Bedürftigen nicht länger als völlig hilflos, schwach und unmündig dargestellt werden. Die Suggestion falscher oder arg simplifizierter Fakten und Zusammenhänge sollte vermieden werden, genauso wie auch die plumpe Schuldzuweisung an den westlichen Rezipienten. Verkürzt werden muss selbstverständlich, aber z.B. der Verweis auf eine eventuell sogar interaktive Website mit weiterführenden Informationen und Userforen kann den interessierten Rezipienten zu einer etwas detaillierten Darstellung leiten. - Ansprache unterschiedlicher Bedürfnisse des Rezipienten: Die meisten Plakate zielen nicht nur auf ein Bedürfnis, sondern adressieren stets mehrere und befriedigen sie nach erfolgtem Helfen auch nie ganz, immer nur teilweise. Die grundlegendsten Bedürfnisse sind Maslow zufolge physiologische Bedürfnisse, welche bei der Werbung für wohltätige Zwecke nur in Form von Mit-Leiden ins Spiel kommen. Ihnen folgen Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse und Bedürfnisse nach Geltung und Selbstverwirklichung. Welche Bedürfnisse angesprochen werden, kann ganz unterschiedlich sein. Jedoch ist es sinnvoll, den Hang nach Selbstverwirklichung mit anzusprechen, denn er ermöglicht das Eingliedern des Helfens als (reflektierten) Teil der Lebensgestaltung, während die basalen Bedürfnisse in der Pyramide eher temporärer Natur sind und in einem unreflektierteren Handeln resultieren oder Helfen als unangenehmen Prozess des Freikaufens verstehen lassen. Besonders ergiebig kann diesen Überlegungen zufolge die Kategorie
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Schwaze Kinderaugen und Weiße Westen der Stilfiguren sein. Vereinfachungen kann sie umgehen, indem sie Fragen aufwirft und den Rezipienten zum Nachdenken anregt. Auch die Darstellung des Miteinanders von Nord und Süd kann sinnvoll sein, sofern beide gleichwertig gezeigt werden und eher ein Gefühl von Einheit weckt, als von Paternalismus und damit Betonung der Unterschiede zeugt. Positiv gestimmte, westliche Helfer zu zeigen, aktualisiert in besonderer Weise das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und damit das Bedürfnis nach Gestaltung der Welt. Es birgt allerdings das Risiko, dass die Seite der Bedürftigen weitgehend unter den Tisch fällt. Ein aufschlussreiches Projekt wäre, Bedürftige einmal an der Gestaltung der Werbung teilhaben zu lassen, denn „Entwicklungszusammenarbeit ist ein kulturelles Interaktionsfeld“ (Antweiler/Schönhuth 1997:6 Hervorhebung durch Verf.).
Fußnoten 1 Bisweilen wird der Begriff „Mo� tiv“ gleichwertig mit dem der „Motivation“ verwendet. 2 Die Bezeichnung „Dritte Welt“, die 1961 durch Frantz Fanons Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ als Begriff für die ehemals kolonialisierten Länder aus dem Französischen in andere Sprachen einge� führt wurde, ist nicht unproblematisch: So erweckt sie etwa den Eindruck einer nichtvorhandenen Einheit dieser Länder. Eine Zeit lang wurde „Dritte Welt“ nur mit einem „so genannte“ davor verwendet. Doch auch alternative Begriffe werden kritisiert: Die Bezeichnung „Entwicklungsländer“ z.B. suggeriert eine Entwicklung, die de facto kaum stattfindet. Zumindest ist beim Begriff der „Dritten Welt“ recht klar, was gemeint ist, nämlich die ärmeren Länder, in denen der Lebensstandard deutlich niedriger liegt als in den industrialisierten Ländern. 3 Für ein Beispiel mangelnder kul� tureller Sensibilität in kommerzieller Wer� bung vgl. Spitzing 1985:217f. 4 NRO steht für Nicht-RegierungsOrganisation. 5 Näheres zum Begriff „Wer� bung“ und seiner Etymologie in Jerrentrup 2005a:17 ff. und Jerrentrup 2005b:10 ff. 6 Dazu zählt auch, dass Unterstüt� zungsmaßnahmen für die Dritte Welt von Seiten der Regierung in der Gesellschaft auf positiven Widerhall stoßen bzw. sogar von Seiten der Gesellschaft entsprechende Anstö� ße kommen.
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Literaturangaben Antweiler, Christoph & Michael Schönhuth 1997. Entwicklungsethnologie: Kritische Bilanz und Perspektiven. Entwicklungsethnologie 6 (2). Baringhorst, Sigrid 1998. Politik als Kampagne: zur medialen Erzeugung von Solidarität. Opladen: Westdeutscher Verlag. Baringhorst, Sigrid 2002. Sweet Charity. Zum moralischen Ethnos zeitgenössischer Sozialkampagnen. In PRKampagnen: über die Inszenierung von Öffentlichkeit, hg. von Röttger, Ulrike. Wiesbaden: Vs-Verlag, 235-256. Gries, Rainer, Volker Ilgen & Dirk Schindelbeck 1995. „Ins Gehirn der Masse kriechen!“: Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Jerrentrup, Tabea 2005a. Werbung für wohltätige Zwecke im Medium des Plakats. Nordhausen: Bautz-Verlag. Jerrentrup, Tabea 2005b. Abwenden? Plakatwerbung für wohltätige Zwecke - eine Analyse. Stuttgart: Ibidem-Verlag. Kamps, Johannes 1999. Plakat. Tübingen: Niemeyer. Lerner, M. J. & C. H. Simmons 1966. Observer‘s reaction to the „innocent victim“: Compassion or rejection. Journal of Personality and Social Psychology 14: 203-210. Mangold, Christine 1999. Agenturen. „Tränendrüse nicht gefragt“. werben & verkaufen 14: 96. Mayer, Hans, Ute Däumer & Hermann Rühle 1982. Werbepsychologie. Stuttgart: Poeschel. Messaris, Paul 1997. Visual persuasion: the role of images in advertising. Thousand Oaks [u.a.]: Sage. Schirner, Michael 1999. Kommunikative und ästhetische Funktionen des Werbeplakats. In Medienwissenschaft: ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Bd.II, hg. von Leonhardt, Joachim, et al. Berlin [u.a.]: de Gruyter, 1766-1770. Schmidt, Siegfried J. 1996. Die Welten der Medien: Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung. Braunschweig [u.a.]: Vieweg. Schneider, Klaus & Heinz-Dieter Schmalt 1994. Motivation. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer. Spieß, Brigitte 1995. Ohne Fremdes nichts Eigenes. In Werbung, Medien und Kultur, hg. von Schmidt, Siegfried
J. & Brigitte Spieß. Opladen: Westdeutscher Verlag, 79-84. Spitzing, Günter 1985. Fotopsychologie: die subjektive Seite des Objektivs. Weinheim [u.a.]: Beltz. Visscher, Anja 1996. Zur Identifikation als Form medialer Wahrnehmung von Personen und Figuren. Stellungnahme zu dem Beitrag von Angela Keppler. In Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen, hg. von Vorderer, Peter. Opladen: Westdeutscher Verlag, 25-28.
Veröffentlichungen von Maja Tabea Jerrentrup (in Auswahl): Jerrentrup, Tabea (2002): Zurück zum Stamm – Tribal Dance als neues Lebensgefühl. Musik-, Tanzund Kunsttherapie Jg.13,4:169-177 Jerrentrup, Tabea (2005): MedienMacht. Berlin: WiKu-Verlag Jerrentrup, Tabea (2005): Werbung für wohltätige Zwecke. Nordhausen: Bautz-Verlag Jerrentrup, Tabea (2005): Abwenden? Plakatwerbung für wohltätige Zwecke - eine Analyse. Stuttgart: Ibidem-Verlag Jerrentrup, Tabea (2006): Glitzer. Aspekte zur Soziologie und Psychologie des Tanzes. Berlin und Paris: WiKuVerlag
Maja Tabea Jerrentrup, M.A. (*1980) hat von 1999-2004 an der Universität Trier, dem Loyola College Chennai (Südindien) und der Universiteit Utrecht (Niederlande) Medienwissenschaft, Ethnologie und Psychologie studiert. Neben dem Studium absolvierte sie über ein Stipendium eine journalistische Ausbildung, zu der Praktika im Inund Ausland gehörten. Im Bereich Entwicklungszusammenarbeit hat sie in mehreren Projekten in Indien und Guatemala gearbeitet. Derzeit ist sie Geschäftsführerin des Exzellenzclusters „Netzwerke“ an der Universität Trier und promoviert in Ethnologie.
Fußball in Benin
Lutz Scharf und Tilo Grätz
Fußball zwischen Bolzplatz und Stadion - Beobachtungen aus Parakou, Benin1
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as Phänomen Fußball, eine globalisierte Sportart par excellence, lädt gerade dazu ein, seine besondere lokale Dimension auch in Afrika zu erkunden. Auch hier ist das Spiel mit dem runden Leder ein fester Bestandteil des Alltagsgeschehens, ob auf professioneller Ebene in modernen Stadien oder in den Gassen der Stadtviertel. Durch die Straßen laufen Kinder wie auch Erwachsene mit den Trikots ihrer Nationalmannschaften oder Lieblingsvereine. Für die Fußballbegeisterung ist es gleich, ob die Spieler von internationalen Sportartikelherstellern ausgerüstet sind oder barfuss selbst gebastelten Bällen hinterher jagen.2 Fällt ein fußballspezifischer Blick auf unser Fallbeispiel, die kleine Republik Benin in Westafrika, zwischen dem ,Fußballriesen’ Nigeria im Osten und dem aufstrebenden ,Fußballzwerg’ Togo im Westen gelegen, so schmachten die dortigen „Eichhörnchen“ (so wird die Nationalmannschaft Benins im Volksmund genannt) leider ein Schattendasein auf der internationalen Fußballbühne. Dennoch ist auch hier Fußball omnipräsent und besonders auf der untersten Ebene – beim Kicken in den Straßen und Gassen der Städte – alltäglich erlebbar. Diese lokale Dimension des Spiels soll im vorliegenden Text im Vordergrund stehen. Anhand einer Fallstudie aus der Stadt Parakou im Norden Benins werden nicht nur Spielpraxen beschrieben, sondern auch die Wechselbeziehung identitätsstiftender Aspekte des Spiels mit den Strukturen des urbanen Raums verdeutlicht. Diese Ebenen werden ausgehend vom Fußballspielen in einem Stadtviertel über die Vorstellung einer Mannschaft und dem Verlauf von Turnieren ethnographisch verknüpft. Fußball wird in Parakou wie anderenorts auch in Westafrika spontan gespielt, oder von städtischen Klubs als auch vom Staat organisiert und gefördert.3 Fußballpraxen Jugendlicher sind aber auch hier vor allem mit der Clique verbunden, bzw. den gemeinsamen Idealen jener peers, die bestimmte Lebenswelten und Lebenssituationen teilen.
Fußball im Stadtviertel am Beispiel Banikanis Parakou ist die drittgrößte Stadt Benins und liegt in der Borgou - Region im Nordosten des Landes. Mit seinen ca.
300.000 Einwohnern zählt Parakou heute zur größten Stadt des Nordens mit polyethnischem Charakter (Bierschenk 2004:13). Das Zentrum der Stadt bildet die Altstadt mit seiner großen Moschee und dem großen Markt, der sich in den Straßen und Gassen um das Gotteshaus klammert. Von hier aus führt eine Straße Richtung Osten in das Stadtviertel Banikani. Im Gegensatz zu anderen Stadtvierteln, ist Banikani ein noch relativ junges Viertel, dessen Bevölkerungszusammensetzung äußerst heterogen ist. Vor allem Migranten aus den verschiedensten Regionen des Landes, aber auch Immigranten aus den Nachbarländern Nigeria und Togo haben hier eine Heimat gefunden. Demzufolge ist auch eine sehr große ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt vorzufinden. Aufgrund der noch jungen Historie des Viertels ist eine soziale Struktur bzw. Ordnung relativ offen und fluid; im Gegensatz zu anderen Stadtvierteln entwickeln sich soziale Netzwerke hier erst neu und sind weniger über mehrere Generationen hinweg verfestigt. 4 Betrachten wir zunächst die zentralen Orte des Fußballgeschehens. In Banikani existieren unzählige Bolzplätze. Einige Kinder aus dem Viertel spielen z.B. regelmäßig auf dem Platz hinter der Église assemblée de dieu, hier nur le petit terrain genannt. Jeweils zwei große Steinblöcke bildeten die Tore. Die Spielfläche, ein harter, steiniger und staubiger Boden, neigte sich leicht Richtung Norden, so dass man entweder bergauf oder bergab spielt. Generell ist auf den Bolzplätzen stets großer Andrang. Im Besitz eines Fußballs sind jedoch nur die wenigsten. Jungs, die einen Ball haben, stehen daher auch stets im Mittelpunkt des Geschehens. Lässig steht ein schmächtiger 12-jähriger am Anstoßpunkt, den rechten Fuß auf den Ball gestützt. Um ihn herum sammeln sich die anderen jungen Spieler. Der Ballbesitzer bestimmt einen zweiten Spieler, der mit ihm die Mannschaftswahl durchführte. Ein an� derer Junge hat eine rote Plastiktrillerpfeife um den Hals hängen - der Schiedsrichter. Nachdem alle Spieler auf ihrer Spielseite wa� ren, pfeift er das Spiel an. Mit intensiver Mimik und Gestik, die Fernsehübertragungen von Fußballspielen nachahmt, leitete er die Partie sehr souverän.5 Beide Teams spielten sehr engagiert. Kinder, bekleidet mit den Trikots ihrer Idole oder nur in Shorts, wetzten dem Ball hinterher. Fouls wurden vom Schiedsrichter sofort gepfiffen, imaginäre gelbe bzw. rote Karten wurden diskussionslos akzeptiert; Auswechselungen erfolgten nach vorheriger Absprache - ein fairer Wettkampf mit festgelegten Regeln auch auf dem Bolzplatz (Parakou, 26. Juli 2004).
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Fußball in Benin Le petit terrain ist dabei nicht nur ein staubiges Spielfeld, sondern auch ein Ort, wo man sich etablieren und beweisen kann, so wie Nourou Dine, mit 10 Jahren einer der Jüngeren, aber dennoch ein besonders talentierter Fußballer. Er versucht ständig durch sein Können die Aufmerksamkeit der älteren Spieler zu gewinnen. Dies verschaffte ihm nicht nur einen „Stammplatz“ in seinem bunt zusammen gewürfelten Team, sondern vor allem Respekt und Anerkennung im alltäglichen Leben in Banikani. Neben den zahlreichen kleinen Bolzplätzen existiert in Banikani ein größeres Spielfeld, umringt von einer hohen Mauer, das nur „le terrain“ genannt wird. Bei den Toren handelt es sich um geschweißte Eigenkonstruktionen in der Größe von Eishockeytoren. In das Spielfeld ragt ein Gebäude, so dass der Platz eine sechseckige Form hat. Unter der Woche finden auf dem terrain keine Spiele und auch kein Training statt. Am Wochenende hingegen ist das Gelände von früh morgens bis zur Dämmerung geöffnet. An den beiden Tagen trainieren hier die zwei Mannschaften des Stadtviertels - Academia FC und Canon (siehe unten).
Stadtteilmannschaften in Parakou: das Beispiel Canon Die Mannschaft des Stadtviertels Banikani, Canon, trainiert auf dem Sportplatz eines Schulgeländes. Einer der Mannschaftsspieler ist der Sohn des Schuldirektors, daher der ungehinderte Zugang zum Schulsportplatz. Die Mannschaft existiert seit fünf Jahren und hat sich aus einer Schulmannschaft entwickelt. Als die meisten der damaligen Schüler ihre Schulausbildung beendeten, blieben sie aber der Mannschaft treu und trafen sich weiterhin zum gemeinsamen Training. Zu den Teammitgliedern gehören einigen ältere Spieler, allen voran Sammy, der mit 25 Jahren und aufgrund seiner Erfahrung von seinen Mannschaftskameraden besonders respektiert wurde. Weiterhin zählte der Kader 15 Mitspieler im Alter von 16 bis 27 Jahren. Das Team traf sich jeden Nachmittag um 16.00 Uhr auf dem Schulgelände. Die Jungs werden von einem ehemaligen Spieler trainiert. Zum täglichen Training nahmen nicht nur die zum Kader zählenden Spieler teil. Eventuelle „Kandidaten“ für die Mannschaft, hauptsächlich junge Teenager, versuchten bei jeder Trainingseinheit die „Alten“ durch engagiertes und motiviertes Spiel zu überzeugen. Generell kann man davon ausgehen, dass in den Teams die besten Fußballspieler des jeweiligen Stadtviertels spielen, die durch die Trainer und ältere Mitspieler selektiert werden. Die Jugendlichen haben als Kinder meist auf den Bolzplätzen ihrer Viertel begonnen. Die besten von ihnen konnten sich dort etablieren und nutzten das petit terrain als Sprungbrett, um für eine der Auswahlmannschaften spielen zu dürfen. Aktive Spieler erfüllt es mit Stolz, für ihr Viertel spielen zu dürfen. Raphael, ein Spieler von Canon, berichtet: “Als Spieler für Kanon ist man im Viertel beliebt und unbeliebt. Die Anhänger un� seres Clubs mögen uns. Auf der Strasse wird man gegrüßt und die Leute rufen: ‚Tolles Spiel gestern!’ Bei den Frauen in den Garküchen und cabarets bekomme ich manchmal gratis etwas zu essen und zu trinken. Die Jugendlichen in meinem Alter haben Respekt vor mir, weil sie wissen, wie gut ich bin. Aber man muss auch aufpassen: In Banikani gibt es zwei Mannschaften, die Equipe von FC Academia und uns. Besonders wenn wir gegeneinander spielen, geht es zur Sa�
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Stadtviertelmeisterschaftspiel auf dem 6-eckigen Spielfeld (linker Bildrand: ein Gebäude ragt in das Spielfeld) in Banikani zwischen Canon und FC Ladjfarani. che! Nach den Spielen ist die Stimmung manchmal noch sehr erhitzt. Die Leute prügeln sich. Das letzte Spiel gegen den FC haben wir ge� wonnen. Natürlich haben wir gefeiert! Aber die Straßenzüge, wo viele Spieler vom FC leben, habe ich einige Tage gemieden. Einige (die Anhänger vom FC) behaupten wir sind alle arrogant. Dabei sind die viel schlimmer. Die Leute vom FC haben einmal nach einem Sieg gegen uns tagelang ein Lied gesungen: Canon, Canon vous jouez comme les canards, canards!’ (Parakou, 7.08.2004). Für viele Jugendliche ist die Mitgliedschaft in einer Mannschaft ein wichtiger Lebensabschnitt; sie gewinnen Selbstbewusstsein, erleben hier Kameradschaft und Solidarität, die auch in den Alltag hineinreicht. Auf dieser Basis entstehen lebenslange Freundschaften und die Grundlage altersspezifischer sozialer Netzwerke in den Stadtvierteln. Die individuellen Motivationen zum Fußballspielen können dabei verschieden sein. So kann Fußball ein Mittel zur Vergangenheitsbewältigung und zum Selbstschutz sein, kann aber auch einen behilflichen Faktor zur Integration bilden. Viele junge Immigranten in Banikani haben einen ungefestigten sozialen Status. So auch „Ibo“6 aus Nigeria, jung, allein stehend, ohne familiäre Bindung. Nachdem er in Nigeria aufgrund einer Straftat inhaftiert wurde, kam er nach seiner Freiheitsstrafe nach Parakou, um hier einen „Neustart“ als Verkäufer zu wagen. Sein prekärer Status als allein stehender Ausländer machte eine rasche Integration in das soziale Umfeld Banikanis nicht einfach. Der Aufbau informeller Netzwerke hat für ihn somit eine sehr hohe Priorität. Für Ibo ist Fußball eine Gelegenheit, sich zu integrieren, sich selbst zu schützen: „To help myself, to protect myself, that`s why I am making sport!” (Ibo, 29.08.2004).
Die Dramaturgie von Fußballturnieren Regelmäßig finden inzwischen Fußballstadtmeisterschaften unter Beteiligung zahlreicher Mannschaften aus den insgesamt zwölf Stadtvierteln Parakous statt. Während dieser Begegnungen war das terrain stets gut besucht - nicht nur von Fußballspielern, sondern auch von zahlreichen Fans und Anhängern der jeweiligen Stadtviertel. Seit 2003 wird das Turnier im Quartier von sechs sportbegeisterten Männern (kleine Unternehmer, Händler, Staatsangestellte) ehrenamtlich organisiert, die in den verschiedenen Stadtvierteln Turniere auf die Beine stellen. Diese Männer haben seit
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Die „Südkurve“ des Sportplatzes: Anhänger der „Canons“ während eines Match ihres Teams.
2002 eine Art informelles Netzwerk gegründet und organisieren seit dem auf freiwilliger Basis, ohne große Unterstützung offizieller Institutionen, Fußballturniere in Parakou, die zu einem festen Bestandteil des urbanen Alltags geworden sind. Jede Mannschaft, die an einem Turnier teilnehmen möchte, zahlt ein „Startgeld“ von 3.000 FCFA (ca. 5 Euro). In Parakou gibt es zehn Teams, die regelmäßig an den Meisterschaften teilnehmen. Die eingenommene Gesamtsumme von 30.000 FCFA (50 Euro) wird für den Kauf von der Pokalen und anderen Sachpreisen verwendet. Mitunter werden die Organisatoren auch von lokalen Politikern finanziell unterstützt. Dies geschieht hauptsächlich zu Wahlkampfzeiten, wo sich angehende und auch schon etablierte Staatsdiener auf den Fußballplätzen der Öffentlichkeit präsentieren und somit die Nähe zum Volk demonstrieren wollen. Die Turniere etablieren dabei eigene Formen städtischer Öffentlichkeit jenseits des Staates als Ausdruck einer kreativen urbanen Zivilgesellschaft. Die jeweiligen Spiele sind Aufführungen, deren performativ-ludische Dimensionen im Folgenden illustriert werden. An einem heißen Mittwochnachmittag fand eines der beiden Halbfinalspiele der Quartiers-Meisterschaften Mona� co Parakou vs. FC Ladjfarani statt (Beobachtungen 18.8.2004). Der FC Ladjfarani, benannt nach dem gleichnamigen Stadtviertel, spielte gegen Monaco Parakou, einem Team aus dem Quartier Abatua. Schon auf dem Weg zum Stadion begegnete man unzähligen Jugendlichen und jungen Männern, die in Richtung terrain liefen. Vor dem großen Eisentor kam es zu einigen Rangeleien. Neben den zu Fuß ankommenden Zuschauern waren auch sehr viele Motorisierte unterwegs, die ohne Rücksicht auf die Fußgänger durch die Menschenmenge direkt auf das Sportgelände drangen. Manche Fahrer stellten sich mit ihren Fahrzeugen direkt an den Spielfeldrand. Lässig saßen sie auf ihren Maschinen und schwatzen mit anderen Besuchern. Helfer zogen mit Stöcken Spielfeldbegrenzungslinien und bauten die kleinen Tore auf. Während der Vorbereitungen wärmten sich beide Mannschaften auf. Dies ähnelte sehr einer synchronisierten Tanzchoreographie und stimmt die Zuschauer auf das Match ein. Währenddessen strömten immer mehr Menschen auf das Gelände. Es herrschte ein ausgelassene Stimmung. Es wurden Neuigkeiten ausgetauscht und lebhafte Diskussionen geführt. Die Besucher stellten ihre Mobiltelefone zur Schau, indem sie diese ununterbrochen in ihren Händen kreisen ließen, trugen
goldene Ketten und Ringe, auffällige Uhren, gute Kleidung. Gegen 17.00 Uhr, die Temperaturen waren etwas gefallen, erfolgte der Anpfiff. Vielen Zuschauern schien das Spielgeschehen aber nur zweitrangig. Handy-Modelle wurden gegenseitig bestaunt und ausgiebig auf Funktionalität geprüft, neue Mopeds wurden gemustert und technische Ratschläge an den Besitzer weitergegeben. Nur nebenbei schaute man sich auch das Spiel an. Nicht alle Spieler trugen Fußballschuhe, manche improvisierten und schraubten sich Schrauben oder Metallbolzen in die Schuhsohlen, um somit einen besseren Halt auf dem Untergrund zu gewährleisten. Gegenseitig überprüfte man während der Halbzeit, ob diese alternativen Stollen noch fest genug in der Sohle steckten. Die zweite Halbzeit begann ähnlich turbulent wie die Erste und inzwischen verfolgten alle Zuschauer gespannt das Spiel. Die häufigen Fouls der zweiten Halbzeit erhitzten die Gemüter der Besucher. Man war nun in der Lage festzustellen, wer welche Mannschaft favorisiert. Nach 90 Minuten pfiff der Schiedsrichter das Spiel beim Stand von 0:0 ab, es folgte das Penalty-Schießen. Die Menschenmenge begann Lieder zu singen und klatschte rhythmisch in die Hände. Anfeuerungsrufe hörte man aus der Menge, hohn und Spot für Versager. Der FC Ladjfarani gewann das Spiel; nach dessen Ende stürmten einige Anhänger des FC auf das Spielfeld und bejubelten und umarmten ihre Spieler. Kinder machten Flickflacks und Jugendliche nahmen den Torschützen auf die Schultern und liefen mit ihm über den Platz. Die Spieler von Monaco Parakou gratulierten dem siegreichen FC. Auf dem Weg nach draußen kam es noch zu ein paar handfesten Auseinandersetzungen rivalisierender Fangruppen, die von den Spielern selbst aber wieder auseinander gebracht und beruhigt werden. Nach nur kurzer Zeit war das terrain menschenleer. Am 22. August 2004 fand das große Finale zwischen Ladjfarani und Canon statt. Im Vergleich zu den vorangegangenen Matches zog dieses Ereignis weit mehr Zuschauer an. Schon weit vor Beginn der Sportveranstaltung drängten sich viele durch das Stadiontor, um einen günstigen Stehplatz zu ergattern. Aufgrund der Bedeutsamkeit des Finales erschienen auch einige „wichtige offizielle Gäste“, für die eine Ehrenloge am Spielfeldrand aufgebaut wurde; wichtige Persönlichkeiten der Lokalpolitik, einflussreiche Familien der Stadtviertel, die Veranstalter und einige wenige Sponsoren. Auf dem Gelände herrschte großer Trubel. Einige Aufseher verscheuchten mit langen Holzknüppeln und Ästen Kinder, die sich auf der Mauer und hinter den Toren aufhielten. Gegen 17 Uhr erfolgte der offizielle Anpfiff. Zunächst fand jedoch ein symbolischer Anstoß durch zwei Ehrengäste statt. Die stellvertretende Leiterin des Ministère de la Jeunesse des Sports et des Loisirs in Parakou, in einem wallenden Gewand und ein elegant gekleideter Vertreter der Stadtverwaltung vollzogen diesen Akt, der großes Gelächter auf den Zuschauerrängen hervorrief, da die Frau den Ball nicht mit dem Fuß, sondern mit der Hand antippte, wahrscheinlich aufgrund ihrer hochhackigen Schuhe. Die beiden Ehrengäste schüttelten noch einige Hände, bevor sie sich wieder auf ihre Plastikstühle setzten. Jetzt bat der Schiedsrichter beide Kapitäne zum Mittelkreis, um Anstoßrecht bzw. Seitenwahl auszulosen. Ladjfarani hatte Anstoß. Wie schon während des 2. Halbfinalmatches war das Spielgeschehen nur von zweitrangigem Interesse. Ab und zu wurden gelungene Einzelaktionen der Spieler honorierend
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Fußball in Benin beklatscht, aber vielmehr unterhielten sich die Zuschauer Zuschauer eine große Rolle. Das ungezwungene, lockere über Alltägliches und verfolgten dabei beiläufig den Spiel- Verhalten wie es beim Training erlebbar ist, legen die Spieler verlauf. Westlich des terrains gab es eine kleine Moschee, auf beim Betreten des Platzes ab. Junge bzw. jugendliche Fußderen Dach ca. 12 Männer und der Beobachter das Spiel mit- baller schlüpfen dabei quasi in die Rolle der Erwachsenen verfolgten. Von dem Dach hatte man einen hervorragenden mit all den damit verbundenen Eigenschaften und die meist Überblick, aber auch hier dominierten andere Themen, man erwachsenen Zuschauer übernehmen Verhaltensmerkmale unterhielt sich hitzig über den ehemaligen Diktator des der Jugendlichen. Das Ereignis Fußball ermöglicht den teilIraks, Saddam Hussein. nehmenden Akteuren (Spieler wie auch Zuschauern) mit Als ein Tor für Ladjfarani fiel, kippte die ganze Atmo- Statusrollen und Verhaltenserwartungen zu spielen. sphäre. Plötzlich kam eine prächtige Stimmung auf. Die Anhänger von LadjfaraLes petits et ni stimmten Lieder an und johlten euphorisch. Die Fans les grandes von Canon hingegen diskutierten heftig über dieses – Spielpraxen, unnötige Tor. Nun war das Geschehen auf dem Fußballorte, Karrieren platz Gesprächsthema Nr. 1. Auch auf dem Dach der MoGrundsätzlich lässt sich schee sprach man jetzt über feststellen, dass die jungen einzelne Spieler auf dem Feld Fußballer auf dem petit ter� und analysierte deren Fähigrain nicht organisiert sind. keiten. Dies bestätigt sich dadurch, Die zweite Halbzeit verlief dass Fußballspiele zwar sehr eher unspektakulär, das Spiel oft, aber dennoch unregelmäwurde beim Stand von 1:0 ßig stattfanden. Die jungen abgepfiffen. Sofort stürmten Spieler, überwiegend Kinder, die Anhänger von Ladjfarani trafen sich vorwiegend sponauf den Platz, um ihr Team tan auf dem Platz. Während zu feiern. Nach der Niedermeines Forschungsaufentlage Canons wurde von einihaltes gab es zum Beispiel gen Spielern die Schuld am Tage an denen nur ein Spiel Scheitern auf den Torwart stattfand, an anderen Tagen Ody abgewälzt. Es brachen wiederum wurde den ganzen heftige Diskussionen aus die Nachmittag bis zum Dunkelletztendlich dazu führten, werden gespielt. Das heißt, es dass sich das Team im Disput fanden vier bis fünf Matches trennte, der am nächsten Tag statt. Eine andere Begrünnoch andauerte. dung dafür, dass Fußball bei Während der Partien den petits eher ein spontanes verhielten sich die Fußballer Freizeitvergnügen ist, zeigt diszipliniert und sportlich die Tatsache, dass weder fefair. Oftmals sorgten Spieler ste Mannschaften (die Teams beider Mannschaften dafür, wurden immer erst während dass Rangeleien und drodem Treffen auf dem Platz hende Prügeleien zügig auf- From the viewers point of view: Der Blick auf das Spielfeld zusammengestellt) existierten gelöst wurden, indem man die vom Dach einer Moschee. noch organisierte Turniere Streitparteien voneinander stattfanden. Dagegen haben trennte. Im Gegensatz zu etlichen (erwachsenen) Zuschau- im Quartier Wansirou7 während der Ferienzeit regelmäßig ern, die das Ereignis „Fußballturnier“ als Anlass nutzten, Fußballturniere für Kinder stattgefunden. Diese wurden von um Freunde zu treffen, um Neuigkeiten auszutauschen, aber dort ansässigen Nichtregierungsorganisationen organisiert. auch um ihre Affekte zu kanalisieren. Der Fußballplatz in Da in Banikani keine solchen Vereinigungen existierten, gab seiner Gesamtheit (mit Zuschauerbereich) stellt also eine es auch keine Angebote in dieser Richtung. besondere Sphäre des Austausches zweier Generationen dar. Möglichkeiten in organisierte Mannschaften einzutreDer Fußballplatz, sonst nur von Jugendlichen frequentiert, ten, bieten sich jungen Fußballern erst ab einem gewissen wurde während der Zeit des Turniers ein besonderer sozialer Alter bzw. mit überragenden fußballerischen Fähigkeiten. Raum. Hinter den Mauern des Sportplatzes sind Verhaltens- Sehr talentierte Fußballer spielen bereits mit sechzehn für formen möglich, die nicht dem Ideal der Gesellschaft „vor das Team, andere können sich erst mit 19 Jahren in einer den Mauern“ entsprachen, und die Rollen der Generationen Mannschaft etablieren. Im Gegensatz zu den petits kann dabei quasi umkehrten. Sicherlich spielt hier eine gewisse man bei den grands von einer organisierten Struktur spreErwartungshaltung seitens der Mannschaften und auch der chen. Die Spieler treffen sich regelmäßig zum Training, neh-
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Fußball in Benin men an Turnieren teil, zahlen Einschreibegebühr, haben eine einheitliche Spielkleidung, die selbst finanziert ist. Die einheitliche Mannschaftskleidung symbolisiert Mannschaftsgeist, die Trikots werden aber auch im Alltag, in der Disko oder beim Besuch im cabaret getragen. Zwischen petits und grands gibt es viele Ähnlichkeiten; ein Fußballspiel auf dem petit terrain ist eine fast identische Kopie eines Spiels im terrain. Ob das die Mimik und Gestik des Schiedsrichters, das Verhalten der Spieler untereinander oder die Art und Weise des Jubels der Zuschauer ist, auf beiden Plätzen spielt sich generell dasselbe Szenario ab. Während der Fußballspiele im terrain, aber auch im großen Stadion von Parakou, beobachteten Kinder immer ganz genau das Geschehen. Sie hockten auf den Stadionmauern, kletterten auf LKWs oder besuchten gemeinsam mit ihren Vätern die Spiele. Staunend schauten sie ihren lokalen Helden zu. Aber auch das Verhalten der Fans, mit ihrem Jubelgesang wird von den Kindern intensiv wahrgenommen. Zu Hause im Viertel versuchen sie, das Gesehene nachzuahmen, die „große Welt“ des Fußballs im terrain spiegelt sich in der „kleinen Welt“ (auf dem petit terrain) der jungen Kinder des Stadtviertels wieder. Trotz der erwähnten Übereinstimmungen zwischen den petits und grandes gibt es eine altersbedingte und räumliche Trennung zwischen diesen Gruppen. Wer wo spielt ist abhängig von Alter, Talent und bestimmten sozialen Kompetenzen. Mit dem Beitritt zu solch einem Team gehen die Jugendlichen auch immer Verpflichtungen ein, z.B. regelmäßig zum Training zu erscheinen, zu jedem Turnier einen bestimmten finanziellen Betrag zu zahlen, das Trikot zu kaufen. Auch die Behandlung von Verletzungen ist oftmals kostenintensiv. Auch wenn sich dies nicht jeder fußballfanatische Junge leisten kann, ist es doch ein großer Wunsch, in einer organisierten Mannschaft zu spielen, wie für diesen jungen Fußballspieler aus Banikani: „Quand je suis grand, je vais jouer au grand terrain!“ (Djalilou, 27.07.2004)
Fußball als Identitätsangebot, Fußballplätze als polyvalente urbane Räume Egal ob im Hinterhof, zwischen Garküchen, auf dem Bolzplatz oder bei offiziellen Fußballturnieren der Stadt – Fußball ist ein wichtiges Element der Stadtkultur Parakous und kennzeichnet das jeweilige Stadtviertel. Man spielt dort Fußball, wo man wohnt und lebt. Nur in Ausnahmefällen wechselt man zu Mannschaften in anderen Stadtvierteln. Die Spieler identifizieren sich mit ihrem Viertel, aber auch weite Teile der dortigen Bevölkerung identifizieren sich mit ihren erfolgreichen Mannschaften. Das Team übernimmt hier die Aufgabe als eine Art Aushängeschild des Viertels und symbolisiert Stärke, Leistung und Erfolg. Nicht nur das Ansehen erfolgreicher Fußballer und deren Mannschaften steigen bei entsprechendem Erfolg, sondern auch das Image des Stadtviertels. Die institutionelle Infra-Struktur Banikanis bestimmt dabei auch das Freizeitverhalten, das auch vom Straßenfußball strukturiert wird. Im Gegensatz zu anderen Stadtvierteln sind Ordnungs- und Hierarchieprinzipien hier weniger gefestigt. Offizielle Vereine, egal ob Sportclubs, Jugendclubs oder NROs, gibt es im recht jungen Stadtviertel Banikani nicht. Den unzähligen informellen Treffpunkten kommt da-
her umso größere Bedeutung für die alltägliche Soziabilität zu. Dazu zählen der Arbeitsplatz, buvettes, und vor allem die cabarets, aber auch die Bolzplätze. Sie alle sind Rückzugsmöglichkeiten und Orte, wo man Freude, Leid und Wünsche teilt. Auf dem Spielfeld gibt es kaum religiös- oder kulturell bedingte Ausgrenzungen. Das Regelwerk ist universell gültig. Im Gegensatz zur alltäglichen Lebenswelt kann Fußball im Stadtviertel Banikani ein sozial verbindendes Element sein, ist vor allem aber eine Ebene, auf der Identität, Generation oder auch Tradition verhandelt werden. Dies erfolgt nicht nur durch die Sportler, sondern hauptsächlich durch das Publikum bzw. Außenstehende. Diese laden je nach dem entsprechenden Hintergrund eines Matches dieses mit einer besonderen Bedeutung auf. Das Spielfeld ist dabei ein Ort mit mannigfaltigen Funktionen: ein Sportplatz, ein besonderes Interaktionsfeld, ein Ort der Abgrenzung, des Aus� tauschs und des Konfliktes. Der Fußballplatz ist zum einen ein fixer Treffpunkt für viele, um Freunde zu treffen, neue Bekanntschaften zu machen und soziale Netzwerke zu erweitern. Andererseits ist das terrain aber auch ein Raum der Inszenierung des Jugendlichseins, das nur an wenigen Plätzen der Stadt ausgelebt werden kann. Zudem können Regeln, Rechte, Gebote und Pflichten, die mit dem „Jungsein“ verbunden sind, intensiver als in der eigentlichen Gesellschaft erlebt werden. Umgangsformen können erlernt bzw. gepflegt werden, nicht nur die Spielregeln beim Fußball, sondern auch die Regeln der „Schule der Straße“, die neben der religiösen, schulischen und familiären Erziehung einen wichtigen Bestandteil im Leben der Jugendlichen in den Stadtvierteln einnimmt und soziale Kompetenzen vermittelt, z.B. wie man Freundschaften pflegt, Allianzen aufrecht erhält und mit Konflikten umgeht. Dieses Interaktionsfeld zeigt auch spezifische Elemente des Austauschs, sowohl informeller als auch formeller Art. Es kommt zum Austausch von Neuigkeiten, Gerüchten; aber auch kleinere Gefälligkeiten werden unter den Spielern verabredet. Dazu zählen kleinere Arbeitsleistungen, Botengänge und Besorgungen. Dabei gilt eine festgelegte Altershierarchie, die jüngeren sind den älteren Jugendlichen verpflichtet. Im Gegenzug dazu werden die Jüngeren in den Spielerkreis integriert, können allmählich Teil einer neuen sozialen Gemeinschaft werden, in der sie aufsteigen und sich etablieren können. Daraus resultiert auch das dritte Element, der Fußballplatz als Ort des Konfliktes. Die eben beschriebene Altershierarchie führt regelmäßig zu Konflikten auf dem Platz. Junge Fußballer kommen häufig nicht zum Einsatz, da sie trotz ihrer guten fußballerischen Fähigkeiten an den älteren Stammspielern oft kaum vorbeikommen. Dies wird besonders nach verlorenen Spielen deutlich, wenn während dem Training heftige Diskussionen über die Mannschaftsaufstellung entbrennen. Das Spielfeld kann dazu beitragen, durch wettkampfähnliche Aktionen Konflikte zu kanalisieren.
