Ausgabe 28 | April 2008 | 3,00 €
Zeitschrift für Ethnologie
Grenzgänger Perspektiven
Ausgrenzung: Tübinger Institut schließt Ethnologiestudenten von Exkursion aus S.18
auf
Migration
Ethnologie der Menschenfresser: Missverständnisse und Vorurteile S.78
Medien-Ethnologie: Wie Fotografen in Indien auf hinduistische Hochzeiten einwirken S.41
Editorial
Wieviel kostet die eigene Freiheit?
F
ür die einen ist es tatsächlich nur eine Frage des Geldes oder der Beziehungen. Für andere nur eine Frage der geistigen Haltung. Wiederum andere riskieren für Freiheitsrechte tagtäglich ihr Leben und kämpfen, bis an die Grenzen ihrer Kräfte. – Uns als CARGO-Redaktion kostet die eigene Freiheit in erster Linie viel Zeit und gute Teamarbeit. Jedes der CARGO-Hefte entsteht im Austausch freiwillig engagierter Studenten deutscher Institute der Ethnologie und verwandter Fächer. Daher ist jedes ein Unikat und im Kontext seiner MacherInnen zu sehen. Ihnen allen gemein ist jedoch der Kantsche Grundsatz, den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, damit ein offener Austausch ohne Zensur möglich ist. Einige Kritiker sahen diesen Freiheitsanspruch im Heft 27 der CARGO-Reihe, die nach einer fast vierjährigen Unterbrechung im März 2007 ihre Wiederbelebung erfuhr, gefährdet. So kritisierte Felix Girke scharf in einem Brief an die Redaktion: „Vieles ist Darstellung, wenig ist Auseinandersetzung, und fast nichts ist Haltung...“. Auch wenn sich die Geister über die redaktionelle Linie der Ausgabe 27 streiten mögen, sie ist in jedem Fall ein Zeichen dafür, dass die neue Generation angehender EthnologInnen einen Bedarf an freiem Informations- und Meinungsaustausch hat. Das Redaktionsteam der CARGO 28, das mehrheitlich aus MitarbeiterInnen der Vorgängerredaktion besteht, hatte jedoch den Mut, sich seiner Kritiker anzunehmen und konstruktive Vorschläge umzusetzen. Das bedeutete jedoch, dass die Nummer 28 erst ein Semester später als geplant erscheinen konnte. So haben wir zum Beispiel den Vorschlag Girkes “Macht Hefte zu Themenheften!“ angenommen. In dieser Ausgabe sprechen wir daher ein Thema an, das gerade – weil es von der deutschen Medienlandschaft eher einseitig dargestellt wird, (Wir und die Anderen) – von anderen Blickwinkeln her betrachtet werden sollte: die Lebenswelten der Migranten. Sie sind die wohl größte Gruppe globaler „Grenzgänger“. Es sind Menschen, die geografische und kulturelle Grenzen überschreiten, in der Mehrheitsgesellschaft ihrer Diaspora oft eine marginale Stellung einnehmen, jeden Tag mit sozialen, politischen, religiösen und wirtschaftlichen Barrieren konfrontiert werden und sich ständig an der Grenze zwischen Vertrautem und Fremden bewegen. Und das alles, um ihr Glück zu finden: sei es einen Job zu haben, die Freiheit, ihre Meinung öffentlich äußern oder einfach in Frieden leben zu können... Grenzen existieren aber nicht, weil sie einfach da sind, sondern weil sie gemacht werden, um das Eigene gegenüber dem Fremden zu bewahren. So verstärkt zum Beispiel die Mehrheit der Medien in Deutschland bestimmte assoziativ negative Fremdbilder über MuslimInnen (S.6). Staaten errichten Mauern mit Gesetzen (S.16) und Staatsgrenzen (S.28). Und Menschen entwickeln diskriminierende Ansichten (S. 18 und S. 24). Manchmal können diese Barrieren auch an einigen Stellen überwunden werden. So geraten deutsche Jugendliche in Konflikte mit MigrantInnen ihren Alters, schließen aber auch Freundschaften (S. 10). MigrantInnen selbst sind untereinander aktiv und gründen Initiativen, die ihrem rechtlich zum Teil eingeschränkten Leben in Deutschland ein bisschen mehr Freiheit und damit Lebensqualität ermöglichen, wie die Katalog-Initiative von Asylbewerbern in Leipzig (S. 21). Oder sie entwickeln Strategien, um mit den Behörden des Einwanderungslandes umzugehen ( S. 12). Und sind es schließlich nicht die EthnologInnen selbst, die durch das, was sie tun, absolute „Grenzgänger“ sind? Versuchen sie doch ständig um der Erkenntnis willen die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu hinterfragen. So beschäftigt sich Judit Smajdli mit ihrem Bedürfnis nach Privatsphäre während ihrer Feldforschung (S. 36). Christian Weinert träumt von OBI und Hagebaumarkt mit Lieferungsgarantie, während er stundenlang schwere Baumstämme durch den Busch schleppen muss, um ein Haus zu errichten (S.34). Und Henning Schwanke inspiriert eine ihn mystisch bedrohlich erscheinende Welt der Roma in Skopje zu einer literarischen Auseinandersetzung (S. 46). Neue Erkenntnisse auf der Reise zwischen den Welten wünscht Euch die CARGO-Redaktion! Wir freuen uns auf Eure Anregungen, Kritiken, Leserbriefe, Artikel und auf neue Redaktionsmitglieder für die Ausgabe 29. www.redaktion@cargo-zeitschrift.de Vi Vien Baldauf
Cargo Ausgabe 28
Inhalt
Ethnologen und Privatsphäre S.36
Flüchtige Schatten S.46
Was ist... Was ist für Sie befremdlich?
5 5
Nachgefragt von Anett Schädlich und Hendrik Konzok
Grenzgänger Die Konstruktion des Fremden
6 6
Musée du Quai Branly S.58
Studium | Lehre | Forschung 50 „Does the Theory of Anthropology disappear?“ 50 Ein kritischer Rückblick auf die Tagung der DGV 2007 von Markus Feder
„Da hilft ein Magistertitel nicht wirklich“
Ein Essay von Harika Dauth
Ein Interview von Hendrik Konzok
„Und wenn sie schwarz arbeiten gehen, die tun halt was“
N-orth E-ast W-est S-outh Kurzmeldungen
10
Eine Reportage von Georg Wellbrock
Networking und Tausch vs. Bürokratie
12
Ein Paper von Rabah - Melodie El - Hajj Moussa
„Heilbehandlung“
16
Installation, Fotografie von Alexander Joechl
Das Feld der Anderen
18
Ein Erfahrungsbericht von Maria Kechaja
Schweinshaxe oder Zigeunerklößchen en catalogue
21
Ein Bericht von Babett Pohle und Cornelia Lemke
Zwischen Malatang und Frühlingsfest
28
Ein Projekt von Victor López González
Gemein(t)es 30 Notizen aus meiner Gründerzeitbude 30 Ein Leserbrief von Michael Schweßinger
„Habermas auf ethnologisch“ 33 Ein Seitenblick von Magdalena Wolf
Frisch vom Feld 34 Tubabo: Mit dem Bullenwagen im Baumarkt 34 Eine Kurzgeschichte von Christian Weinert
Braucht ein Ethnologe Privatsphäre? 36 Ein Feldforschungsbericht von Judit Smajdli
Hinduistische Hochzeiten und fotografische Praktiken
41
Ein Feldforschungsbericht von Boris Wille
Flüchtige Schatten Einige Szenische Impressionen aus der Feldforschung von Henning Schwanke
April 2008
56 56
Eine Auswahl von Harika Dauth und Vi Vien Baldauf
360° Das Musée du Quai Branly in Paris
58 58
Ein wissenschaftlicher Kommentar zu einem kunstethnologischen Diskurs von Martin Hartung
Das Erbe des Ousmane Sembène
64
Eine Reminiszenz an einen bedeutenden Künstler Senegals von Alice Jahn
Mediathek Ethmundo.de – die Welt im Web
68 68
Eine Netzvorstellung von Rüdiger Burg
24
Ein Fallstudie von Lena Kaufmann
Festland
52
46
Die MASKE – Anthropologie in die Öffentlichkeit!
70
Eine Printvorstellung der MASKE Redaktion
Thomas Hylland Eriksen: „What is Anthropology?”
72
Eine Buchrezension von Alexander Blechschmidt
Moolaadé - Bann Der Hoffnung
74
Eine Filmrezension von Alice Jahn
TINYA Musikkulturen der Welt
76
Eine Radiovorstellung der Tinya-Redaktion
Rätsel
77
Kognitives von Anett Schädlich und Martina Zellmer
Besserwisser Ethnologie, die Wissenschaft von den Menschenfressern
78 78
Ein wissenschaftlicher Kommentar zur Kannibalismusdebatte von Gereon Janzing
Kalender/Impressum
82
Was ist...