Zusammenfassung Fußball als soziokulturelle Erscheinung ist heute auf mehreren Ebenen ein wesentliches Element urbaner Soziabilität in Parakou. Zum einen strukturiert Fußball sowohl das Freizeitverhalten vor allem männlicher Jugendlicher als auch soziale Räume gerade in jüngeren, heterogenen Stadtteilen wie
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Fußball in Benin Banikani. Darüber hinaus schaffen Fußballturniere in Parakou auf die jeweiligen Stadtviertel bezogene Identifikationsangebote. Gerade Bewohner sozial heterogener, jüngerer Stadtteile wie jene des Fallbeispieles Banikani identifizieren sich mit ihren Mannschaften. Das erfolgreiche Team wird eine Art Aushängeschild des Viertels und symbolisiert seine Fähigkeiten und Stärke gegenüber älteren, etablierteren Stadtteilen. Jedes Match ist zugleich ein soziales Drama, jedes Fußballturnier entwickelt seine eigene Dramaturgie. Das Ereignis Fußball ermöglicht dabei den teilnehmenden Akteuren auf dem terrain (Spielern wie auch Zuschauern), festgelegte Verhaltensregeln zu überschreiten. Viele informelle Sportvereinigungen, besonders die Fußballmannschaften der Stadtviertel, können ihre Existenz nur dann sichern, wenn sie die Organisation solcher Turnier wie auch des Trainingsbetriebs in die eigene Hand nehmen. Stadtteilvereine wie jene in Parakou sind Zeichen alltäglicher Kreativität, des Stolzes und sportlichen Ehrgeizes als Teil selbstbestimmter urbaner Lebenswelten jenseits offizieller Strukturen.
das Dorf Wansirou in die Stadtverwaltung eingegliedert. Die schon existierenden und ausgeprägten sozialen Strukturen, Ordnungsmu� ster und Netzwerke wurden in den urbanen Raum mit übernommen und hier verfestigt. Demzufolge basiert die große Dichte formeller bzw. informeller Vereinigungen und deren Organisation und Effizi� enz auf der charakteristischen Vergangenheit des Stadtviertels.
Literatur:
Apraku, Eva/Hesselmann, Markus 1998. Schwarze Sterne und Pharaonen. Der Aufstieg des afrikanischen Fußballs. Göttingen: Verlag Die Werkstatt. Baller, Susann 2005. Creating the postcolonial city: urban youth clubs in Senegal. In: Urbanization and African cultures. Durham: Carolina Academic Press, 139-154. Berger, Bennett 1971. Looking for America: Essays on Youth, Suburbia and Other American Obsessions. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall Biaya, Tchikala 2000. Jeunes et culture de la rue en Afrique urbaine. Politique Africaine 80, 12-31. Bierschenk, Thomas 2004. The local appropriation of democracy: An analysis of the municipal elections in ParakFußnoten ou, Republic of Bénin, 2002/ 03. Arbeitspapier Nr. 39, Institut für Ethnologie und Afrikastudien. Johannes Gutenberg 1 Der Text basiert auf einem Studienaufenthalt in Parakou Universität Mainz. im Juli-September 2004 im Rahmen eines Feldforschungsprakti� Bissohong, Théophile 1998: Football et imaginaire au Cakums des Instituts für Ethnologie der Martin-Luther Universität meroun: des héros de l’ailleurs. In: Mots pluriels no 6. www. Halle-Wittenberg. arts.uwa.edu.au/MotsPluriels/MP698tb.html (7.6.2006). 2 Dieser Ubiquität des Fußballs in Afrika stehen allerdings Eckert, Andreas 2001: Sport. In: Jacob Mabe (Hrsg.): nur wenige sozialwissenschaftliche Studien zum Thema gegenüber. Das Afrika Lexikon. Wuppertal/Stuttgart 2001, 570-574. Mit Ausnahme von Arbeiten wie beispielsweise jenen von Bal� Engel, Ulf, Peter Körner, Peter, Andreas Mehler 1995: ler (2005), Ntonfo (1998), Bissohong (1998) und Poli (2003) gehen “and it’s a gooaal” - Fußball in Afrika. In: Afrika Jahrbuch diese vor allem der gesamtgesellschaftlichen sowie politischen Bedeu� 1994. Opladen: Leske & Budrich, 61-70. tung des Spiels sowie der transnationalen Aspekten wie Spieler oder Luig, Ute, Jochen Seebode (Hg.) 2003. Ethnologie der Trainertransfers nach (z.B. Engel et al. 1995, Apraku / Hesselmann Jugend. Soziale Praxis, moralische Diskurse und inszenierte 1998, Eckert 2001, Mehler / Nyoya 2006 u.a.). Körperlichkeit. In: Ute Luig, Jochen Seebode (Hrsg.) Ethno3 Auch der Begriff „Jugend“ kann nur kontextabhängig logie der Jugend. Münster: Lit-Verlag. verstanden werden. In Parakou ist damit meist eine Personengrup� Mehler, Andreas, Eric Nyoya 2006. Fußball in Afrika. pe von sozial weniger Etablierten gemeint, die somit auch Personen Mehr als nur ein Spiel. Hamburg, GIGA, GIGA Fokus, Nr. Mitte 40 einschließen kann. Wir folgen hier eher einer alterskohor� 6. http://www.giga-hamburg.de/content/publikationen/pdf/ tenunabhängigen Perspektive und betrachten mit Berger (1971) Ju� gf_afrika_0606.pdf (25.7.06). gend als durch besondere Charakteristiken bestimmt (vgl. dazu auch Ntonfo, André 1998: Football et identité. In: Présence Luig / Seebode 2003). Africaine 158, 119-135. 4 Vergleiche dazu Bako-Arifari (2004: 118). Poli, Raffael 2003. Football. Imaginaire et jeux identi5 Auf dem petit terrain leiteten die jungen Schiedsrichter das taires à Abidjan In: ethnographiques.org. n°3. URL: http:// Spiel in ähnlicher Weise wie auf dem grand terrain (siehe unten). www.ethnographiques.org/IMG/pdf/ArPoli.pdf (7.6.2006) Schon früh ahmen die Kinder hier das Verhalten der Jugendlichen Abstract und Erwachsenen detailliert nach. Der vorliegende Artikel beschreibt alltägliche Fußball6 Die ethnische Herkunft wird bei Minderheiten oft anstelle praxen und – karrieren in Stadtvierteln von Parakou, Redes eigentlichen Namens zum Rufnamen im Viertel. publik Benin, aber auch Fußballturniere, die in besonderer 7 Wansirou ist im Gegensatz zu Banikani ein viel älteres Weise lokale Identitäten mit neuen Formen urbaner SoziaStadtviertel. In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wurde bilität verknüpfen. Lutz Scharf (1981) studiert Ethnologie, Kulturgeschichte Afrikas und Politikwissenschaften in Halle und Leipzig. Im Rahmen der Lehrforschung „Jugend im urbanen Raum Afrikas“ führte ihn im Sommer 2004 eine 4-monatige Feldforschung zum Thema „Fußball in Afrika“ nach Benin. Gegenwärtig studiert er an der Grande Ecole Science Po in Bordeaux.
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Dr. Tilo Grätz (1966) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Geschichte und Kultur in Afrika“ an der Universität Leipzig. Im Jahr 2004 leitete und koordinierte er die Lehrforschung „Jugend im urbanen Raum“, welche in Kooperation des Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle und des Ife Halle durchgeführt wurde.
In darkest Leipzig
Michael Schweßinger
In darkest Leipzig. Von den seltsamen Sitten und Gebräuchen der Lindenauer.
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indenau liegt geographisch gesehen von Verfall und Sanierung einen rauen, Aversionen gegeneinander hegen. im Leipziger Westen und unterteilt unharmonischen Charme. Blutende Historisch gesehen war der Stadtteil sich in die drei Bereiche Lindenau so- Schnittstellen und frischvernarbte noch im neunzehnten Jahrhundert eine wie Alt- und Neulindenau. Doch muss Wunden, die man anderswo vergeblich eigenständige Gemeinde und wurde man sich im Klaren darüber sein, dass sucht, sind hier keine Seltenheit. Hin- erst 1891 in das Gebiet der Stadt Leipzig diese Unterscheidungen nur verwal- zu kommen die angrenzenden Park- eingegliedert. Damals gab es auch diese tungstechnisch zu sehen sind und es ist landschaften mit ihren Pavillons und bürokratische Dreiteilung noch nicht, mir noch nie passiert, dass sich ein Lin- kleinen Seen, sowie die Flussauen, die die erst durch die politische Neustrukdenauer im Alltagsleben mit dem Prä- zum Verweilen einladen und von den turierung nach der Wende geschaffen fix Alt- oder Neu- bezeichnet hätte. So verschiedenen Ethnien auch gerne für wurde. Durch die industrielle Revogesehen, spielt diese Unterkategorisie- ihre Zwecke in Beschlag genommen lution und die vielen sprießenden Farung für die Bewohner eigentlich kei- werden. briken in der nahen Umgebung, erlebte ne Rolle und die indigene Bevölkerung Im Osten bildet die Weiße El- Lindenau und der Leipziger Westen in sieht sich selbst einfach als Lindenauer. ster seit jeher eine natürliche Grenze, der Mitte des neunzehnten JahrhunDennoch mag diese Unterscheidung die dafür sorgt, dass es zwischen den derts einen regelrechten wirtschaftfür das Buch ihre Berechtigung ha- Volksgruppen des Leipziger Zentrums lichen Boom, der den Bewohnern zu ben, da es mir dadurch gelingt, ein und den Lindenauern nur wenige kul- Wohlstand verhalf. Auch heute noch unübersichtliches und vielschichtiges turelle Gemeinsamkeiten gibt und mo- kann man den damaligen Reichtum an Forschungsfeld ein wenig einzuengen. dernere Auffassungen wie „Die Welt zu den vielen pittoresken und stuckverIch habe mich bei meinen Beobach- Gast bei Freunden“ den Weg über den zierten Gründerzeitfassaden der Häutungen größtenteils auf Altlindenau Strom noch nicht gefunden haben. ser bestaunen, die leider nun in vielen beschränkt, da allein dieser Part schon Anders gestaltet sich die Situation im Straßen, trotz der Sanierungswelle, die eine unüberschaubare Anzahl von Eth- Norden, wo die einzelnen Gruppen in- mittlerweile auch bis nach Lindenau nien, Clans und Subclans beherbergt. einander überfließen und in Folge des- geschwappt ist, ziemlich heruntergeDieses bunte Völkergemisch mit sei- sen die kulturellen Überschneidungen kommen sind und ein trostloses Dasein nen fremdartigen Riten, verschiedenen zwischen Leutzschern und der hiesigen fristen. Ebenso geht es vielen der indussozialen Organisatriellen Klinkersteintionsformen und bauten, von denen In neuerer Zeit finden sich aber auch Anzeichen dafür, Traditionen wäre die ehemalige Baumdass zumindest ein Teil der Bevölkerung wieder zu wollspinnerei im naallein schon dazu angetan, den Rahhegelegenen Plagwitz der Lebensweise der Jäger und Sammler zurückkehrt. men dieser Fordie beachtlichsten schung zu sprengen Ausmaße annimmt und ich musste mich bemühen, margi- Bevölkerung ungemein größer sind, und heute überwiegend von Künstlern nale Punkte und Begebenheiten vorerst auch wenn sich die Jugend versucht und für zeitgenössische Tanzveranstalnotgedrungen beiseite zu lassen und durch Slogans und markante Sprüche tungen genutzt wird. Infolge des wirthoffe, diese in einem Ergänzungsband voneinander abzugrenzen und beide schaftlichen Niedergangs der einstdem ethnologisch interessierten Leser Ethnien auf ihre eigenen Herkunftsmy- mals stolzen Industriebranche stehen zur Verfügung stellen zu können. then bestehen. Im Westen und Süden auch hier die Spinnräder still und die Altlindenau erstreckt sich über wird Altlindenau durch die Hauptver- Arbeitslosenquote liegt in Lindenau eine Fläche von 2,4 km 2 und es gibt kehrsadern Merseburger und Lützner bei über zwanzig Prozent und steigt hier bis auf die zahlreichen Kothaufen Straße begrenzt. Es gibt hier weitaus zusammen mit Sozialhilfe beziehungskeine nennenswerten Erhebungen oder weniger Spannungen als im Norden, da weise Hartz IV auf weit über dreißig Gebirgsketten. Dennoch ist die Land- – wie gesagt – diese Grenzen nur theo- an. Hinzu kommt noch ein großer Anschaft und die Bebauung nicht eintö- retischer Natur sind und sich Alt- wie teil an gering verdienenden Rentnern, nig und das Viertel versprüht durch Neulindenauer auf denselben Stamm- so dass Lindenau heute zu den sozialen das ungeschützte Aufeinandertreffen baum beziehen und keine ethnischen Problemvierteln von Leipzig gezählt
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In darkest Leipzig wird. In Altlindenau wohnen etwa zehntausend Menschen und damit mehr als in Neulindenau oder Lindenau. Im Vergleich mit den Platten-Ethnien der Grünauer gehören die Altlindenauer aber zu den kleineren Gesellschaften, was vielleicht die Wagenburgmentalität erklärt, die bei vielen Bewohnern vorherrscht. Der Lindenauer an sich ist von Natur aus ein sesshaftes Wesen und im Gegensatz zu den Ethnien des Leipziger Südens, wo doch eher migrationswillige Völkerschaften leben, sieht man hier selten Möbelwagen an den Straßenrändern und viele Lindenauer wohnen schon seit Jahrzehnten in ihrem vertrauten Umfeld. In neuerer Zeit finden sich aber auch Anzeichen dafür, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung wieder zu der Lebensweise der Jäger und Sammler zurückkehrt. Das Jagen ist hierbei keine indigene Eigenschaft, sondern wurde meines Erachtens durch gezielte Werbekampagnen von außen in diese doch eher zurückgezogen und traditionell lebenden Gesellschaften hineingetragen. Perfide Slogans wie „Geiz ist geil!“ oder „Ich bin doch nicht blöd!“ mögen für diese schleichende Unterwanderung als Beispiel dienen, denn es ist vor allem die Schnäppchenjagd, der die Bewohner zunehmend huldigen. Jeder giert nach möglichst billig. Beliebtes Ziel sind die großen Lagerstätten an der Ecke Merseburger/Lützner Straße, wo abgelaufenes Fleisch und Milchprodukte in riesigen Mengen feilgeboten werden und bei der Bevölkerung reißenden Absatz finden. Für die verweichlichten Mägen von anderen weiter entfernt lebenden Gruppen, die gleich aus jeder Lappalie einen Gammelfleischskandal machen, hat der hartgesottene Lindenauer mit seinem von Alkohol und billigen Zigaretten gegerbten Magenwänden nur ein müdes Lächeln übrig. Durch die Huldigung der Schnäppchenjagd lässt sich auch die hohe Anzahl von Ein-Euro-Shops erklären, die neben allerlei unsinnigem Zeug, den passenden Dresscode für das Viertel im Programm haben. Für die wenigen Touristen findet sich auch in den Billigmodemärkten ein reichhaltiges Sortiment an traditioneller Lindenauer Bekleidung, die gerne als Souvenir mitgenommen wird. Ein weiterer Punkt, der hier zu nennen ist, betrifft das doch recht ein-
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seitige Einkaufsverhalten in den Discountern. Exquisite Einzelhändler und Bioläden sucht man nämlich vergebens und in manchen Supermärkten, die sich auf wunderbare Weise innerhalb weniger Wochen vom Saulus zum Paulus gewandelt und ihre belasteten Lebensmittel durch Bio und Fair-Trade Produkte ersetzt haben, empfiehlt sich ein Staubtuch, um die bei den Eingeborenen nicht ganz so beliebten Produkte aus dem fairen Handel überhaupt erst zu entdecken. Aus meinen eigenen Beobachtungen kann ich bestätigen, dass der Lindenauer ein ausgesprochener Karnivor ist und Fleisch neben Alkohol zu den täglichen Grundnahrungsmitteln gehört. Die Supermärkte haben sich auf dieses Kaufverhalten der ansässigen Bevölkerung eingestellt und man findet in den Regalen heute eine typische Dreiteilung vor. Ein Drittel Fleisch und Tiefkühlprodukte der billigsten Art, ein weiteres Drittel Alkohol, welcher die gleichen Kriterien aufweisen sollte und natürlich jede Menge Süßigkeiten, um die quengelnden Kinder ruhig zu stellen und den Abend vor dem Fernsehgerät zu versüßen. Die Mentalität des Sammelns kommt hingegen vor allem bei der Subspezies der Straßen-Lindenauer zum Vorschein, die hier in hehren Mengen tagein, tagaus durchs Viertel wankt. Grundsätzlich wird alles gesammelt, was irgendwie Kohle bringt. Altpapier, nicht abgeschlossene Fahrräder, Flaschen und bewegliche Eisenteile. Im Gegensatz zu den sesshaften Lindenauer kennt diese Untergruppierung den Geiz nicht, sondern die ersammelten Reichtümer werden sofort wieder in Alkohol umgesetzt. Rituelles Betrinken stellt eines der Hauptcharakteristika dar und begleitet alle Formen des gemeinsamen Zusammenkommens. Die Straßen-Lindenauer sieht man daher selten alleine und meistens sind sie in Horden von zwei bis fünf Personen unterwegs. Vor Supermärkten kann die Anzahl aber leicht auch auf über zwanzig ansteigen und dann in stundenlangen Saufgelagen ausufern. Herrscht innerhalb der Horde ein zumeist libertäres Klima, so grenzen sich die einzelnen Kleingruppen stark voneinander ab und oftmals hört man im Vorübergehen verächtliches Gerede über Clans, die sich vor anderen Supermärkten postiert haben. Es scheint auch, dass einige Supermarkt-
ketten beliebter sind als andere, denn vor dem Discounter direkt in unserer Straße sieht man sehr selten StraßenLindenauer. Allgemein haben sich die AralTankstelle, einige Eingänge von Kaufhallen und Abbruchhäusern oder eine der florierenden Bierpinten als gute Beobachtungspunkte erwiesen. Mit etwas Geduld und Glück bekommt man hier prächtige Exemplare dieser Gattung zu sehen, die auf den ersten Anblick für den Neuling einen doch recht gruseligen Eindruck machen. Sollte sich doch einmal unerwarteter Weise keiner zeigen, so kann man ihren Standpunkt bei guten Windverhältnissen auch erriechen. Die Beobachtung gestaltet sich allgemein recht unproblematisch, da diese Gruppierung kein aggressives Verhalten an den Tag legt und sich wenig um Passanten kümmert. Wenn es doch einmal Probleme gibt, so lässt sich fast jeder Straßen-Lindenauer durch gutes Zureden und eine Flasche Sternburg-Export besänftigen. Wie andere Naturvölker auch, so hat sich diese Spezies bestmöglich an ihre Umwelt angepasst und benutzt, um bei ihrem Alkoholkonsum nicht unnötig gestört zu werden, mit der Mimese eine auch im Tierreich sehr beliebte Form der Tarnung. Manchmal ist es selbst für einen Experten schwierig, die grauen eingefallenen Gesichter mit ihrem ruinösen Zahnwerk von den maroden Häuserfassaden, vor denen sie sich gerne aufhalten, zu unterscheiden. Leider muss ich gestehen, dass ich mich bei den folgenden Beobachtungen hauptsächlich auf die sesshaften Lindenauer beziehen werde. Dies liegt vor allem daran, dass mir das sächsisch an sich schon große Probleme bereitet, die Straßen-Lindenauer jedoch durch den ständigen Alkoholgenuss zu einer noch unverständlicheren Aussprache neigen und mir es bis jetzt noch nicht gelungen ist, einen geeigneten Dolmetscher zu finden, um auch dieser Gruppierung ihre Geheimnisse zu entlocken. Es mangelte gewiss nicht an Versuchen, und Ronny, den ich als Informant gewinnen konnte, war auch nach einigen gemeinsamen Sixpacks dazu bereit, mir etwas von den Mysterien dieser unbekannten Gruppierung zu offenbaren. Leider war ich nicht mehr so fit, als sich seine Zunge nach Stunden endlich löste und als ich am nächsten Morgen mit tierischen Kopfschmerzen aufwachte,
In darkest Leipzig konnte ich mich nicht im geringsten an mit ihrer Parole „Nur ein Leutzscher ist hier nur aus der Reihe, wenn man sich seine Erzählungen erinnern. Ich habe ein Deutscher!“ in die Straßenschluchten zu gut kleidet. Ansonsten ist von Badevon weiteren Versuchen Abstand ge- einfällt und den Lindenauern ihre na- latschen bis Jogginghose alles erlaubt. nommen, da ich fürchte, es könnte mir tionale Zugehörigkeit abspricht. Dies Übrigens gilt dieser bad taste auch für sonst so ergehen, wie einigen Ethnolo- hat zur Folge, dass sich Teile der hier die vielen Bierstuben. Falls doch jegen, die sich zu sehr mit den Bräuchen ansässigen Jugend, womöglich aus Ver- mand Lust bekommen sollte, diese der Einheimischen identifizierten und zweiflung darüber, dass sich für Lin- Exoten mit eigenen Augen zu beobachihre Feldforschung deshalb abbrechen denau kein nationalistischer Slogan ten, so gebe ich ihm den Tipp, niemals mussten. Die Gefahr des „going native“ finden lässt, radikalisiert hat und nun in der „Grauen Perle“ oder im „Who is ist einfach zu groß und des Weiteren mit wildem Hass all denen nachjagen, Perfect“ nach einem sauberen Bierglas müsste ich zunächst monatelang üben, die irgendwie undeutsch aussehen, um oder einem besseren Bier als Sternburg um diese Mengen zu fragen. Wenn man an Alkohol unbeallerdings mit diesen Durch den konservativen Touch, schwert in mich Einschränkungen lereinkippen zu kön- der zumindest vielen der sesshaften Lindenauer anhaftet, ben kann, so erweinen, die hier für eine sen sich diese beiden haben sich hier viele Sitten und Bräuche bewahrt, gesunde GesprächsKneipen als ideale grundlage von NöAusgangspunkte für die in anderen Teilen von Leipzig schon ausgestorben sind. weitere Expeditionen, ten sind. So bleiben, was die Straßen-Linda man hier auch auf denauer betrifft, leider viele Fragen un- den Leutzschern ihren aufrechten Pa- viele erfahrene Scouts trifft, die die beantwortet. Selbst die Zweiteilung in triotismus zu beweisen. Straßen und Gassen wie ihre WestenSesshafte und Nomaden scheint mir bei Es könnte aber auch sein, dass es tasche kennen. genauerer Betrachtung nur ein theore- sich hierbei um Übergangsriten hanZweifel besteht indes, was die Haltisches und vorläufiges Konstrukt und delt, die ja bei vielen Ethnien weltweit tung von Tieren betrifft. Während die die Wirklichkeit zeichnet ein weit viel- immer von einer Phase der Orientie- zahlreichen Kothaufen auf den Gehweschichtigeres Bild. Viele der Straßen- rungslosigkeit und Formen ritueller gen eine große Anzahl von Haustieren Lindenauer sind vermutlich nur Semi- Gewalt begleitet werden. Dagegen vermuten lässt, wenn man nicht zu der Nomaden, da sie sich in den Nächten spricht allerdings, dass mancher dieser Annahme neigt, Nachbarethnien würin Häuser zurückziehen und nicht wie meistens mit grünen Bomberjacken Be- den ihre Hunde (canes lupi) zum Kazum Beispiel die Straßenbewohner in kleideten, sich schon ein ganzes Jahr in cken nach Lindenau führen, lässt die den indischen Großstädten ihr Nacht- der Schwellenphase befindet, was eth- Beobachtung meiner unmittelbaren lager am Wegesrand errichten. Auch nologisch gesehen äußerst merkwür- Nachbarschaft andere Schlüsse zu. dünkt es mir, dass ich bei den verschie- dig erscheint und weltweit einzigartig Man findet zwar hier und da die gemeidenen Horden bekannte Gesichter aus wäre. Wahrscheinlicher ist daher, da ne Hauskatze (felis silvestris familiaris) meiner Connewitzer Zeit entdeckt auch anderen Subclans – wie die Spießer und den Kanarienvogel (serinus canaria habe, was eher auf Transhumanz hin- und Rentner in unserem Haus – xeno- forma domestica), aber bis auf einen ledeuten würde, das heißt manche von phobe Charakteristika aufweisen und bensgroßen Porzellanhund (canis terihnen wechseln ihre Weidegründe, so- nicht zu Kommunikation neigen, dass racotta) bei unseren Mitbewohnern, bald diese abgegrast sind und Eisenteile diese Form der Aggression und Gewalt herrscht in meiner näheren Umgebung und Fahrräder rar werden. ein Mittel der sozialen Interaktion dar- eine ausgesprochene Abneigung gegen Dies mögen gewiss nur vorläufige stellt, wenn man auch sagen muss, dass diese Tierart. Vermutungen sein und es bedarf, wie dieser Dialog gesundheitlich äußerst Ein Erklärungsansatz bestünde gesagt, noch weiterer Forschungsarbeit, anstrengend werden kann und ich des- darin, dass auch dies etwas mit den um diese Hypothesen wissenschaftlich halb auch bei dieser Gruppierung auf Ritualen der Spießer zu tun hat, in zu bestätigen. weitere detaillierte Feldforschung ver- deren Mitte wir nun wohnen und die Da die Mehrzahl der ansässigen Be- zichtet habe. Porzellanhunde mehr oder minder eivölkerung atheistisch ist und die VerFür Kleidung und Schmuck ver- nen zum Symbol erstarrten Atavismus wendung der Begrüßungsformel „Grüß wendet die indigene Bevölkerung kei- darstellen. Ich neige aber eher zu einer Gott“ schon zu mittelschweren Pro- nen großen Aufwand und es herrscht anderen Vermutung und glaube, dass blemen führen kann, stellt der Brauch ein allgemeiner Schmuddellook vor, sich die Spießer, die sich gerne dem des regelmäßigen gemeinsamen Alko- der sich vor allem bei den Rentnern auf common sense anpassen, dies in diesem holkonsums neben der Verehrung des die Farben Beige und Grau beschränkt. Fall aber wegen ihrer peniblen SauberFernsehers und einiger spezieller Riten Lindenau steht hier im Gegensatz zu keitsgebote nicht können, mit diesen der Spießer, auf die ich im zweiten Teil den Ethnien des Leipziger Südens, erstarrten Tieren ihren guten Willen noch näher eingehen werde, die einzige wo sich viele Clans durch das Tragen zeigen, um nicht bei den Nachbarn ins nennenswerte sakrale Handlung in die- von Trainingsjacken, Nieten, bunten Gerede zu kommen. sem Viertel dar. Frisuren oder Muschelhalsketten deIm Übrigen denke ich, dass diese Dafür ist das Nationalbewusstsein finieren und voneinander abgrenzen. Subspezies, wie ich noch zeigen werde, weit verbreitet und es herrscht ein eif- Der Lindenauer ist hier toleranter und siedlungsgeschichtlich die älteste ist riger Wettstreit mit der Nachbareth- schert sich nicht sonderlich um sein und die Verehrung der Haustiere erst nie der Leutzscher, die immer wieder Äußeres. Man könnte sagen, man fällt sehr viel später einsetzt. Genau genom-
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Indonesiens informelles Abfallentsorgungssystem men zu der Zeit, wo das Amt für die Köter Sonderzuschläge auszahlt. Unter diesem Aspekt werfen Hunde neben Kot, wenn man sie an der „Nur billiges Essen kommt in den Napf-Ideologie“ beteiligt, wirtschaftlich gesehen einen netten Nebenverdienst ab. Beliebteste Hunderasse ist eindeutig der Pitbull Terrier, der gerne mit breitem Nietenhalsband und Flexileine dekoriert durch die Straßen geführt wird. Vor allem bei den Jugendlichen, die sich wegen diverser Minderwertigkeitskomplexe radikalisiert haben, ist er ein gern gesehener Begleiter. Bei älteren Personen scheint der Dackel eine ähnlich wichtige Bedeutung einzunehmen, jedoch aus anderen Gründen. Familienhunde wie Golden Retriever oder Labrador sind – vermutlich auch wegen ihrer hohen Anschaffungskosten – dagegen verpönt. Auf die Meinung von anderen gibt man hier – mit Ausnahme der Bildzei-
tung – recht wenig. Der Lindenauer ist auch nicht besonders politisch interessiert und solange das Fernsehprogramm nicht abgeschaltet wird und die Bierpreise sich nicht verteuern, scheint den Meisten der Rest egal zu sein. Durch den konservativen Touch, der zumindest vielen der sesshaften Lindenauer anhaftet, haben sich hier viele Sitten und Bräuche bewahrt, die in anderen Teilen von Leipzig schon ausgestorben sind. Hinzu kommen noch die vielen neueren sozialen Zusammenschlüsse, wie die der StraßenLindenauer. So gesehen kann man Lindenau wirklich als ethnologische Goldgrube bezeichnen und ich hoffe, dass es mir in den nun folgenden Anekdoten gelingt, die Mentalität der ansässigen Bevölkerung ein wenig zu beleuchten, um dieses zukunftsträchtige Forschungsfeld auch anderen Ethnologen schmackhaft zu machen.
Der Ausschnitt ist in leicht abgewandelter Form dem Buch „In darkest Leipzig. Von den seltsamen Sitten und Gebräuchen der Lindenauer“ entnommen, welches im Leipziger Verlag editionpaperone erschienen ist.
Michael Schweßinger wurde am 09.02.1977 geboren und studiert zurzeit in Leipzig und Halle Afrikanistik und Ethnologie. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich neben der Erforschung des Lindenauer Straßenlebens mit dem subsaharischen Afrika.
Anna Fünfgeld
Indonesiens informelles Abfallentsorgungssystem und die die es am Leben erhalten
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ch treffe Dulah Anfang Januar gegen 20 Uhr abends in einer der der Hauptverkehrsstrassen in Yogyakarta, Indonesien. Der Stra� ßenrand ist von kleinen Essensständen, den so genannten „Warung“ und „Lesehan“ gesäumt. Dulah steht auf dem Gehsteig und verweilt für einen Moment. Seine Augen suchen die Umgebung ab. Außer einem Reissack, der offensichtlich zu etwa einem Viertel gefüllt ist, trägt er nur die Klamotten an seinem Leib mit sich: eine blaue Jeans und eine für die indonesische Hitze unglaublich warm wirkende bei� ge Jacke. Dulahs Augen suchen die Umgebung ab. Was er sucht sind Abfälle, Liegengebliebenes, Reste. Alles, was sich irgendwie weiter� verkaufen lässt. Dulah ist einer der zahlreichen Müllsammler in Java, Indone� sien. Er ist 32 Jahre alt. Seit er vor 12 Jahren aus einer kleinen Stadt in Zentraljava nach Yogyakarta kam um Arbeit zu suchen sammelt er hier täglich das was die anderen achtlos auf die Straße schmei� ßen. Als “Abfall” oder auch “Müll” bezeichnet man alles, was nicht mehr gebraucht oder gewollt wird. Wie auch in vie-
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len anderen Entwicklungsländern stellt die unsachgemäße Handhabung von Müll in Indonesien eine der Hauptbedrohungen für Gesundheit und Umwelt dar. In den dicht besiedelten Regionen Indonesiens verschlechtern sich die Lebensbedingungen vor allem armer Gesellschaftsschichten mit ansteigender Bevölkerungsdichte zunehmend, da in den meisten Gebieten immer noch keine angemessene Abfallentsorgung vorhanden ist. Mit dem Bevölkerungswachstum beansprucht der zu deponierende Abfall immer mehr Platz während nutzbares Land zunehmend schwindet. Die zentrale Müllentsorgung funktioniert nur in Ansätzen, da immer noch kein Modell zum kostendeckenden Wirtschaften entwickelt werden konnte und nach wie vor große Probleme in Logistik und Infrastruktur bestehen. Müll wird in Indonesien demnach weiterhin vorwiegend durch dessen Verbrennen beseitigt. Dies geschieht zumeist hinter den Häusern oder einfach am Straßenrand. Dort eben, wo der Müll “entsorgt” wird. Passiert dies in urbanen Gebieten zusätzlich zur
Indonesiens informelles Abfallentsorgungssystem Deponierung, so haben viele “Pemulung” (Mülldie Menschen auf den sammler). Vom Rest der kleineren Außeninseln Bevölkerung als Diebe des Archipels, wo weangesehen leben sie der Abholsysteme noch meist ausgeschlossen aus Müllhalden bestehen, der Gesellschaft auf der keine andere Wahl als Straße. In der sozialen den Abfall zu verbrenHierarchie Indonesiens nen oder ins Meer zu sind nur die richtigen werfen. Nicht selten Verbrecher, die Prostitaucht er dann allertuierten und die Bettdings am nächsten Morler noch tiefer gestellt. gen an einem anderen Tagtäglich, meist zur Strand wieder auf. Dort frühen Morgenstunde wo Abfallentsorgungsund am späten Abend Programme existieren, durchkämmen die Müllbeschränken sich deren sammler die Straßen, auf Aufgaben darauf, den der Suche nach Abfall. Müll einzusammeln Jene unter ihnen, denen und zu den Deponien es ein bisschen besser zu bringen. Die größgeht, sammeln den Müll ten der Müllendlagermit Fahrrädern, Becaks stätten finden sich am (indonesische FahrradRande der javanischen taxen) und HandkarGroßstädte. Sie machen ren ein. Diejenigen, die immer wieder durch Kaüberhaupt nichts besittastrophen-Schlagzeilen zen laufen die Straßen auf sich aufmerksam. und Gassen zu Fuß ab, Die riesige Deponie auf einen Reissack über der der der Abfall der 10Schulter tragend. Millionen Metropole Als ich ihn treffe ist Jakarta abgeladen wird, Dulah bereits seit zwei muss beispielsweise jeStunden unterwegs. Er sieht den Tag über 6000t an erschöpft aus und auf seiner neuer Abfallzufuhr fasStirn stehen Schweißperlen. sen. Die Müllhalde hat Ja, für ein kurzes Gespräch mittlerweile stellenweihabe er Zeit. Was ich denn se 20m Höhe erreicht. von ihm wissen wolle, fragt Um den stetig anwacher etwas schüchtern und be� senden Müllberg zu verschämt lächelnd. Ich schlage kleinern ist man auch ihm vor, zunächst erstmal auf den Deponien auf Dulah - einer der zahlreichen Müllsammler in Java, Indonesien in dem nächsten “Lesehan” die Verbrennung des Abetwas zu essen und zu trinken falls angewiesen. Trotzdem kommt es in Indonesien mittler- bevor wir mit dem Interview beginnen. Er habe gerade erst gegessen weile in regelmäßigen Abständen zum Zusammensturz einer und getrunken, lehnt er dankend ab. Schließlich lässt er sich doch zu der großen Müllhalden. Im Februar 2005 beispielsweise ist einem “Es Jeruk” (Orangensaft mit Wasser, Zucker und Eiswür� die Deponie bei der Großstadt Bandung zusammengestürzt, feln) überreden und setzt sich ganz an den Rand des Lesehan. Seinen was über 100 Menschenleben gefordert hat. Auf der Müll- Reissack mit dem gesammelten Müll lässt er in gebürtigem Abstand halde bei Jakarta hat sich erst im September 2006 ähnliches vorne am Strassenrand liegen. Er sitzt in möglichst großer Distanz ereignet, wobei 4 Menschen gestorben sind. Die Betroffenen zu den anderen Gästen, dort wo das Licht der Lampe fast nicht mehr sind vorwiegend Menschen die im und durch den Müll der hin scheint, so dass man ihn nur noch schemenhaft erkennen kann. anderen leben. Auf der vor einigen Monaten eingestürzten Ja, Pemulung leben am Rande der indonesischen Gesellschaft, denke Deponie beispielsweise suchen sich hunderte von Menschen ich bei mir. Wir warten auf unsere Bestellung, ich stelle mich ihm tagtäglich ihren Lebensunterhalt zusammen. Ganze Fami- vor und erkläre, warum ich gerne mit ihm sprechen möchte. Er hört lien leben in zeltartigen Behausungen die sie sich auf dem aufmerksam zu, blickt noch immer mit etwas Scheu und unange� Abfallberg erbaut haben. Ihre Kinder nehmen bereits von nehmer Untergebenheit in meine Augen. Die ihm angebotene Ziga� klein auf beim Müllsammeln teil. Die Menschen auf den rette genießt er sichtlich. Als habe er schon lange nicht mehr geraucht Deponien konkurrieren miteinander um die als nächstes an- obwohl er es gerne tut, denke ich. kommende Abfallfuhre, da diese ihre Lebensgrundlage und ”Ja, ich arbeite als Müllsammler. Mmh ja, jeden Tag ist das so, die ihrer Familien bedeutet. so ist mein Leben...”, gibt Dulah etwas verschämt zu. “Weil ich auch Nicht nur direkt auf den Deponien, sondern auch in keine [Arbeits-] Erfahrung habe und auch keine Familie mehr [...] den Straßen der größeren Städte Indonesiens sieht man Ich war auch nicht in der Schule. Ja, früher nur in der Grundschu�
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Eine Mülldeponie auf Bali, Indonesien le.” fügt er entschuldigend hinzu. Wer in Indonesien keine weiter� führende Schule besuchen kann - meist weil die Eltern das erforder� liche Schulgeld nicht aufbringen können - hat später nur sehr geringe Chancen einen normalen Beruf zu finden. Als Pemulung arbeitet Dulah jeden Abend von etwa 18 Uhr bis 22 Uhr. Dann ruht er sich aus und fängt am nächsten Morgen gegen 5 Uhr wieder an. Zur Mittagszeit, etwa gegen 12 Uhr, bringt er den gesammelten Müll zu einem der Zwischenhändler, die ihn ihm abkaufen. Nun hat er wieder bis zum Abend Zeit sich auszuruhen. “Die Krankheiten die manchmal da sind spüre ich schon nicht mehr. Scheinbar bin ich schon unverletzlich”, lacht er sarkastisch. “Ja, wie auch anders, wenn ich nicht einfach weitermache kann ich nicht essen.” Als Pemulung ver� dient Dulah täglich zwischen 6000 und 15000 Indonesische Rupiah (etwa 0,50 bis 1,25 €). Das reicht meist genau für das Überleben am nächsten Tag. Etwas zur Seite legen kann er nicht. Die indonesischen Pemulung verkaufen den gesammelten Müll gemeinhin an Zwischenhändler, die ihn dann wierderum sortieren und weiterverkaufen. Letztendlich werden die Wertstoffe in Fabriken auf Java oder teilweise auch in China weiterverarbeitet. Auf die Frage, was er als gut und was als schlecht ansieht, meint er, dass es für ihn wichtig sei trotz allem/ allen Umständen nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. “Ja, obwohl ich auch Pemulung bin. Da gibt es immer Leute die denken, dass man ein Dieb ist” fügt er hinzu. “Von der Regierung habe ich noch nie etwas bekommen, aber zu Essen bekomme ich manchmal z.B. zu Weihnachten oder Idul Fitri [isla� mischer Feiertag am Ende des Ramadan]. Da gibt es viele Menschen die gut zu mir sind.” Und was er sich für die Zukunft wünsche? “Ja, einfach, dass mein Leben sich ein kleines bisschen ändert, ein Zimmer haben, etwas besser schlafen können und unter Leuten sein.” Durch Menschen wie Dulah hat sich im Laufe der Zeit in Indonesien ein funktionierendes informelles System der
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Mülltrennung etabliert. Angetrieben nicht von Umweltbewusstsein, sondern von Armut und Aussichtslosigkeit. Anna Fünfgeld studiert Wissenschaftliche Politik, Geographie und Ethnologie in Freiburg. Von Ende Juli 2006 bis Ende Oktober 2006 hat sie an einem Projekt von ASA teilgenommen. Ziel des Projektes war es, eine “Awareness- und Informationskampagne zur häuslichen Abfallentsorgung und –verwertung” auf Java und Bali in Indonesien zu entwickeln. Vor Ort arbeitete sie gemeinsam mit ihrem Projektpartner für die NROs Borda, BEST und BaliFokus. ANZEIGE
Frisch vom Feld
Gereon Janzing
Eine Reise in die Wirklichkeit
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enn wir über die Erde reisen, dann stellen wir unweigerlich fest, dass die Menschen in der Realität ganz anders sind als diejenigen in Zeitungen und anderer fiktiver Literatur. Oft erscheinen Fremde in dieser Literatur als „Heiden“, „Steinzeitvölker“, „Entwicklungsländer“ oder sonst etwas Minderwertiges, in den groteskesten Darstellungen gar als „Kannibalen“. So möchte ich hier von einer Reise berichten, die mich durch eine Reihe Länder bis hin nach Nubien führte. Auf dem Land- und Seeweg bis nach Ägypten, wo ich mehrere Wochen verbrachte. Die Route: Zunächst fuhr ich nach Venedig (Venezia), von dort mit dem Schiff nach Igoumenitsa im Nordwesten Griechenlands. Zwei Tage war ich auf Korfu. Mit einem Abstecher über Athen ging es dann ostwärts bis İstanbul. Von dort fuhr ich an die türkische Südküste, zuerst nach Alanya, wo ich die Tropfsteinhöhle besuchte. Mit dem Schiff ging es von Taşucu nach Zypern, wo es heute für EU-Bürger kein Problem mehr ist, die innerzypriotische Grenze zu überqueren. Weiter fuhr ich mit dem Schiff nach Israel und von dort über Land nach Ägypten. Zurück fuhr ich direkt von Israel nach Griechenland, was heute nicht mehr mit Passagierschiffen zu machen ist, wohl aber mit Frachtschiffen. (Nach meiner Rückkehr schrieb ich also natürlich einen Dankesbrief an die Reederei.) Von Griechenland, wo ich ein paar Kykladen-Inseln besuchte, fuhr ich über Bulgarien und Rumänien zurück nach Deutschland. Übernachtet habe ich auf dieser Reise oft im Zelt. Manche Staaten maßen sich an, das per Gesetz zu verbieten, um die Umsätze von Campingplätzen und Hotels zu erhöhen. Ja nun, dies ist die Erde von uns allen. Und ich
als langjähriger ehrenamtlicher Naturschützer beanspruche für mich, dass ich verantwortungsbewusster mit der Erde umgehe als die Gesetzgeber. Auch in einem besetzten Haus habe ich ein paar Nächte zugebracht – sozusagen in einem kostenlosen Hotel. Was für eine verheißungsvolle Alternative zum Kapitalismus! In der Türkei geschah es immer wieder, dass ich zum Tee eingeladen wurde. Der Ruf zum „Çay“ ist ein Symbol türkischer Gastfreundschaft. Dass
In Istanbul sprach mich ein älterer Mann in Deutsch mit rheinländischem Akzent an. Gastfreundschaft in islamischen Gesellschaften einen hohen Stellenwert besitzt, ist ja weithin bekannt. Das durfte ich auch in Ägypten erleben. In İstanbul sprach mich ein älterer Mann in Deutsch mit rheinländischem Akzent an. Er hatte einige Jahre in Köln gelebt. Er führte mich bei der Hagia Sofia herum und erzählte mir einiges Interessantes. Etwa über den Obelisk, der zum Schiffstransport zweigeteilt werden musste und von dem bei einem Sturm der untere Teil ins Meer fiel. Nach seiner Führung bat er mich flehentlich, ihm das fehlende Geld für seine Fahrt nach Ankara zu geben. Er hatte ein sehr schlechtes Gewissen, dass er mich so überrannt hatte, ohne mir zu erzählen, was er von mir wollte. Nun, das konnte ich einsehen: Hätte er mir von Anfang an gesagt, was er wollte, hätte ich mich sicher nicht darauf eingelassen. Aber so hatte ich bereits Sympathien für ihn entwickelt und sah seine Verzweiflung. Da konnte ich ihm natürlich seinen Wunsch nicht abschlagen, seine Führung etwas über-
zubezahlen. Er lud mich ein, wenn ich mal nach Ankara komme, bei ihm zu übernachten. Auffällig in der Türkei ist der weitgehende Konsens in der positiven Beurteilung von Kemal Atatürk. Die meisten Türken halten die Diktatur nicht prinzipiell für schlecht. Ja, das ist das übliche psychologische Schema in der Politik: Man identifiziert sich gerne mit jemandem, den man für erfolgreich hält. Der letzte deutsche Diktator fiel schließlich erst in Ungnade, als man ihn nicht mehr für erfolgreich halten konnte. Die Überfahrt von Taşucu nach Girne auf Zypern musste ich um zwei Tage verschieben, da wegen Sturm kein Schiff fuhr. Das kannte ich von früheren Reisen gut, dass Stürme meine Reiseplanung veränderten, und immer war es zu meinem Vorteil gewesen. Ich glaube, der Sturm mag mich. Diesmal landete ich während der Wartezeit in einer Art Jugendtreff und war zum wiederholten Male sehr glücklich, in die Türkei gekommen zu sein. Außerdem besuchte ich das Göksudelta, ein Sumpfgebiet, das zum Naturschutzgebiet erklärt worden ist. Dort sah ich einige Vögel bis hin zu Flamingos (Phoenicopterus ruber). Warum ich mir ausgerechnet in Ägypten eine Erkältung, beginnend mit heftigem Husten, einfing, weiß ich nicht so recht. Die trockene, staubige Luft mag dass Ihre dazu beigetragen haben, dass meine Schleimhäute gereizt waren und damit den Krankheitserregern und Krankheitserregerinnen einen Nährboden boten. Im nubischen Süden Ägyptens beeindruckte mich die Tatsache, dass es zwischen Nubiern und Ägyptern keine ethnischen Konflikte gibt. Das ist wohl der Grund dafür, warum man in den Zeitungen kaum jemals von Nubiern
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Frisch vom Feld liest. Auch die Konflikte zwischen Muslimen und koptischen Christen sind nicht von großer Bedeutung. Religionszugehörigkeit wird oft nicht als Wertmaßstab, sondern als Identifikationsmedium verstanden, so dass sie Freundschaften nicht im Wege steht. Manches mag hinter den für Touristen sichtbaren Kulissen problematischer sein, als es zunächst scheint, aber sicher sind die Probleme nicht so groß wie die in den Medien breitgetretenen Konflikte. Während meines Aufenthalts in Ägypten, erschienen in einer konservativen dänischen Zeitung Karikaturen, die den Islam und seinen Propheten Muhammad verspotteten. Zweimal wurde ich daher gefragt, ob ich aus Dänemark sei. Wäre ich aus Dänemark, hätte es dennoch kein Problem sein sollen: Ein entwaffnendes „Salaam aläykum“ öffnet einem leicht die Herzen der Muslime. „Friede sei mit dir/ euch“ – so begrüße ich die Menschen gerne, die diesen Gruß als den ihren begreifen. In Ägypten befremdete mich zunächst, dass mich ausgerechnet im Lande von Isis und Osiris Menschen überzeugen wollten, es gebe keinen Gott außer Allah. Ja gut, der Begriff „Gott“ wird im heutigen Ägypten wie auch sonst im islamischen und christlichen Gebiet so definiert, dass er nur Allah bezeichnet. Dann allerdings erscheint mir die Aussage, es gebe keinen Gott außer Allah als Zirkelschluss, im logischen Sinne also ein Satz ohne Inhalt außer demjenigen, den Begriff „Gott“ zu definieren. Ist das nicht häufig so bei Religionen, dass man sich, ohne es zu merken, nur um Definitionen streitet? Es gibt Dolmetscher zwischen Arabisch und Deutsch, bislang fehlen aber solche zwischen – sagen wir – Islam und Buddhismus. Was im Letzteren als Götter bezeichnet wird, hat ja nun nichts mit dem jüdischen Jahwe oder dem christlich-islamischen Allah gemeinsam, sondern eher mit den Engeln dieser Religionen. Zur Vermeidung solcher Missverständnisse hat leider auch die Weltsprache Esperanto bisher keine Lösung zu bieten. Es ist sicher eine dankbare Aufgabe für die Esperantobewegung, an einer Lösung zu arbeiten. Ich war natürlich bei den Pyramiden von Giza, auch bei denen von Saqqara. Mein Mitreisender sagte, die letzteren seien von Menschen gemach-
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te Pyramiden, während diejenigen in Giza von Außerirdischen gemacht seien. Die Unterschiede sind auffällig. Ja, die Pyramiden von Saqqara waren technisch viel einfacher zu errichten. Diejenigen von Giza bestehen, ähnlich wie auch die Tempel von Luxor und Karnak, aus gigantischen Steinblöcken, über deren Transport und deren haargenaue Passform man lange spekulieren kann. Auch das sonstige Wissen der Erbauer ist zweifellos beeindruckend. Vielleicht unterschätzen wir
welche Aufregung! Dann ein Blick in meinen Schlafsack: Die Japaner, die bis zum Morgen bei uns im Zimmer gewesen waren, hatten mir den wichtigen Gürtel mitsamt einem kurzen Brief dort hineingelegt. Nun war die Welt wieder in Ordnung. Weiter gereist in den Sudan bin ich nicht. Aber gehört habe ich Verschiedenes über dieses Land. Ein Mann, der gerade auf dem Weg war, wiederholt in den Sudan zu reisen, erzählte mir, dass dort die Strafe für Diebstahl
Es gibt Dolmetscher zwischen Arabisch und Deutsch, bislang fehlen aber solche zwischen – sagen wir – Islam und Buddhismus. die Menschen früherer Zeitalter ganz beträchtlich. Zweifellos hatten die Erbauer, wer immer es gewesen sein mag, technische Möglichkeiten, von denen wir heute nur träumen können. In Ägypten kam es einmal vor, dass mir ein paar Kinder Geld entwendeten. Nun, angesichts der Tatsache, dass ich im Verhältnis zu ihnen ziemlich wohlhabend bin, kann ich sagen, sie haben einen Beitrag zur gerechteren Verteilung des Eigentums auf der Erde geleistet. Vielleicht sind auch die Bukarester Taxifahrer, die mich mit stark überhöhten Preisen übers Ohr hauten, vor diesem Hintergrund zu sehen. In einem israelischen Ort erlebte ich das Gegenteil: Ein älterer Herr trat ganz verstohlen auf mich zu, sprach mich in Russisch an und drückte mir einen Geldschein in die Hand. Ein Stück meines Wegs reiste ich mit einem Amerikaner, der sich häufig beschwerte, wie schmutzig es in Ägypten sei, und der immer wieder erzählte, was in den USA und anderswo besser sei als in Ägypten. Nein, das war nicht auf Grund von Nationalismus. Als Ethnologe begriff ich schnell, dass das kein politisches, sondern ein psychologisches Problem war. Ich sprach ihn mal darauf an, dass er wohl einen Kulturschock habe. Und er gestand, dass das sein kann. Als ich ihm sagte, dass es doch wenig Sinn habe, zu reisen, um ständig nur zu sehen, was anderswo besser ist als dort, wo man grad ist, war er so einsichtig, mir Recht zu geben. Zur Tagesreise nach Abu Simbel vergaß ich meinen Geldgürtel im Hotel – mit Reiseschecks, Reisepass und Haustürschlüssel. Als ich zurückkehrte, lag er nirgends herum. Ei,
Handabhacken ist und dass einem Mann, der Ehebruch begeht, der Penis abgeschnitten wird. Grausam, was sich die Staatsleute einfallen lassen, nur um die Menschen zu terrorisieren und sich wichtig zu machen. Von anderen Reisenden hörte ich, dass die Menschen im Sudan extrem gastfreundlich sind. Zwei Aspekte also, wie man dasselbe Land wahrnehmen kann. Wie überall: Der Staat verkörpert Gewalt, die Menschen verkörpern eher Wärme und Wohlwollen. Ein besonderes Erlebnis war es, zwei Tage lang mit anderen Menschen auf einem Segelschiff auf dem Nil zu leben. Es ging den Fluss hinunter mit Besuch einer recht großen Insel und eines Kamelmarktes. Ich lernte dort eine allein reisende Chinesin kennen, von der ich auf Anhieb begeistert war, sie von mir natürlich auch. Allein reisende Frauen trifft man in Ägypten selten, aber es freute mich zu sehen, dass das gut möglich ist. Am Rande einer Oase winkte mich ein älterer Mann zu sich, der zwischen zwei Eseln ein Feuerchen hatte. Er gab mir Brot, Linsensuppe und Tee. Das Wenige, was er hatte, teilte er noch mit mir! Eine verbale Unterhaltung war nicht möglich, da ich kein Arabisch spreche. Zumindest konnte ich šokran sagen, das arabische Wort für „danke“. Das ist meist das erste Wort, um dessen Kenntnis ich mich im Gebiet einer fremden Sprache bemühe. Für mich befremdlich war in Ägypten der Umgang der Geschlechter untereinander, der so völlig anders ist, als ich ihn von Mitteleuropa kenne. Ein Ägypter erläuterte mir, warum er den islamischen Umgang mit dem Thema
Frisch vom Feld für besser halte als unseren. Ich fühle mich erinnert an Stephan Sulkes schönes Lied „Der Mann aus Russland“:
Meer des Salzes“. Nun gibt es in der unmittelbaren Nähe des Toten Meeres Schlammbäder mit Süßwasser. Als ich
Ich wanderte um den See Genezareth, sozusagen auf den Spuren Jesu, wofür ich zwei Tage brauchte. „Wir sprachen dann von unsern beiden Welten / Ich fand, bei ihm sei manches schief und krumm / Doch er ließ keinen meiner Sätze gelten / Und drehte mir den Spieß ganz einfach um.“ Gelegentlich traf ich Ägypter, die Vorurteile gegen Israelis haben. Nun, dass sich der israelische Staat in Ägypten keiner besonderen Beliebtheit erfreut, ist wohl verständlich. Aber den Hass gegen einen Staat auf dessen Bewohner auszuweiten, ist ja nicht besonders lebensnah. Dies aber war zum Glück nicht die Norm. So traf ich auf einer Insel im Nil einen jungen Mann, der gar ein paar Wörter Hebräisch konnte. Auf dem Sinai begann ich einen Tauchkurs, nachdem ich mit medizinischer Hilfe meine Erkältung weitgehend auskuriert hatte. Nachdem ich von den vielen potenziellen Gefahren gehört hatte, fühlte ich mich unter Wasser nicht mehr so recht wohl. Ich bezweifelte, ob Tauchen das Richtige für mich sei. Ich besprach meine Ängste offen mit meinem Tauchlehrer und dem Inhaber des Tauchzentrums. Glücklicherweise waren sie sehr einfühlsam und konnten mit meinen Ängsten umgehen. Der Lehrer sah natürlich nicht nur meine Angst, sondern auch meine Begeisterung, und so half er mir, diese wieder zu beleben, und ich erkannte, dass Tauchen doch das Richtige für mich ist. Die dreidimensionale Bewegung an einem Korallenriff des Roten Meeres mit Clownfischen und Doktorfischen ist einfach unwiderstehlich! Über den Vorgang des Tauchens kann ich in Deutsch kaum berichten, da mir die Worte fehlen: Die Fachausdrücke kenne ich nun eher in Englisch. Ein Besuch in Israel ist kaum vollständig ohne Schwimmen im Toten Meer. Ich hatte das Glück, dass ich an diesem See ein abendliches Fest mitfeiern konnte, zu dem ich einige Menschen begleitete, Bewohner des Jerusalemer Kibbuzes, in dem ich bei einem Freund untergebracht war. Tags darauf konnte ich mich einfach hinlegen und treiben lassen. Yam HaMelach nennen die Hebräer das Gewässer, „das
nach einem Bad im „Meer des Salzes“ ins Süßwasser stieg, erschien es mir schon fast befremdlich, dass ich hier unterging. Ich bin über den Jordan gegangen. Äh ja, natürlich nur über Brücken. Ich war auch an der Stelle, an der Jesus getauft wurde. Zumindest sagt dies die Tradition. Und Mythen und Legenden erhalten ihren Wert ja nicht dadurch, dass sie wirklich genauso passiert sind (sonst wären die Schöpfungsmythe und die Geschichte von den Heiligen Drei Königen wertlos), sondern dadurch, dass sie erzählt werden. Viele Pilger kamen nach hier. Ich beobachtete eine offensichtlich protestantische Gruppe aus Kalifornien. Eine Reihe Personen ließen sich taufen, teilweise als Wiedertaufe. Ich schaute einfach zu, ohne dem Zwang zu unterliegen, positiv oder negativ werten zu wollen. In der Schule lernen wir zwar, dass wir eine Meinung haben sollten. Aber warum soll ich mir ein Urteil über eine Glaubensgemeinschaft bilden, wenn ich ihr nicht angehöre und ihr auch nicht beizutreten beabsichtige? Ich jedenfalls fand es angenehmer und entspannender, einfach neutral zu beobachten. Wertung hätte ich als Zeichen von Respektlosigkeit empfunden. An derselben Stelle beobachtete ich verschiedene Vögel. Seidenreiher (Egretta garzetta), die ich in Ägypten schon häufig gesehen hatte, gab es auch hier. Immer wieder flogen die auch am Nil verbreiteten Graufischer (Ceryle rudis) hin und her, und auch ein Braunliest (Halcyon smyrnensis) ließ sich blicken, beide aus der Familie der Eisvögel. Einen Eisvogel der in Europa verbreiteten Art (Alcedo atthis) hatte ich bereits im Göksudelta und darauf im Hafen von Taşucu gesehen. Ich wanderte um den See Genezareth, sozusagen auf den Spuren Jesu, wofür ich zwei Tage brauchte. Unterwegs sah ich eine Gruppe Klippschliefer (Procavia spec.). Diese kleinen Tiere gehören bekanntlich in die nächste Verwandtschaft der Elefanten. In Tiberias war ich in einem Hostel untergebracht, dessen Inhaber mir immer wieder mit
Freude Tee und Kaffee kochte, ohne dass ich hierfür extra bezahlen musste. Diejenigen Personen, die im Dienste der Staaten stehen, sind ja leider oft ihrer Menschlichkeit enthoben. Bei meiner Ausreise aus Israel (warum nicht eher bei der Einreise von Ägypten?) wurde ich ausgefragt, wobei eine Frage war, was ich von den Ägyptern denke. Ich erzählte diesem Herrn, dass es in Ägypten genauso wie anderswo nette Menschen gibt. Wie peinlich muss das für ihn sein, dass er eine solche Binsenweisheit erst durch Fragen erfährt! Warum trauen sich diese Menschen nicht mal, ihre negativen Masken abzusetzen? Man mag lange darüber diskutieren, ob es politisch opportun ist, in bestimmte Länder zu reisen. Wenn ich Kontakt zur heimischen Bevölkerung aufbaue, halte ich das immer für einen guten Schritt zur Völkerverständigung. Ich erinnere mich, wie ich vor ein paar Jahren nach Italien fuhr, nachdem ein italienischer Minister über die Deutschen geschimpft hatte; und manche Leute meinten, es wäre doch nicht der richtige Zeitpunkt, nach Italien zu fahren. Ja sicher, gerade wenn sich die Politiker streiten, ist es doch umso wichtiger, dass wir Menschen uns treffen! Wie hieß es früher in der Friedensbewegung: „Für den Fall, dass der Staat, in dem ich lebe, einem anderen Staat, in dem Menschen leben, den Krieg erklärt, erkläre ich diesen Menschen schon heute den Frieden.“ Die politische Situation in Israel ist zweifellos heikel und auch außerhalb Israels stark ideologisch belastet. Manche Leute streiten sich ja, ob nur die Israelis oder nur die Palästinenser ein Recht zu leben haben – so als hätten nicht alle Menschen ein Recht zu leben. Bei Bethlehem traf ich zwei Palästinenser, einer von ihnen ist Muslim, der andere Christ. Einer erzählte mir, dass er seit dem Mauerbau stark in seinen Bewegungen eingeschränkt ist. Ich mit meinem EU-Pass konnte natürlich unbehelligt nach Palästina und wieder zurück gehen. Der EU-Pass macht mich ohnehin global zu einem stark privilegierten Menschen. Beinah hätte ich geschrieben: „in der globalen Klassengesellschaft“, doch dann fiel mir ein, dass das zwar richtig ist, aber durch die marxistische Verwendung des Schlagwortes der „Klassengesellschaft“ ideologisch missverstanden werden könnte. Auf der bezaubernden griechischen
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Frisch vom Feld Vulkaninsel Santorini griff mich ein Hotelier mit seinem Auto auf. Da könnte man meinen, er sei auf der Suche nach Kunden. Aber nein, er führte mich einfach aus Spaß an der Freude durch seine Hotelanlage und beschrieb mir von dort aus eine Stelle, wo ich ungestört gratis zelten konnte. In Siebenbürgen (Transsilvanien) sprach ich einen jungen Mann an und fragte nach einem billigen Hotel. Er änderte seinen geplanten Weg, um mich über ein ganzes Stück zu begleiten und führte mich in ein Hotel, an dessen Rezeption er, der sich mit mir in Französisch unterhalten konnte, für mich dolmetschte. Diese Hilfsbereitschaft war für ihn anscheinend völlig selbstverständlich. Bereits in İstanbul hatte mich ein sehr angenehmes Hostel gefunden, indem mich ein Mann unversehens hingeführt hatte. Ich hatte ihn nicht einmal gefragt, sondern er hatte mich von sich aus angesprochen,
ob ich etwas suche. Die Rückfahrt von Siebenbürgen führte mich nach Ulm, wo ich das Münster besuchte. In diesem gibt es eine Stellwand, die angefüllt ist von Zetteln mit Bitten und Danksagungen. Einiges ist richtig rührend. Da denke ich mir: Die Menschen sind doch großartig, dass sie es fertigbringen, so einen trostspendenden Gott zu erschaffen. Insgesamt muss ich sagen, dass die Reise meinen Glauben an die Menschen bestärkt hat. So soll dieser Bericht auch eine Danksagung an all diejenigen sein, die dazu beigetragen haben. Wer andere Völker als „Heiden“, „Steinzeitvölker“, „Entwicklungsländer“ oder sonst etwas Minderwertiges ansieht, wer vielleicht gar Kriege gegen fremde Völker für gerechtfertigt hält, sollte reisen und reale Menschen vor Ort kennen lernen. Denn die sind ganz anders als die Menschen in Zeitungen und Groschenkrimis.