Was ist für Sie befremdlich? Nachgefragt von Anett Schädlich und Hendrik Konzok
Stefan, Halle: „Dass außer zum Wahlkampf niemand über Ausländerkriminalität reden will. Dabei gibt es ja im Bereich der Schwerkriminalität einen hohen Anteil von Tätern mit Migrationshintergrund. Wenn man sich dessen nicht bewusst wird, kann man auch die Symptome nicht bekämpfen.“
Marcel, Chemnitz: „Man lebt als Student recht isoliert von bestimmten sozialen Schichten.“ Jens, Halle: „Man kennt seine Nachbarn nicht. Irgendwie lebt man nur noch nebeneinander her.“
Karolin und Mandy, Saalkreis: „Zu viele Fremdwörter. Die deutsche Sprache wird immer schwieriger.“ Juliane, Halle: „Die derzeitige Diskussion über Jugendkriminalität und junge Ausländer. Da wird gar nicht richtig differenziert. Sonst sind natürlich Neonazis ziemlich befremdlich.“
Tobias, Halle: „40 € fürs Schwarzfahren finde ich befremdlich.“
2 Politessen in Halle: „Hm, schwierige Frage. Öffentliche Toiletten muss man zum Beispiel suchen. Vieles ist einfach schlecht ausgeschildert.“
Fam. Trautwein, Halle: „Der schwindende Zusammenhalt in der Gesellschaft“
Rita, Halle: „Die schlechten Arbeitsbedingungen. Außerdem scheint Solidarität unter den Arbeitern von Seiten der Arbeitgeber nicht mehr erwünscht zu sein.“ Samnia, Halle: „Die kalten Gefühle der Menschen. Auch bei Kindern untereinander. Und die Armut bei Kindern. Viele müssen sogar hungern.“ Benjamin, Halle „Ich finde es befremdlich, dass davon ausgegangen wird, dass sich Kinder in Autos aufhalten und nicht draußen. Auf jeden Fall werden Städte scheinbar danach gebaut. Kinder können sich kaum frei bewegen, denn Autos haben Vorrang.“ Cargo Ausgabe 28
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Die Konstruktion des Fremden Zur Wahrnehmung der muslimischen Migranten in Deutschland und der Rolle der „Islam-Ethnologie“ Ein Essay von Harika Dauth
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er Islam ist in aller Munde. Koran und Kopftuch schmücken regelmäßig Titelblätter einschlägiger Medien. Die Institute für Islamwissenschaft in Deutschland verzeichnen soviel Zulauf wie nie zuvor. Wissenschaftliche Studien zu Muslimen und parallelgesellschaftlichen Entwicklungen haben Hochkonjunktur. Doch die oftmals pauschalen und grob vereinfachten Darstellungen erschweren Nicht-Muslimen den Durchblick in dem Dschungelbuch des islamischen Glaubenssystems und schüren Un- und Missverständnisse in der Mehrheitsgesellschaft – Zeit für die Ethnologie, verstärkt ihren differenzierten Teil zu diesem allgegenwärtigen Thema beizutragen. Doch um wen handelt es sich bei den Muslimen in Deutschland überhaupt? Das Statistische Bundesamt ermittelt die Religionszugehörigkeiten der in Deutschland lebenden Menschen lediglich für christliche Glaubensgemeinschaften. Bei der Ausländerbehörde hingegen werden all die Menschen als Muslime erfasst, die aus islamischen Ländern einwandern, unabhängig davon, ob es sich bei ihnen tatsächlich um Muslime handelt oder nicht. Auch Türken, die die größte Zahl der hier lebenden Migranten ausmachen, werden grundsätzlich als Muslime erfasst. Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland kam bei seinen Untersuchungen zur Religiösität türkischer Migranten in Deutschland diesbezüglich zu einem erstaunlichen Ergebnis: „Unter Berücksichtigung des für Muslime vorgeschriebenen wöchentlichen „Freitagsgebets“ sind es 32 % der „Türken = Muslime“, die als religiös zu betrachten sind, 25 % sind distanziert hinsichtlich des Gottesdienstbesuches und 37 % – in dieser Hinsicht die größte Gruppe – ist als kaum oder überhaupt nicht als religiös zu betrachten.“ (Frerk 2007: 5) Dass zwischen den in Deutschland von den Medien oft präsentierten Zuordnungen „Migranten = Türken = Muslime“ erhebliche Unterschiede bestehen, weist vor allen Dingen darauf hin, die Bezeichnung „Muslim“ erheblich zu differenzieren und zwar nicht nur hinsichtlich der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, sondern auch hinsichtlich der Religiösität im Allgemeinen. Insofern ist die Forschung gefragt, diese Zuordnungen
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inhaltlich genauer zu klären. Doch tendenziell widmet sich die Forschung unlängst lieber der etwaigen Gefahr einer „fundamentalistischen Zeitbombe“, die von den heranwachsenden Muslimen ausgehen könnte. Erst unlängst und pünktlich zum Ende des letzten Opferfestes der Muslime erschien die umfangreichste Studie zu Muslimen in Deutschland, die jemals mit Hilfe von 1750 am Telefon befragten Muslimen erhoben wurde. Herausgegeben von Innenminister Wolfgang Schäuble, zielte die 500 Seiten starke Analyse darauf ab, Integrationsbarrieren und das Verhältnis der Muslime gegenüber demokratischen Strukturen, mit Augenmerk auf muslimische Jugendliche und deren Hang und Bereitschaft zu Gewalt, zu überprüfen. Wie vorauszusehen war, stürzten sich die Medien auf die veröffentlichten Ergebnisse, offensichtlich nicht bemüht, die von ihnen publizierten Daten in den zum Teil akribisch recherchierten soziokulturellen Kontext der Befragten zu stellen.
Islam in den Medien Das kleine, aber schwerwiegende Wörtchen Kontext scheint besonders im Bezug auf die verschiedenen Glaubensrichtungen des Islams in der deutschen Medienlandschaft grundsätzlich entweder eine recht marginale oder stark suggestive Rolle zu spielen. Und das fängt schon bei dem Islam an, den es als solchen, als homogenes monolithisches System höchstens in der panarabischen Utopie fundamentaler Glaubensbrüder oder den paranoid-vereinfachten Darstellungen diverser populärwissenschaftlicher Medien gibt. Als Paradebeispiel für eine häufige und einseitige Islam-Berichterstattung fällt das Wochenmagazin „Der Spiegel“ auf. In der Ausgabe vom 26.3.2007 ist auf dem Titelbild das Brandenburger Tor unter einem türkischen Halbmond zu sehen. Darüber die Überschrift „Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung“. Während vor zehn Jahren der Spiegel noch unter „Gefährlich fremd“ die Schrecken der Multikulti-Gesellschaft in knalligen Farben aufs Cover malte, droht heute „Mekka Deutschland“, denn auf leisen Sohlen, so die Unterstellung, unterwandern Islamisten die schlafende Republik - nur einzig die Spiegel-Redaktion wacht. Ein anderes Beispiel: In einem Artikel über innere Sicherheit und Kriminalität aus dem Jahr 2005 wurde der flächendeckende Einsatz von Überwachungskame-
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Muslime in Berlin. Foto: Martina Zellmer
ras und die Ausweitung von DNA-Analysen diskutiert. Der Text wurde neben Politikerporträts mit zwei Fotos illustriert, wobei eines DNA-Proben in einem Labor und das zweite Muslime in einer Moschee beim Gebet zeigte. Der Zusammenhang von Muslimen und Kriminalität und Terrorismus war für die „Spiegel“-Redakteure scheinbar so offensichtlich, dass das Foto keiner genaueren Erklärung bedurfte. Die Bildunterschrift lautete stattdessen schlicht „Betende Muslime“. Die Botschaft, die hier transportiert wird, ist klar und deutlich: Moscheen sind nicht nur Orte der Besinnung, sondern immer auch potentielle Keimzellen terroristischer Vereinigungen. Auch wenn es solche Moscheen gibt, wird hier durch die Vermengung von einigen wenigen realen und faktischen Sachverhalten eine Verallgemeinerung postuliert, die nicht in ein Verhältnis zu anderen, auch realistischen Sachverhalten, wie der Mehrheit der friedlichen und gemäßigten Muslime, gestellt wird. Die tonangebenden Diskurse von Nicht-Muslimen über Muslime und den Islam werden in der Regel so geführt, dass sie Fremdheit und Differenz herauskehren und reproduzieren. Aspekte, Photographien von Symbolen und kulturellen Praktiken des Glaubenssystems werden, ohne sie gleichzeitig in einen für sie angemessenen Kontext zu betten, isoliert herausgegriffen und reduziert wiedergegeben. Stereotypen und Klischees wird so nicht selten Vorschub geleistet. Doch selbst ein direkter Kontakt kann nur bedingt die einmal etablierten Vorstellungen - die so genannten Vorurteile - auflösen. Denn unser medial geprägtes „Wissen“ nehmen wir mit auf die Reise und unsere Erwartung filtert unbewusst das, was wir wahrnehmen. Die Wiederholung der immer gleichen Informationen über Muslime, vor allem in der Nachrichten-Berichterstattung, verstärkt die Vorstellung, dass reale „Beweise“ für bestimmte Vermutungen vorliegen. In diesem Mechanismus liegt auch begründet, dass Stereotype insgesamt so schwer aufzubrechen sind. Meist reichen ein oder auch einige Beispiele als ultimative Beweise aus, um das Erwartete als „bewiesen“ und somit „wahr“ abzuhaken. Beispiele für das, was man erwartet, lassen sich bei unkritischer Betrachtung erfahrungsgemäß immer finden. Ein Beispiel: Gelegentlich ist in den Medien die Rede davon, dass muslimische Töchter nur die Hälfte dessen erben, was ihre Brüder erben. Das ist richtig. Wenn wir hier aufhören, haben wir ein Faktum, das einen bestimmten Schluss nahe legen würde, nämlich dass
Frauen im Islam grundsätzlich eine minderwertige und dem patriarchalen System untergeordnete Rolle inne haben. Diese Schlussfolgerung würde vermutlich nicht gezogen werden, wüssten wir, dass muslimische Frauen ihr Erbe zur eigenen persönlichen Verfügung erhalten, während muslimische Männer damit auch gleichzeitig in der Verantwortung für noch unverheiratete Schwestern, jüngere Brüder und etwa die verwitwete Mutter stehen. Erhalten wir diese zusätzlichen Informationen, entsteht plötzlich ein ganz anderes Bild als nur bei der Betrachtung des ersten Teils, obwohl auch dieser für sich genommen richtig ist. Bei derartigen medialen Darstellungen kann man durchaus die Nachwehen oder sogar die Wiederaufnahme alter orientalistischer Vorstellungen konstatieren, die „den Muslim“ durch „den Islam“ zu erklären suchen. Der 2003 verstorbene palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said entlarvte diesen „Orientalismus“, also die Werke von Künstlern, Philosophen, Wissenschaftlern, Musikern, Schriftstellern und Reisenden über den „Orient“ bereits 1978. Für ihn wurde der Orient bewusst als das andere, als das Gegenbild des Westens „konstruiert“. Daher sollte der Orientalismus als ein Zeichen europäisch-atlantischer Macht über den Orient verstanden werden und nicht als ein wahrheitsgemäßer Diskurs über den Orient. Der „orientalisierte Orient“ basiere, so Said „ ... auf einem konstruierten Korpus von Theorie und Praxis, in den, viele Generationen lang, beachtliches Material investiert wurde“ (Said 1978: 19). Saids Kritik jedenfalls scheint in vielen etablierten Nachrichtenhäusern noch nicht angekommen zu sein. Doch soll es hier nicht um Schwarzmalerei gehen, auch wenn der Islam oft von den Massenmedien als monolithisches, starres System wahrgenommen wird, lässt sich zunehmend auch ein differenzierterer Diskurs nachweisen. Besonders aktuelle Versuche der öffentlichen Sender hierzulande und diverse InternetPlattformen sorgen für ein Licht, dass das Phänomen Islam nicht nur aus einer Quelle beleuchtet und für lange Schattenwürfe sorgt - auch das nicht zuletzt ein Resultat der verstärkten Problematisierung des Themas.