Gereon Janzing wurde in Aachen geboren und hat in Freiburg im Breisgau Ethnologie, Biologie und Geografie studiert. Außerdem hat er einige Jahre landwirtschaftlichgärtnerische Tätigkeiten verrichtet, von Ziegenmelken bis Olivenernte. Seine Magisterarbeit behandelte dementsprechend ein agrarethnologisches Thema, nämlich die Viehhaltung in den Anden. Nach kurzer Tätigkeit bei Geo ist er jetzt freiberuflicher Autor “im Dienste der Völkerverständigung”, wie er sagt. Er hat einige Bücher publiziert, darunter: „Psychoaktive Drogen weltweit“, „Mehrsprachiges Wörterbuch für die Ethnologie“ und „Kauderwelsch-Sprechführer Rätoromanisch“. Demnächst erscheint (inschallah) das Buch „Kannibalen und Schamanen - Verbreitete Irrtümer über fremde Völker“.
Philipp Artus
Von ungeahnten Einflüssen des Feldforschers Erfahrungen aus Südafrika
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er folgende Artikel setzt sich aus den Notizen meines Feldtagebuches zusammen, das ich während meiner Feldforschung, zur Kommunikation über HIV, im Sommer 2006 führte. Während dieser 8 Wochen befand ich mich in dem südafrikanischen Township Kayamandi und führte hauptsächlich Interviews mit HIV positiven Einwohnern des Townships. Die Diagnose lautet: HIV positiv. Ein Schock, in erster Linie für den Betreffenden selbst. Wie mir in nahezu allen Fällen bescheinigt wurde, ist der erste Schritt der, die Infektion des eigenen Körpers mit den HI-Viren zu akzeptieren. Anschließend wird der eigene Familienkreis involviert und/ oder sich dem Partner gegenüber offenbart. Damit beginnt auch für sie eine Phase, in der man den eigenen Standpunkt gegenüber der Problematik erst definieren muss. Auch für sie wird das Wissen um den Status eines ihnen nahe stehenden Menschen eine enorme Belastung. Zwar waren die wenigsten mit denen ich im Laufe meiner Forschung sprach, derartig lebensbejahend wie Tsebo, doch kann die Grundeinstellung stellvertretend für viele Neuinfizierte gelten: Philipp: „Tsebo, wie war das damals für dich als du erfahren hast,
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dass du positiv bist?“ Tsebo: „Oh, [grübelt] das war schlimm. Ich habe zwei Wochen lang nur geweint und habe mich in meinem Bett versteckt, aber danach ging es mir gut. Ich bin wach geworden, und nur weil ich positiv bin heißt das nicht, dass ich sterbe. Ich stehe jetzt dazu und genieße mein Leben in vollen Zügen.“1 Erste Informationen über HIV werden oft über die Öffentlichkeit erlangt. In einer großen Anzahl von Menschen fällt es leichter über HIV zu kommunizieren. Hier ist der Rahmen gegeben, um das heikle Thema HIV zu besprechen, das zwar omnipräsent ist, dennoch kaum Raum zur Diskussion findet. Ursächlich für die Kommunikationsprobleme ist unter anderem das Vokabular mit dem verfahren wird. Typisch sind Begrifflichkeiten aus dem militärischen Bereich. Als ich sie darauf ansprach meinte eine Ärztin in einem Interview: „Man entwickelt ein Gespür dafür, welche Worte man verwenden sollte, damit die Botschaft bei den einfacheren Menschen ankommt. Da werden dann eben die CT4 Zellen zu kleinen Soldaten. Vor kurzem waren sie noch in der Unterzahl, nun aber genesen sie, wer� den fit gemacht für den Rückschlag gegen die bösartigen Aggressoren,
Frisch vom Feld die Eindringlinge.“2
Bei der Suche nach Interviewpartnern verließ ich mich zu Weilen auf meinen Begleiter Peter. Er kannte sich mit Gegebenheiten im Township aus, sprach neben sechs weiteren Sprachen Xhosa und fungierte daher des Öfteren als Dolmetscher. Am wichtigsten aber war, dass er aufgrund seiner Tätigkeit (er ist im dortigen Krankenhaus angestellt) das Vertrauen vieler Einwohner Kayamandis besaß. In einem Gespräch über eine Interviewpartnerin bestätigte er mir, dass der Zugang als Außenstehender zu Gesprächspartnern oft nur schwer oder gar nicht möglich ist.
Die Metaphorik die gebraucht wird, baut ein Bild auf, das eine nüchterne Betrachtung des Infektionsstatus nicht ermöglicht und im Gegenzug negative Stimmung initiiert. Es impliziert das Bild von Schrecken und Bösem. Hinzu kommt, dass HIV in Kayamandi immer noch das Flair von etwas Geisterhaftem anhaftet - es ist „da draußen“3. Es ist bekannt, dass HIV Menschen tötet aber es ist für niemanden direkt sichtbar. In einer Gesellschaft, in der in großen Teilen Heilern (sangomas), Göttern und den Anordnungen der älteren Generationen mehr Vertrauen entgegengebracht wird Philipp: „Also ist es kein Problem, dass sie sich mit Fremden darü� als der modernen Schulmedizin, wird die Existenz von HIV ber unterhält?“ durch dessen Unsichtbarkeit in Frage gestellt, im Gegensatz Peter: „Sie will mit jemandem darüber reden, aber wenn du hier zu anderen Krankheiten wie TBC oder Diabetes. allein her kommen gekommen wärst, würde sie dir nichts sagen.“5 Dabei ist bereits ein adäquates Umgehen mit der Infektion schwer umzusetzen. Ziko, ein 30jähriger HIV positiver Eines meiner Interviews führte mich zu Moses, einem 28 Mann aus Kayamandi wünscht sich, dass HIV als das ge- jährigen Mann. Nach dem Gespräch mit ihm prägte sich mir handhabt werden würde was es sei- eine medizinische Ange- eines ganz besonders ein: Die Angst mit der gelebt wird, es legenheit, eine Infektion des Körpers, bei dem das körperei- könne jemand von ihrer HIV Infektion erfahren. gene Immunsystem geschwächt wird. Im Alltag Kayamandis Wie er infiziert wurde weiß er nicht, dass er es ist, erist es indes oft so, dass die wenigsten Betroffenen darauf fuhr er im März 2006 bei einem Routinetest. Bis dato hatte vertrauen können, er sich niemandem sich im engen Famiaußer Peter anMan werde ihn löchern, auf die Nerven gehen, in Belienkreis rückhaltlos vertraut. Von ihm über ihren Status bekam er auch seidrängnis bringen, ausfragen, unter Druck setzen austauschen zu könne Medikamente. und fragen, ob er krank sei. nen. Der Grund liegt Er lebte allein mit in der Befürchtung, zwei Jungs in einem der eigene Status könne aufgedeckt und man dadurch selbst Haus. Es waren jedoch nicht seine Kinder, denn der Rest zum Mittelpunkt des täglichen Klatsch werden. seiner Familie lebte im Eastern Cape. Auf meine Frage warum Dabei spielt das Entscheiden darüber wem was inwie- er sich noch niemandem anvertraut habe meinte er, dass er fern über die eigene Infektion anvertraut wird eine wichtige zwar großen Redebedarf habe, ihn aber niemand verstehen Rolle. Es kommt einem Verlust an Selbstbestimmung gleich, würde. Er traue sich nicht jemand anderen einzuweihen. wenn Außenstehende sich über den Status eines HIV posiDas Wissen um seine Infektion sei etwas sensibles, etwas tiven Menschen unterhalten. In der ersten Entscheidungs- Schützenswertes. Er bezeichnete es als sein „Baby“6. Solange phase kann der Betreffende noch selbst bestimmen wie viel der eigene Status für sich behalten wird, ist die Lage unter er dem Anderen mitteilen möchte. Die Kontrolle geht aber Kontrolle. Das sei zwar nicht angenehm, aber immerhin an dem Punkt verloren, an dem er sich entscheidet einen kontrollierbar. Dem Gefühl Kontrolle über eigene EntscheiAußenstehenden einzuweihen. Nun obliegt es nicht mehr dungen zu haben komme eine sehr große Bedeutung zu. seinem Einfluss, wie viel und vor allem wem etwas von seiner Selbsthilfegruppen suchte er nicht auf, weil man auch Infizierung mitgeteilt wird. Er kann darum bitten, es als Ge- da niemandem trauen könne, Fremden erst recht nicht, so heimnis behandelt zu wissen, die Kontrolle darüber ist nun Moses. Am besten sei es mit der eigenen Familie darüber zu aber abhanden gekommen. Oftmals ziehen sich die Kreise reden, in seinem Fall aber war sie gut 2000 Kilometer entderer, die sich über ihn unterhalten, soweit, dass der über fernt. Wenn die beiden Jungs ihr Examen hinter sich hätten den gesprochen wird, unbekannt ist. Eine persönliche Be- würde er zurück nach Hause fahren, in der Hoffnung dort ziehung zum Betreffenden besteht nicht mehr und die gan- jemanden zu finden, mit dem er seine Last, seine Ängste und ze Persönlichkeit desjenigen wird darauf reduziert, dass er Gefühle teilen könne. HIV infiziert ist. Man könne niemandem trauen sagt Ziko Moses war der bis dato ängstlichste Interviewpartner, und auf meine Frage wie denn die Menschen über HIV spre- was sich auch darin äußerte, dass er nur zögerlich antwortete chen antwortet er „Eigentlich nicht schlecht, aber man hat Angst und Peter immer wieder nachhaken musste. Offensichtlich davor, von anderen zu erfahren, dass die Leute über dich reden.“4 war ihm nicht wohl zu Mute einen Fremden, den niemand Es kommt zu einer räumlichen Trennung. Öffentlich kannte, dafür aber in Begleitung Peters, der sehr wohl bewird - und das nicht selten- über HIV, Prävention, Infektion kannt war, im Haus zu haben. Von Peter wusste man, dass er und Medikamention gesprochen. Dies jedoch stets in einer in der Kayamandi Klinik angestellt war und welchen Typus Form, dass alles was gesagt wird, nicht an konkrete Personen Patienten er zu Hause aufsuchte. gebunden ist, sondern allgemein diskutiert wird. Privat wird Über das, was nun wahrscheinlich folgen würde, klärte sich dem Partner/der Partnerin und/oder bestimmten Fami- mich Peter allerdings erst im Nachhinein auf. Seine Nachlienmitgliedern offenbart. Was aber das Risiko birgt, nie si- barn würden neugierig, begönnen zu fragen, wer der unbecher sein zu können, ob das Anvertraute bei dem, dem man kannte Besuch gewesen sei, warum wir die Tür zu seinem sich anvertraute sicher verwahrt ist, oder bei der nächsten Zimmer verschlossen hätten, was wir zu erzählen oder zu Gelegenheit als Neuigkeit verbreitet wird. fragen gehabt hätten, kurz gesagt alles über das Eindrin-
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Frisch vom Feld gen eines Fremden - eines weißen Fremden - und eines Klinikangestellten, der schwerpunktmäßig HIV Infizierte betreut. Man werde „ihn löchern, auf die Nerven gehen, in Be� drängnis bringen, ausfragen, unter Druck setzen“7 und fragen, ob er ›krank‹ sei. Ich möchte ergänzen, dass, nicht einfach nach dem Befinden gefragt wurde. Wenn in diesem Zusammenhang nach ›krank‹ gefragt wurde, schwang die Neugier nach dem HIV- Status immer mit. Einen Grund dafür liegt nach Peters Meinung in den eng strukturierten sozialen Netzwerken. Wie er mir mitteilte, ist es für einen Nachbarn nicht nur wichtig zu wissen, wer sich gerade im Haus des anderen aufhält, sondern auch warum, was er gerade macht, wann er wieder kommt und wen er bei sich hat. Er muss wissen was im Haus des anderen geschieht. Beide Parteien stehen sich dabei in einem reziproken Verhältnis gegenüber: Für den Fall seiner Abwesenheit muss darauf vertraut werden können, dass sich um das Haus des anderen gekümmert wird. Für den Fall eines Brandes oder ähnlicher Unglücke, wird als erstes der Nachbar befragt was passiert sei. Geht etwas schief, wird er als erster beschuldigt, da er die Verantwortung trug. Dieser Zusammenhalt scheint eine besondere Dynamik zu erfordern. Was das bedeutet wurde mir klarer, als ich mir vergegenwärtigte, mit welch hoher Fluktuation Freunde und Bekannte im Haus der Familie, bei der ich mich für die Dauer meiner Forschung aufhielt, ein- und ausgingen, niemals jedoch unbemerkt. Immer gab es mindestens ein Familienmitglied, das anwesend war. Vor diesem Hintergrund wird hoffentlich klarer, wieso der Versuch Ge-
heimnisse zu verbergen für so viel Aufsehen sorgt. Moses war durchaus bewusst, worauf er sich einließ, als er Peter und mich zu sich nach Hause bat und sich meinen Fragen stellte. Möglicherweise also ist das ein erster Schritt zur Kommunikation über seine Infektion. Auch Peter war wohl bewusst welchen Konsequenzen sich Moses durch unseren kurzen Besuch evtl. hat aussetzen müssen. Ich hingegen hatte vor meinem Besuch derartiges nicht erwartet. Wir haben ihn anschließend nicht noch einmal besucht. Zu sehr war ich geprägt von der Erkenntnis, dass meine bloße Anwesenheit ihn derartig hat bedrängen können.
Fußnoten 1 Tsebo, Kayamandi, 1.9.06 2 Dr. Smith, Idas Valley Klinik, 14.9.06 3 Lindi, Stellenbosch, 17.8.06 4 Ziko, Kayamandi, 8.9.06 5 Peter, Kayamandi, 12.9.06 6 Moses, Kayamandi, 5.9.06 7 Peter, Kayamandi, 5.9.06 Philipp Artus studiert Soziologie, Zeitgeschichte und Ethnologie in Halle. Im Sommer 2006 hat er an einer Lehrforschung des Instituts für Ethnologie an der MLU Halle in Südafrika teilgenommen.
Susanne Hartmann
Von einer, die auszog, eine ethnographische Feldforschung zu unternehmen und zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen damit machte - Ein Kurzbericht und Kommentar
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an kann in einer Feldforschungserfahrung an die Grenzen seiner psychischen und/oder physischen Belastung kommen, wie Kutzschenbach herausstellt. Leider sei zu wenig über abgebrochene Feldforschungsversuche und die Gründe dafür bekannt (Kutzschenbach 1982:55,59). Bis heute gibt es kaum Literatur zu diesem Thema. Mein Bericht soll auch auf diesen Punkt eingehen. Meine beiden Feldforschungserfahrungen in zwei Mayadörfern verliefen höchst unterschiedlich. Ausgangsbasis für die Untersuchung meines Promotionsvorhabens
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war, den Kulturwandel in einem Töpferdorf Mesoamerikas, möglichst bei den Maya, zu untersuchen. Meine Wahl fiel zunächst auf Amatenango del Valle, gelegen im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Dieses Töpferdorf ist bekannt für seinen hohen Ablehnungsgrad von Personen, die von außerhalb kommen. June Nash, die seit den 1950er Jahren in Amatenango geforscht hat schreibt über ihre anfängliche Beziehungsaufnahme über die Dorfbewohner „most of whom were highly resistant to an outsider on the first contact“ (Nash 1970:xiii). Traditionell gesehen durften
in Amatenango keine Fremden ihren festen Wohnsitz haben (ebd.:xvi,xxiv).1 Für eine ethnographische Feldforschung stellt das Zusammenleben mit den Einheimischen eine zentrale Bedeutung dar. Daher erkundigte ich mich, wo ich im Ort eine Bleibe finden könnte. Eine Señora des Dorfes, die für ihre Töpferarbeiten sehr bekannt war, erklärte sich bereit mir eine Unterkunft auf dem Hof ihrer (erweiterten) Familie zu vermieten. So begann ich meine Feldforschung im Oktober 1996. Am Anfang begeisterten mich mein neues Leben und die Aussicht auf ei-
Frisch vom Feld nen kulturellen und freundschaftlichen Austausch. Es stellte sich bald heraus, dass schon vor mir Wissenschaftler im selben Haus gewohnt hatten, um ihre Untersuchungen durchzuführen. Diese kamen bei weitem nicht nur aus dem Fachbereich der Ethnologie. Eine Ernährungswissenschaftlerin wurde erwähnt, ein anderer arbeitete im landwirtschaftlichen Forschungsbereich. Man gab mir zu verstehen, ich solle meinen Aufenthalt bei ihnen als eine Art Hotel- oder Pensionsaufenthalt betrachten. Zu Beginn begegnete man mir im Hause der Familie mit einer gewissen Freundlichkeit. Aber nicht alle Mitglieder akzeptierten meine Anwesenheit und die der ethnologischen Untersuchung zu Grunde liegenden Neugier. Man begegnete meinen Fragen manchmal sogar mit unverhohlener Häme. Meine Versuche ihre Mayasprache Tzeltal zu lernen wurden zwar unterstützt, aber mitunter auch von manchen Familienmitgliedern mit abschätzigem Spott behandelt. So wie die Dorfbewohner wusch ich meine Wäsche von Hand. Im Hof stand ein Waschtrog mit zwei Becken, so dass man auch zu zweit dort arbeiten konnte. Ich verwendete zum Schlafen nicht nur meinen Schlafsack sondern auch eine geliehene Decke. Diese musste dringend einer Reinigungsprozedur unterworfen werden. Ich wrang das gute Stück an einem Ende ausgiebig aus, widmete mich mit voller Konzentration dieser Tätigkeit, arbeitete mich der Länge nach durch, schwang dann das trockene Ende herum, um am anderen Ende die Nässe auszuwinden. Da merkte ich wie mir eine der Schwiegertöchter mit schadenfroher Geste das trockene Ende mit Wasser besprengte. Im Dorf selbst zog sich der Aufbau von Kontakten hin. Mit einer Familie entstanden schon freundschaftliche Beziehungen und wir freuten uns, wenn wir einander trafen. Eine weitere Familie akzeptierte allmählich meine Besuche. Bei den Dorfbewohnern war es aber allgemein schwierig überhaupt bemerkt zu werden. Man ignorierte mich meist, auch dann wenn ich freundlich grüßte, oder eine – wie ich meinte – beiläufige Frage, beispielsweise nach dem Wetter, stellte. Es kam einfach keine Antwort. Die Ablehnung wurde mitunter ganz direkt vermittelt. Einmal stellte ich mich im Nachbarhaus vor, wo sie Jaguare aus Ton modellierten. Meine verbalen Annäherungen
Isabella und ihre Mutter legen Tonware auf,um sie auf offenem Feuer zu brennen. quittierte man mit einsilbigen Erwiderungen. Schließlich wagte ich zu fragen, ob ich mich setzen könne. „Nein!“ kam es zurück. Wahrscheinlich kam dieses barsche Verhalten daher, dass ich bei einer Familie wohnte, die sehr erfolgreich Tonwaren vertrieb und damit zur Konkurrenz gehörte. Man vermutete vielleicht, ich wolle ihr handwerkliches Können ausspionieren. Nicht nur meine Forschung sondern mein gesamter Aufenthalt gestaltete sich schwierig, so dass es mir auch immer schwerer fiel, auf Menschen zuzugehen. Da sich mein Einleben im Ort schwierig gestaltete und das Kontakte knüpfen langwierig war, war es erforderlich, eine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bei der Migration in Mexiko-Stadt zu stellen. Mein Antrag wurde abgelehnt und die mexikanische Behörde verlangte von mir, das Land innerhalb weniger Wochen zu verlassen. Am 1. Januar 1994 war die Guerilla der Zapatisten EZLN (Ejercito Zapatista de Liberación Nacional) in Chiapas aufgetaucht und bestrebt, vor allem indianische Gemeinden unter ihren Einfluss zu bringen. Die Zapatisten genossen gerade unter europäischen und US-amerikanischen Reisenden oft große Sympathie. Dies setzte jeden der aus diesen Ländern kam und sich in indianischen Gemeinden aufhielt, unter Verdacht ein Sympathisant oder Helfer der Guerilleros zu sein.2 Dies bedeutete den Abbruch meiner Feldforschung. Zu Hause zurück, stellte sich die Frage, das Forschungsvorhaben ganz abzubrechen oder einen neuen Versuch zu wagen. In
Absprache mit meinem Doktorvater Prof. Ulrich Köhler entschied ich mich für ein anderes Töpferdorf: Santa Cruz Chinautla in Guatemala. Dieser Ort liegt in 12 km Entfernung zur Hauptstadt Guatemala-Stadt. Der Hauptsitz der Gemeindeverwaltung liegt inzwischen in der Metropole und nur eine untergeordnete Ortsverwaltung bleibt heute in Chinautla bestehen. Ich wendete mich nun zunächst an das Institut für Anthropologie und Geschichte, das dem Innenministerium untersteht. Ich bekam nicht nur die offizielle nationale Genehmigung, sondern auch Starthilfe durch den Direktor der entsprechenden Abteilung. Er stellte mich in beiden Gemeindeverwaltungen vor. Die Sekretärin des Ortes vermittelte mich an die Familie ihrer Schwester, wo ich wohnen konnte. Und diesmal war alles anders. Ich fühlte mich nicht nur in der Familie herzlich aufgenommen sondern auch im Ort selbst. Dies war im April 1999.3 Natürlich gab es auch Begegnungen, die mir zeigten, dass einige Bewohner meine Anwesenheit nicht gut fanden. Aber der Tenor war überwiegend von großer Freundlichkeit geprägt. Ein paar Tage nach meiner Ankunft stieg ich einen Hügel hinauf. Von gegenüber ließ laut ein Hahn sein „Kikeriki“ ertönen. Eine Chinautleca, die mir entgegenkam lächelte und meinte:“ Der Hahn kräht, um dich willkommen zu heißen.“ Manche reagierten auf mein Erscheinen und auf meine Fragen mit Belustigung. Ich nahm an einer Zeremonie zur Verehrung des San José teil. Ein paar Señoras
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Frisch vom Feld fragten, ob wir zu Hause in Alemania auch Heilige verehren würden. Ich bejahte und musste einige nennen. Die Frauen lachten amüsiert über die fremd klingenden Namen. Es zeigte sich oft, dass meine Anwesenheit auch einen gewissen Unterhaltungswert hatte. Personen mit Bildung, mit weitreichenden Kontakten nach außen oder die schon mit Ruben Reina in enger Verbindung standen, zeigten großes Interesse an meiner Forschung (vgl. Hartmann 2002:266-268, Hartmann 2004:12). Mein Aufenthalt in Chinautla rief eine große Bandbreite an Reaktionen hervor. Es reichte von Misstrauen bis zu offen demonstrierter Begeisterung. Die positiven Rückmeldungen überwogen aber bei weitem. Man ließ mich nicht nur bei täglichen Beschäftigungen zusehen und sich meine Fragen gefallen, sondern man beobachtete mich natürlich auch. Auf diese Weise war es mir möglich einen Dialog herzustellen. Man wollte vieles über unser Leben im fernen Deutschland wissen. Eine mir befreundete Chinautleca meinte, es sei doch schwierig in einem fremden Dorf zu leben, so wie ich nun in ihrem, wenn man seine Familie nicht bei sich hat. Bei Reina findet sich ebenfalls ein Hinweis, der verdeutlicht, dass man in Chinautla Verständnis hat für die psychische Situation, in der sich ein Mensch befindet, der in einen ihm völlig fremden Ort kommt. Man kann der Traurigkeit, die eine Person in einer neuen Umgebung empfindet, begegnen indem der Hausbesitzer sie mehrmals um das Haus führt und sagt: „Dies ist jetzt dein Zuhause.“ (Reina 1966:189) Eine Verwandte meiner Gastfamilie sagte, sie würden mich nicht nur unterstützen und sondern auch beschützen. Ich hatte Aufnahme in ihrer Familie gefunden. Was sind die Gründe einmal für das Scheitern meiner ersten Feldforschung und das andere mal für das Gelingen? Die materielle Versorgung war in Amatenango kontinuierlicher als in Chinautla. In Amatenango gab es fast immer Wasser und Elektrizität, während wir in Chinautla häufig einen Stromausfall beklagen mussten. Als schlimmer stellte sich jedoch der Wassermangel heraus. In einem Zeitraum von zweieinhalb Monaten stand uns selten Wasser aus der Leitung zur Verfügung. Es kam oft zwei oder drei Tage gar nichts, dann wieder floss es für eine halbe Stunde oder zwei Stunden,
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oft mitten in der Nacht. Womit sollte man kochen, sich waschen oder gar die Wäsche machen? Abhilfe brachte teilweise ein Brunnen. Allerdings musste das wenige Wasser unter allen aufgeteilt werden. Das Zusammenleben aber mit meinen chinautlekischen Freunden half mir über diese Unannehmlichkeiten hinweg. Sicherlich sind für den Misserfolg in Amatenango auch Fehler meinerseits verantwortlich. Aber wie sieht es generell mit der Art der Aufnahme in einem Ort aus? Die Ursachen für das Zustandekommen einer erfolgreichen Forschung liegen auf jeden Fall auch an der Person des Ethnographen, aber eben nicht ausschließlich. Fremde werden in verschiedenen Orten unterschiedlich schnell akzeptiert. Der Unterschied zwischen der Annahme und der Ablehnung von Fremden in Amatenango und Chinautla liegt auch in der unterschiedlichen Dorfstruktur und Geschichte. Chinautlecos sind es seit langem gewohnt mit Außenstehenden im Dorf zu wohnen, während sich Amatenangueros kategorisch dagegen verschließen. Man weiß unter Ethnologen, dass es beispielsweise in Chiapas in Amatenango und Chamula besonders schwierig ist, zu arbeiten. Dammann verdeutlicht, dass es nicht nur auf das Verhalten des Forschers ankommt. Die Bereitschaft der Aufgesuchten den Fremden und seine Tätigkeit zu akzeptieren hängt auch von tradierten Verhaltensweisen, Normen und Haltungen ab (Dammann 1991:134f). Es gibt Gemeinschaften, die einer Person, die nicht zu ihrer Ethnie gehört offen und freundlich begegnen (ebd.:136). Auch in der bereits erwähnten Literatur über Amatenango und Chinautla ist offensichtlich, was sich dann in der Praxis meiner Feldforschung Jahrzehnte später als immer noch richtig erweisen sollte. Forscht man in der Literatur zu vielen Mayadörfern und stattet ihnen einen Besuch ab, zeigt es sich, dass nicht überall die gleichen Strategien angewendet werden, um mit Einflüssen von außerhalb umzugehen. Ich würde sagen, viele Mayadörfer zeigen unterschiedliche Charaktere.
dass sich im Zuge der Moderne, diese Hal� tung verändert haben könnte oder wenig� stens abgeschwächt hätte. 2 Vor 1994 war es in Mexiko kein Problem gewesen, in indianischen Gemein� den zu wohnen und dort, auch ohne offizielle Genehmigung, Studien zu betreiben. 3 Es folgten bis 2001 zwei weitere Feldaufenthalte in Chinautla.
Literatur Dammann, Rüdiger 1991. Die dialogische Praxis der Feldforschung. Der ethnographische Blick als Paradigma der Erkenntnisgewinnung. Frankfurt/ Main: Campus Verlag Hartmann, Susanne 2003. Transformationsprozesse in Santa Cruz Chinautla. Eine Untersuchungzum Kulturwandel in einer Poqomam-Gemeinde. Freiburg . Brsg., Univ., Diss., 2002, online: http://www.freidok.uni-freiburg. de/volltexte/672 Hartmann, Susanne 2004. Eine Mayagemeinde in Zeiten der Globalisierung. Mesoamerikaforschung am Institut für Ethnologie. Freiburger Uni-Magazin, Albert-LudwigsUniversität,Freiburg i. Brsg. S. 10-12. Ausgabe 1/Januar 2004 von Kutzschenbach, Gerhard 1982. Feldforschung als subjektiver Prozess. Ein handlungstheoretischer Beitrag zu seiner Analyse und Systematisierung. Berlin: Reimer. Nash, June 1970. In the Eyes of the Ancestors. Belief and Behavior in a Maya Community. New Haven: Yale University Press. Reina 1966. The Law of the Saints. A Pokomam Pueblo and its Community Culture. Indianapolis: Bobbs-Merrill Co.
Susanne Hartmann studierte Ethnologie, Indologie, Romanistik und allgemeine Sprachwissenschaft in Göttingen und Freiburg. Promotion 2002 zum Kulturwandel der Maya in Guatemala. Feldforschungen 1996/97 in Chiapas, Mexiko und in den Jahren 1999 bis 2001 in Guate-
Fußnoten 1 Meine Hoffnungen für eine erfolg� reiche Feldforschung bezogen sich darauf,
mala. Momentan beschäftigt sie sich mit Theorie und Praxis Visueller Anthropologie.
Panorama Ethnologie
Benjamin Hirschfeld
Das „Moving Anthropology Student Network“ – oder der Blick über den eigenen Tellerrand
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thnologiestudentInnen gibt es nicht nur im eigenen Institut, das wissen die meisten, die sich selbst für dieses Fach entschieden haben, vermutlich spätestens seit ihrer Studienortswahl. Aber der Kontakt mit den KommilitonInnen aus anderen Städten oder sogar Ländern bleibt vielen von uns oft bis nach dem eigenen Universitätsabschluss eine Ausnahme. Vielleicht wechselt der ein oder die andere auch seinen Studienort im eigenen Land, oder macht sogar mal einen Auslandsaufenthalt oder ein Austauschprogramm mit. Und erkennt dabei, dass beim Gespräch mit „den anderen“ die Fülle an interessanten Forschungsthemen, kontroversen Ansichten und unterschiedlichen Lehrmethoden an fremden Instituten oft eine ganz neue Perspektive auf das eigene Fach wirft. Aus der Idee, genau diese holistische Erfahrung und diesen Dialog permanent abrufbar und erlebbar zu machen, entstand vor zwei Jahren das „Moving Anthropology Student Network“, kurz MASN. Das MASN versteht sich als eine Initiative zur besseren Vernetzung von Anthropologie-Studierenden und jungen AkademikerInnen der Ethnologie in ganz Europa, wenn nicht sogar weltweit, zum Wissensaustausch und als Knotenplattform für Treffen und für gemeinsame Forschungen. Auf der Homepage www.movinganthropology.org und über die Newsgroup www.masn.net.tc hat sich seit seiner Gründung 2005 eine Gemeinschaft aus bisher schon über 800 Studierenden und fachlich Interessierten aus mehr als 60 Nationen gebildet, die in gemeinsamer Planung zu mehreren eigens gestalteten Treffen und Konferenzen in verschiedenen Ländern, darunter Österreich, Kroatien, Polen und Deutschland eingeladen hat. In einem intensiven, aber nicht versteiften akademischen Klima sollen sich über diese Plattformen Studierende gegenseitig ihre Forschungen und Fragestellungen vorstellen, in Workshops an gemeinsam erarbeiteten Themen wissenschaftlichen konstruktiv Kritik üben.
Anfänge Die erste Initiative, eine nationsübergreifende Institution solcher Art zu schaffen, ging auf eine kleine Gruppe österreichischer Anthropologiestudierender zurück. Unter dem Namen „Walz - Moving Anthropology“ nahmen die beiden Wiener Bernhard Botz und Niko Reinberg im Spätherbst 2004 Kontakt mit verschiedenen, ihnen bis dato teils unbekannten Kultur- und SozialanthropologiestudentInnen
verschiedener europäischer Institute auf, mit der Einladung, in Wien bei der Gründung eines europäischen EthnologieNetzwerks gestaltend mitzuwirken. Gespannt trafen am 4. Februar 2005 zehn engagierte StudentInnen aus Deutschland, Polen, Serbien-Montenegro, Slovenien und Spanien auf ihre österreichischen Gastgeber. Einige der Besucher hatten bereits an kleineren regionalen Treffen mitgewirkt, auf deren Erfahrungen man aufbauen konnte. Von den Ideen der „Roaming-Anthropology“ (einer Balkan-Konferenz-Reihe mit gemeinsamen Netzwerk aus slovenischen, kroatischen and serbisch/montenegrinischen Anthropologiestudierenden ) dem deutschsprachigen Symposium der Studierenden vom Sommer 2004, sowie weiteren kleineren internationalen Seminaren wie dem „Mediterranen Summer School (MESS)“ inspiriert, diskutierten die Studierenden ein Wochenende lang über ihre Ideen, Vorstellungen und Ziele und die sich daraus ableitende Struktur einer möglichst dynamischen Vernetzung der europäischen Ethnologie -Studierendenschaft. Schon auf diesem ersten Treffen wurden die unterschiedlichen Auffassungen der Vertreter aus den einzelnen Nationen über den Inhalt, die vorherrschenden Problemstellungen und Möglichkeiten eines solchen Netzwerks deutlich. Sowohl pragmatische Hürden wie Geldknappheit - vor allem in den osteuropäischen Instituten beklagt, was sich in gänzlich leerstehenden Bibliotheken oder Problemen bei der Visa-Beschaffung äußert - wurden dabei berücksichtigt, wie auch das Problem der Repräsentativität und die Einbeziehung aktueller Debatten über unipolitische Veränderungen und Herausforderungen. Im Vordergrund stand vor allem die Verbesserung und Entwicklung der Kommunikation und des akademischen Austauschs der Studierenden auf verschiedenen Ebenen. An wen richtete sich das Netzwerk? Nur an klassische Studierende der Ethnologie/Cultural and Social Anthropology, oder auch empirische Kulturwissenschaftler/Volkskundler? Graduierte Studierende nach der Zwischenprüfung bis zum Doktoranten in Spe, oder auch „Neulinge“ des Fachs? Nach drei Tagen intensiven Austauschs entwickelten wir die bis heute vorrangig anhaltende Form: Am Ende entschloss man sich für eine möglichst breite Struktur, mit einem Fokus auf etwas „erfahrene“ Studierende der Sozial-/Kulturanthropologie. Die Praxis war hierbei mit-entscheidungsgebend: In vielen Universitäten Europas hat Ethnologie eine schwierige Position und wird lediglich als Aufbaustudiengang oder als Nebenfach/Spezialisierung angeboten (Bsp. Spanien, Polen).
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Panorama Ethnologie
Teilnehmer der Gründungssitzung des MASN Reisebeschränkungen, die Fachgeschichte (aus der Folklore) und Geldknappheit haben in vielen Ländern eine starke regionale Fokussierung zur Folge. Ferner entschieden wir uns für eine offene Struktur, die allen Interessierten einen breitest-möglichen Zugang ermöglichen sollte. Das Netzwerk besitzt so weder einen „Kopf“ noch eine hierarchische Struktur. Doch wie sollte man die breite Masse erreichen? Aus jedem der vertretenen Länder fanden sich sog. „national coordinators“, die als Angelpunkte oder „broker“ miteinander den Ausbau des Netzwerks planen und durch eine Art Schneeballsystem in ihren jeweiligen Ländern für die Informationsweitergabe sorgen, und dabei mit bereits bestehenden studentischen Strukturen und Netzwerken in ihren jeweiligen Herkunftsländern Kontakt aufbauen. Gemeinsam sollen die Mitglieder Sponsorengelder sammeln, die dazu verwendet werden, um die TeilnehmerInnen der Konferenzen aus den eigenen Ländern finanziell zu unterstützen. Als ein gemeinsamer „virtueller Treffpunkt“ sollte die Homepage dienen. Sie wurde dabei, nach der Idee der Open-Source-Gemeinschaft, so konzipiert, dass möglichst viele Menschen zu jedem Zeitpunkt ihre Informationen auf die Seite einspeisen können und sie so eine starke Eigendynamik erhält. Kern der Seite bildet das Diskussionsforum. Neben diesem gibt es noch einen eigenen Chat und die Möglichkeit, einzelne Mitglieder (wahlweise sortiert nach Herkunft, Interessensgebieten etc.) über die Seite oder per Email persönlich zu kontaktieren. Daneben bietet die Seite Informationen über die Institute, aus denen die Beteiligten kommen, einen Veranstaltungskalender, eine Datenbank zum Hochladen von Texten, Bildern und anderen Medien, eine Bibliographie zum Vorstellen von Werken, und Weblinks zu ethnologischen Zeitschriften, Online-Tutorien und sonstigen ethnologischen Websites. Um den Kontakt nicht nur auf der virtuellen Ebene stattfinden zu lassen wurde eine jährlich in einem anderen Land ausgetragene Konferenz beschlossen, die die Studierenden der unterschiedlichen Länder persönlich zusammenführen sollte. Bei den vier Tage dauernden Treffen wird den TeilnehmerInnen die Möglichkeit gegeben, eigene Forschungen und Ideen zu präsentieren um gemeinsam mit allen anderen TeilnehmerInnen diese zu diskutieren, ein Tag sollte dem
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Ausbau des Netzwerks und bestehenden unipolitischen Herausforderungen dienen. Um die Bandbreite und Repräsentativität der Konferenz zu gewährleisten wird darauf geachtet, dass möglichst viele Studierende verschiedener Herkunft teilnehmen können. Um die Ausführung der Konferenz vor Ort kümmert sich das Team des jeweiligen Gastgeberlandes, alle anderen MASN-Mitglieder sind eingeladen, bei der Auswahl der Themen und Papers der einzelnen Tage basisdemokratisch mitzubestimmen. Dem Gastgeberland fällt dabei die alleinige Wahl eines, besonders sie interessierenden Tagesthemas zu.
Die erste Konferenz in Ottenstein, Österreich Die erste Konferenz fand schließlich unter der Leitung der österreichischen Studierenden im November 2005 statt. Unter dem Motto: „Connecting Europe, Transcending Borders“, übertraf die in landschaftlicher Idylle ausgetragene Veranstaltung alle Erwartungen. Die bewusste Wahl des Ortes des fernab jeder Großstadt gelegenen Seminarhotels in Ottenstein (Niederösterreich) verhalf zu einer ungestörten Arbeits- und Gesprächsathmosphäre der etwa 70 TeilnehmerInnen aus zehn europäischen Ländern. Jeder Tag widmete sich seinem eigenen Oberthema (1.Tag: “Transcending Europe”- migration and the politics of cultural diversity betwixt and between borders; 2. Tag: “Minding Space“ - anthropological discussions on body, borders and identity in flux; 3. Tag: “Doing Anthropology” – perspectives on research, teaching and profession). Das Spektrum der eingereichten Papers reichte von Berichten über ethische Probleme bei der Feldforschung unter Neonazis (Polen) über Migration und Integrationsdebatten (Polen, Österreich), Gedanken zu aktuellen stadtethnologischen Ansätzen (Kroatien) und Identitätskonstruktionen in Onlinespielen (Ungarn), hin zu Workshops über Feldforschung in gefährlichen Situationen (Österreich) oder zur Situation der von massiven Kürzungen bedrohten Anthropologie in Spanien (Spanien). Morgens wurden thematisch zusammenhängende Vorträge gehalten. Nachmittags diskutierten die KonferenzbesucherInnen in verschiedenen intensiveren Gruppensitzungen und Workshops ausführlich miteinander, so
Panorama Ethnologie genannte „fringe events“ (Filme und Photoausstellungen mit anschließenden Besprechungen) rundeten einen jeden Tag ab bzw. zogen die Veranstaltungen teilweise bis tief in die Nacht. Anschließend gab es noch Gelegenheit zu feiern, sowie Gespräche und Diskusionen bis zum Morgengrauen. Gemeinsam diskutierten die Konferenzbesucher am letzten Tag über das Fazit der Tagung, übten Kritik und Lob und stimmten über mögliche Austragungsstätten der nächsten Konferenzen ab, wobei den schärfsten Konkurrenten, die kroatischen und polnischen Delegationen, die gemeinsame Entscheidung über die Austragung des kommenden Ortes freigestellt wurde.
Erste Zwischenbilanz und ein Treffen in Kroatien Überwältigt von der Wirkungsstärke der Veranstaltung war es hiernach ein leichtes, andere von dem Netzwerk zu begeistern, die Webpage bekam eine neue Dynamik, Erasmus-Studierende erzählten ihren Kommilitonen von MASN. Nationsübergreifend besuchten sich Mitglieder gegenseitig und hielten Kontakt zueinander. Von Professorenseite sowie von größeren Institutionen wie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) und der „European Association of Social Anthropologists (EASA) gab es Lob und Bewunderung, im Fall von letzterer Initiative sogar das Angebot der möglichen Eingliederung als offizielle Subgruppe, was aber dankend abgelehnt wurde: Das MASN soll weiterhin eine möglichst ausschließlich von Studierenden und jungen AkademikerInnen geführte, unabhängige Gruppe bleiben. Aus Kroatien kam schließlich von Studierenden der Universität Zagreb die Einladung im April 2006 einem Treffen der „national coordinators“ in Zagreb beizuwohnen. Um die 20 TeilnehmerInnen (erstmals dabei auch Mitglieder der „Malta Anthropology Society“!) diskutierten über die Rahmeninhalte der Folge-Konferenz, die ein halbes Jahr später stattfinden sollte. Zudem hatte zur allgemeinen Überraschung die österreichische Delegation ihren Verein kurz zuvor in „Moving Anthropology Social Network“ umbenannt, um die Brücke zu JungwissenschaftlernInnen und praktisch arbeitenden EthnologInnen zu schlagen und Konferenzen in größerem Stil professionell zu organisieren. Zwar stand dies nicht im totalen Widerspruch zu den bereits selbstgesteckten Zielen des Netzwerks, doch eine Namensänderung bedeutete für viele der TeilnehmerInnen in Zagreb auch den Verlust von Autonomie und Spezialisierung sowie einer eventuellen Hierarchisierung der Struktur durch nichtstudentische TeilnehmerInnen. „Student“ blieb, zur Unterstützung der österreichischen Projektvorhaben wurde die Website um einen „Moving Anthropology Social Network / Moving Anthropology Student Network“ - Doppelnamen erweitert.
Die zweite Konferenz in Opatija, Kroatien: Im November vergangen Jahres lud das kroatische Team der Universität Zagreb unter dem Motto „Anthropology in Action“ nach Opatija, einem von seiner habsburgerischösterreichischen Vergangenheit architektonisch geprägten
Küstenkurort, zur zweiten MASN-Konferenz ein. Umgeben von Palmen stellten tagsüber 32 EthnologiestudentInnen den rund 80 TeilnehmerInnen ihre Gedanken zu den Oberthemen „Anthropology in Action - utilization, problems and perspectives“, „Facing differences - anthropological perspectives on cultural encounter and transformation in the global era“ und „People facing systems - culture, media, law, medicine, education“ vor. Nach Ende des offiziellen Programms ( wieder bis tief in die Nacht gehende Diskussionen und Diavorträge eingeschlossen) wurde weiter an informellen Netzwerken gebastelt, ob bei nächtlichen Badeexkursionen im Mittelmeer oder bei Vorführungen verschiedener Tänze aus den Herkunftsländern der einzelnen KonferenzTeilnehmerInnen. Zu den unerwarteten Höhepunkten gehörte die unter Anleitung einiger Kroaten international geführte „kleine Feldforschung“, bei der einheimische Sitten und Gebräuche persiflierend unter die Lupe genommen wurden - wer den Film „das Fest des Huhns“ kennt, wird eine passende Ahnung des Forschungsablaufs vor Augen haben. Der vormals nur für den letzten Tag vorgesehene „Networking-Day“ wurde schon im Vorfeld in mehreren kleineren Sitzungen vorbereitet. Bereits am zweiten Abend wurde der Wunsch nach einer Erweiterung des Netzwerks deutlich, diesmal in Form von mehr als einer jährlichen Konferenz. So einigten sich die Konferenz-TeilnehmerInnen gemeinsam auf eine ganze Reihe an Folgekonferenzen. Mit Spannung erwarten wir die nun bereits zwischen dem 18. und 22. April 2007 stattfindende Tagung in Łopuszna, Polen ( unter dem Motto „Facing Reality“) und einer Konferenz in Blaubeuren, Süddeutschland, die voraussichtlich vom 7. bis 11. November desselben Jahres stattfinden wird. Für das Frühjahr 2008 hat bereits Bologna, Italien vorsichtig nachgefragt.
Rück- und Ausblick In den vergangenen zwei Jahren hat sich das MASN von einer kleinen verschworenen Gruppe zu einer weltweit verlinkten Gemeinschaft von Anthropologie-Studierenden etabliert. Dabei sind die Möglichkeiten, die das Netzwerk bietet, noch lange nicht ausgeschöpft. Ob in Zukunft mit Hilfe der Netzwerks-Struktur auch studentische Ausstellungen, einzelne Workshops und Fortbildungsseminare angeboten werden, lässt sich vermuten. Mit dem immer größer werdenden Interesse am Fach und der gleichzeitigen Wachstum der internationalen Gemeinschaft der Ethnologen wird das MASN hoffentlich auch in Zukunft zu einem verstärkten Austausch innerhalb der gesamten Ethnologenschaft Europas und, langfristig, der Welt, beitragen können. Benjamin Hirschfeld, studiert seit 2000 Neuere und Neuste Geschichte und Ethnologie an der Universität Tübingen mit den Schwerpunkten Mittelmeerraum und Migration. Ebenfalls seit 2000 engagiert er sich in der Ethnologie-Fachschaft in Tübingen. Seit Februar 2005 ist er Deutschland-Coordinator des „Moving Anthropology Student Networks“ und Mitorganisator der im November 2007 in Deutschland stattfindenden europäischen Studierenden-Konferenz.
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Valerie Gräser, Johannes Nickel und Emanuel Valentin
Ethnologisches Symposium der Studierenden: Ritualizing a Revival
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ach längerer Pause wurde 2004 das Ethnologische Symposium der Studierenden wieder aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt stand noch in den Sternen, ob es wieder anlaufen würde, ob sich nach Tübingen weitere Unis dazu bereit erklären würden, es fortzuführen. Was tatsächlich daraus geworden ist, zeigen die nächsten Seiten. 2004 fand das erste Symposium statt, mittlerweile ist das vierte in Planung. Es wird sich lohnen, diesem Kind das Laufen beizubringen; als gefestigte Institution der Studierendenschaft bietet es uns eine Plattform, um in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Let’s turn the story on!
Tübingen 2004 – Da schlüpft was… „Revitalizing a Ritual“ – Revitalisierung und Retraditionalisierung des ethnologischen Symposiums der Studierenden auf Schloss Hohentübingen, 28.-30. Mai 2004. Nach Boissevain (1992) lassen sich verschiedene Arten der „rituellen Revitalisierung“ unterscheiden: Rituale können „revitalisiert“, „reanimiert“, „restauriert“ oder „erfunden“ werden, aber auch eine „Retraditionalisierung“ oder eine „Folklorisierung“ erfahren (vgl. ebd.: 9ff.). Die Organisation des ethnologischen Symposiums der Studierenden im Mai 2004 auf Schloss Hohentübingen verbindet in gewissem Masse alle diese verschiedenen Aspekte ritueller Revitalisierung in sich. Zum einen war es unsere Absicht den interuniversitären Austausch und den akademischen Diskurs zwischen StudentInnen der Ethnologie zu fördern und das ethnologische Symposium der Studierenden wieder aus seiner langjährigen Lethargie zu wecken. Zum anderen war es unser Ziel, diese studentische Tagung in Zukunft zu „ritualisieren“ und zu „retraditionalisieren“: Es sollte kein einmaliges Ereignis oder eine „Tübinger Sache“ bleiben, sondern sollte sich in periodischen Abständen auch an anderen Universitäten wiederholen. Diese waren unsere besonderen Anliegen bei der Organisation dieses Wochenendes. Umso größer ist unsere Freude in den letzten Jahren den hohen Anklang beobachten zu können, den diese Initiative hervorgerufen hat: Inzwischen laden nach Halle 2005 und Münster 2006 schon die Göttinger Organisatoren zum 4. Symposium 2007 ein! Dem Titel des Symposiums „Revitalizing a Ritual“ machten wir folglich alle Ehre. Vom 28. bis 30. Mai 2004 trafen um die 150 StudentInnen der Ethnologie aus neunzehn Städten des deutschsprachigen Raums (Deutschland, Österreich und der Schweiz) im Schloss Hohentübingen ein. Insgesamt gab es fünfzehn Vorträge, die thematisch und regional äußerst vielfältig waren. Die Spannweite der auf empirischer Forschung beruhenden
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Vorträge reichte von Heiligenkult in Marokko (Martin Zillinger) und auf Sizilien (Annemarie Gronover), über musikalische und religiöse Synkretismen auf Trinidad (Karin Bindu), in Wien (Franziska Röszl) und Siebenbürgen (Johannes Ries), bis hin zu interethnische Beziehungen in Süd-Kyrgyzstan (Claudia Lüdtke), Flüchtlings- und Entwicklungshilfe in Kolumbien (Nora-Christine Braun) und Kyrgyzstan (Sheila Brendle, Anna Kohlhepp, Winnie Öhrlich, Anja Salzer und Patric Schlager), Jugendinitiativen in Kamerun (Kathrin Heitz), Frauenspargruppen in Tamil Nadu (Rahel Kamber), sowie Migranten und deren Beziehungen zu deutschen bzw. österreichischen Institutionen (Ulrike Müller und Christoph Campregher). Andere Vorträge problematisierten auf theoretischer Ebene die Begriffe „Rasse“ und „race“ (Marlies Felfernig), sowie die ethischen Grundlagen ethnologischer Forschung und Methoden (Frank Donath). Die aus Korea stammende Sung Yoon Park referierte über die relativ unbekannte Geschichte, Entwicklung und Stand der (Kultur-) Anthropologie in Südkorea. Außerdem gab es eine „Zukunftswerkstatt Ethnologie“ unter der Leitung von Stefanie Giesel, Tim Danckwardt und Clemens Sayer, die sich u.a. als äußerst produktive Plattform erwies, um mit studentischem Blick einen institutsübergreifenden Austausch angesichts der damals noch anstehenden – inzwischen bereits vielerorts realisierten – Umstrukturierungsmaßnahmen hin zu Bachelor- und Master-Studiengängen anzuregen. An dieser Stelle sei ganz herzlich all unseren Sponsoren gedankt, ohne deren freundliche Unterstützung es niemals möglich gewesen wäre, das Symposium in dieser Form zu organisieren. „An schönen, vortrefflichen Menschen ist, finde ich, nicht immer nur der Ernst ihres bewussten Wirkens denkwürdig; man sollte auch die Erinnerung daran bewahren, wie sie sich in heiteren Stunden gegeben haben,“ so liest man in Xenophons Gastmahl (Xenophon (1957: 7), in dem er ein typisches „symposión“ (aus griech. sýn „zusammen“ und griech. pínein „trinken“) beschreibt, das bereits im antiken Griechenland so beliebte Trinkgelage im Anschluss an ein gemeinsames Gastmahl. In diesem Sinne freue ich mich bereits viele der damaligen Teilnehmer wieder beim diesjährigen Symposium in Göttingen wieder zu sehen.
Halle 2005 – Es ist ein… Symposium! Als aus Tübingen die Anfrage an Halle kam, das ethnologische Symposium an unserer Universität zu veranstalten, stellte sich erstmal die Frage, ob wir das überhaupt stemmen können. Die interne Kommunikation zog sich hin und am Schluss holte uns die Erkenntnis ein: Falls wir’s anpacken
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Enrico entwirft ein Tafelbild bei einer Podiumsdiskussion beim Symposium in Halle 2005 wollen, dann aber los! Nach einigen, viel zu kurzen Wochen, stand dann aber das zweite studentische Symposium der EthnologInnen aus dem deutschsprachigen Raum: „Ritualizing a Revival.“ Die Tradition des Symposiums sollte fortgeführt werden, die Initiative nicht wieder einschlafen – denn Vernetzung ist alles, wir kennen die Devise gut genug. Was vielen Studierenden zur Zeit akut unter den Nägeln brennt, sind ihre Berufsaussichten. Überall schlägt einem die Frage entgegen: „Was, Ethnologie? Was willst Du denn damit anfangen?“ Und weil wir die Alles-oder-Nichts-Phrase oder andere Ausflüchte satt hatten, wollten wir uns dem Thema annehmen: Welche Berufe kann ich nach einem Ethnologie-Studium antreten? Was, wenn ich nicht die akademische Laufbahn einschlage? Wo sind im Studium Theorien, wo ist Praxis gefragt und wie viel davon? Einige der Vorträge zeigten Zukunftsperspektiven auf: Etwa „Ethnologie im Gerichtssaal: Überlegungen zur Tätigkeit als ethnologischer Gutachter“. Kritisch hinterfragend blieb der Vortrag über „Ethnologie und Entwicklungshilfe“ – wichtige Gedanken wurden in diesem für viele EhtnologiestudentInnen interessante (Berufs-) Feld aufgeworfen. Zwei Studentinnen aus Halle gaben praktische Tipps mit ihrer Veranstaltung „Vom Studium in den Beruf – Lebenswege von Ethnologie-Studenten“. Ebenfalls praktisch angelegt war der Workshop „Sinn und Unsinn von Praktika“, der sich dem Herzstück aller vorberuflichen Erfahrungen widmete.
Dass Studierende der Ethnologie auch schon in ganz eigenen Projekten tätig sind und damit praktische Erfahrungen sammeln, zeigten u.a. die Vorträge „Rauchopfer“ über eine Kampagne gegen Tabakanbau im tropischen Regenwald. Ein weiterer Student aus Halle zeigte Bilder aus Argentinien: Von der Verwendung regenerativer Energie sowie von einem Straßenkinderprojekt. Ein besonderes Kreativbeispiel der Feldforschung steuerte ein junger Ethnologe aus Bern bei: Er forschte unter jugendlichen Yu-Gi-Oh-Kartenspielern in seiner Stadt und zeigte an ihnen Handelspraktiken auf. Dies macht deutlich: Man muss nicht weit reisen, um interessante Forschungsprojekte zu starten – auch die mitteleuropäische Gesellschaft ist exotisch genug. Der Kreativität sind (fast) keine Grenzen gesetzt. Natürlich war es auch unter dem Aspekt des Austauschs mit Studierenden aus den Nachbarländern schön, den Vortrag zu hören. Dafür kam Christian extra aus der Schweiz angereist. Genau wie die Teilnehmenden, die aus Österreich kamen, aber auch aus den verschiedensten Städten Deutschlands. Der Austausch untereinander war allen wertvoll genug, auch größere Strecken zurückzulegen. Genau dies liegt aber wahrscheinlich den allermeisten EthnologInnen am Herzen: andere Städte, Menschen, Studienbedingungen kennen zu lernen, bereitet ja auch auf Forschungen und die Kontaktaufnahme zu anderen Kulturkreisen vor. Das Studium wird im gegenseitigen Austausch und in der Diskussion lebendig erhalten. Und das Orga-Team? Freute sich, am Ende doch noch diese anspruchsvolle Aufgabe in Angriff genommen zu haben. Trotz des späten Planungsbeginns, vielen Diskussionen und einigem Chaos im Vorfeld konnte sich das Resultat sehen lassen. Das Ziel, die durch die Tübinger Studierenden begonnene Wiederaufnahme des Symposiums nicht verebben zu lassen, wurde schließlich erreicht. Der Austausch war geglückt und damit ist die Botschaft an alle in Zukunft organisierenden Universitäten bzw. deren Fachschaften klar: Es lohnt sich, dieses Stück lebendige Ethnologie zu erhalten! Dadurch wird nicht zuletzt unser Studium reicher an Erfahrungen.
Münster 2006 – Und schon sind´s drei Jahre. Im Juni 2006 hat im Schloss zu Münster das 3. Symposium der Ethnologiestudierenden des deutschsprachigen Raumes stattgefunden. Nach den vorangegangenen Veranstaltungen in Tübingen und Halle war auch dieses Jahr wieder wichtig und erfolgreich für Kommunikation und Vernetzung von Ethnostudis. „Wir und die Anderen“: Dieses Motto des ethnologischen Symposiums 2006 in Münster wurde von uns bewusst als ein offenes gewählt. Dazu fällt vielen die Ethnologie und ihr klassischer „Gegenstand“, das Andere im Sinne von anderen, außereuropäischen Kulturen ein. Wir beziehen aber auch andere Wissenschaften mit ein, in denen die Ethnologie zu wichtigen Erkenntnissen beitragen kann. Solche Interdisziplinarität haben wir auch in einigen Vorträgen veranschaulicht bekommen, ebenso gab es von ESE (Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung e.V.) ein Beispiel der praktischen Anwendung von Ethnologie in Deutschland – wir und die „Nichtethnologen“. Zum Kennenlernen und Austauschen bei den Vorträgen, sowie bei spontan entstandenen Workshops kamen Studie-
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Das Melanchtonianum (l.) war Veranstaltungsort in Halle - das Willkommenskomitee (m.) und Teilnehmer (r.) 2005. rende aus: Berlin, Bonn, Göttingen, Halle, Hamburg, Heidelberg, Köln, Mainz, Marburg, München, Münster, Tübingen, Wien und Zürich. Dieses Symposium haben wir in einem Reader dokumentiert, der an die Teilnehmenden verschickt wurde. Die Fachschaft Ethnologie der Universität Münster hält noch ein paar Exemplare für Interessierte bereit. Rückblickend können wir OrganisatorInnen festhalten, dass die Planung und Durchführung eines Symposiums in diesem Rahmen sehr arbeitsintensiv und nervenaufreibend ist, aber auch sehr viel Spaß macht. Das Lob und der Zuspruch von vielen Seiten motiviert und das schöne Ergebnis rechtfertigt alles. Also: Ran an die Arbeit und führt die Tradition weiter! Der nächste Termin für studentisch-ethnologischen Kontakt ist der 18.-22. April 2007. In der Nähe von Krakau wird dann die 3. große MASN-Konferenz (Moving Anthropology Students Network, www.movinganthropology.org) abgehalten. Die Göttinger KommilitonInnen sind zudem im Moment eifrig mit der Vorbereitung des nächsten Symposiums im deutschsprachigen Raum zu Gange. Wir freuen uns schon, dort Gäste zu sein und Euch im Sommer 2007 wiederzusehen!