Wir und die Anderen „Wenn Sie das Wort Islam hören, woran denken Sie?“ So lautete eine Frage im Rahmen einer aktuellen Studie des
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Allensbacher Instituts für Demoskopie, bei der die Befragten auf einem Umfragebogen Mehrfachnennungen angeben konnten. 93 Prozent der Deutschen verbinden demnach mit dem Islam die »Unterdrückung der Frau«, 83 Prozent verbinden das Glaubenssystem mit »Terror« und 82 Prozent assoziieren damit »fanatisch, radikal«. Immerhin sechs Prozent der Befragten fiel bei dem Themenkomplex Islam das Wort »sympathisch« ein. Nein, falsch. Es fiel ihnen nicht ein, sondern sie kreuzten es aus einer Liste möglicher, für sie eigens erdachter Optionen an. Ein kleiner, letztlich aber erheblicher Unterschied, wenn man andere Fragen aus derselben Studie näher betrachtet: 42 Prozent der Befragten stimmten beispielsweise der Aussage „Es leben ja so viele Muslime bei uns in Deutschland. Manchmal habe ich direkt Angst, ob darunter nicht auch viele Terroristen sind“ zu. Diese Art von Suggestivfragen besticht durch den Wiedererkennungseffekt der Assoziationskette, die gebetsmühlenartig durch die deutschsprachige Medienlandschaft geistert: die Verknüpfung einer Minderheit und einer angeblich von ihr ausgehenden Gefahr. Vergessen wir nicht, dass es sich hierbei lediglich um Meinungsbilder handelt, die mit Erhebungsverfahren ermittelt wurden, welche offensichtlich nicht immer so repräsentativ sind, wie es die Auftraggeber dieser sozialwissenschaftlichen Studie formuliert haben. Nichtsdestotrotz sind sie in der Lage, Tendenzen des gesellschaftlichen Diskurses widerzuspiegeln, Tendenzen in der eigenen Bevölkerung, die eine Menge Konfliktpotential in sich bergen. Dadurch werden unzählige äußere Faktoren weiter angefacht: Die Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit, die Globalisierung von Information und ökonomischen Kreisläufen, sich schnell verändernde demographische Entwicklungen, all das wirkt sich auch auf den deutschen Arbeitsmarkt aus. Mit diesen sich beschleunigenden Entwicklungen fühlen sich viele Menschen überfordert. Angstzustände und die Furcht vor dem Abstieg in prekäre Beschäftigungs- und Lebenslagen in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen sind die Folge, die nicht selten auf Menschen mit Migrationshintergrund projiziert werden. Das „Wir“ und das „Ihr“, das Eigene und das vermeintlich Fremde gewinnen in diesem Zeitgeist der „Unbegreifbarkeit“ wieder Bedeutung und produzieren räumliche und mentale Ghettos. Individuelle sowie gesellschaftliche Abgrenzungsverhalten gehören einmal mehr zur Tagesordnung, spätestens durch das krampfhafte Lostreten einer Leitkulturdebatte, die durch eine mehr als fragwürdige Rhetorik eine nationalstaatliche Rückbesinnung generieren oder suggerieren will und gleichzeitig eine wertschätzende Anerkennung soziokultureller Heterogenität absichtlich ignoriert. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie haben nicht zuletzt durch Einbürgerungs-Prüfkataloge, wie sie derzeit bereits in Baden-Württemberg und Hessen eingesetzt werden und eine „Du bist Deutschland“ - Kampagne, die wohl, zum Leidwesen unserer Kanzlerin, nicht bei allen deutschen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen das Zugehörigkeitsgefühl zu einem nationalen Kollektiv steigert, inzwischen die Mitte der
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Gesellschaft erreicht. Doch lässt sich die Identität einer imaginierten deutschen Gemeinschaft nicht erst durch die Abgrenzung zu einem oppositionellen Fremden greifbar und begreifbar machen, was sich auch schnell als Produkt des Nationen-Konzepts oder vielmehr des Nationalismus entpuppen könnte? Wer Fremdheit als Bedrohung definiert, den vermeintlich Anderen auf Distanz halten will und (internationale) Migration als Sicherheitsproblematik begreift, wird voraussichtlich früher oder später auch der eigenen Angst erliegen. Denn, ohne den Teufel an die Wand malen zu wollen, sollte nicht vergessen werden, dass, wenn Menschen auf Distanz gehalten werden, es kein weiter Weg mehr bis zu deren Ausstoß aus der Gesellschaft ist, und der hat bekanntermaßen schon mehr als einmal zur Verfolgung von ethnischen Gruppen und Völkern geführt. Fremdheit – und das ist vermutlich einer der wichtigsten Erkenntnisse der Ethnologie im Kontext von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft – ist keine Eigenschaft einer Person oder einer Gruppe, sondern das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses. Insofern ist es ein wichtiges Unterfangen, sich mit diesen Diskursen, ihren Zuschreibungen und dem so genannten othering, das sie hervorrufen, zu befassen.
Muslime in Deutschland ein ethnologisches Feld? Doch was spielt die Ethnologie überhaupt für eine Rolle in der nationalen und internationalen Diskussion über Muslime und Islam? Zumindest keine institutionalisierte, denn nach einer Professur für diesen Themenbereich sucht man zumindest in Deutschland erfolglos. Im Gegensatz zur politischen und gesellschaftlichen Relevanz des Themas spielen der Islam und seine Anhänger in der Deutschen Ethnologie eher eine marginale Rolle. Aber auch eine internationale „Islam-Ethnologie“ im Post-9/11-Kontext gibt es nicht, auch wenn sich bekannte Ethnologen-Persönlichkeiten wie Clifford Geertz (1988) mit diesem religiösen Feld beschäftigt haben. Wenn sich die Ethnologie mit islamischen Gruppen beschäftigt, behandelt sie in der Regel „marginale“ oder „heterodoxe“ Phänomene wie den Sufismus oder die Heiligenverehrung (z. B. Werbner 2003). Charles Lindholm geht sogar soweit, die auf dem Gebiet forschenden Ethnologen selbst mit Sufis (islamischen Mystikern) zu vergleichen, denen er die Orientalisten oder Islamwissenschaftler gegenüber stellt. Letztere setzt er wiederum mit islamischen Rechtsgelehrten gleich. Lindholms Vergleich spielt auf das heutzutage überholte Paradigma der Ethnologie an, sich vorwiegend mit schriftlosen Zeugnissen von Kulturen zu beschäftigen, während die Islamwissenschaften viel stärker textbasiert arbeiten. Doch hat sich die Islamwissenschaft den Muslimen und dem Islam jenseits der Texte mittlerweile geöffnet und auch die Ethnologie setzt sich nun verstärkt mit den schriftlichen Tradierungen und Zeugnissen des Islams auseinander.
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Nichtsdestotrotz ist die ethnologische Perspektive auf den Islam ethnographisch-empirischer angelegt als die Islamwissenschaft, ein Umstand, der es Ethnologen über einen längeren Zeitraum erlaubt, einen tieferen Einblick in die Alltagskultur der Muslime und nicht zuletzt auch in ihren Alltag in einer Mehrheitsgesellschaft zu erlangen. Hierbei könnte es ein wesentlicher Beitrag der Ethnologie sein, mit ihrer Vorliebe für den mikroskopischen Blick auf Gesellschaftsgruppen ihr dabei errungenes Hintergrundwissen auf die zivilgesellschaftliche Ebene zu transportieren und ein zugegebenermaßen anspruchsvolles Ziel – die Islam-Debatte – auch ein Stück weit zu entpolitisieren. Auch wenn generalisierende Aussagen darüber, ob der Islam nun an sich politisch ist oder nicht, wenig Sinn machen und es sich bei dieser Behauptung um eine sehr streitbare handelt, fest steht: Im Diskurs über Muslime und den Islam werden permanent politische Bezüge hergestellt. Und das bis hin zu dem indirekten aber deutlichen Verweis, dass betende Muslime mit Terrorismus gleichgesetzt werden. Politische Bezüge dieser Art zum Islam sind konstruiert und führen letztlich lediglich zu missverstandenen Interpretationen und dadurch nicht selten zu Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung gegenüber der muslimischen Minderheit. Noch bevor sich fremdenfeindliche Tendenzen und Symptome bemerkbar machen, kann und sollte die Ethnologie präventiv und ereignisbezogen eine zentrale Rolle spielen, indem sie das nötige Hintergrundwissen über die größte Minderheit im deutschsprachigen Raum liefert und das Fremde dekonstruiert. Denn Muslime sind eben nicht mehr die Fremden oder die Anderen, die von fern kommen. Der 2006 veröffentlichte Mikrozensus spricht in diesem Zusammenhang für sich: 19 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen haben einen Migrationshintergrund. Dazu zählen geschätzte dreieinhalb Millionen Muslime. Sie sind zu „nahen Fremden“ geworden und tatsächlich sind sie oft nicht einmal so fremd, wie Menschen, die dieselbe Sprache sprechen oder mit denen wir denselben unmittelbaren Raum teilen. Und selbst wenn wir sie als fremd empfinden, wir werden in dieser sich so rasch verändernden Welt lernen müssen, Neugier auf Neues und Fremdes zu entwickeln. Wir werden genauer hinsehen und lernen müssen zu differenzieren. Einen interkulturellen und interreligiösen Dialog zu führen stellt dafür eine Grundvoraussetzung dar. Damit meine ich nicht multikulturalistische Phrasen oder Festreden, wie sie gerne von PolitikerInnen geübt werden. Denn, dass wir mehr voneinander verstehen, wenn wir mehr voneinander wissen, ist ein Trugschluss. Schliesslich wissen wir, dass auch die gebildetsten Menschen Rassisten sein können. Ein Dialog auf praktischer Ebene jedoch führt dazu, sich den Chancen bewusst zu werden, die eine ethnisch, kulturell und religiös plurale Gesellschaft für jeden von uns eröffnet. Denn lernt man sich selbst nicht am besten dadurch kennen und reflektiert überkommene Werte der eigenen Gesellschaft nicht am besten dadurch, dass
man erfährt und erlebt, wie „die Anderen“ leben und glauben? Nicht nur für Ethnologen bedeuten daher die Muslime in Deutschland eine positive Herausforderung an sich selbst. Eine „Ethnologie des Islam“ ist daher im Grunde genommen keine Regionalwissenschaft mehr, die sich mit Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens beschränkt, denn der Islam ist, vielleicht mehr als je zuvor, eine globale Religion, die natürlich in ihrem spezifischen lokalen Kontext gesetzt werden muss. Wenn sich dieser lokale Kontext direkt vor unserer Tür abspielt, ist das für Ethnologen gleich ein doppelter Grund zur Freude: erstens bleibt mal wieder zum Glück alles anders, indem sich durch die heranwachsenden Generationen der hier lebenden Muslime neue religiöse und kulturelle Erscheinungsformen auftun, und zweitens können wir so unserem Forschungsdrang auch „zu Hause“ Flügel verleihen.
Referenzen Brettfeld Katrin, Peter Wetzels (2007). Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen. Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft, Institut für Kriminalwissenschaften, Abteilung Kriminologie. Gefördert durch Bundesministerium des Innern. <http://www.bmi.bund. de/nn _122688/Internet/Content/Nachrichten/Pressemitteilungen/2007/12/Studie__Muslime__in__Deutschland__erschienen.html> (Stand 1.3.08) Frerk, Carsten (2007). „Muslime“ in Deutschland. Eine Annäherung. Erschienen bei fowid.de. Geertz, Clifford (1991 [1968]). Religiöse Entwicklungen im Islam, beobachtet in Marokko und Indonesien. Frankfurt, Suhrkamp. Hafez, Kai (2000). The West and Islam in the mass media. Bonn, Zei. Halm, Dirk (2006) Zur Wahrnehmung des Islams und zur soziokulturellen Teilhabe der Muslime in Deutschland. Studie des Zentrums für Türkeistudien. Essen Lindholm, Charles (2002). The Islamic Middle East: Tradition and Change. Oxford, Blackwell. Said, Edward (1978). Orientalism. Western Conceptions of the Orient. Harmondsworth: Penguin. Schiffer, Sabine (2004). Islam in den Medien. Vortrag gehalten am 3.6.04 im Rahmen der 10. Islamwochein Berlin. http://www.al-sakina.de/inhalt/artikel/islam_medien/islam_medien.htm, 1.3.08 Sökefeld, Martin (2005). Islam – ethnologische Perspektiven. In: ethnoscripts. Bd. 7, Heft Nr.2, Hamburg Werbner, Pnina (2001). Pilgrims of Love: The Anthropology of a Global Sufi Cult. London, Hurst.
Harika Dauth (26) studiert Ethnologie, Religionswissenschaft und Journalistik an der Universität Leipzig. Sie arbeitet als freie Autorin im Radiound Printbereich und ist Redaktionsmitglied der CARGO.
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„Und wenn sie schwarz arbeiten gehen, die tun halt was“ Gespräche mit Hallenser Jugendlichen über ihre Einstellung zu MigrantInnen Eine Reportage von Georg Wellbrock
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mgeben von den typischen Plattenbauten aus DDR-Zeiten liegt im Süden Halles der Kinder- und Jugendhausverein. Es ist bereits dunkel als ich die ehemalige Schule in der Züricherstraße 14 erreiche. Die Einrichtung ist zweigeteilt: direkt neben dem Jugendhaus befindet sich ein Kindergarten. Beim Betreten der Einrichtung kommt mir eine Gruppe Jugendlicher entgegen, vertieft in ein Gespräch, dem ich nicht folgen kann. Sie sprechen eine mir unbekannte Sprache. Hier bin ich richtig. Der Grund, warum ich mich auf den Weg gemacht hatte, ist mit Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit gleichaltrigen Migranten zu sprechen. Ich werde von Wolf, einem Betreuer, in den Keller begleitet, in dem sich Jugendliche in einem Raum um einen Billardtisch und in einem anderen um eine Tischtennisplatte versammelt haben und miteinander spielen. Nachdem ich sie eine Weile beobachtet habe, stehe ich selbst irgendwann mit an der Tischtennisplatte. Wir spielen miteinander und kommen ins Gespräch. Es sind Kids aus der Gegend, zwischen 10 und 20 Jahre alt. Die meisten kommen öfter hierher. Viele von ihnen gehen noch zur Schule. Wolf trommelt alle zusammen. Ein paar Minuten später sitzen wir in einer Couchecke und stellen uns vor. Chris ist mit 20 Jahren der Älteste. Er macht eine Ausbildung. Der 13-jährige Lukas gehört zu den Jüngsten. Alle anderen sind um die 15. Mich interessiert zunächst vor allem, was sie, abgesehen von Tischtennis und Billard, in ihrer Freizeit machen und in der Zukunft machen wollen. Viele haben keine Berufswünsche. Eines der Mädchen möchte Automechanikerin werden. Georg Wellbrock (24) kommt aus Dresden und studiert seit 2004 Geschichte und Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle. Im Rahmen eines Praxissemesters hat er einen Radiobeitrag zum Thema Migration/Integration gestaltet, wobei auch dieser Artikel entstanden ist.
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Über ihre Erfahrungen mit Migranten zu sprechen, fällt den Jugendlichen anfangs schwer, die Situation wirkt angespannt. Ich frage ausdrücklich nach positiven wie negativen Erlebnissen. Dabei versuche ich ihnen klar zumachen, dass ihre Welt eine Welt ist, in der ich nicht lebe, obwohl wir die Luft derselben Stadt atmen. Ich sage ihnen, dass ich versuche durch ihre Berichte meinen eigenen zu schreiben. Langsam kommen wir ins Gespräch. Lukas berichtet als erster über einen Ausländer, der ihn und seinen Vater mit einer Schreckschusspistole bedroht habe. Weshalb, wisse er nicht. Langsam beginnen auch die anderen zu erzählen. Fast jedem fällt eine Geschichte ein. Auffällig dabei ist, dass es allen zunächst sehr leicht fällt über ein negatives Erlebnis zu berichten. Positives wird zunächst ausgespart. Für Chris liegen die Unterschiede zwischen Deutschen und Migranten in einem Mentalitätsdefizit. Seiner Meinung nach würden Ausländer schon von klein auf anders erzogen. Er meint, dass Deutsche nicht so familienbezogen seien wie Ausländer. Wenn man beispielsweise die Familienehre verletze, würden die Familienmitglieder sich eher angegriffen fühlen als Deutsche. Trotz dessen hat er einen ausländischen Klassenkameraden, mit dem er viel Quatsch machen könne. Als ich ihn frage, ob Ausländer in Deutschland generell etwas zu suchen hätten, sagt er, dass seiner Meinung nach die Einwanderer in Deutschland mehr arbeiten, ihren Arsch eher bewegen würden als die Deutschen, „und wenn sie schwarz arbeiten gehen, die tun halt was.“ Der 13-jährige Schüler Benni antwortet auf dieselbe Frage: „Wenn sie mich in Ruhe lassen, ist mir das egal, aber sobald die Stress machen, sobald es um mich und meine Familie geht, mische ich mit.“ Auf meine Frage, wie sie einen so genannten Ausländer denn definieren würden, antwortet er zögernd, dass das Äußere und das Innere entscheidend seien. Damit meint er: Aussehen = Hautfarbe und Sprache. Auch die Definition von Jule geht in eine ähnliche Richtung: Ein Ausländer ist, so die 16-jährige, wer kein deutsch sprechen kann und eine andere Hautfarbe hat. Als ich einen Jugendlichen mit dunklerer Hautfarbe frage, welches seine Erfahrungen mit Ausländern sind, sagt er, dass sie seine Freunde seien. Von Deut-
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schen sei er schon mit „Nigger“ und „Drecksnigger“ beleidigt worden, wenn sie gereizt wären oder man sie ärgern würde. Dann fügt er noch hinzu, dass er das aber eigentlich ganz normal finde, verbale Beleidigungen für ihn also an der Tagesordnung seien, ganz im Gegensatz zu körperlicher Gewalt. Seine Schwester erzählt „nur weil ich braun bin wurde mir in der ersten Klasse das Trommelfell zerschlagen“ - von Schülern aus der vierten Klasse. Trotz der vielen negativen Beispiele können alle aber auch über positive Dinge berichten, abseits von physischer und psychischer Gewalt und sei es nur, dass man mit den migrierten Mitschülern gut feiern kann. Man ist sich einig, dass auch ein normaler Umgang möglich ist. Jule trifft eine klare Zweiteilung: Auf der einen Seite gebe es die Ausländer, die arbeiten gehen, sich normal verhalten und keinen Stress machen und auf der anderen Seite die, die hierher kommen, Stress machen und denken, sie können alles machen was sie wollen. Dr. Karamba Diaby ist Projektleiter für Migration und Integration in der Jugendwerkstatt Frohe Zukunft und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Auf meine Frage, wann man eigentlich von Integration sprechen könne, antwortet er, dass die Einstellung vorherrsche, Ausländer müssten sich grundsätzlich anpassen, wenn sie nach Deutschland kommen. Diaby betont, dass er bei dem Integrationsprozess allerdings vor allem die Grundlage und Akzeptanz des Grundgesetztes als wichtigste Vorraussetzung sieht, und nicht etwa die Herkunft oder Religion. Die Gründe für Sorgen und Ängste der Deutschen vor Ausländern sieht er vor allem in den verbreiteten falschen Informationen: In ganz Sachsen-Anhalt gebe es lediglich 1,9% Ausländer, in ganz Deutschland 9% und nicht 20% oder noch mehr. Diabys abschließendes Plädoyer für eine bessere Zukunft scheint einfach. Und ist es nicht so, dass die besten Dinge oft die einfachsten sind? „Ich wünsche mir für die Zukunft, dass man in dieser Gesellschaft einfach akzeptiert und wahrnimmt, dass die Vielfalt, die auch durch Zuwanderung auftritt, Normalität ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist keine Insel. Wir sind die besten Touristen der Welt, weil wir in jedes Land fliegen, und wir sollten akzeptieren, dass auch
Menschen aus anderen Kulturkreisen und anderer Religion hier leben. Die müssen nicht jeden Tag Eisbein und Sauerkraut essen, jeden Tag in die Kirche gehen. Wir sollten akzeptieren, dass sie hier ihr kulturelles Leben ausüben können, dass sie Muslime oder Juden sein können, solange das im Rahmen der Verfassung, dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist. Wenn das als Normalität betrachtet wird, dann bin ich zufrieden.“
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Networking und Tausch vs. Bürokratie Die Überlebensstrategien der Immigranten in Halle an der Saale Ein Paper von Rabah - Melodie El - Hajj Moussa
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er Auf bau der deutschen Bürokratie ist detailliert strukturiert und funktioniert nach einer systematischen Logik von Zuständigkeiten und Unterteilungen. Der deutsche Verwaltungsapparat verlangt kontinuierliches Lernen und Aktualisieren von Informationen, wenn man Fördermittel, Beihilfen oder andere Beantragungen anstrebt. Dieser Apparat ist hochkompliziert, vor allem für Menschen, die kein Deutsch sprechen und deren Sozialisation das Erlernen der deutschen bürokratischen Ordnung nicht vorsah. Oft sind solche Menschen Immigranten, die sich mit dieser Notwendigkeit zum ersten Mal auseinandersetzen. Ihr Einstieg in den Großraum der Behörden erscheint chaotisch und hilflos, ist aber, wenn man genau hinschaut, wohl strukturiert und strategisch in einem Selbsthilfenetzwerk organisiert. Sie kommen eher physisch als psychisch an. Sie sind „Neuankömmlinge“ (Glick-Schiller 2007) - ohne Orientierung, Sicherheiten und mit einem immensen Lernbedarf in Bezug auf die bürokratische Herausforderung und der damit verbundenen alltäglichen Organisation und Pflichterfüllung, die sie in Deutschland erwartet. In einer Feldforschung, die ich in Halle an der Saale von 2004 bis 2007 durchführte, beobachtete ich das Verhältnis zwischen Immigranten und Bürokratie aus der Perspektive der Einwanderer. Die Immigranten, die ich auf ihren Behördengängen begleitete und ihnen dabei half, integrierten mich unaufhaltsam in ein in Organe eingeteiltes Netzwerk von Neuankömmlingen, Informanten und Helfern. Die Einwanderer meines Samples kamen größtenteils aus dem Irak. Neben ihnen standen mir auch marokkanische, libanesische, ukrainische, türkische, nigerianische und andere Staatsangehörige für meine Forschung zur Verfügung. Die Herkunft mancher Immigranten blieb allerdings schleierhaft. Gemeinsam nahmen wir Termine beim Sozialamt, der Wohngeldstelle, beim BaföG- oder auch Arbeitsamt wahr. Ich begleitete sie zu Deutschkursen und half ihnen vor allem zu Hause beim Ausfüllen von Formularen, mit Telefonaten oder mit dem Schreiben von Briefen.
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Bei unseren gemeinsamen Unternehmungen fielen mir besonders ihre eigens entwickelten „Überlebensstrategien“ auf. Eine dieser Strategien ist ihr Zusammenschluss zu einem Selbsthilfenetzwerk und ihre darin enthaltende Interaktivität und problembezogene Regeneration. Das stetige networking der Immigranten untereinander gibt ihnen Sicherheit und die Möglichkeit, ihre Kompetenzen zu organisieren. Eine weitere Strategie basiert auf der Logik des Tausches. Sie tauschten ihre persönlichen Informationen und Aufwendungen beispielsweise gegen neue Informationen innerhalb des Netzwerkes, und gegen finanzielle Beihilfen außerhalb des Netzwerkes, zum Beispiel mit einem Amt. Die Immigranten nutzen den Tausch als Strategie, die sich in allen symbiotischen Beziehungen ihrer Umgebung etabliert, auch in Bezug auf den bürokratischen „Großraum“. Im Folgenden möchte ich diese beiden Strategien der Immigranten vorstellen und aufzeigen, wie sie sich ihren eigenen Weg in die deutsche Gesellschaft schaffen, indem sie sich selbst organisieren und die deutsche Bürokratie für sich neu definieren.