Göttingen 2007 – Was läuft? „Ethnologie – ein sinnliches Abenteuer“ Vom 15. – 17. Juni 2007 wird in Göttingen das vierte Ethnologische Symposium der Studierenden stattfinden. Das diesjährige Motto lautet: „Ethnologie – ein sinnliches Abenteuer“. Es soll dabei nicht nur um die eigentliche Ethnologie der Sinne gehen, sondern auch um Themen rund um den Körper, Körperlichkeit und Körpergestaltung, die Musikethnologie, die Museumsethnologie (Alternativen zur visuellen Übermittlung von Informationen? Museum als Erlebnis-Ort des „Lernens mit allen Sinnen?“) und die Visuelle Anthropologie in all ihren Facetten – um nur einige Beispiele zu nennen. Zum Motto passende filmische Beiträge sind sehr willkommen! Da wir uns mit Alternativen zur üblicherweise text- und redezentrierten Ethnologie beschäftigen wollen, sind wir offen wir weitere kreative Vorschläge und Präsentationsformen. Zu mehreren der genannten Punkte hat Göttingen Besonderes zu bieten. Direkt im Gebäude des Instituts für Ethnologie befindet sich die Ethnographische Sammlung (das erste deutsche Universitäts-Museum). Sie ist besonders
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für ihre aus den Cook’schen Südseereisen stammenden Bestände bekannt.1 Seit längerem besteht eine Zusammenarbeit mit dem „Institut für den wissenschaftlichen Film“ (jetziger Name: IWF Wissen und Medien gGmbH)2, das sich mit vielen ethnographischen Filmen und dem alle zwei Jahre stattfindenden – ursprünglich rein ethnographischen – Filmfestival einen guten Namen in der Visuellen Anthropologie gemacht hat. Und schließlich gibt es in Göttingen ein eigenes musikwissenschaftliches Institut, das über einen Teilbereich Musikethnologie verfügt. Ungefähr bei der Hälfte des Bestandes der dortigen Musikinstrumentensammlung handelt es sich um Belegstücke außereuropäischer Traditionen.3 Diese Einrichtungen sollen je nach endgültigem Zeitplan in das Vortrags- oder Begleitprogramm eingebunden werden. Doch vor allem freuen wir uns auf die auswärtigen Beiträge und rufen euch hiermit zum Mitmachen auf! Schickt Vorschläge bitte an folgende eMail-Adresse: ethnosympo07@gmail.com Bei Fragen und allgemeinen Anmerkungen wendet euch bitte an: Johannes Nickel johannes.nickel@gmx.de Telefon 0551-7974197
Fußnoten Hier findet ihr die Internetseiten zu den ethnologischen oder eth� nologieverwandten Institutionen in Göttingen: 1 www.uni-goettingen.de/de/sh/28899.html 2 www.iwf.de/iwf 3 wwwuser.gwdg.de/~musik/mumuseum.htm
Bibliographie Boissevain, Jeremy 1992. Introduction: Revitalizing European Rituals. In: Ders. (Hrsg.) Revitalizing European Rituals. London: 1-19. Xenophon 1957. Das Gastmahl. Hamburg. Valerie Gräser (Halle), Johannes Nickel (Göttingen) und Emanuel Valentin (Tübingen) waren bzw. sind in den jeweiligen Organisationskomitees der Symposien beteiligt.
Ethnologie studieren!
Boris Wille
Salve Bakkalaureus Konzeption und Wahrnehmungen des Bachelor-Studiengangs Ethnologie in Halle
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eit dem Wintersemester 2006/2007 gibt es auch an der Matin-LutherUniversität Halle-Wittenberg einen Bachelorstudiengang Ethnologie. In diesem Artikel möchte ich zunächst kurz darüber berichten welche Konzeption diesem neuen Studienprogramm zu Grunde liegt. Besonders konzentriere ich mich allerdings darauf, die Meinungen und Einschätzungen der ersten Generation Bachelorstudenten einzuflechten. Basis dafür sind hauptsächlich Daten, die ich aus einer Befragung gewonnen habe, welche ich am Ende des letzten Semesters (WS 06/07) durchgeführt habe. Hauptsächlich deshalb, weil ich außerdem meine ganz persönlichen Erfahrungen, die ich als ‘teilnehmend beobachtender’ Tutor sammeln konnte, ebenfalls einfließen lasse.
Konzeption des BAStudiengans Das Studium für einen Abschluss als Bachelor of Arts in der Ethnologie kann jeweils nur im Wintersemester aufgenommen werden und dauert 6 Semester. Zulassungsvoraussetzungen sind eine anerkannte Hochschulzugangsberechtigung, also normalerweise ein Abitur, und der Nachweis von Englischkenntnissen. Zur Zeit besteht für die Zulassung ein universitätsinterner Numerus Clausus. In Halle werden zwei BA-Studienprogramme angeboten. Zum Einen ist das der BA 90, das heißt, dass er auf 90 Leistungspunkte zu studieren ist und zum Anderen der BA 60 mit 60 Leistungspunkten. Ein Leistungspunkt entspricht dabei einem Arbeitsaufwand von 30 Stunden. Zu den Stunden werden der Besuch und die Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen, sowie Praktika und
die Vorbereitung und das Absolvieren von mündlichen und schriftlichen Prüfungen gezählt. Beide Studienprogramme, also BA 90 und BA 60, bestehen aus 6 Pflichtmodulen. 5 der 6 Pflichtmodule sind bei beiden Studiengängen identisch, das sind: ‘Einführung in die Ethnologie’, ‘Geschichte und Theorien der Ethnologie’, ‘Ethnographien’, ‘Systematische Ethnologie I’ und ‘Systematische Ethnologie II’. Als sechstes Modul kommt beim BA 90 das Modul ‘Methoden der Ethnologie’ und beim BA 60 ‘Gesellschaften und Kulturen im Vergleich’ dazu. Alle Module stehen mit 10 LP gleichgewichtet nebeneinander. Der BA 90 hat darüber hinaus 5 Wahlpflichtmodule, das sind: ‘Lokales Handeln in globalen Zusammenhängen’, ‘Gesellschaften und Kulturen im Vergleich’, ‘Praktikum’, ‘Allgemeine Schlüsselqualifikationen’ und die ‘BA-Abschlussarbeit’. Durch ’Praktikum’ und ‘Allgemeine Schlüsselqualifikationen’ können im Gegensatz zu den anderen Wahlpflichtmodulen nur 5 statt 10 LP erworben werden. Diese modulare Struktur ist der strukturelle Überbau und dient sozusagen als Leitfaden für das Belegen von Lehrveranstaltungen. In jedem 10-LPModul sollen nämlich zwei Veranstaltungen besucht werden, in denen die Punkte erworben werden können. Mit Ausnahme des Einführungsmoduls beinhalten die Module aber nicht immer wieder die selben Lehrveranstaltungen, wie es diese Kategorisierung zunächst suggerieren mag, denn die Kategorisierung ist von der Anlage her so konzipiert, dass relativ große Themenspektren den Modulen untergeordnet werden können. Ein Beispiel aus dem letzten Wintersemester soll das Prinzip veranschaulichen: Die Seminare ‘Kreolische Gruppen in postkolonialen Gesellschaften’, ‘Anthropologie
der Drogen’ und ‘Development and inequality in postsocialist states’ wurden in die modulare Kategorie ‘Gesellschaften und Kulturen im Vergleich’ eingeordnet. In den Seminaren wurden ganz unterschiedliche Themen und Regionen behandelt, wie das die Titel erahnen lassen, aber da sie alle mehr oder weniger komperatistische Momente in sich trugen, passten sie in diese Kategorie. Was damit deutlich wird, ist, dass das institutionelle Gerüst, die Module, einen Rahmen schaffen, der sich eben als Rahmen versteht und nicht als Korsett oder Zwangsjacke. Durch diese ‘weiten’ Kategorien ist es in Halle im Prinzip gelungen Flexibilität bei der Gestaltung des Studiums in einen Studiengang zu integrieren, der auf den ersten Blick ziemlich standardisiert und formalisiert wirken mag. Das unterstreicht auch die Regelung, dass bis auf das Modul ‘Methoden der Ethnologie’ kein Modul ein anderes voraussetzt. Sie sind demnach unabhängig voneinander belegbar. Der BA-Ethnologie ist also formalisiert genug um als BA-Studiengang wahrgenommen zu werden, aber ‘on the ground’ flexibel genug, um individuellen Interessen der Studierenden Raum zur Entfaltung zu bieten.
Wahrnehmungen der ‘Ersten Generation BA-Student’ Für die Befragung der Erstsemester habe ich einen Fragebogen mit 24 Fragen entwickelt. Von den 24 Fragen waren 19 mittels geschlossenen Kategorien mit fünfstufigen Skalen zu beantworten. Die restlichen fünf Fragen sollten durch offene Kategorien beantwortet werden. Insgesamt konnte ich 21 Fragebögen ausfüllen lassen. Das entspricht einer Erhebungsquote von
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Ethnologie studieren! zirka zwei Dritteln. Leider lässt sich studiert auf 60 LP und 4 auf 90 LP. Bei Meinung sind, dass Ethnologie gut zu nicht genau sagen wie viele Studenten den Studentinnen ist das Verhältnis 3 ihrem anderen Studienfach passt, ist am Ende des Semesters den Studien- zu 14 zu Gunsten von 90 LP. Für 13 ist ein oft genantes Motiv. gang noch belegten, aber es dürften es das erste Studium, für vier mindeFür die Mehrheit (57%) ist nach dem wohl knapp 30 sein. stens das zweite. ersten Semester des Studiums, EthnoFür zwei Drittel der Befragten ist Männliche Studenten sind im logie das, was sie sich darunter vorgees das erste Studium. Die meisten Stu- Schnitt 1,6 Jahre älter als weibliche. Bei stellt hatten. Hauptsächlich notierten denten des verbleibenden Drittels ha- den Studentinnen ergibt sich ein Al- die Befragten dort, dass es um den ben vorher schon einmal eine Geistes- tersdurchschnitt von zirka 21,5 Jahren Erwerb von Kenntnissen über fremde wissenschaft bzw. Sozialwissenschaft und bei Studenten von 23,2 Jahren. 62% Völker, Kulturen und Gesellschaften studiert. Ein Student hat sich in die der Studierenden sind aus dem Jahr- geht. 24% verneinten, dass ihre VorEthnologie neben seinem eigentlichen gang 86/87. Sie sind die Jüngsten Studi- stellung von Ethnologie dem gleich ist, Studium (Medizin) eingeschrieben - er enanfänger. was sie bislang erfahren haben. Die Bebelegt also zwei Studiengänge parallel. Für die Mehrzahl der Studenten gründungen lassen sich mit zwei AussaVier Studenten gen zusammenfashaben sich für das sen: “Man ‘sieht’ BA Studien Prozu wenig von den gramm auf 60 Leiverschiedenen stungspunkte (LP) Kulturen” und entschieden. Davon “vielfältiger, aber sind drei Studienauch theoretischer anfänger und einer (abstrakter) als erUmschreiber. Die wartet”. Zwei Stuverbleibenden 17 denten gaben an Studenten studieren vorher nicht genau auf 90 LP. Somit gewusst zu haben, ergibt sich ein Verwas Ethnologie hältnis von zirka 4:1 beinhaltet. zu Gunsten des 90 Auf die Frage, LP Programms. was die Studenten ‘Kunstgeschichnach dem Abte’ und ‘Soziologie’ schluss des BAsind mit jeweils 20% Studiengangs mit die beliebtesten dem Abschluss Die Grafik zeigt Anteile der Beurteilungen verschiedener Aspekte Studiengänge, die beabsichtigen, antdes Ethnologiestudiums im Verhältnis zu den anderen Studienfächern in Kombination mit worteten 9, dass Ethnologie belegt sie einen Master werden, dicht gefolgt von ‘Archäologien (51%) war es bei der Studienwahl wich- anstreben würden, d.h. einen AufbauEuropas’ mit 15%. ‘Südasienkunden’, tig, in der Region zu studieren. Weit studiengang an ihr Studium anhängen ‘Politikwissenschaften’, ‘Philosophie’ weniger (32%) gaben an, dass es für sie möchten. Neben 3 Studierenden, die und ‘Berufsorientierte Linguistik im wichtig war, an der Martin-Luther- angaben, nicht zu wissen was sie maInterkulturellen Kontext’ (BLIK) sind Universität zu studieren. Für 38% war chen möchten, gab es 2, die gern bei der mit je 9% Kombinationsfächer. Die das sogar unwichtig. Auch das Belegen “Entwicklungshilfe” arbeiten möchten. übrigen Kombinationen mit jeweils 4% eines BA-Studiengangs ist für die Mehr- 6 Studenten gaben an, als “Journalisten” bilden ‘Arabistik/Islamwissenschaft’ zahl (61%) unwichtig gewesen. Wichtig arbeiten zu wollen, wobei einige von und ‘Medien- und Kommunikations- hingegen war für 95% der Studieren- ihnen vorher einen Master-Abschluss wissenschaft’ (MuK). den ihr anderes Fach zu studieren. erwerben wollen. Weitere 6 gaben an, Etwas mehr als die Hälfte (52,5%) Im Durchschnitt war das Belegen des dass ihre zukünftige Beschäftigung der Studenten wohnt in Halle, wovon Fachs Ethnologie im Vergleich weniger irgendetwas mit dem Ausland zu tun 28,5% in Halles Innenstadt wohnen wichtig, da nur 68% das angaben. haben soll. und 24% in den Vororten. 47,5% leben Auf die Frage, was die Motivation Gut die Hälfte (57%) der Studenten nicht in Halle. Davon sind es 19%, die oder das Schlüsselerlebnis war, worauf hat drei Veranstaltungen in der Ethin einem Umkreis von weniger als 50 sich die Studierenden für die Auf- nologie belegt, 28% belegten 5 Lehrkm von Halle entfernt wohnen und nahme des Ethnologiestudiums ent- veranstaltungen und 9% 4 Lehrveran28,5%, die weiter als 50 km weit weg schlossen, gab es ganz unterschiedliche staltungen. Mehr als fünf hat keiner leben. Antworten. Dabei kristallisierten sich belegt. Im Vergleich zu den anderen Auf 5 männliche Studenten kom- aber hauptsächlich 3 Motive heraus. So Fächern zeigt sich, dass Studierende men 16 weibliche, was in Prozenten spielt ‘Reisen’, ‘andere Kulturen kennen dort tendenziell eine höhere Anzahl an ausgedrückt 23% zu 77% entspricht. lernen’ und überhaupt der Kontakt zu Lehrveranstaltungen belegen. 3 VeranFür drei der männlichen Studenten ‘Fremden’ für viele einen Rolle. Aber staltungen belegen lediglich 14%, was ist es das zweite Studium, zwei haben auch studientechnisch-pragmatische bei Ethnologie noch am häufigsten der erstmals begonnen. Einer von ihnen Entscheidungen, nämlich, dass sie der Fall war. Die Meisten belegen in ihrem
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Ethnologie studieren! anderen Fach 4 (28%), 5 (19%) oder 6 (23%) Lehrveranstaltungen. Immerhin 14% nehmen an 7 Veranstaltungen in ihrem anderen Fach teil. Die meisten Studenten (76%) gaben an mit der Vor- und Nachbereitung ihrer Lehrveranstaltungen in der Ethnologie zwischen 1 bis 8 Stunden pro Woche zu verbringen, was sich folgendermaßen aufschlüsseln lässt: 14% 02 Stunden, 28% 2-4 Stunden, 23% 4-6 Stunden und 9% 6-8 Stunden. Nur Einzelne investieren für Vor- und Nachbereitung zwischen 10-18 Stunden pro Woche. Im Durchschnitt ergeben sich 4,5 Stunden pro Student und Woche für Vor- und Nachbereitungszeit für Lehrveranstaltungen in der Ethnologie. Für das jeweilige andere Fach ergibt sich ein Durchschnittswert von 5,7 Stunden pro Student und Woche, d.h. die Studierenden investieren durchschnittlich 0,8 Stunden mehr pro Woche für ihr anderes Studienfach. Dort gruppiert sich das Gros um einen zeitlichen Arbeitsaufwand zwischen 2 bis 10 Stunden pro Woche (57%). 28% verwenden sogar 14-18 Stunden pro Woche. Kein Student schätzt seinen gesamten Arbeitsaufwand als ‘sehr niedrig’ ein. 42 % halten ihn für ‘niedrig’ (19%) bis ‘mittel’ (23%). 57% stufen ihn als ‘hoch’ bis ‘sehr hoch’ ein, wobei 38% ‘hoch’ angaben und 19% ‘sehr hoch’. 58% halten ihren Arbeitsaufwand für ‘sehr angemessen’ (19%) bis ‘angemessen’ (39%). 28% schätzen ihn für ‘etwas unangemessen’ (14%) bis ‘absolut unangemessen’ (4%) ein und 23% waren unentschieden. 52 % der Studenten, die ihren Arbeitsaufwand für ‘hoch’ halten, stufen ihn als ‘angemessen’ ein. 9% derer, die ihren Aufwand für hoch halten, gaben ‘unangemessen’ an. Die Anforderungen in der Ethnologie im Vergleich zu dem jeweils anderen Fach beurteilen alle Studierenden in einem Bereich von ‘mittel’ bis ‘sehr hoch’. 56% hielten die Anforderungen für ‘hoch’ bis ‘sehr hoch’ und 42% für ‘mittel’. Keiner beurteilte die Anforderungen als ‘niedrig’ bzw. ‘sehr niedrig’. Es ergibt sich also durchschnittlich folgendes Bild: Die Studenten schätzen die Anforderungen in der Ethnologie im Vergleich ‘höher’ ein als die ihres anderen Fachs, investieren aber weniger Zeit in Vor- und Nachbereitung der Lehrveranstaltungen. In Bezug auf das allgemeine Klima im Bachelor-Studiengang Ethnologie schätzen 39% es als ‘sehr gut’, 43% als
‘gut’ und 4% als ‘schlecht’ ein und 14% waren unentschlossen. Die gute Beurteilung des Klimas zeigt sich auch dadurch, wen die Studierenden konsultieren falls sie Fragen zum Studium haben. Am Häufigsten sprechen sie BAKommilitonen an, denn 94% gaben an, bei Fragen zum Studium, jemanden aus dem eigenen Studiengang zu konsultieren. In Vergleich dazu werden Studenten aus höheren Semestern nur von 47% ‘häufig’ angesprochen, Dozenten von 23% und Studienberatungen nur von 8%. Auf einer bipolaren Skala mit ‘BA’ zur einen und ‘Magister’ zur anderen Seite, sollten die Studierenden angeben womit sie sich eher verbunden fühlen. Dabei ergibt sich im Schnitt, dass sich 61% eher mit BA-Studenten und 5% mit Magistern verbunden fühlen. 23% waren unentschlossen. Ebenfalls auf einer bipolaren Skala sollte ermittelt werden ob sich die Studenten eher mit Ethnologie oder ihrem anderen Fach verbunden fühlen. Dabei tendieren 38% zu ihrem anderen Fach, 28% zu Ethnologie und 33% waren unentschlossen. Nach Problemen bei verschieden Aspekten des Ethnologie Studiums befragt, ergeben sich recht unterschiedliche Resultate. Bei der Organisation und Planung des Studiums gaben 27% an ‘viele’ bis ‘sehr viele’ Probleme zu haben. 47% hatten ‘einige’ und nur 18% hatten ‘wenige’ bis ‘keine’. Dieser Aspekt des Studiums bereitet den Studierenden die meisten Probleme. Beim Erwerb wissenschaftlicher Methoden und Arbeitstechniken hatte die Mehrzahl (61%) hingegen ‘keine’ bis ‘wenige’ Probleme. Jeweils 19% gaben dort an ‘einige’ bzw. ‘viele’ Probleme zu haben. Bei der Anwendung der wissenschaftlichen Methoden und Arbeitstechniken hatten allerdings 23% ‘viele’ und 28% ‘einige’ Probleme. 47% hatten ‘keine’ bis ‘wenige’ Probleme. In Tendenz kann man also sagen, dass der Erwerb wissenschaftlicher Methoden und Arbeitstechniken, nach Selbsteinschätzung der Studenten, weniger Probleme bereitet als deren Anwendung. Beim Erwerb des Überblicks über das Fach Ethnologie hatten 9% ‘viele’, 38% ‘einige’, 38% ‘wenige’ und 14% ‘keine’ Probleme. Selbständig zu Arbeiten bereitet 71% der Studenten ‘keine’ bis ‘wenige’ Probleme. Lediglich 19% gaben ‘einige’ und 9% ’viele’ an. Ein großer Anteil (61%) hat auch beim Er-
füllen der gestellten Aufgaben ‘keine’ bis ‘wenige’ Probleme. 23% gaben an ‘einige’ und 14% ‘viele’ dabei zu haben. Insgesamt lässt sich also sagen, das die meisten Probleme für die Studierenden bei der Organisation und Planung ihres Studiums auftauchten, gefolgt von Problemen bei der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Arbeitstechniken. Die wenigsten Probleme haben sie beim selbständigen Arbeiten und beim Erwerb wissenschaftlicher Methoden und Arbeitstechniken. Wie schon oben angedeutet finden 87% der Studenten i.d.R. einen Ansprechpartner, wenn sie Fragen zum Studium haben. Am Häufigsten suchen sie dabei Hilfestellung bei BA-Kommilitonen, gefolgt von Studenten aus höheren Semestern. Bei der Studienfachberatung des Instituts für Ethnologie und bei der Allgemeinen Studienberatung der MLU sucht das Gros ‘selten’ bis ‘sehr selten’ nach Hilfestellung zu gerade vorgestellten Problemfeldern. Die Erreichbarkeit der Lehrenden beurteilten 61% als ‘gut’ bis ‘sehr gut’, 23% als ‘weder gut noch schlecht’ und 14% als ‘schlecht’. Überwiegend wurde sie also als ‘gut’ beurteilt. Auch die zeitliche Koordination der Lehrveranstaltungen innerhalb der Ethnologie beurteilten 56% als ‘gut’ bis ‘sehr gut’ und 18% als ‘schlecht’ bzw. ‘sehr schlecht’. Die Transparenz der Studien- und Prüfungsordnung wurde hingegen von 23% als ‘sehr schlecht’ und 38% als ‘schlecht’ beurteilt. Nur 14% beurteilten sie als ‘gut’ und 23% waren dabei unentschlossen. Die Bewertungen der Vermittlung der Ansprüche bzw. Standards des Faches durch die Lehrenden gruppieren sich um die Mitte, d.h. 38% beurteilten sie als ‘gut’, 28% als ‘schlecht’ und 38% als ‘weder schlecht noch gut’. Wenn man so will, gelingt die Vermittlung also eher gut, ist aber nach Ansicht der Studierenden nicht ‘sehr gut’. Bei der Beurteilung der Größe der Lehrveranstaltungen verhält es sich ähnlich. 76% beurteilten sie als ‘weder zu groß, noch zu klein’, was wohl heißt, dass sie die richtige Größe haben. Die Qualität der Semesterapparate wird von den Studierenden tendenziell eher als ‘gut’ beurteilt, wobei allerdings die meisten (42%) ‘mittel’ angaben und 32% zu ‘gut’ bis ‘sehr gut’ und 13% zu ‘schlecht’ und ‘sehr schlecht’ tendierten. Die Qualität der Internetangebote wurde überwiegend mit ‘gut’ (28%) bis ‘sehr gut’ (23%) beurteilt. Nur 9% befanden sie als
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Ethnologie studieren! ‘schlecht’ und 38% als ‘mittel’. Insgesamt lässt sich also für die Beurteilung der Aspekte der Studienbedingung in der Ethnologie in Halle festhalten, dass Erreichbarkeit der Lehrenden, zeitliche Koordination der Lehrveranstaltungen und die Qualität der Internetangebote, sowie der Semesterapparate als ‘gut’ beurteilt wurde. Die Vermittlung der Standards des Fachs und die Größe der Lehrveranstaltungen wurde als ‘eher gut’ beurteilt, wobei das tendenziell nur knapp über der Mitte liegt. Schlecht schnitt hingegen die Transparenz der Studienordnung ab. Auf die Frage, ob die Studenten den Eindruck haben, dass sie ihr Ethnologiestudium auf ihre individuellen Interessen abstimmen können, antworteten 52% mit ‘ja’, 38% mit ‘nein’ und 10% gar nicht. Diejenigen, die mit ‘ja’ geantwortet haben, begründen ihre Antwort z.B. mit Argumenten, wie “die Zeitplanung ist individualisierbar”, oder “innerhalb der zu leistenden Module kann ich Veranstaltungen, die mich interessieren, frei wählen”. Das “große Angebot an Lehrveranstaltungen” spielt dabei für viele eine Rolle. Bei denen, die mit ‘nein’ geantwortet haben, sind Begründungen, die die regionale Spezialisierung auf Afrika und Indien betreffen, als Kritik genannt worden. Auch eine oft genannte Begründung ist, dass die zu leistenden Pflichtmodule nichts mit den eigenen Interessen zu tun haben, aber dennoch belegt werden müssen. Ein Student bemängelte, dass “Schnuppern” nicht möglich sei, was heißt, dass er oder sie das Korrigieren von “Fehlentscheidungen” für schlecht möglich hält. Bei einem weiteren Fragekomplex sollten die Studenten mehrere Aspekte ihres Ethnologiestudiums im Verhältnis zu ihrem anderen Studienfach beurteilen. Ich möchte hier lediglich allgemeine Tendenzen nennen, obwohl ich auch konkretere Vergleichswerte zu einzelnen Fächern habe. So spiegeln die genannten Werte insgesamt Bewertungen im Vergleich zu den oben erwähnten Studienfächern wieder. Die Flexibilität bei der Wahl der Studieninhalten in der Ethnologie wird im Verhältnis zu den anderen Studienfächern von 28% als ‘sehr hoch’, von 38% als ‘hoch’ und von 23% als ‘mittel’ beurteilt. Die Flexibilität bei der Wahl der Studienschwerpunkte beurteilten 4% mit ‘sehr hoch’, 47% mit ‘hoch’, 19% mit ‘mittel’ und 23% mit ‘niedrig’. Die
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Studierenden schätzen also im Durchschnitt die Flexibilität bei der Wahl der Inhalte als ‘höher’ ein als die Flexibilität bei der Wahl der Studienschwerpunkte. Beides wird in Bezug auf ihr anderes Studienfach im Durchschnitt auch als ‘höher’ beurteilt. Die Strukturierung des Studiengangs im Vergleich zu den anderen wird tendenziell als ‘gut’ beurteilt (9% ‘sehr gut’, 33% ‘gut’, 42% ‘mittel’, 14% ‘schlecht’, 0% ‘sehr schlecht’). Die Anforderungen, die durch das Fach gestellt werden, werden im Verhältnis überwiegend als ‘hoch’ (52%) beurteilt. 4% beurteilen sie als ‘sehr hoch’ und 42% als ‘mittel’. Keiner fand sie ‘niedrig’ oder ‘sehr niedrig’. Nach Veränderungen gefragt, die die Studenten am BA-Ethnologie anregen würden, kristallisieren sich zwei hauptsächliche Antworten heraus. So wurde erstens vorgeschlagen, dass es ausführlichere Informationsveranstaltungen zu formalen Aspekten des Studiengangs geben sollte. Das bezieht sich auf Fragen nach der Organisation und den zu erbringenden Leistungen im Studiengang. Dabei wurde auch angeregt, dass auch die Lehrenden besser über die neue Bürokratie (Anmeldungen, Fristen, Formulare usw.) aufgeklärt werden sollten. Die zweite Art von Antworten gruppiert sich um Aussagen, die die Koordination zwischen den einzelnen Studiengängen betreffen. Für einige Studenten ergeben sich inhaltliche Redundanzen, da sie im Prinzip zwei mal die selbe Veranstaltung belegen müssen. Speziell handelte es sich hier um ‘Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten’, die als fachspezifische Schlüsselqualifikationen innerhalb der einzelnen Studiengänge absolviert werden müssen und sich inhaltlich sehr ähneln. Mir wurde im Tutorium außerdem oft geschildert, dass es Probleme bei der Koordination der Termine der Lehrveranstaltungen gab, da einige Pflichtveranstaltungen anderer Fächer genau zum Zeitpunkt der Pflichtveranstaltungen in der Ethnologie stattfanden. Das scheint aber ein generelles Problem an der MLU zu sein, da es bis dato noch kein funktionierendes System für die Koordination gibt.
Fazit Für die viele Studienanfänger ist die Aufnahme des BA-Studiengangs
Ethnologie mit der Absicht verbunden später einen Aufbaustudiengang (Master) zu belegen. Danach können sich wiederum viele vorstellen im Bereich Journalismus zu arbeiten. Die Anforderungen in der Ethnologie schätzen die meisten als relativ ‘hoch’ ein, wobei sie allerdings im Vergleich zu ihren anderen Studiengängen weniger Zeit in die Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen investieren. Für die Studierenden ergeben sich die meisten Probleme bei der Organisation und Planung ihres Studiums, gefolgt von Problemen bei der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Arbeitstechniken. Die Probleme bei der Organisation und Planung beziehen sich aber auf die Koordination zwischen ihren Beiden Fächern und nicht auf die Koordination der Lehrveranstaltungen innerhalb des Studiengangs Ethnologie. Die Studienbedingungen in der Ethnologie werden demnach auch mit ‘gut’ bewertet. Das betrifft auch Aspekte, wie die Erreichbarkeit der Lehrenden, die Qualität der Internetangebote und der Semesterapparate. Die Flexibilität bei der Wahl der Studieninhalte wird in Bezug auf ihr anderes Studienfach im Durchschnitt auch als ‘hoch’ beurteilt. Ebenfalls im Verhältnis zum jeweils anderen Fach wird die Strukturierung des Studiengangs tendenziell als ‘gut’ beurteilt. Für verbesserungswürdig halten die Studenten vor allem die Koordination zwischen den einzelnen Studiengängen. Ebenso regen die Studenten an, dass auch Dozenten eine Einheitliche Linie bei der Durchführung der bürokratischen Formalien anstreben sollten. Alles in allem kann man dennoch sagen, dass der Start des Bachelor-Studiengangs Ethnologie in Halle weitestgehend gelungen zu sein scheint, zumindest wenn man die Aussagen der Studierenden als Referenzpunkt dafür nimmt. Insgesamt beurteilen die BAStudenten die institutionellen Rahmenbedingungen mit ‘gut’. Boris Wille studiert Ethnologie und Medien- und Kommunikationswissenschaften in Halle und arbeitet darüberhinaus freiberuflich an der Landesmedienanstalt Sachsen-Anhalt. Im Frühjahr 2006 hat er eine Lehrforschung in Bhopal, Indien durchgeführt.
Ethnologie studieren!