Vom Individuum zum Netzwerk - und zurück „[D]as Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewusst oder unbewusst auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen.“ (Bourdieu 1983: 192) Durch die Zusammenarbeit mit den Immigranten konnte ich feststellen, dass ein Netzwerk zwischen ihnen, insbesondere zwischen einigen Teilnehmern meines Samples, besteht. Manche kannten sich näher und waren gut befreundet. Zwischen anderen Personen inner- und außerhalb des Samples bestand eine Beziehung, die sich nur aufgrund des gemeinschaftlichen Immigrant-Seins etablierte. So kannte beispielsweise der Marokkaner Ghazan den Libanesen Nasser, weil auch Nasser Araber
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ist, durch andere arabische Einwanderer. Sie identifizierten sich nicht durch Nationalität und nicht allein durch Religion, sondern ganz einfach dadurch, dass sie die gleiche Sprache sprachen und beide Neuankömmlinge in Halle waren. Sie konnten sich symbolisch in der kulturellen Vielfalt des Großraums der Migranten am ehesten mit einander identifizieren. Die irakischen Personen meines Samples kannten Nasser persönlich oder durch kurzes Vorstellen in der Moschee. Bei der Frage an Nasser, ob er die Beziehung zu den Irakern als Freundschaft definieren würde, erklärte er, dass er zwar alle kennt, aber nicht mit allen befreundet sei. Er definiert die Bekanntschaft als Bruderschaft, da man in der gleichen Religion und Kultur verwurzelt sei und in Halle die gleichen Probleme habe. Zwischen den Migranten bestanden keine intimen, innigen Freundschaften, sondern Gemeinsamkeiten und ein kollektiver Bedarf an gegenseitiger Hilfe. Diese Hilfe äußerte sich in Form von gegenseitiger Auskunft und Rückinformation über, für den bürokratischen Alltag wichtige, Aspekte und Schrittfolgen. Die gegenseitige Auskunft und damit verbundene Hilfe äußerte sich in den ersten Schritten zu den Ämtern, die gemeinsam gemacht wurden, oder auch in Informationen über Bedingungen, wie Gelder erhalten werden können, zum Beispiel Sozialhilfe. Außerdem gehörten ausführliche Erklärungen über Institutionen, insbesondere über finanzielle Beihilfen oder über die Polizei zu ihren Themen. So erfuhr ein Migrant immer von einem anderen von einer Geldquelle oder einer bürokratischen Pflicht. Zwei Frauen aus dem Irak, die ich begleitete, bezeichneten sich beispielsweise selbst nicht als Freundinnen, sondern als Kolleginnen. Zum einen, weil sie den gleichen Deutschkurs besuchten. Zum anderen, da sie alle Amtswege gemeinsam erledigten und sich gemeinsam mit bürokratischen Anforderungen auseinandersetzten. Auch die Treffen mit mir fanden stets zu dritt statt. Ich konnte bei den beiden Frauen eine beeindruckende Aufmerksamkeit und Organisationsfähigkeit feststellen, als ich ihnen die Formulare ausfüllte. Sie fertigten vorher Kopien an und füllten parallel zu mir ihre kopierten Anträge aus, um die Schrittfolge und Notwendigkeiten zu erlernen. Neue
Informationen, den Bereich der finanziellen Absicherung betreffend (wie Antragsausfüllung, Abgabetermine und ähnliches), wurden unverzüglich binnen ein bis zwei Tagen an die Kollegin und weitere Kollegen aus dem Wohnheim weitergeleitet. Meine Position in diesem Netzwerk, die mir die Einblicke ermöglichte, war nicht auf der gleichen Ebene kollegial, wie die der Migranten untereinander. Ich bezog die Zwischenposition des Helfers. Ich wurde in das Netzwerk aufgenommen, da ich zunächst einmal als vertrauenswürdig empfunden wurde und vor allem, da ich einen Nutzen erfüllte. Meine „deutsche“ Lebenswelt beinhaltete für die Immigranten den Aspekt einer Orientierungsfähigkeit und Kompetenz im bürokratischen Bereich, von der sie, innerhalb ihres Netzwerkes, profitieren konnten. Ich konnte feststellen, dass die Personen meines Samples direkten oder indirekten Kontakt zu einer integrierten oder deutschen Person hatten, die die Funktion des Hilfestellers in dem Netzwerk einnahm. So wie auch ich, indem ich sie bei Wegen, oder auch im Schriftverkehr mit den Ämtern unterstützte oder informierte. Bildlich kann man sich das Netzwerk wie in Abb. 1 (s. S.14) vorstellen. Dieses Netzwerk ist der zielorientierte, selbstorganisierte und autonome Zusammenschluss einer Interessensgemeinschaft, der nur existiert, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Im Falle der Immigranten in Halle: Das Ziel der Durchdringung von bürokratischen, hierarchischen Strukturen, der Erhalt von finanziellen Beihilfen, das Verstehen von Paragraphen, das Wissen über Anträge und deren Nutzen oder auch das Erlernen von Sprachstrategien und korrekten Verhaltensperformancen während eines Amtstermins. Immigranten sind aus Gründen der Orientierungslosigkeit und aufgrund ihres gesellschaftlichen und kulturellen Lernbedarfs ganz besonders auf die Gemeinschaft, also auf Netzwerke angewiesen, die sie aktiv in die Lebensnotwendigkeiten und Gesellschaftsstrukturen einführen. Sie verfügen, wie ich eingangs bereits erwähnte, meist nicht über einschlägige Kompetenzen, die ihnen Zugang in für sie notwendige Gesellschaftsinterna verschaffen.
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Hartmut Böhme stellt in seiner 2004 erschienenen Studie „Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in der er über die Geschichte, Dynamik und Kategorien von Netzwerken schreibt, folgendes fest: „Nur was vernetzt ist, ist überlebensfähig und produktiv, in Natur wie Gesellschaft, vom Einzeller bis zum Computer.“ (Böhme 2004: 2) Intern ist ein Netzwerk lebendig. Es ist interaktiv und immer in produzierender Bewegung. Diese Gemeinschaft bildet einen Kreislauf aus neuen Mitglie-
Soll, seine Pflicht erfüllen und dafür die finanzielle Sicherheit bekommen, die er sich in den letzten zwei Wochen so hart erarbeitet hatte.“ (Auszug: Feldnotizen Oktober 2004) Der irakische Familienvater war auf dem Weg, einen Tauschakt zu vollziehen. Er selbst und seine Frau sahen ihre Wege zu einem Amt als eine Art LeistungsGegenleistungs-Aktion. Wenn jemand Amina fragte, wo ihr Mann sei, wenn er gerade auf einem Amt war, so entschuldigte sie ihn damit, dass er auf Arbeit sei. Dem Prinzip der Arbeit ähnlich, erhält er Geld für private Daten und Papiere und sichert sich somit sein finanzielles Auskommen und die Ernährung seiner Familie.
Verweis auf
Migrant
Information
Neuer Migrant
Rückinformation
Fragen
Helfer
Antworten/Unterstützung
AMT Abb. 1. Wege des Informationsaustausches im Netzwerk zwischen Migranten, neuen Migranten, Helfern und Ämtern. Schema: El-Hajj Moussa, Darstellung: Boris Wille dern und Aussteigern. Konzepte werden aktualisiert und an die sich verändernde Umwelt angepasst. Angepasste Netzwerke bilden sich neu heraus und nicht mehr benötigte werden storniert. Jener Regenerationsprozess ist für das Bestehenbleiben und das Überleben des Netzwerkes unabkömmlich.
Der Aspekt des Tauschens „Yousof zieht sich seine Jacke an. Er steckt die Zigaretten in die Seitentasche und fährt sich noch mal durch die Haare. In seiner Hand hält er eine Folientasche, in die er seine sorgfältig ausgefüllten Privatunterlagen und einen Sozialhilfeantrag, nebst diversen Kopien, einsortiert hatte. Er ist bereit zu gehen. Seine Frau Amina fragt ihn, wann er wieder zu Hause sein wird. Er kann es ihr noch nicht sagen, da er heute viel zu tun haben wird. Sie verabschieden sich, er nimmt den Autoschlüssel und mich, seine auserkorene Assistentin, und wir ziehen los. Yosouf ist konzentriert, heute geht es um viel. Wird der Sozialhilfeantrag wieder nicht angenommen, wenn er ihn heute abgibt? Zuvor hatte er einige Schwierigkeiten ihn auszufüllen: Fragen nicht verstanden oder falsch beantwortet, wieder die Anmeldebescheinigung vergessen oder sonstige Schwierigkeiten gehabt. Doch dieses Mal wird er alles richtig machen, um die Versorgung seiner Familie abzusichern. Heute wird er seinen
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Die Energie und Interaktion, die in das Antragstellen und Entblößen der Privatsphäre und Lebensgeschichte gesteckt wird, wird als Leistung empfunden, die durch einen Geldbetrag vom jeweiligen Amt bezahlt beziehungsweise ausgeglichen wird. Eine Leistung ergibt einen Lohn. Die soziale Beihilfe wird von den Migranten an dieser Stelle zweimal neu definiert, zum einen als ein Lohn und, im Gegensatz dazu, als etwas, wofür man eine Leistung erbringen muss. Verbildlicht ist die Struktur jener Tauschbeziehung in der Grafik (Abb.2) zu sehen. Die Immigranten machen sich bürokratische Erwartungen anhand des Prinzips des Tausches verständlich und gleichermaßen zu Nutze. Ihren gesamten Rabah-Melodie El-Hajj Moussa (24) studiert Ethnologie und Arabistik an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Von Juli 2004 bis Dezember 2007 führte sie eine Feldforschung über den Umgang der Immigranten mit den bürokratischen Einrichtungen in Halle (Saale) durch. Momentan schreibt sie über dieses Thema ihre Magisterarbeit.
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Organisationsaufwand, von der Vernetzung, über die Herbeischaffung der Helfer und den vielen damit verbundenen Informationen, als auch das Persönliche, das sie wildfremden Leuten, in ihnen unerklärlichen Institutionen und Ausmaßen preisgeben müssen, erklären sie sich ganz essentiell und unkompliziert mit der Logik des Tauschens. So deuten sie in vielen Fällen auch ein Phänomen, das sie in ihrer Heimat nicht vorfanden – den Sozialstaat und den Aspekt der finanziellen Abgesichertheit, ausgehend vom Staat, ohne körperliche, messbare Arbeit ableisten zu müssen. Durch diese Definitionsweise der Einwanderer zeigt sich ihr Verständnis von Arbeit und Leistung und reflexiv das Privileg der finanziellen Abgesichertheit, das unsere Gesellschaft birgt. Der Tausch von Dokumenten und Privatsphäre gegen Geld ist eine Interpretationsweise der Migranten, die sich von der deutschen Definition von finanzieller Beihilfe unterscheidet. Im Titel meines Artikels habe ich deswegen ganz bewusst die Abkürzung „vs.“ benutzt, um die Kluft zwischen dem Netzwerk der Immigranten und dem Netzwerk der Bürokratie anzudeuten. Wären die Wege der Einwanderer in Richtung bürokratischer Kompetenz einfach zu bewältigen, müssten sie sich keine Strategien aneignen, um sie zu umgehen. Ihre Unwissenheit und Orientierungslosigkeit, gar ihr Unverständnis für die immer neu generierten Mauern der deutschen Bürokratie, bürden ihnen eine große Aufgabe auf. Um diese Aufgabe zu meistern bedarf es kollektiver Kraft, Engagement und Informationen in Form eines aktiven, hellwachen und funktionierenden Netzwerkes. Man produziert sich neu und hält zusammen. Die Strategie des Tausches ist bezeichnend für die „Übersetzungsprobleme“ zwischen diesen beiden intern verschiedenen Netzwerken. Als eine gekoppelte, autonome Einheit hat das Immigrantennetzwerk das Ziel, die Strukturen zu durchdringen, die sie nicht verstehen und umgehen müssen. Zum Beispiel, was es bedeutet einen Wohngeldantrag zu stellen. Angaben wie Geburtsname, Geburtsdatum, die Wohnorte und Adressen der letzten Jahre, Sozialversicherungsnummer – Angaben, die jeder in Deutschland Sozialisierte einordnen kann. Doch für die eine oder andere Immigrantin ist es unklar, was ein Geburtsname ist, da Frauen aus islamischen Ländern ihre Mädchennamen in der Regel behalten. Der andere weiß sein genaues Geburtsdatum nicht, da es in seiner Heimat nur vage festgelegt wurde, und die Frage nach einer Sozialversicherungsnummer geht weit über die Vorstellungskraft eines Neuankömmlings hinaus, der kaum ein Wort deutsch spricht und nie irgendein Formular außer seinem Pass besessen hat. Das Netzwerk aus bereits länger in Deutschland lebenden Immigranten ist es nun, das hilft und in die Strategien und Logiken aus Sicht der Einwanderer einführt. Es lehrt sie den Umgang mit solchen Situationen. Dafür müssen sie sich einbringen und rückinformieren, also Informationen und Solidaritäten tauschen. Für die meisten der Immigranten, die
Dokumente
Private Daten
Staatliche Kontrolle
Organisation von Hilfe
Antragsteller
Wege erledigen
Soziale Beihilfe Abb. 2 Der immigrierte Antragsteller sieht alle Aufwendungen als seinen Tauschwert an, um Sozialhilfe zu bekommen. Schema: ElHajj Moussa, Darstellung: Boris Wille
ich kennen lernte, machte es zunächst keinen glaubhaften Sinn, Geld für Papier zu erhalten. Zum Verstehen interpretierten sie diesen Sachverhalt um. Der Sozialstaat wird zum Tauschstaat, der Beamte in seinem Büro zum Tauschpartner, sobald er die Materialien der Immigranten in Empfang nimmt. Die Gutschrift des Geldes oder der Erhalt eines symbolischen Wertes (Information oder auch Beratung) vollendet den Tauschakt. Ein Netzwerk tauscht mit einem anderen. In diesem Falle, ein paar wohl organisierte Stücken Papier, gegen ein Leben in finanzieller und sozialer Sicherheit.
Referenzen Barkhoff, Jürgen 2004 (Hrsg.). Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion, In: Böhme, Hartmut (Hg.). Netzwerke: Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln: Böhlau, S.17-36 Glick-Schiller, Nina 2007. Ansiedlung von Flüchtlingen in Kleinstädten: Eine ortsbezogene Perspektive auf die Debatten um die „Integration“ von Migranten. In: Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Abteilung I: Integration und Konflikt-Bericht 2007; S. 111-113 Kreckel, Reinhard 1983 (Hrsg.). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, Bourdieu, Pierre (Hg.). In: Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz Thränhardt Dietrich und Uwe Hunger (Hrsg.) 2000. Einleitung. Einwandererkulturen und soziales Kapital. Eine komparative Analyse, Thränhardt Dietrich (Hg.). In: Einwanderer-Netzwerke und ihre Integrationsqualität in Deutschland und Israel.. Münster: LIT Verlag, S. 7-15; S. 15-53 Weiss, Karin und Dietrich Thränhardt (Hrsg.) 2005. Selbsthilfe, Netzwerke und soziales Kapital in der pluralistischen Gesellschaft. Und: Konzepte und Organisationen in Einwanderergruppen. In: Selbsthilfe. Wie Migranten Netzwerke knüpfen und soziales Kapital schaffen. Freiburg: Lambertus Verlag Weyer, Johannes 2000 (Hrsg.). Netzwerke und soziales Kapital. Methoden zur Analyse struktureller Einbettung, Jansen Dorothea (Hg.). In: „Soziale Netzwerke“. München: Oldenbourg
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„Heilbehandlung“ Zum österreichischen Verhältnis von StaatsbürgerInnen und StaatsbürgerInnenschaft Installation, Fotografie von Alexander Joechl
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m Zuge einer Ausstellung zum Thema Abschiebehaft (Schubhaft)1 in Österreich habe ich im Jänner 2007 ein „Experiment“ gestartet, bei dem ich an alle insgesamt 109 in Österreich vertretenen Botschaften dasselbe Ansuchen um eine Staatsbürgerschaft in den jeweiligen Ländern stellte. Dabei ging und geht es als Künstler für mich darum, bestehende Konstruktionen zu „unterlaufen“ und Fragen zu meiner eigenen Position in dem Kontext Staatsbürgerschaft zu stellen: Warum bin ich Österreicher? Fühle ich mich als ein solcher? Warum kann ich nicht eine andere Staatsbürgerschaft annehmen? Warum gibt es keine alternativen Modelle? Welche Auswirkungen hat unser Staatsbürgerschafts-Modell auf Menschen in Österreich heute? Bei der StaatsbürgerInnenschaft wird grundsätzlich zwischen zwei Modellen unterschieden: Das so genannte französische Modell fußt auf dem Bodenrecht und bestimmt, dass der Geburtsort entscheidend ist. Das deutsche Modell hingegen, setzt das so genannte Blutrecht voraus. Dabei ist die Staatsangehörigkeit der Eltern ausschlaggebend. In den meisten Ländern wird eine Mischform beider Modelle angewendet, wobei das Hauptgewicht üblicherweise auf dem Bodenrecht liegt. Deutschland und Österreich sind hier eher eine Ausnahmeerscheinung, indem der gesetzliche Schwerpunkt in diesen beiden Ländern auf dem Blutrecht liegt.
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Die deutsche Staatsangehörigkeit, die auf dem Blutrecht basiert, wurde bereits im Nationalsozialismus angewendet und bewusst dafür eingesetzt, um unerwünschte Bevölkerungsteile rechtlich zu entmachten. Der bürokratische Apparat diente dabei der gewaltsam erzwungenen Vertreibung, zum Beispiel der Vertreibung der Polen aus dem damaligen deutsch besetzten Polen. Durch die deutsche StaatsbürgerInnenschaft konnte auf die als staatenlos bezeichneten Menschen „ungehindert“ zugegriffen werden. Hannah Arendt und Giorgio Agamben beschreiben diesen Vorgang und deren Auswirkungen sehr ausführlich in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“2 und „Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben“3. Der von Agamben benutzte Begriff vom „nackten Leben“, der die Reduzierung des Menschen auf seine bloße Existenz beschreibt, ohne ihm dabei allgemeine Bürgerrechte zu gewährleisten, trifft auch heute noch auf Menschen ohne Staatszugehörigkeit oder ohne Reisedokumente zu. Welche Grundvoraussetzungen für den Erwerb einer StaatsbürgerInnenschaft heute als notwendig angesehen werden, lässt sich exemplarisch an den 51 Schreiben der Botschaften ablesen, die mir auf mein Alexander Joechl (Alexander.JOECHL@ufg. ac.at) ist bildender Künstler. Er arbeitet und lebt in Österreich.
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Gesuch hin geantwortet haben. Daraus geht hervor, dass in der Regel die jeweilige Landessprache, der längerfristige Aufenthalt im jeweiligen Land und die Notwendigkeit einer singulären Angehörigkeit ausschlaggebend für den Erwerb einer StaatsbürgerInnenschaft sind. Auf der markierten Weltkarte lässt sich ablesen, welche Länder mit ihren Botschaften in Österreich vertreten sind, welche nicht und welche Länder auf mein Ansuchen geantwortet haben. Die dunklen Stecknadeln markieren dabei die Länder, die auf mein Anliegen geantwortet haben, die hellen Stecknadeln deuten diejenigen Botschaften an, die auf mein Gesuch nicht reagiert haben. Grundsätzlich auffällig war, dass keines der Zentralafrikanischen Länder in Österreich mit einer Botschaft vertreten ist und dass kein Land aus dem so genannten Nahen Osten auf mein Gesuch reagiert hat.
Als eine der herausragendsten Antworten für mich stellte sich die des Vatikanstaates dar. Die Ausschließung aller KatholikInnen, NichtkatholikInnen und die Verleugnung jeglicher politischer Relevanz einer anerkannten StaatsbürgerInnenschaft sprechen dabei meiner Meinung nach für sich.
Fußnoten 1 Eine in Österreich von PolitikerInnen verwendete, euphemistische Umschreibung für Zwangsernährung in der Abschiebehaft lautet „Heilbehandlung“. 2 Arendt, Hannah (2006) [1951], Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, New York, 1951/ 11. Aufl., München, 2006. 3 Agamben, Giorgio (2002) Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M.
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Das Feld der Anderen Wenn Erforschte zu Forschenden werden - MigrantInnen an deutschen Unis Ein Erfahrungsbericht von Maria Kechaja
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ls wir Philosophie und Mathematik lehrten, saßen die noch auf den Bäumen“, sagte mein Vater früher oft über die Deutschen. Das war eine seiner Strategien zur Verteidigung seiner Würde in Deutschland. Als Gastarbeiter in den Sechzigern immigriert, erwiesen sich solche Strategien als notwendig, um die alltäglich erlebten Anfeindungen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft zu überstehen. Nun kann er mit Stolz sagen, dass seine Tochter es auf die deutsche Universität geschafft hat. Eines der wenigen Gastarbeiterkinder mit Studienplatz auf dem Schloss in Tübingen. Wahrscheinlich ist es ganz gut, dass er nicht weiß, was dies tatsächlich bedeutet. Denn trotz aller Erwartungen scheint es mir, als sei ich doch nur die besagten Bäume hochgeklettert.
„
Seit Jahren ist Migration als Thema im Fach relevant und Migranten sind Teil des Forschungsinteresses deutscher Ethnologen. In den letzten Jahren stieg auch in der Ethnologie bundesweit die Zahl der migrierten Studierenden. Doch was geschieht jetzt, da die Erforschten zu Forschenden werden? Ihre Erfahrungen sind für diese Fragestellung im Fach zentral. Dieser Artikel soll einen Einblick in die Erfahrungen von MigrantInnen am ethnologischen Institut in Tübingen geben.
Wer ist fremd? Im Sommer 2006 kam für alle Zweitsemester der Ethnologie die Zeit der so genannten „obligatorischen Studienberatung“. In diesem wenige Minuten andauernden Gespräch gab die Institutsleiterin mehreren Personen mit Migrationshintergrund dieselbe Information: ein Schein in der „eigenen Muttersprache“ werde nicht akzeptiert. Sowohl ein bereits absolvierter Sprachkurs, wie auch ein geplanter Kurs in der jeweiligen „Muttersprache“ werden nicht anerkannt. Konkret heißt dies für Menschen, deren Eltern nach Deutschland immigriert sind, dass die Sprache des jeweiligen Herkunftlandes, ob sie sie nun beherrschen oder nicht, keine zu wählende Fremdsprache darstellt. Dies traf auf Studierende mit türkischem,
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griechischem, arabischem, jugoslawischem und russischem Migrationshintergrund zu, die nun gezwungen waren, für den im Grundstudium erforderlichen Sprachschein eine weitere bzw. eine andere Sprache zu erlernen. Dabei fragt niemand nach dem tatsächlichen Stand der Sprachkenntnisse dieser BildungsinländerInnen. So schnell kann Identität von Dritten konstruiert werden. Im Gegensatz dazu haben deutsche StudentInnen (oder nicht als MigrantInnen „geoutete“) die freie Wahl. Erst im November 2007 wird dieses Vorgehen bei einem offiziellen Gespräch im Dekanat thematisiert und festgestellt, dass es nicht mit der Prüfungsordnung übereinstimmt. Im Januar 2008 wurden daraufhin „die Bedingungen für den Spracherwerb präzisiert“. Die Institutsleitung veröffentlichte auf der Homepage, dass außer Englisch und Französisch jede Fremdsprache erlernt werden darf. Dabei werden „im Sinne der Studienordnung“ Fremdsprachen als „nicht vollständig beherrschte Sprachen“ definiert. Fall geklärt – Gleichbehandlung gewährleistet? Für migrierte Studierende mit Migrationshintergrund leider nicht.