Hendrik Konzok
„Die Auftrennung der Wirklichkeit“ Daniel Dahm über Ethnologie, Transdiziplinarität, Grundeinkommen und plurale Ökonomie
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aniel Dahm arbeitet an der Entwicklung und Implementie� rung Neuer Wohlstandsmodelle und nachhaltiger Sozioöko� nomien, zur Wechselbeziehung zwischen Unterschiedlichkeit und Lebendigkeit und dem Mensch-Natur-Verhältniss. Im Moment ist er Fellow des Natural History Museums in London und auch als Lehrender am Imperial College tätig. Du hast Geographie, Ethnologie und Botanik in Köln studiert. Eine nicht alltägliche Kombination. Wie bist Du darauf gekommen und bist Du schon mit der Berufsvorstellung Wissenschaftler in das Studium gegangen? Ich wollte ursprünglich Künstler werden. In den siebziger und achtziger Jahren bin ich in der Punkrock-, Freakund Hippieszene aufgewachsen. Gleichzeitig wurde Ende der siebziger Jahre über den sauren Regen und die verseuchten Flüsse eine Art Umweltbewusstsein deutlicher und es gab eine intensivere Auseinandersetzung damit. Das hat mich alles geprägt. Ursprünglich wollte ich aber Planetologe werden. Ich hätte gerne mit Außerirdischen gesprochen, andere Planeten erforscht. Unter Anderem habe ich dann auf einer Reise nach Nepal gemerkt, dass es völlig andere Auffassungen von Leben und Wohlstand in anderen Gesellschaften gibt. Daraus resultierte ein Bedürfnis zu erfahren, wie unterschiedlich selbst Menschen sind und was für unterschiedliche Mensch-Natur-Verhältnisse es gibt. Wie daraus auch unterschiedliche Lebensstile entstehen können. Ebenso hatte ich aber das Bedürfnis nach Sinnlichkeit. Daraus resultierte dann die Planetologie der Erde, das ist die Geographie, verbunden mit der Völkerkunde, die sich ja mit der Relativität von verschiedenen Lebensstilen beschäftigt, und die Botanik als sinnliche, ökologische, naturwissenschaftliche Kategorie, wo man mit lebenden Organismen zu tun hat. Vom Himalaja wieder an die Uni ist es dann doch wieder ein großer Schritt. Gab es Zukunftsangst, aufgrund der Fächerwahl? Also die Arbeitslosigkeitsdramatik war im Grunde genommen Anfang der Neunziger ähnlich hoch wie heute. In mancher Hinsicht war es vielleicht noch größere Panikmache, weil man sich noch nicht daran gewöhnt hatte. Damals hieß es: „Oh Gott, oh Gott, ihr werdet alle arbeitslos.“ Jetzt heißt es schon: „Oh Gott, oh Gott, ihr seid alle arbeitslos.“ Ich hatte aber nie wirkliche Existenzängste und bin da recht
angstfrei rangegangen. Ich wusste immer, dass ich Wege in dieser Welt finden werde, um mich durchzusetzen. Die Angstebene ist eigentlich erst später dazu gekommen. Die habe ich erst Anfang, Mitte Dreißig erfahren. Also nachdem ich ein Studium abgeschlossen hatte und auf einmal feststellte, verdammte Scheiße, ich kann mich strukturell hier kaum durchsetzen und es gibt Dinge, die haben nicht mehr viel mit Begabung zu tun, sondern mit Kraft – mehr als ich alleine habe. Und das war mir mit Anfang zwanzig nicht klar. Kannst Du denn eine Quintessenz aus deinem Ethnologie-Studium ziehen, was Du daraus mitgenommen, gelernt hast? Ja, ich habe daraus mitgenommen, dass ich einige sehr nette Leute, nette Studenten kennen gelernt habe, mit denen ich heute immer noch sehr engen Kontakt habe. Ich habe eine ganz tolle Dozentin gehabt, das war die Frau Doktor Hortense Reintjens-Anwari. Teilweise hatte ich auch sonst sehr originelle, freakige und grenzgängerische Dozenten … und ein idiotisches Fach. Ethnologie? Ja, ein idiotisches Fach. Warum? Weil die Ethnologie sich für mich, aus meiner Sicht… also ich liebe dieses Fach einerseits, andererseits, wissenschaftlich betrachtet, ist die Ethnologie, zumindest so wie ich sie erfahren habe, wie sie mir gegenüber kommuniziert wurde, in den letzten Jahren einen unwahrscheinlich engen Weg gegangen. Sie hat nämlich den Versuch gemacht, über eine Komplexität an Theoriemodellen und an wissenschaftlichen Denkmustern und verzweifelten Begründungsversuchen eine Art wissenschaftliche Schärfe zu erreichen, wie sie z. B. Naturwissenschaften für sich in Anspruch nehmen. Das ist überhaupt nicht angemessen. Die Komplexität menschlichen Zusammenlebens lässt sich nicht reduzieren? Sie lässt sich auf keinen Fall reduzieren. Das würde sogar zum Verlust dessen führen, worum es überhaupt geht. Und Ethologie reduziert? In der Ethnologie sind Menschen, Lehrende, wie in allen anderen Wissenschaften auch. Diese sind einem Wissen-
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„Ethnologie hat mehr als andere Wissenschaften den Anspruch und das Potential zur Transdisziplinarität. Das heißt Disziplinen zusammen zu führen und sich über die Grenzen der Wissenschaft hinaus auf die praktische Lebenswelt zu beziehen.“ Daniel Dahm
schaftsbetrieb ausgesetzt. Dieser Betrieb verlangt Exaktheit, verlangt idealerweise Beweisbarkeit. Wobei wir doch eigentlich wissen, dass nichts beweisbar ist. Aber die Ethnologie, als eine hochgradig relativistische Wissenschaft – eine Wissenschaft, die sich in einem Bereich befindet, wo man sich jenseits jeglichen Wahrheits- oder Absolutheitsanspruchs bewegt – hat versucht, sich dieser wissenschaftlichen Landschaft anzupassen und eine Art wissenschaftliche Härte, eine methodische Schärfe zu erschaffen. Ich kenne unwahrscheinlich viele begabte Ethnologen, Ethnologiestudenten, die im Rahmen ihres Studiums unwahrscheinlich eng geführt wurden. Viele von denen sind allerdings auch schon zu eng reingekommen. Es gibt auch viele Ethno-Romantiker, was im Prinzip so etwas ist wie Öko-Spiesser. Das sind Leute, die gehen mit normativen Vorstellungen in die Welt und sagen alles Andere ist besser, hier ist alles scheiße. Das ist genau so eine Engführung. Die meisten Menschen neigen dazu, zu reduzieren. Die Ethnologie versucht zwischen Völkern zu unterscheiden und erzeugt so eine Unterscheidungsgenauigkeit, eine Schärfe. Das ist aber so wie die Frage danach, wo ein Wald, oder wo ein Ökosystem aufhört. Das heißt, alle Vorstellungen von prozessualen Übergängen werden auch in der Ethnologie versucht durch lineare, kognitive Schärfe aufzutrennen, und das ist die Auftrennung der Wirklichkeit. Deren Relativität, sozusagen die Vielheit der Wahrheit, wird in der Ethnologie zu wenig gelehrt. Stattdessen versucht die Ethnologie sich mit Identifizierung und Beschreibung unterschiedlicher Kulturen und schöpft so ihr großes Potential nicht aus. Wo liegt denn das Potential der Ethnologie? Welche Perspektive sollte sie einnehmen? Ich bin natürlich kein Ethnologe, insofern würde mir natürlich jeder den Hals umdrehen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Die Ethnologie hat mehr als andere Wissenschaften den Anspruch und das Potential zur Transdisziplinarität. Das heißt Disziplinen zusammen zu führen und sich über die Grenzen der Wissenschaft hinaus auf die praktische Lebenswelt zu beziehen. Wenn die Ethnologie das nicht leistet, wird sie ihrem eigenen intrinsischen Anspruch nicht gerecht. Die Ethnologie kann ohne Lebensnähe keine vernünftige Wissenschaft sein. Genauso bedeutet es für mich, dass die Ethnologie sich unbedingt viel stärker mit dem dialogischen Prozess zwischen Kulturen und zwischen ethnischen Gruppen befassen muss, als mit der Fixierung
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auf einzelne kulturelle Phänomene. Das heißt, mit der prozessualen Dynamik, mit dem evolutiven Prozess von Kultur. Hier kommen dann so Begriffe wie der der Performanz ins Spiel. Wie sich natürliche und kulturelle Welt durchdringen, und wie sich diese Sphären wechselseitig bedingen und verändern. Das ist elementar, wenn die Ethnologie sich nicht damit begnügen will, eine Art artifizielle Hobbyübung zu sein. Deine Diplomarbeit handelte von den Zusammenhängen zwischen Wohlstandsvorstellungen, Wirtschaftsstrategien und Desertifikation in Gambia. Wohlstandsvorstellungen spielen ja auch in deiner jüngsten Forschung eine Rolle. Welche Erkenntnisse über Wohlstandsvorstellungen liegen dem zugrunde und welchen Teil hat deine Forschung in Gambia dazu beigetragen? Ich wollte immer in Westafrika arbeiten, obwohl ich zu Beginn meines Studiums nie in Westafrika war. Das war irgendwie ein romantisches Ziel. Ich wollte dort über einen Kulturvergleich arbeiten, über den Vergleich zwischen westlich-europäischen und westafrikanischen Wertevorstellungen. Meine Diplomarbeit war wesentlich befruchtet durch das Verhältnis von Haben zu Sein, immateriellem und materiellem Wohlstand. Ich habe damals im Prinzip eine Thematik aufgerissen, was mir noch gar nicht klar war, die eigentlich tiefgreifend in die Wissenschaftstheorie hineinreicht. Nämlich, in welchem Zusammenhang die immateriellen Dimensionen – die kulturellen Dimensionen – zu den materiellen Dimensionen dieser Welt stehen, und in welcher Weise das Ganze über die Ideenwelt der Menschen vermittelt wird, über deren Wohlstandsvorstellung. Was macht Menschen reich, was macht sie arm? Damals wurde mir gesagt, dieses Thema wäre keines der Geographie. Die analytische disziplinübergreifende Kopplung – indem ich sagte, Landschaftszerstörungen, Umweltschäden, Desertifikation wären wesentlich durch Wohlstandsvorstellungen, Wertevorstellungen von Menschen verursacht – war Ende der neunziger Jahre in der Geographie eigentlich ein „No-Go“. Das eine gehörte zur physischen Geographie und das andere zur Kulturgeographie und Wirtschaftsgeographie. Diese Verbindung war eigentlich nicht erlaubt, genau wie während meines Studiums die Verbindung von Botanik und Ethnologie in den Nebenfächern von den meisten meinen Professoren kritisiert wurde.
Ethnologie studieren! Wenn transdisziplinäres Denken immer wich- und immaterieller Dimension unserer Wirklichkeit. Über tiger wird, oder schon immer wichtig war, warum Kultur manifestieren wir Natur. Und Naturveränderung werden dann Universitäten immer mehr nach Effek- transformiert Kultur. Hier treten die Wissenschaften in ein tivitätskriterien beurteilt? Schneller studieren, stu- gemeinsames Feld ein, in dem die alte disziplinäre Auftrendieren was der Markt braucht? Warum haben wir es nung, streng genommen, überhaupt nicht mehr möglich ist. so eilig? Dazu ist die Sprache aber leider noch nicht vorhanden. Du machst jetzt einen Sprung. Ich werde versuchen, die Lücke zu schließen. Mit der ganzen Sustainability-BeweDu hast mit Hans-Peter Dürr, einem Quantengung, der Bewegung der Globalisierungskritiker, gab es zu- physiker, und Rudolf Prinz zur Lippe, Philosogleich eine massive Bewegung der Kulturkritik im Bereich phieprofessor der Lebensformen und Ästhetik, das der Nachhaltigkeitsforschung, Sustainability, Ökologie. Potsdamer Manifest und in längerer Fassung die Diese Kulturkritik war zugleich eine Wissenschaftskritik. Potsdamer Denkschrift verfasst. Sie soll an das RusEnde der neunziger Jahre passierte dann etwas, auch mit der sel-Einstein-Manifest aus dem Jahr 1955 anknüpÖkologie- und Nachhaltigkeitsbewegung: Der neue Markt fen. Wir sollen also anders denken, anders handeln, schoss in die Höhe. Es gab auf einmal so dieses Gefühl der anders leben? Und das nicht zuletzt aufgrund der Allmachbarkeit. Die Effizienz, die Technologie hat sich ein- Quantenphysik? fach unglaublich multipliziert. Der globale Zirkelschluss, Im Manifest von Russel und Einstein stand ein Satz der den wir ja auch im Bereich der Ökologiebewegung als einen lautete: „We have to learn to think in a new way.“ Da war ökologischen Zirkelschluss vollzogen dann die Frage, was das denn eigenthatten, wurde zu einem ökonomischen lich heißen soll. Dieses neue Denken Zirkelschluss. Globalisierung war auf ist dort nicht genauer ausgeführt. Es Die Potsdamer Denkschrift wurde einmal ökonomisch. Der Glaube, die geht in der Potsdamer Denkschrift um in den programmatischen Teil der Lösungen für Probleme über bereits einen Brückenschlag zwischen QuanGlobal Marshall Plan Initiative aufbestehende, und nur zu verfeinernde tenphysik, Ökologie und Philosophie. genommen. Die Denkschrift lässt Tools zu haben, spiegelte sich auf allen Es geht um die prinzipielle Unschärfe sich im Internet herunterladen und Ebenen wider, auch im Akademischen. der lebendigen Welt, um ihre Nichtist hiermit als Lektüre empfohlen. Die Zuwendung zum VerfügungswisWissbarkeit. Das Interessante ist, dass Nicht vergessen: man muss sie nicht sen, zum instrumentellen Wissen, mitdie Grundprinzipien von Lebendigkeit verstehen. tels wissenschaftlicher denkerischer und Kreativität eben auf Unterschiedund disziplinärer Trennung – über den lichkeit und dynamischer Interaktion absoluten Experten – war ein Schritt, die bestehenden syste- beruhen. Und das bedeutet schlußendlich eine strukturelle, mischen Eigenschaften gar nicht mehr aufbrechen zu wol- eine prinzipielle Offenheit: Zukunftsoffenheit, Raumoffenlen, sondern sich zunächst damit abzufinden. Die Orientie- heit nach Innen wie nach Außen, in der die Ökologie ihrungsfrage wurde seltener gestellt. ren (kulturellen) Spiegel in der Quantenphysik findet. Da steht im Grunde genommen nichts anderes drin, als dass die Liegt das Problem des Expertentums in der Spe- Grundprinzipien, die wir in der Ökologie, in unserem eigezialisierung der Sprache? Sind also Naturwissen- nen Erleben mitbekommen können, in der Quantenphysik schaftler und Geisteswissenschaftler näher zusam- wieder zu finden sind – und damit in einer der grundlegensten men als sie denken, ihnen fehlt nur der gemeinsame Naturwissenschaften, zum atomaren und subatomaren MiFokus, eine gemeinsame Sprache? krokosmos. Das führt in eine tiefgreifende Untrennbarkeit Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften sind einer geistigen und einer materiellen Wirklichkeit. Insofern in einem gemeinsamen Konflikt. Wir haben es mit einem ist der Name „Manifest“ eigentlich falsch, denn er vermittelt tiefen erkenntnistheoretischen Bruch zu tun. Dieser Bruch den Eindruck, es handele sich um etwas manifestes, also um äußert sich in unserer Wirklichkeit durch die ökologische etwas, was man „in die Hand nehmen kann“. Das ist auch Krise. Das spiegelt sich in der Sprache der Wissenschaft das, was den meisten Menschen aufstößt, nämlich, dass sie wieder. Wir haben das Problem, dass wir in den Wissen- den Eindruck haben, es nicht zu verstehen. Das ist aber völschaften weiterhin den Anspruch haben, unsere Welt wirk- lig richtig, es ist nicht zu verstehen. lich vernünftig erklären zu wollen. Der globale ökologische und ökonomische Zirkelschluss hat uns mit Ursache und Wo kann man denn diese Gedanken in die ReaWirkung so dicht konfrontiert und hochkomplex abhängig lität einbauen, wenn man sie schon nicht verstehen gemacht, dass wir vor einer unglaublich großen Unübersicht- kann? lichkeit stehen. Die Wissenschaften, besonders die, die sich Im hinteren Teil der Denkschrift sind ja schon sehr klaum eine definitorische, analytische Schärfe bemühten, sind re, qualitative Richtlinien drin, z.B. was Gemeinschaftsgüpanisch, dass sie die Welt nicht mehr beschreiben können. ter, Dezentralisierungsstrategien, was Ökonomie und die Dieser erkenntnistheoretische Bruch zieht sich durch alle Rolle der Zivilgesellschaft und von Kultur betrifft. Jetzt Wissenschaften und schließlich durch die Sprachen. Inso- lautet eigentlich die Frage, die du gerade stellst: Wie lässt fern ist also Naturwissenschaft nichts anderes als eine kul- sich die Wirklichkeit auf die Realität runterbrechen? Es beturelle Ausprägung der Beschreibung des Mensch-Natur- deutet zunächst einmal, dass ich mich erstmal von der EinVerhältnisses. Umgekehrt sind die Kulturwissenschaften geschränktheit des Absoluten verabschiede. Das heißt, dass nichts anderes als eine virtuelle Welt, die sich aus einer doch wir uns davon verabschieden, dass wir in angebliche Sachnaturgebundenen, biologischen, physischen Existenz er- zwänge eingebunden sind. Als gäbe es keine Alternativen zeugt. Es gibt eine untrennbare Verbindung von materieller zu einer konkurrenzgesteuerten Ökonomie, von der wir
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Ethnologie studieren! wissen, aus anderen kulturellen Zusammenhängen, dass es solche gibt – erstens. Zweitens erfahren wir in unserem alltäglichen und privaten Leben, dass es durch ein ganz breites Spektrum von Dimensionen geprägt ist, die eben nicht primär durch Wettbewerb geprägt sind. Dann wundert man sich, warum die Naturwissenschaften argumentieren, dass „survival of the fittest“ gleich dem Überleben des Konkurrenzstärksten wäre. Das ist eine eindimensionale Deutung der Naturerfahrung, der Naturbetrachtung. Wir könnten den Fokus auch auf Kooperation legen. Das zeigt auch, dass wir in dieser Welt eine viel höhere Dimensionalität erfahren, als wir sie über unsere bisherigen Beschreibungsmuster wiedergeben. Über diese Beschreibungsmuster kommen wir in einen Konflikt hinein, nämlich, dass wir ihnen eine Absolutheit zugestehen und über diese Absolutheit in alternativlose Handlungsmuster hineingeraten. Unsere Zukunft und unsere Handlungsräume sind wesentlich offener, als wir uns das im Moment vorstellen. Die Denkschrift ist kapitalismuskritisch, aber nicht antikapitalistisch oder? Jedenfalls kommt das Prinzip Wettbewerb vor. Ja, natürlich. Wettbewerb ist ja auch nicht prinzipiell etwas Negatives. Wettbewerb ist nur dann negativ, wenn er in ein Negativ-Summen-Spiel mündet. Bei einem Menschärgere-dich-nicht-Spiel zum Beispiel gibt es Gewinner und Verlierer auf dem Spielbrett, aber im Spiel sind alle Gewinner, denn alle hatten ein gutes Spiel. Insofern ist Wettbewerb ein Prinzip, bei dem sich Menschen aneinander hochspielen können. Wenn allerdings das Ergebnis bei einem Spiel wäre, dass von vier Mitspielern drei danach dauerhaft im Arsch sind und das Spiel nicht mehr spielen können, dann wird sich dieses Spiel nicht durchsetzen. Es geht um die treibende und stärkende Kraft von Wettbewerb. Genauso bedeutet es deshalb nicht, dass man die monetäre Wirtschaft und die bestehende Ökonomie zerstören muss, sondern es bedeutet vielmehr eine Pluralisierung ökonomischer Strategien, die sich dann komplementär ergänzen und stärken können. Götz Werner (dm-Gründer) füllt derzeit in Deutschland die Hallen mit seinem Konzept zum bedingungslosen Grundeinkommen. Der Philosoph Frithjof Bergman fliegt mit seinem Lösungsvorschlag für eine moderne Arbeitsgesellschaft von einem Staatschef zum nächsten. Sogar ein CDU-Ministerpräsident spricht sich für ein Grundeinkommen aus. Sind das die ersten Schritte in eine plurale Ökonomie, dass Arbeit und Einkommen getrennt werden? Es geht zunächst darum festzustellen, dass jeder Mensch in dieser Welt ein gleiches und gemeinsames Recht auf Unterschiedlichkeit und Lebendigkeit hat. Daraus resultiert eine gemeinsame Verantwortung allen Menschen gleichberechtigte Lebensvoraussetzungen und Entwicklungsbedingungen einzuräumen. Die Grundidee der Aufklärung war, die Menschen von den automatisierbaren, sozusagen menschen-unwürdigen Wirtschaftstätigkeiten zu befreien. Stattdessen haben wir heute eine Wirtschaft erzeugt, die ständig ihren Produktivitätszwang auf eine höhere Belastung von Natur, Menschen und menschlicher Arbeitsleistung umlegt. Insofern ist die Idee des Grundeinkommens damit verknüpft, zunächst eine Sicherung der Grundbedingungen
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des Alltagslebens für alle Menschen zu gewährleisten, damit sie ihre eigenen Potentiale entfalten können. Wir werden bei den steigenden Produktivitäten immer weiter in diese Richtung kommen. Das ist sozusagen eine fast zwingend logischer Entwicklung. Ich halte es für einen zentralen Schritt in eine plurale Ökonomie. Es ist aber auch ein Zwischenschritt, der uns vorwärts bringt, aber nicht ausreicht. Ich halte es sozusagen für ein Übergangsmodell. Wie soll man sich eine Pluralisierung der Ökonomie vorstellen? Die geldgesteuerte kapitalistische Marktwirtschaft hat natürlich nicht nur Nachteile. Es kommt zum Beispiel zu einer internationalen Arbeitsteilung. Ebenso zur internationalen Verteilung von Gütern, die sonst nicht überall verfügbar wären. Der Nachteil ist, dass der Frieden unter den Menschen und das ökologische Gleichgewicht der Erde massiv in Gefahr geraten. Die Zukunft der Ökonomie liegt darin, die unterschiedlichen wirtschaftlichen Strategien miteinander zu koppeln und eben nicht auf die Vorteile einer internationalen Arbeitsteilung und einer kapitalgesteuerten Marktökonomie zu verzichten, sondern sie von ihren Nachteilen zu befreien. Das bedeutet, sie nicht als alleiniges Wirtschaftssystem gelten zu lassen. Sie also nur für die Bereiche, wo sie nützlich ist, ins Geschirr zu nehmen und sie mit lokalen, regionalen Austauschprozessen zu ergänzen. Das Hauptgewicht einer zukünftigen Weltwirtschaftsordnung muss auf einer Vielfalt lokal angepasster Ökonomien, die sich irgendwo zwischen Selbstversorgung und Marktökonomie, zwischen Individual- und Gemeinschaftsorientierung bewegen, basieren. Diese werden dann angereichert durch eine international agierende Marktökonomie, die uns einen Markt bietet, der für alle Beteiligten zu Gewinn führt und auf der Grundlage von Vertrauen aufgebaut ist. Daniel Dahm empfielt: Filme: The Life Aquatic with Steve Zissou (2004) Directed by Wes Anderson The Straight Story(1999) Directed by David Lynch The Last King of Scotland (2006) Directed by Kevin Macdonald Bücher: Bach, Richard & Eva Bornemann 1987. Illusionen: die Abenteuer eines Messias wider Willen. Frankfurt a. M.: Ullstein. Chatwin, Bruce & Anna Kamp 2004. Traumpfade: Roman. München: Süddeutsche Zeitung. Global Marshall Plan Initiative (Hrsg.) 2004. Welt in Balance. Zukunftschance Ökosoziale Marktwirtschaft. Hamburg: GMP Initiative.
Hendrik Konzok studiert Politikwissenschaft, Ethnologie und Kunstgeschichte in Halle. Er führte das Interview mit Dr. J. Daniel Dahm am 26.01.2007. Es ist in stark gekürzter Form wiedergegeben.
Institutionen für Ethnologie
Bettina Mann
Das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale ls eines der 19 neu gegründeten Max-Planck-Institute in den neuen Bundesländern hat das MPI für ethnologische Forschung im Mai 1999 seine Tätigkeit in Halle an der Saale aufgenommen. Das Institut gehört zu den derzeit 80 Instituten, die unter dem Dach der Max-Planck-Gesellschaft in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen Grundlagenforschung betreiben. Dem Harnack-Prinzip folgend entstehen Max-Planck-Institute um weltweit führende Spitzenforscher, die ihre thematische Ausrichtung selbst bestimmen und freie Hand bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter haben. Konzipiert als außeruniversitäre Forschungsinstitute findet an den Max-Planck-Instituten keine grundständige Lehre statt. Jedoch legt die Max-Planck-Gesellschaft besonderes Gewicht auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die in der Regel mit der Förderung von Doktoranden und Doktorandinnen beginnt und in enger Kooperation mit den Universitäten gestaltet wird. Angesiedelt in der Mitte Deutschlands bietet die unmittelbare Nähe namhafter Universitäten und außeruniversitärer akademischer Einrichtungen auch für das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung exzellente wissenschaftliche Kooperationsmöglichkeiten. Komparative Untersuchungen von Prozessen sozialen Wandels bilden den Forschungsschwerpunkt des MaxPlanck-Instituts für ethnologische Forschung. Die am Institut gegebene Möglichkeit des nahezu weltweiten Vergleichs ermöglicht ein innovatives Forschungsprogramm, das nicht zuletzt einen Beitrag zur ethnologischen Theoriebildung leistet. Das bestehende thematische und regionale Spektrum der Forschungsprojekte – bei gleichzeitiger Fokussierung auf Kernprobleme und regionale Gruppen – schafft die Ausgangsbedingungen für grenzüberschreitende Fragestellungen und Komparatistik. Basierend auf moder-
© Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
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Am MPI finden regelmässig internationale Workshops statt. nen Methoden ethnologischer (Feld-) Forschung liegt das vorrangige Ziel der Institutsarbeit in der Grundlagenforschung, die nicht zuletzt aufgrund der gegenwartsbezogenen Fragestellungen die Konsultation von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in politiknahen Bereichen stimuliert. Gebiete der praktischen Anwendung der Forschungsergebnisse des Instituts sind unter anderem Konfliktmediation und Beratungstätigkeit in der Entwicklungspolitik. Das Institut gliedert sich derzeit in folgende Abteilungen und Forschergruppen, in denen rund 80 WissenschaftlerInnen aus 15 Ländern tätig sind: • Abteilung I "Integration und Konflikt" (unter der Leitung von Prof. Günther Schlee) • Abteilung II "Sozialistisches und Postsozialistisches Eurasien" (unter der Leitung von Prof. Chris Hann) • Projektgruppe "Rechtspluralismus" (unter der Leitung der Profs. K. und F. von Benda-Beckmann) • Sibirienzentrum (Koordinator: Dr. Joachim Otto Habeck), Darüber hinaus bestehen mittlerweile drei Forschungsgruppen, die von NachwuchswissenschaftlerInnen ge-
leitet werden sowie die 2006 etablierte Max Planck Fellow Gruppe ‚Law, Organisation, Science and Technology – Biomedicine in Africa’ (unter Leitung von Prof. Dr. Richard Rottenburg). Allen Projekten gemeinsam sind ausgedehnte Feldforschungsaufenthalte als fester Bestandteil des Forschungsprogramms. So verbringen Doktoranden in der Regel geschlossen 12 Monate in ihrer Feldforschungsregion. Der Erwerb und die Kenntnis lokaler Sprachen sind dabei eine der Grundvoraussetzungen erfolgreicher Feldforschung. Ein umfangreiches Gästeprogramm sowie Konferenzen und Seminare ergänzen die Aktivitäten am Institut und ermöglichen den wissenschaftlichen Austausch mit lokalen Forschern und Forscherinnen aus den jeweiligen Forschungsregionen. In der Doktorandenausbildung ist das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Partner in verschiedenen Graduiertenprogrammen, wie etwa dem Graduiertenzentrum ‚Asien und Afrika in globalen Bezugssystemen’ (http://www.gsaa.uni-halle. de), dem internationalen – durch EUMittel geförderten Marie-Curie-Doktorandenprogramms ‚Socanth’ (http:// w w w.ucl.ac.uk/mariecuriesocanth) sowie einer International Max Planck Research School zum Thema ‚Reta-
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Institutionen für Ethnologie liation, Mediation and Punishment’, die voraussichtlich zu Beginn nächsten Jahres etabliert sein wird. Ausführliche Informationen zu den Forschungsthemen der Abteilungen und Forschungsgruppen, aber auch einzelnen laufenden und abgeschlossenen Forschungsprojekten sowie aktuelle
Stellenausschreibungen finden Sie auf unserer Homepage www.eth.mpg.de, auf der Sie auch die im zweijährigen Zyklus erscheinenden Berichte des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung finden sowie aktuelle Publikationshinweise finden. Gerne nehmen wir Sie bei Interesse auch auf
unseren elektronischen Verteiler auf (bitte senden Sie eine email an: mann@ eth.mpg.de). Bettina Mann Dipl. Soz. ist Forschungskoordinatorin am MaxPIanck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale.
Philipp Humpert & Norman Schräpel
Warum es in Halle die höchste Ethnologendichte gibt Studieren am Seminar für Ethnologie der Martin-Luther-Universität in Halle
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alle ist auf den ersten Blick nur eine Stadt irgendwo in Mitteldeutschland. Man hört nur wenig über die größte Stadt Sachsen Anhalts, sollte man sie überhaupt kennen. Für die Ethnologie jedoch hat sich Mitteldeutschland in den vergangenen Jahren zu einem attraktiven Standort entwickelt. Halle spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nachdem das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung (siehe Artikel von Bettina Mann in dieser Ausgabe) seinen Standort in Halle fand, wurde im Jahr 2002 auch ein Institut für Ethnologie an der Martin-LutherUniversität (MLU) gegründet. Zusammen mit dem Institut für Ethnologie an der Universität Leipzig und dem Grassi Museum – ebenfalls in Leipzig – bietet Mitteldeutschland damit eine außergewöhnliche ethnologische Forschungslandschaft mit einem hohen internationalen Entwicklungspotential. Mit der Umstrukturierung der Universität wurde das Institut für Ethnologie in Halle mit dem Institut für Philosophie zusammengelegt und ist somit zum Seminar geworden (auch wenn in diesem Artikel das Wort Institut zum Teil noch zur Anwendung kommen wird).
Schwerpunkte des Seminars Um Lehre und Forschung eines Instituts/Seminars zu beschreiben, macht
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es wohl am meisten Sinn, die theoretische Ausrichtung der Lehrenden und Forschenden zu betrachten. Die Studierenden am Seminar für Ethnologie in Halle haben das große Glück, eine recht moderne Ethnologie vorzufinden. Die Professuren ergänzen sich untereinander und tragen dazu bei den Studenten ein breites Spektrum thematischer Orientierungen zu bieten. Richard Rottenburg beschäftigt sich unter anderem mit Recht, Organisation, Wissenschaft und Technik und Burkhard Schnepel setzt seine Schwerpunkte auf Diaspora, Migration, Ethnologie des Performativen und Anthropologie der Nacht. Die dritte Professur wurde bis 2005 von Shingo Shimada besetzt, der jetzt an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf lehrt. Diese Professur ist seitdem vakant, derzeit wird sie allerdings von Thomas Zitelmann vorübergehend vertreten. Aufgrund des bereits fortgeschrittenen Berufungsverfahrens wird der Lehrstuhl voraussichtlich bis zum Wintersemester 2007/08 wieder besetzt sein. Umso mehr bemüht sich das Institut eine hohe Anzahl an qualitativen Veranstaltungen in die Vorlesungsverzeichnisse aufzunehmen und kann dabei auf das Angebot von Lehrenden des Max-Planck-Instituts zurückgreifen. Außerdem ist es bestimmt sinnvoll, die Ethnologie auch über ihre regionale Ausrichtung zu definieren. Am Institut für Ethnologie der MLU sind die Re-
gionen Afrika (Rottenburg) sowie Südasien und Indischer Ozean (Schnepel) vertreten.
Lehre Die Lehre am Seminar setzt sich aus vier systematischen Teilbereichen zusammen: Organisation, Religion, Wirtschaft und Politik. Diese bilden neben Regionalseminaren und Seminaren zu Grundlagen und Theorien die Basis im Grund-, als auch im Hauptstudium. Auch bei dem neu entwickelten Bachelor Studiengang (siehe auch Artikel von Boris Wille in dieser Ausgabe) wurde versucht, die alten Strukturen und somit die Bereiche der Lehre beizubehalten. Auch wenn sich die Studenten das eine oder andere mal mit den Akronymen der Veranstaltungen herumschlagen müssen, scheint das noch recht junge Konzept zu funktionieren. In beinahe jedem Semester bietet Burkhard Schnepel Seminare für IndOrg (Individuum und Organisation) oder PKI (Person, Körper, Identität) an. Er promovierte bei Godfrey Lienhardt in Oxford und vielleicht war es eben diese Zeit in England, die ihm dem Fußball nahgebracht hat. Seine Studenten bekommen in seinen Veranstaltungen, neben den aktuellen Sportereignissen, immer wieder Anekdoten aus dieser Zeit erzählt: Etwa die un-
Institutionen für Ethnologie Ausgewählte Publikationen der Institutsmitarbeiter: Kirsch, Thomas 2007. Ways of Reading as Religious Power in Print Globalization. Forthcoming in: American Ethnologist 34 (3). Rao, Ursula 2003. Negotiating the Divine. Temple Religion and Temple Politics in Contemporary Urban India. South Asian Studies No. XLI, Südasieninstitut Heidelberg. Delhi: Manohar.