Ethnologen - Spezialisten der Ethnisierung? Es kann kaum von einem Einzelfall oder einem jetzt aufgeklärten Missverständnis ausgegangen werden, wie weitere in der Zwischenzeit aufgetretene Konflikte um die Zuschreibung von Identitäten und die damit einhergehende Ausgrenzung am Institut für Ethnologie in Tübingen aufzeigen. Die Sprachregelung für die Magisterstudierenden ist vom Tisch, allerdings offenbart sich dieselbe Grundhaltung und Andersbehandlung an anderer Stelle. Die Abwesenheit von Prof. Hauschild, der seit eineinhalb Jahren kaum mehr in Tübingens Institutsbelange involviert ist und ab dem 1. April 2008 eine Professur in Halle antritt, führte zu einer Situation, in der die Interpretation einer Person vom Fach Ethnologie die Praxis und Institutspolitik maßgeblich bestimmte. Im Herbst 2006 plante das Institut ein Feldforschungspraktikum in die Türkei. Die Studierenden wurden dazu angehalten, sich für dieses freiwillige Angebot zu bewerben. Die Bewerbungen zweier Studentinnen mit türkischem bzw. kurdischem Migrations-
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„Viel zu wissen bedeutet noch lange nicht Verstand zu besitzen“ (Heraklit)
hintergrund wurden abgelehnt, mit der Begründung, man habe sich „entschieden, keine Muttersprachler mitzunehmen.“ Im persönlichen Gespräch dazu befragt, äußerte die Institutsleitung die Befürchtung, dass die Partizipation dieser Personen einen „Riss in die Gruppendynamik reißen“ würde. Ähnliches hörten KommilitonInnen mit russischem Hintergrund - ihnen wurde eine Teilnahme am Feldforschungspraktikum auf der Krim verweigert. Dabei ist anzumerken, dass die tatsächlichen Sprachkenntnisse dieser BildungsinländerInnen auch in diesem Fall keine Rolle spielten. Ausschlaggebend für den Ausschluss dieser Menschen ist die Erwartung der „fremdkulturellen Erfahrung“, die ein Ethnologe im Feld notwendigerweise machen müsse. Gemeint ist damit sozusagen der Kulturschock, der einem die Augen öffnet. Eben dieser Zustand könne laut Institutsleitung bei den Betroffenen nicht eintreten, jedenfalls nicht in dem erwünschten Maß, da sie ja Teil der Kultur seien – Muttersprachler eben. Um nicht auf Grund ihrer ethnischen Herkunft aus dem Studienangebot ausgeschlossen zu werden, organisierten sich die Betroffenen zusammen mit solidarischen MitstudentInnen und wandten sich mit dem Problem an den Studiendekan. Dieser führte in Folge mehrere informelle Gespräche mit der Institutsleiterin und bat um die Offenlegung der Kriterien für die Feldforschungspraktika. Daraufhin drohte die Institutsleitung im Sommer 2007 mit der Abschaffung des TürkeiProjekts, falls weitere Beschwerden aufkommen sollten. Schritte zur Klärung wurden nicht unternommen. Im Herbst bot das Institut für Ethnologie Tübingen daraufhin weder das Feldforschungspraktikum in der Türkei noch in der Ukraine an. Offiziell sind die beiden Projekte nun nach Aserbaidschan „verlegt“ worden. Die Institutsleiterin äußerte sich in einem Gespräch offen zu den Vorfällen und erklärte, dass sie nun davon ausgehe, das Problem behoben zu haben, da keine Menschen aus aserbaidschanischen Familien am Institut studieren.
Sonderregeln für die Grenzfälle In einem Schreiben vom Dezember 2007 mit dem Titel „Fakultative Feldforschungspraktika am Institut
für Ethnologie der Universität Tübingen: Ziele und Teilnahmebedingungen“ werden die Kriterien und Erwartungen der geplanten Feldforschungspraktika nach langem Warten endlich transparent gemacht. Darin heißt es: „Was sind die Hintergründe der Praktikumsinitiative? Feldforschung ist in der Ethnologie der zentrale Zugang zur Erhebung ethnographischer Daten mit Hilfe verschiedener Methoden. (…) Es ist daher selbstverständlich, dass Studierende der Ethnologie während des Studiums die Chance auf Feldforschung und Einüben von Methoden erhalten.“ Wie es der folgende Abschnitt suggeriert, sind damit allerdings nicht alle Studierenden der Ethnologie gemeint: „Was sind die generellen Qualifikationsziele? ⋄ Erfahrung kultureller Differenz bzw. interkulturelle Erfahrung ⋄ Vertiefung sprachlicher Kompetenz durch Alltagserfahrung ⋄ Einüben von Methoden in einer fremdkulturellen Forschungssituation“. Die Ausschlusskriterien werden im Folgenden noch deutlicher: „Welche Elemente der Erfahrung gehören zu einem Feldforschungspraktikum? ⋄ Fremdkulturelle Erfahrung, d.h.: Es werden keine tiefergehenden spezifisch-kulturellen Erfahrungen mitgebracht. ⋄ Fremde Sprache, d.h.: Regionale Sprachen werden gemeinsam gelernt (mit positivem finanziellen Effekt) ⋄ Methodentraining, d.h.: Einüben von Methoden in einer fremden Sprache und im fremdkulturellen Kontext ⋄ Gruppenbildung als pädagogisches Instrument, d.h.: Gleiche Anforderungen an alle: dadurch Homogenität und Förderung der Solidarität“. Zur Frage der Verlegung des Feldforschungsinteresses nach Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, gibt es klare Äußerungen:
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„Durch die Verlagerung der Feldforschungspraktika Trabzon/ Türkei und Krim/Ukraine nach Aserbaidschan soll folgendes erreicht werden: Alle Hauptfachstudierenden können teilnehmen – die Forderung nach fremdkultureller Erfahrung und Erwerb einer fremden Sprache schließt in Aserbaidschan keine Studierenden vom Praktikum aus. Im Gegensatz dazu hat die Wahl der Praktikumsorte Trabzon/Türkei und Krim/Ukraine zu Konflikten [geführt] in Bezug auf die Teilnahmebedingungen bei Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei und Russland.“ Der vom Rechtsamt als undefiniert kritisierte Begriff der „Muttersprache“ wird in den Teilnahmebedingungen umschrieben, inhaltlich aber beibehalten: „Wer ‚familienbedingt‘ bereits über gute Kommunikationsfähigkeit in Russisch verfügt, besucht den Sprachkurs TürkeiTürkisch am Institut. Wer ‚familienbedingt‘ bereits über gute Kommunikationsfähigkeit in Türkei-Türkisch verfügt, besucht den Sprachkurs Russisch am Institut.“ Tatsächlich sehen sich StudentInnen mit Migrationshintergrund am Institut für Ethnologie mit einer Situation konfrontiert, in der für sie nicht dieselben Regeln und Kriterien herrschen wie für die „Deutschen“. Wer genau dabei die „Deutschen“ sind, liegt ebenfalls in der Entscheidungsmacht der Institutsleitung, genauso wie die Definition des „Türken“, „Griechen“ oder „Jugoslawen“. Die tatsächliche Staatsangehörigkeit der Personen, die teilweise deutsche StaatsbürgerInnen sind, verhalf ihnen nicht zu einem Platz im Feldforschungspraktikum.
Kriterien für eine Zuschreibung als „Ausländer“ Wie schon erwähnt, fand im zweiten Semester eine ca. drei bis fünf Minuten andauernde Studienberatung statt. Dieses Gespräch stellte allerdings die einzige Möglichkeit der persönlichen Auseinandersetzung mit der Vita, den Interessen und den Motivationen der BewerberInnen dar. Was bleibt, ist ein nicht-deutscher Name, eventuell der Geburtsort und das Aussehen. Dunklere Haut oder Haare lösten in mehreren Fällen die Frage nach der tatsächlichen „Herkunft“ des Menschen aus. Die Antwort auf diese Frage war schwerwiegend, denn sie hatte weitreichende, das Studium betreffende Konsequenzen. Sie bestimmte die Chancen zur Teilnahme an einem Feldforschungspraktikum und die (Nicht-)Anerkennung von Leistungsnachweisen. Den Versuch, eine Antwort zu verweigern, unternahm niemand der Betroffenen. Die mehrfache Ablehnung der Bewerbung einer Kommilitonin machte diesen Umstand deutlich. Bei aller Willkür, allen Mutmaßungen und Zuschreibungen klingt dieser Satz aus bereits erwähntem Papier ziemlich höhnisch: „Es kann Grenzfälle in Bezug auf diese Teilnahmeregeln geben. Sie sollen, wie bisher auch, individuell entschieden werden, aber immer im Blick auf das Programm-Ziel.“
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Migranten als Grenzfälle? Diskriminierung grenzenlos?
Kein Tübinger Problem - Die Gegenwart der Diskriminierung Es soll hier nicht der Eindruck vermittelt werden, bei dem beschriebenen Konflikt drehe es sich um einen persönlichen, zwischenmenschlichen Disput. Er ist ein selbst erlebtes Beispiel für Vorkommnisse, die nicht nur eine institutsinterne oder universitätsinterne Angelegenheit sind. Dieser Artikel wurde einzig und allein deshalb geschrieben, weil es sich nicht um persönliche Probleme handelt, sondern um strukturelle. Leider besteht die Befürchtung, dass diese Ausgrenzungen keine Tübinger Sonderfälle sind. Diskriminierung auf Grund der Herkunft ist strukturell an Universitäten vorhanden und muss besonders in unserem Fach reflektiert und diskutiert werden. Auch in anderen Fächern, wie der Soziologie oder der Islamwissenschaft, findet sich die Praxis der Gleichsetzung der MigrantInnen als MuttersprachlerInnen und eine daraus resultierende Andersbehandlung. Gerade in der Ethnologie wären eine größere Sensibilität und ein differenzierterer Umgang mit „ethnic boundaries“ und Zuschreibungen „des Fremden/des Anderen“ wünschenswert. Selbstverständlich sollte eine Verortung und Identitätsbestimmung den Menschen mit Migrationshintergrund, falls überhaupt erwünscht, selbst überlassen sein. Eine Fremdbestimmung auf Grund der häufig geäußerten Angst, die MigrantInnen könnten gegenüber deutschen Studierenden Vorteile haben, sollte nicht hingenommen werden. Abschließend bleibt die Hoffnung auf eine Veränderung. Ein erster hilfreicher Schritt wäre die Einrichtung verantwortlicher Stellen für MigrantInnen an den Universitäten: Ansprechpartner für das Antidiskriminierungsgesetz, AStA-Beauftragte bzw. StuRa-Beauftragte, rechtliche Hilfestellungen und EmpowermentKurse, etc. Am dringlichsten jedoch wäre eine offene und engagiert geführte Diskussion im Fach, eine Recherche über die tatsächlichen Bedingungen an anderen Instituten und eine Benennung der Missstände durch die Betroffenen, auch wenn es schwer fällt. Erst dann kann das tatsächliche Ausmaß des Problems gefasst werden. Wir sollten das Feld nicht einer rückständigen Auffassung der Ethnologie überlassen, denn auf den Bäumen sitzen schon genug Menschen. Maria Kechaja (29) wurde in Veria/Griechenland geboren und wuchs in Süddeutschland auf. Sie studiert Empirische Kulturwissenschaft und Ethnologie in Tübingen. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Fachgeschichte, Migrationsforschung und soziale Kämpfe.