Seminar für Ethnologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zähligen Geschichten über Evans-Pritchard, oder wie wenige Handschläge er von Karl Marx entfernt war. Seine Feldforschungen machte er im Sudan und Indien. Derzeit forscht er auf Mauritius. Der Lehrstuhl von Burkhard Schnepel wird durch Ursula Rao (wissenschaftliche Mitarbeiterin) und Patrik Neveling (Doktorand) unterstützt. Ursula Rao hat gerade ihr Habilitationsverfahren mit dem Thema News Cultures. Journalistic Practices and the Reconstruction of Indian Society abgeschlossen und wird ab Mai 2007 eine Stelle als Senior Lecturer an der University of New South Wales in Sydney annehmen. Mit ihrem Abschied am Institut müssen ihre Aufgaben wie Studienberatung und viele weitere Teile der Institutsorganisation neu besetzt werden. Ihr Engagement hat viele Studenten während des Studiums begleitet, unter anderem begleitet sich von 2005 bis 2007 acht Studenten bei ihrem Lehrforschungsprozess in Indien. Die zweite Professur wird durch Richard Rottenburg besetzt. Nach seiner Promotion in Berlin habilitierte er in Frankfurt/Oder. Aus seiner mehr als drei Jahren dauernden Feldforschung anfang der 80 Jahre in den Nubabergen (Sudan) entstand ein Beitrag zu den Sudanesischen Marginalien. Eine Weiterführung der dabei entstanden Publikation Ndemwareng. Wirtschaft und Gesellschaft in den Morobergen (1991) wird in den nächsten Monaten erwartet.
Neben seinem Interesse am Sudan hat Richard Rottenburg ein Thema in die deutschsprachige Ethnologie gebracht, das vorher nur wenig Aufmerksamkeit in der Disziplin erfuhr: die Wissenschafts- und Technikforschung. Diese führte er in mehreren Seminaren in den letzten Jahren am Institut ein und erweiterte diesen Forschungsbereich durch die neugegründete Max-PlanckFellowgroup LOST (Law, Organisation, Science & Technology). Zum Lehrstuhl von Richard Rottenburg gehören außerdem Thomas Kirsch (wissenschaftlicher Mitarbeiter) und Julia Heckl (Doktorandin). Neben religionsethnologischen Themen arbeitet Thomas Kirsch derzeit an seiner Habilitation zu Kriminalitätsprävention in Südafrika. Ebenso wir Ursula Rao führte er eine Lehrforschung mit sieben Studenten des Instituts in Südafrika durch und begleitet diese bei ihrem Auswertungsprozess bis zur Magisterarbeit. Auch wenn Halle auf den ersten Blick den Anschein einer gewöhnlichen Stadt hat, erkennt der Ethnologe schnell ihre Bedeutung für das Fach. Das Seminar für Ethnologie und alle die weiteren Institutionen sind der Grund dafür, dass weltweit wahrscheinlich nirgends mehr Ethnologen an einem Ort arbeiten, wie derzeit in Halle. Webseite des Instituts: www.ethnologie.uni-halle.de Webseite der Fachschaft: www.igethno.uni-halle.de
Rottenburg, Richard, Burkhard Schnepel and Shingo Shimada (eds.) 2006. The making and unmaking of differences. Anthropological, sociological and philosophical perspec-tives. Bielefeld: Transcript. Rottenburg, Richard 2002. Weit hergeholte Fakten. Eine Parabel der Entwicklungshilfe. Stuttgart: Lucius & Lucius. Rottenburg, Richard 1991. Ndemwareng. Wirtschaft und Gesellschaft in den Morobergen. München: Trickster. Schnepel, Burkhard 2005. Inder auf Reisen. In Bewegliche Horizonte: Festschrift für Bernhard Streck, by K. Lange and K. Geisenhainer (eds). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, pp. 165-184. Schnepel, Burkhard 2005. When Darkness Comes: Steps toward an Anthropology of the Night (with E. Ben-Ari). In Paideuma 51: 153-265. Schnepel, Burkhard 1997. Die Dschungelkönige: Ethnohistorische Aspekte von Politik und Ritual in Südorissa/Indien. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Philipp Humpert studiert Politikwissenschaften und Ethnologie in Halle. Zur Zeit absolviert er ein Praktikum in Gambia. Norman Schräpel studiert Ethnologie in Halle.
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Rezensionen
Norman Schräpel
Wie Einführungen einführen oder Was Ethnologie wirklich ist
W
as ist Ethnologie? Nicht nur zu Beginn des Studiums eines solchen Faches wird man immer wieder mit dieser Frage konfrontiert. Aufgeregte Familienmitglieder, neugierige Freunde und unwissende Kommilitonen wollen wissen, was sich hinter dem Studienfach verbirgt. Die Antwort allerdings fällt nicht immer ganz leicht. Versucht man diese zu geben, endet der erste Versuch oft mit fragenden Blicken. Unter Deszendenzen, ethnoscapes oder segmentären Oppositionen scheinen sich die vielen Fragenden nichts vorstellen zu können. Der zweite, eher zögernde Versuch, ist die Beschreibung mit dem wohl eher unzureichenden, jedoch scheinbar verständlicheren Begriff: Völkerkunde. Trotzdem ist das Problem damit noch nicht gelöst. Auch wenn sich in den fragenden Blicken eine erste Befriedung einstellt, folgt oft schnell die zweite Frage: Und was ist das?, um gar nicht erst die noch viel schwierigere Unklarheit: Und was kann man damit machen?, zu erwähnen. Wie soll man also richtig auf die scheinbar wichtigste aller Fragen antworten? Die ‚richtige‘ Antwort ist in der Tat nicht so einfach. Man könnte jedoch vermuten, dass gerade die Versuche in das Fach einzuführen, einige passende Antworten darauf geben können. So soll im Folgenden in zwei deutschsprachigen Einführungen eine Antwort auf die hiergestellte Frage gesucht werden.
Ethnologie – Grundbegriffe, Arbeitsbereiche, Forschungsansätze Nimmt man den Amzon.de-Verkaufsrang als Indikator für den Erfolg eines Buches, gewinnt von den hier ausgewählten deutschen Einführung der Herausgeberband von Hans Fischer und Bettina Beer. Der Band schafft es immerhin auf Platz 94.667 (Soziologieeinführungen ranken übrigens ungefähr bei Platz 50.000) bei dem größten Onlinebuchhändler Deutschlands. Und nicht nur Amazon attestiert den Erfolg des Buches, auch viele Rezensionen sehen es als das derzeitige Standardwerk zur Einführung in die Ethnologie. In der mittlerweile 6. Auflage erscheint der Band seit 1986 etwa alle fünf Jahre in einer Neuauflage. In 21 Beiträgen wird in der derzeitigen Ausgabe versucht, die Studienanfänger oder Fachinteressierten in die Ethnologie einzuführen. Die auf den ersten Blick merkwürdige Zusammenstellung von Grundbegriffen, Arbeitsbereichen und Forschungsansätzen ist gewollt. So liest man auf den ersten Seiten, dass die mittlerweile veralteten Kategorien beibehalten werden, „obgleich – zugegeben – nicht mehr alle Beiträge in dieses Schema passen“. Mit der letzten komplett überarbeiteten Neuauflage (2003), so der selbstgesteckte Anspruch, sollen neue und ak-
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tuelle Themen aufgegriffen werden und vor allem von der derzeit lehrenden Generation von Professoren und Dozent verfasst sein. Interessant ist das Projekt allemal, da man bei einem Blick in ältere Ausgaben einen Spiegel der methodischen und theoretischen Ausrichtung des Faches der jeweiligen Zeit findet. Was die Ethnologie also ist, wird hier mit der Auswahl von verschiedenen Beiträgen beantwortet. Der erste Teil, der unter der Überschrift „Grundbegriffe“ zusammengefasst ist, beinhaltet die Artikel „Ethnos, Beer, Bettina Ethnie, Kultur“, & Hans Fischer einen Aufsatz über 2003. Ethnologie. Feld for s c hu n g Einführung und und Hans Fischers Überblick. Berlin: Beitrag „EthnoReimer. logie als wissenschaftliche Disziplin“. In letzterem lernen wir, dass die Ethnologie aus verschiedenen Subdisziplinen besteht. Als Gegenstandsbereich des Faches proklamiert er den Begriff Völker: „Aus der Fachbezeichnung Völkerkunde oder Ethnologie lässt sich auch ihr Gegenstand ableiten: Völker oder Griechisch ethne.“ (Fischer 2003:20) Das griechische ethnos, so Fischer, lässt noch auf eine weitere Charakterisierung schließen, nämliche die Fremdheit dieser Völker. Des Weiteren finden wir in dem Begriff das „Merkmal Kultur“ (Fischer 2003:20), welches den zweiten Gegenstandsbereich des Faches bildet. Wenn wir uns erlauben den Beitrag von Hans Fischer auf eine Antwort zu reduzieren, kommen wir auf Folgende: Die Ethnologie ist die Auseinandersetzung mit fremden Völkern und deren Kulturen in den verschiedensten thematischen Bereichen. Der kritische Student wird sich mit dieser Antwort vielleicht noch nicht begnügen und es macht Sinn, noch etwas weiterzusuchen. Interessant wird es nämlich, betrachtet man die Aufteilung der Arbeitsbereiche einmal näher. Eine Rezensentin erkennt, dass diese „derzeit wohl an allen ethnologischen Instituten in der einen oder anderen Form Bestandteil des Lehrangebots sind“ (Klocke-Dafa 2006:344). Und so sollte uns die Analyse der Arbeitsbereiche des Pudels Kern etwas näher bringen. Schon wie in der 4. Auflage sind auch im aktuellen Sammelband Sozial-, Wirtschafts-, Religions-, Politik- und Rechtsethnologie vorhanden. Neu hinzugekommen sind Kunstethnologie, die Materielle Kultur und Ethnolinguistik. Ein Sammelband bietet die großen Vorteile, dass verschiedene Autoren, aus den unterschiedlichsten Subdisziplinen zusammenarbeiten. Und so bietet auch diese Einführung ein breites Spektrum an Ideen und Ansätzen. Trotzdem stößt man schnell an die Grenzen des Buches. Sicherlich ist es im-
Rezensionen mer leicht danach zu suchen, welche Aspekte herausgelassen wurden und soll aus diesem Grund auch hier nicht gemacht werden. Trotzdem ist das Fehlen vieler rezenter Arbeitsbereiche eine gewisse Reduktion, auch wenn es die Einführung schafft – zum Unterschied zu vielen anderen – ein breites Bild zu zeichnen.
Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden Mindestens genauso bekannt und nicht weit abgeschlagen (105.866), nimmt man wieder den Verkaufsrang als Indikator, ist die Einführung von Karl-Heinz Kohl Ethnologie. Die Wissenschaft vom kulturell Fremden (Kohl 2000). KarlHeinz Kohl hat es geschafft die Antwort auf unsere Frage bereits im Buchtitel zu geben. Mal aus Bequemlichkeit, mal aus Einfachheit ist das kulturell Fremde mit einer der geeignetsten Antworten – neben Völkerkunde – auf Kohl, Karl-Heinz die hiergestellte 2000. Ethnologie Frage. Die breite - die Wissenschaft Definition lässt vom kulturell es zu, genügend Fremden. Eine EinGegenstandsbeführung. München: reiche zu definieBeck. ren, ohne dabei negativ konnotierte Formulierungen zu verwenden. Doch auch hier, wie sich gleich feststellen lässt, stoßen wir auf Probleme. Der erste Teil der Einführung beschäftigt sich mit der chronischen Identitätsproblematik des Faches, das seinen Gegenstand für lange Zeit immer nur negativ definieren konnte („Wilde“, „Naturvölker“, „Primitive“, „Stammeskulturen“, „schriftlose Gesellschaften“,…). Im zweiten Kapitel „Besondere Merkmale der Gesellschaften, mit denen die Ethnologie sich befasst“ formuliert Kohl den Gegenstandsbereich der Wissenschaft vom kulturell Fremden. Mit Kapitel III (Abschnitt 1) „Die anthropologische Wende“, kommt jedoch auch die Wende in Kohls Buch. Jäh und unvermittelt werden die Leser aus der zuvor in 80 Seiten ausgebreiteten Welt der kleinen, homogenen und so überschaubaren Gesellschaften herausgerissen, um erfahren zu müssen, das es sich bei alledem nur um eine „Phase der Wissenschaftsgeschichte, die inzwischen als im wesentlichen abgeschlossen gelten kann“ (Kohl 2000:92), gehandelt habe (Vgl. Strohmenger 1996). Auf wenigen Seiten erfahren wir nun, dass sich in den vergangenen Jahren der Gegenstandsbereich der Ethnologie beträchtlich erweitert hat. Jene Gesellschaften, die in den ersten beiden Kapiteln so ausführliche beschrieben wurden, haben doch schlichtweg aufgehört zu existieren. Die Ethnologie jedoch lebt weiter. Auch wenn kurz darauf eingegangen wird, dass der Ethnologe nun das kulturell Fremde auch zu Hause finden kann, bleibt es verwunderlich, dass Kohl nur sowenig aufzuführen hat, womit sich Ethnologie heutzutage beschäftigt. Und so müssen wir feststellen; auch wenn uns diese gut leserliche Einführung versucht das fachliche Standardwissen zu vermitteln, schafft sie es nicht das Fach in all seiner Breite darzustellen. Ein Rezensent des Buches schreibt
trotzdem begeistert: „Genug, daß ein zutreffender Gesamteindruck vom Fach entsteht. Wenn ihr Kind Ethnologie studieren will, drücken Sie ihm dieses Buch in die Hand.“ (Stagl 1995:281) Er mag recht haben. Kohls Buch ist vielleicht eine gute Einführung um es den jungen Ethnologieinteressierten in die Hand zu drücken, ein zutreffender Gesamteindruck des Faches entsteht jedoch nur bedingt.
Das also war des Pudels Kern!? Wie nun also können wir auf die so oft gestellte Frage antworten? Die beiden hier vorgestellten Einführungen in die Ethnologie – und man könnte noch weitere Beispiele finden – haben sich als unzureichend und unbefriedigend erwiesen. Freilich hatte keine der Publikationen den Anspruch auf Vollständigkeit, doch wird vor allem deutlich, dass die rezenten Einführungen zumeist eine längst vergangene Zeit beschreiben und nur in wenigen Annäherungen wird sich an neue Bereiche gewagt. Der Gegenstandsbereich des Faches bleibt somit ebenso reduziert dargestellt, wie die zumeist aktuell diskutierten theoretischen Auseinandersetzungen. Wenn man nun, wie so oft gefragt, antworten muss, was Ethnologie sei, bleiben wohl nur die individuellen Antworten des Einzelnen. Jeder definiert sich das Fach und auch den Gegenstandsbereich selbst. Dass in den vergangenen Jahren beinahe jedes Kompositum mit –ethnologie möglich geworden ist (Medienethnologie, Medizinethnologie, Rechtsethnologie…), zeigt wie sich der Gegenstandsbereich des Faches erweitert hat. So gibt es wohl auch unzählige Antworten auf unserer Frage. In den deutschsprachigen Einführungen dagegen finden wir zumeist nur eine reduzierte Darstellung. So wurde des Pudels Kern hier vielleicht nicht gefunden, eine Lösung auf die Frage jedoch allemal. Wie diese genau aussieht, muss sich jeder selbst beantworten. Bleibt nur noch die Folgefrage offen: Und was kann man damit machen?
Literatur Klocke-Daffa, Sabine 2006. Buchbesprechung. Ethnologie. Einführung und Überblick. Rezension von: Fischer, Hans & Bettina Beer. Ethnologie. Einführung und Überblick. Berlin: Dietrich Reimer Verlag. 2003. In Zeitschrift für Ethnologie 131, 343-346. Stagl, Justin 1995. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. Rezension von: Kohl, Karl-Heinz. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München: C.H. Beck. 1993. In Anthropos 90, 281. Strohmenger, Steffen 1996. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. Rezension von: Kohl, Karl-Heinz. Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München: C.H. Beck. 1993. In Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 202-204.
Norman Schräpel studiert Ethnologie, Psychologie und Germanistik in Halle und Jena.
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Kalender April 2007 Impressum ISSN 0947-9783 April 2007/Heft 27 Auflage 1000 Die nächste Cargo – Zeitschrift für Ethnologie erscheint im Oktober 2007. Redaktionsschluss: 15. August 2007 V.i.S.d.P. Katharina Iffland Norman Schräpel Layout: Boris Wille Mitarbeit an dieser Ausgabe: Anna Fünfgeld, Annett Schädlich, Benjamin Hirschfeld, Bettina Mann, Boris Wille, Emanuel Valentin, Gereon Janzig, Hendrik Konzok, Henriette Hohndorf, Johannes Nickel, Katharina Iffland, Lutz Scharf, Maja Tabea Jerrentrup, Martina Zellmer, Michael Schweßinger, Norman Schräpel, Philipp Artus, Philipp Humpert, Roland Drubig, Susanne Hartmann, Tilo Grätz, Valerie Gräser Herstellung: Citydruck Gaensslen GmbH Heinrich-Hertz-Str. 8 88250 Weingarten Redaktionsanschrift und Bestelladresse: Cargo – Zeitschrift für Ethnologie, Reichardtstraße 11, 06114 Halle redaktion@cargo-zeitschrift.de Einzelheft: 3 Euro (zzgl. Versand) Zweijahresabo: 16 Euro (inkl. Versand) Förderabo: 32 Euro (inkl. Versand) Kontakt Anzeigen: vertrieb@cargo-zeitschrift.de Anzeigeschluss für die nächste Ausgabe (28): 15. September 2007. URL: www.cargo-zeitschrift.de Wir danken dem Fachschaftsrat der Philosophischen Fakultät I der MLU Halle/Wittenberg für die finanzielle Unterstützung.
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Vortragsreihe: SID Ringvorlesung Entwicklungspolitik XII Ort: TU Berlin, im Hauptgebäude, Hörsaal H 1028 (Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin) Zeit: Donnerstags von 18 Uhr c.t. -- 20 Uhr Veranstalter: Society for International Development - Berlin Chapter Kontakt: ethnolas@zedat.fu-berlin.de, www.fu-berlin.de/ethnologie Sonderausstellung: Schätze Afrikas und der Südsee – die Schenkungen Baessler und Arnhold, Ausstellung zum Stadtjubiläum (bis 30.9.2007) Sonderausstellung: „NIHONGA“ - Traditionelle Japanische Seidenmalerei von Takehiko Iikawa (bis 28.05.2007) Ort: Museum für Völkerkunde Dresden Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen Japanisches Palais Palaisplatz 11 01097 Dresden Kontakt: Tel: 0351/8144-814, www.voelkerkunde-dresden.de
Ausstellung: Togo direkt – Didier A. Ahadsi Ort: Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck Parade 10 (Zeughaus am Dom) 23552 Lübeck Zeit: 22. April - 16. September 2007 Kontakt: Tel: 0451/122 -4342/-4347, vks@ luebeck.de, www.vkhl.de Der gelernte Karosseriebauer zeigt in seinen Arbeiten der letzten vier Jahre szenische Darstellungen des städtischen Alltags seiner Heimatstadt Lomé: u.a. das Straßenmädchen, die Hühnerverkäuferin, der Patient im Zahnarztstuhl und die Sekretärin vor dem Bildschirm.
Johannisplatz 5-11 Kontakt: Tel: 0341/9731-916 ute.uhlemann@ mvl.smwk.sachsen.de Dauerausstellung: Die Asmat - Kunst und materielle Kultur der Asmat Ort: Völkerkundemuseum der J. u. E. von Portheim-Stiftung für Wissenschaft und Kunst, Hauptstr. 235 (Palais Weimar) 69117 Heidelberg Zeit: 25.02.2007 – 15.07.2007 Kontakt: www.voelkerkundemuseum-vpst. de, Tel. 06221/22067 Die Ausstellung gibt einen weit gefächerten Einblick in die Kunst, die Weltsicht und in die Rituale sowie in das Alltagsleben der Asmat. Die Asmat leben in dem zu Indonesien gehörenden westlichen Teil der Insel Neuguinea (Provinz Papua, früher Irian Jaya).
Ausstellung: Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern Ort: Museum für Asiatische Kunst, Lansstr. 8, 14195 Berlin Zeit: 21. Februar bis 28. Mai 2007 Veranstalter: Eine Ausstellung der Kulturstiftung Ruhr Essen in Zusammenarbeit mit dem Administrative Bureau of Cultural Relics of Tibet Autonomous Region, China Kontakt: Tel: 030/8301 438, tibet@ smb.spk-berlin.de, www.smb. museum/tibet
ausgebreitet, die von den textilen Fertigkeiten und Ideen ihrer SchöpferInnen künden.
Mai 2007 Ausstellung: Rundgänge in einer Welt: I. Teil Asien, Europa, Orient: Sonderausstellung Himmel – Erde – Mensch: Koreanische Kalligraphie von Jung Do-Jun Ort: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen (SES) Johannisplatz 5-11 Zeit: verlängert bis 08.07.2007 Öffnungszeiten: Dienstag – Sonntag von 10 – 18 Uhr Kontakt: 0341/97 31-900, mvl-grassimuseum@mvl. smwk.sachsen.de, www.mvl-grassimuseum.de In der Ausstellung sind Werke des Künstlers Jung Do-Jun auf Papier, Textil, Holz, auf Fächer und auf Keramik zu sehen. Filmvorführung: Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms “E A LUTA AINDA CONTINUA...” Ort: Nickelodeon Cinema, at Torstraße 216, Mitte, Berlin. Zeit: 6. Mai 2007 22:00 während des 22. Black International Film Festival Kontakt: H.-Christian Goertz Tel: 030-605-07781 The documentary “E a luta ainda continua” (“And the struggle still continous”) is about the 2004 general elections in Mozambique Vortrag: Irreconcilable Differences: Culture and Community in the ‚Cultural Defense‘ Redner: Melissa Demian, Department of Anthropology, University of Kent Ort: Seminar Raum Institut für Ethnologie MLU Halle/Saale, Reichardtstrasse 11 Zeit: 08.05.07 16.15 Uhr Organisatoren: MPI for Social Anthropology and Institute for Social Anthropology (MLU) Kontakt: www.eth.mpg.de This pressentation examines the ways in which culture is transformed into legal arguments in one arena, and social arguments in another. In this respect culture in social policy ‘functions’ in much the same way that it does in cultural defense arguments, where culture must be found commensurate with some legal mechanism – usually ‘rights’ but sometimes ‘proportionality’ – in order to be admissible in American courts.
Ausstellung: Ein Zehntausendblütenteppich des 21. Jahrhunderts Eine Kooperation des Museums Europäischer Kulturen mit dem Fachverband Textilunterricht e. V. und Ursel Arndt Ort: Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 2514195 Berlin Zeit: 28.04. Dauerausstellung: Völkerkunde– 09.09.2007 Kontakt: www.smb. museum Herrnhut: „Ethnographie museum/mek, www.verein-museund Herrnhuter Mission“; um-europaeischer-kulturen.de Sonderausstellung: „Christian Einer Idee der Textilkünstlerin Protten - ein Herrnhuter an der Ursel Arndt folgend, entstand vor Goldküste“ (bis 28.05.2007); einigen Jahren das Projekt, einen Sonderausstellung: „Zauber der neuen Zehntausendblütenteppich Ferne - Expedition der Brüder entstehen zu lassen. Heute umfasst Schlagintweit in Indien und der Zehntausendblütenteppich Hochasien 1854-57 (16.06.2007bereits 13 m Länge und 2,2 m Workshop: Sorgenfrei ins Unge28.07.2007) Ort: GRASSI Höhe. Auf dieser Fläche sind in einer wisse? Individuelle und politische Museum für Völkerkunde zu Vielfalt von Materialien, Techniken Strategien gegen Prekarität Leipzig Staatliche Ethnographische und Farben zauberhafte Blüten weltweit Ort: Wuppertal Zeit: Sammlungen Sachsen (SES)
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Kalender 12. Mai 2007, 11-18 Uhr Kontakt: www.asienhaus.de/public/Sorgenfrei.pdf, prekaer.auf@wolke7.net Überall auf der Welt werden Menschen zu mehr Eigenverantwortung angehalten. Davon betroffen sind nicht nur Minderheiten oder Randgruppen, sondern weite Teile der Gesellschaft. Ziel des Workshops ist es, Antworten auf die Fragen zu finden, a) wie der Umgang mit Unsicherheit in einem Land des globalen Südens (Philippinen) sich von dem in Deutschland unterscheidet und b) ob Verunsicherung tatsächlich soziale Organisierung und solidarische Aktionen ver- bzw. behindern.
Gefahr“, Chop Suey und „Blaue Ameisen“ westliche China-Klischees Redner: Dr. Ingo Nentwig, Kustos MVL Zeit: 17.06.2007 15:00 Uhr
Vortrag: Adivasi - Indiens Ureinwohner erwachen Redner: Rainer Hörig, Pune, Indien Zeit: 23.06.2007 15:00 Uhr Musik: Tiharea: Vokalmusik aus Ausstellungseröffnung: „InnenMadagaskar Ort: Linden-Museum welt“ Fotografien aus Rumänien Stuttgart, Staatliches Museum für und dem Exil Beatrice Minda, Völkerkunde Hegelplatz 1 Zeit: Berlin 28.06.2007 18:00 Uhr (bis Fr. 11. Mai, 20 Uhr Kontakt/Re2.9.2007) servierung: Tel: 0711.2022-409 / Ort: GRASSI Museum für sekretariat2@lindenmuseum.de Völkerkunde zu Leipzig Staatliche Tiharea, zu deutsch, Reichtum, Ethnographische Sammlungen Fülle, ist etwas besonderes: Die Sachsen (SES) Johannisplatz 5-11, drei Schwestern Talike, Vicky und 04103 Leipzig Öffnungszeiten: Delake bieten a capella-Gesang aus Dienstag – Sonntag von 10 – 18 ihrer Heimat Ambasary im Süden Uhr Kontakt: Tel: 0341/97 31Madagaskars und sie verzaubern 900 www.mvl-grassimuseum.de, mit ihren klaren Stimmen und einmvl-grassimuseum@mvl.smwk. zigartigen Vokalarrangements das sachsen.de europäische Publikum. In ihren Liedern hört man zugleich Vertrautes Vortrag: Gendered Pioneers und Fremdes. in the Western Indian Ocean: Reflections on Travel from and to Mayotte Redner: Michael Lambek, Univeristy of Toronto Ort: Seminar Raum Institut für Ethnologie MLU Halle/Saale, Reichardtstrasse 11 Zeit: 19.06.07 16.15 Uhr Organisatoren: MPI for Social Anthropology and Institute for Social Anthropology (MLU) Kontakt: www.eth.mpg.de People in Mayotte describe their communities as ‘empty’ despite an evident building boom and the presence of many migrants from Juni 2007 the Comoro Islands. Changes in the political status of Mayotte have geKonferenz: Jahrestagung der Arnerated a great deal of travel from beitsgemeinschaft Österreichische the island to La Réunion and other Lateinamerikaforschung destinations in the Indian Ocean Workshop: „Medizinischer as well as to metropolitan France. Pluralismus“ Ort: STROBL am This paper offers an ethnographic Wolfgangsee/Oesterreich Zeit: portrait of the causes, motivations, 1.-3. Juni 2007 Kontakt: Evelyne kinds, and consequences of travel Puchenegger-Ebner as well as the impact on the home eveline-puchenegger-ebner@uni- communities and reflects on the vie.ac.at, www.lai.at/wissenschaft/ changing meanings of the local. arge/jahrestagung-2007 Vortrag: Early German Anthropology: Ethnography and Ethnology in the Eighteenth Century Redner: Han F. Vermeulen, MPI for Social Anthropology Ort: Seminar Raum Institut für Ethnologie MLU Halle/Saale, Reichardtstrasse 11 Zeit: 22.05.07 16.15 Uhr Organisatoren: MPI for Social Anthropology and Institute for Social Anthropology (MLU) Kontakt: www.eth.mpg.de
Veranstaltung: Kinder im Museum: Woanders wohnt man anders - Leben in Lehmhaus, Filzzelt und Blockhütte (ab 6 Jahre) Toni Kuhn, MVL Zeit: 13.6.2007 16:00 Uhr Vortrag: Große Mauer und „Gelbe
Film: Einladung zur Filmwerkschau Ort: Institut für Ethnologie und Afrikanistik, Oettingenstr. 67, 80538 München Zeit: 22. und 23. Juni 2007 Kontakt: film_ag@ gmx.de Im Rahmen des diesjährigen
Sommersymposiums der AG Visuelle Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, veranstalten wir Ethnologiestudenten aus München zusammen mit der Film AG des Instituts für Ethnologie und Afrikanistik eine Werkschau von Studentenfilmen. Wir möchten mit Studenten und Dozenten, Filme diskutieren, die z.B. während praktischer Übungen, in Seminaren oder als Abschlussarbeiten entstanden sind. Uns geht es dabei nicht um eine ‚Leistungsschau‘ sondern darum, Erfahrungen und Ideen auszutauschen und der Frage nachzugehen, was praktische Filmarbeit im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Studiums an Möglichkeiten und Perspektiven eröffnet. Konferenz: Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung Ort: Berlin Zeit: 29. und 30. Juni 2007 Kontakt: www.berlinermethodentreffen.de Das Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung ist eine einmal jährlich ausgerichtete Veranstaltung, die sich an alle wendet, die in ihren Qualifikationsarbeiten (Diplom, Dissertation, Habilitation) oder in ihren Forschungsarbeiten mit qualitativen Methoden arbeiten und an alle, die generell an qualitativer Forschung interessiert sind.
Workshop: Das Malen eines Mandalas. Workshop mit Tashi Tsering Lama Ort: Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde Hegelplatz 1 Zeit: 30. Juni bis 1. Juli Kontakt: Tel: 0711.2022-409 (Mo.-Fr., 9-12 Uhr) sekretariat2@lindenmuseum.de Der Workshop von Tashi Tsering Lama führt Anfänger und Fortgeschrittene in die Welt des Mandalas ein. Schritt für Schritt vermittelt er die Technik, so dass am Ende jeder Teilnehmer sein eigenes Mandala mit nach Hause nehmen kann. Anmeldung (bis 13. April) erforderlich
Juli 2007 Konferenz: Afrikanistentag 2007 Ort: Institut für Afrikawissenschaften Universität Wien, Spi-
talgasse 2, Hof 5, A-1090 Wien, Österreich Zeit: 23. – 25. Juli 2007 Kontakt:afrikanistentag07@ univie.ac.at, www.univie.ac.at/ afrikanistik/afrikanistentag07.htm Der Tagung liegt kein spezielles Thema zugrunde, Papers und Panels zu afrikawissenschaftlichen Fragestellungen, vor allem aus den Bereichen Sprach-, Literatur-, Geschichtswissenschaft können ab sofort vorgeschlagen werden. Workshop: Afrikanische Webkunst – Workshop mit Zimako Coulibaly und Koko Fofana Ort: Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde Hegelplatz 1 Zeit: Fr. 27.Juli – So. 29. Juli Kontakt: Tel: 0711.2022409 (Mo.-Fr., 9-12 Uhr) sekretariat2@lindenmuseum.de Die Webtechnik auf dem Schmalbandwebstuhl ist seit dem 11. Jh. nachweisbar und wird heute noch in Westafrika gepflegt. Das gewebte Tuch wird zu Decken, Hemden oder Hosen zusammengenäht, so dass komplexe Muster entstehen. Die Workshop-Leiter Zimako Coulibaly und Koko Fofana stammen aus „Dyula“.
Oktober 2007 Konferenz: Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde e.V. (DGV) zum Thema „Streitfragen - zum Verhältnis von empirischer Forschung und ethnologischer Theoriebildung am Anfang des 21. Jahrhunderts“. Ort: Halle/ Saale Zeit: 2. - 4. Oktober 2007 Kontakt/Infos: www.dgv-net. de/tagungen Konferenz: Weltkonferenz der Ethnotherapien 2007 Ort: Institut für Ethnomedizin Melusinenstr. 2, 81671 München Zeit: 12.-14. Oktober 2007 Kontakt/Infos: Ethnomed e.V., Melusinenstr. 2, D-81671 München, Germany, info@institut-ethnomed.de, www.institut-ethnomed.de
November 2007 Konferenz: 20. Fachkonferenz Ethnomedizin (AGEM) & 6th European Colloquium on Ethnopharmacology: „Neue Perspektiven in Ethnobotanik und Ethnopharmakologie Ort: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen (SES) Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig Zeit: 08.-10. Novemer 2007 Kontakt: www.agem-ethnomedizin.de
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ISSN 0947-9783 April 2007/Heft 27 www.cargo-zeitschrift.de