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Schweinshaxe oder Zigeunerklößchen en catalogue Warum Asylbewerber in Leipzig eine Woche brauchen, um einzukaufen und was wir dagegen tun können
Ein Bericht von Babett Pohle und Cornelia Lemke
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tell dir vor, du sitzt zu Hause auf deinem gemütlichen Sofa und schaust in deiner gemütlichen Zweiraumwohnung fern. Plötzlich packt dich der Appetit. Du gehst zum Kühlschrank und musst feststellen, dass das Brot alle ist. Wurst ist auch keine mehr da. Aber – Gott sei Dank – es ist noch nicht 22:00 Uhr, und der nächste Lebensmittelmarkt hat noch geöffnet. Also schnell noch einkaufen und der Abend ist gerettet. Nun stell dir vor, du sitzt zusammen mit vier bis fünf weiteren Personen in einem 15 Quadratmeter großen Raum, schaust nicht fern, weil es entweder keinen Fernseher gibt oder du sowieso nicht gucken könntest, was du wolltest. Du müsstest dich mit den anderen darum streiten, welches Programm laufen soll und hättest wohl kaum deine Ruhe. Stell Dir vor, Du bekommst jetzt Hunger, schaust in den Kühlschrank und stellst fest, dass es weder Brot noch Wurst gibt. Nix mit schnell mal nach nebenan und einen Snack einkaufen gehen. Denn statt Kleingeld in deiner Geldbörse hängt an deiner Wand nur ein achtseitiger Katalog. In diesem Katalog sind diverse Lebensmittel aufgelistet. Von Brot über Broccoliröschen bis hin zum „Schweinefleisch im eigenen Saft“, jedes einzelne versehen mit einer Mengenangabe, der Katalognummer und dem entsprechenden Preis. Was du täglich an Nahrung brauchst, beziehst du aus diesem Katalog der Firma Kühlhaus Wüstenbrand GmbH. Das funktioniert so: zweimal in der Woche gibst du deine Bestellungen auf, die eine Woche später geliefert werden. Das monatliche Budget beträgt insgesamt 130 Euro. Willst du etwas haben, was nicht im Katalog steht, musst du dir das, von dem ohnehin knapp bemessenen Taschengeld (40 Euro im Monat), selbst kaufen. So jedenfalls läuft das, wenn man in Leipzig als Asylbewerber im Wohnheim wohnt. Zur Lebensmittelversorgung bekommt man kein Bargeld ausgezahlt, sondern muss sein Essen über Kataloge bestellen. Und obwohl eine monatliche Bargeldauszahlung viel unkomplizierter und billiger wäre und auch in anderen Bundesländern
und Städten (z.B. Dresden) bereits erprobt ist, wurde es für die Stadt Leipzig bislang nicht eingeführt. Denn mit dem seit 1997 geltenden Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde die Grundversorgung von der verwaltungstechnisch einfacheren und auch kostengünstigeren Bargeldauszahlung auf Sachleistungen umgestellt. Khalid kommt aus Jordanien und lebt seit über acht Jahren im Asylbewerberheim in Grünau. Wie er diese Gesetzeslage erlebt, beschreibt er so: „Ich wünsche ab und zu mal hier etwas zu kaufen, was aus meiner Stadt, aus meinem Land kommt, was zum Beispiel mir passt, etwas mit dem ich aufgewachsen bin. Ich wünsche mir manchmal, dass ich hier in die Läden gehen kann. Ich will mich bewegen. Ich will selber dass Gefühl erleben, wie man hier einkaufen geht.“
Kleine, aber feine Unterschiede MigrantInnen mit dem Status „Duldung“ oder AsylbewerberInnen, die weniger als vier Jahre in Leipzig leben, erhalten kein Bargeld zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse. Das heißt genau genommen, dass man vorher nie genau weiß, was in der nächsten Woche auf den Tisch kommt. Denn aus der bestellten Dose Erbsen und Möhren wird schnell mal eine Dose Mais, das Duschbad hat irgendeine Duftrichtung, der Joghurt kommt mal als Erdbeer- oder Himbeerjoghurt, relativ unabhängig davon, was bestellt wurde. Nicht so genau wird es auch mit dem Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel genommen, wahrscheinlich nimmt man unterbewusst an, dass „Nichtdeutsche“ keine arabischen Zahlen und den gregorianischen Kalender deuten können – also auch nicht merken, wenn die Lebensmittel überlagert sind.
Die Umtauschinitiative – eine Alternative Diese Art von Versorgung ohne Bargeld wurde für Aazar1, einen Asylsuchenden aus dem Iran und Bewohner eines der drei Wohnheime in Leipzig, vor einiger Zeit zum Problem. Als Mitglied in einer Gewerkschaft konnte er seinen Mitgliedsbeitrag nicht mehr bezahlen, da
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von den 40 Euro Bargeld, die er bekam, am Monatsende nichts mehr übrig war. Zunächst vertraute er dieses Problem nur einigen seiner Mitgewerkschaftern an und schlug ihnen vor, seinen Beitrag statt mit Geld in „Naturalien“, also Lebensmitteln aus dem Katalog zu bezahlen. Er bestellte die Nahrungsmittel im Katalog und „tauschte“ sie bei den anderen Gewerkschaftsmitgliedern gegen Bargeld. Eins zu eins. Damit waren alle soweit einverstanden und Aazar konnte daraufhin seinen Mitgliedsbeitrag bezahlen. Zwei der anderen Gewerkschafter, Nomy und Bernd, dachten die Idee weiter: Was für Einen selbst gut ist, kann theoretisch und praktisch allen anderen Asylbewerbern im Wohnheim helfen. „Die Idee entstand, weil uns durch die erste Umtauschbestellung bewusst wurde, dass es hier einen realen Bedarf gibt, konkrete Verbesserungen herbeizuführen, die mit relativ kleinem Aufwand von uns und allen anderen erreicht werden können“, erzählt Nomy. Blieb nur noch, sich einen Namen zu geben und ein wenig Werbung zu machen. Der Name ergab sich aus der Funktion der Initiative – „Umtauschinitiative“ – und was die Werbung betraf, wurde das Projekt in informellem Rahmen über Vorstellungsveranstaltungen und Volksküchen („Voküs“) beworben, bei denen die „Umtauschinitiative“ kocht, was man eben im Katalog so findet. Über Aazar waren Nomy, Bernd und die anderen dann in Kontakt mit weiteren Bewohnern des Asylbewerberheims in Leipzig gekommen, in dem auch Aazar zu dieser Zeit wohnte. Dort wollten sie ihr Angebot verbreiten, die Lebensmittel der Asylbewerber gegen Bargeld zu tauschen und ihnen so zu einem selbständigeren Leben zu verhelfen. „Die Überzeugungsarbeit war am Anfang ganz schön schwer“, ergänzt Nomy und rauft sich die Haare. „Wir kommen dahin und machen den anderen den Vorschlag, ihre Lebensmittel eins zu eins in Bargeld umzutauschen, doch sie waren am Anfang so skeptisch, dass sie uns manchmal gar nicht erst in ihre Zimmer hinein ließen.“ Kein Wunder – meiResidenzpflicht – Einschränkung der Bewegungsfreiheit Die Residenzpflicht ist eine gesetzliche Regelung, die die Betroffenen massiv in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Flüchtlinge, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, dürfen nach § 56 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) den Landkreis, in dem sie leben, nicht verlassen. Menschen mit dem Status „Duldung“ sind nach § 61 Aufenthaltsgesetz in ihrer Bewegungsfreiheit auf das Bundesland beschränkt, in dem sie leben. Die zuständige Ausländerbehörde kann nach §§ 57 und 58 AsylVfG Ausnahmen von der Residenzpflicht erlauben.
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stens klopfen bei ihnen Leute an den Türen, die „böse gucken“ und nichts Gutes wollen. Als sich aber herumgesprochen hatte, dass diese Initiative die Möglichkeit bedeutet, endlich Bargeld in der Tasche zu haben und selbstbestimmt einkaufen zu können und dass es sich dabei um keine „Abzocke“, sondern einen fairen Tausch handelte, wollten nach und nach alle mitmachen. „Mittlerweile gibt es keine Familie in diesem Wohnheim mehr, die das nicht begrüßen würde“, erzählt Aazar. Doch die Initiative ist auf freiwillige Mithelfer angewiesen, die sich Lebensmittel aus dem Katalog bestellen und diese mit den Asylsuchenden gegen Bargeld tauschen. „Wäre toll, wenn wir statt drei Bestellungen pro Woche 50 hätten“, sagt Nomy. Eine andere Mitbegründerin der Initiative fügt hinzu, dass es aber nicht nur darum gehe den Migranten zu mehr Geld verhelfen, sondern „auch gucken was steckt dahinter, nicht nur dieser wirtschaftliche Aspekt, sondern auch das Aufmerksammachen darauf, welche Interessen von Seiten des Stadt und des Staates dahinter stecken, es den Menschen so schwer zu machen.“
Kontakte „zur Außenwelt“? Aber warum wird den Asylbewerbern nicht gleich Bargeld zur Lebensmittelversorgung ausgezahlt? In anderen Bundesländern existiert dieses Prinzip bereits, zum Beispiel Berlin, Hessen oder Nordrhein-Westfahlen (hier mit Ausnahme weniger Kommunen). Rechtlich gebunden sind alle Länder jedoch an das AsylbLG, das prinzipiell, aber nicht ausschließlich Sachleistungen zur Versorgung mit Unterkunft, Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Kleidung vorsieht. Soll heißen es ist eine politische Entscheidung. Im Falle Leipzig heißt diese Entscheidung kein Bargeld. Dass es dennoch Länder gibt, die zumindest zur Lebensmittelversorgung Bargeld auszahlen, liegt einzig daran, dass das billiger und bürokratisch weniger aufwendig ist. Das Land Sachsen beruft sich jedoch wiederholt auf das AsylbLG und darauf, dass dies eine bloße Bargeldauszahlung
Flüchtlinge erhalten auf Antrag eine Ausnahmegenehmigung für Termine bei RechtsanwältInnen, Gerichten, ÄrztInnen und Beratungsstellen. Auch Besuche bei Familienmitgliedern, FreundInnen, Kirchengemeinden u.ä. können in Ausnahmefällen gestattet werden. Allerdings liegen diese Ausnahmefälle im Ermessen der Ausländerbehörden und werden je nach Landkreis unterschiedlich gehandhabt. Arbeitsverbot und „Arbeitsmarktzugang“ Geduldete und AsylbewerberInnen unterliegen seit dem
1.1.2001 für die Dauer eines Jahres einem generellen Arbeitsverbot. Nach einem Jahr Aufenthalt in der BRD haben sie die abstrakte Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, jedoch mit einem „nachrangigen Zugang“ zum Arbeitsmarkt. Dazu müssen sie einen Arbeitgeber finden, der ihnen schriftlich bestätigt, dass er sie anstellen will. Mit dieser Bestätigung müssen sie eine Arbeitserlaubnis beantragen. Doch in der Regel werden die Jobs, die den Flüchtlingen zugesagt sind, von der Agentur für Arbeit an andere Arbeitssuchende vergeben.
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lich ist, den Behörden den Grund ihrer Verfolgung nachzuweisen. Im Falle einer Flucht vor Krieg beispielsweise wird Asyl nur solange gewährt, solange Bomben fliegen, danach droht erneut die Abschiebung (vgl. Kosovokrieg). Bei einer politischen Flucht muss der Fluchtweg lückenlos belegt werden können und auch die Verfolgung muss bewiesen werden, welches in vielen Fällen unmöglich ist. Eine religiöse Verfolgung rechtfertigt bei vorhandenen Beweisen maximal eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Bei geschlechtsspezifischer Verfolgung muss ebenfalls die Verfolgung nachgewiesen werden können. Voraussetzungen, die den Asylsuchenden die Wahrscheinlichkeit einer offiziellen Duldungsgenehmigung eher erschweren. Solange sie nicht selbstständig einkaufen gehen können, sinkt zusätzlich die Wahrscheinlichkeit, dass die Leipziger-AsylbewerberInnenheim in der Plattenbausiedlung Grünau. Foto: Medi Terran Flüchtlinge genug Motivation aufbringen, um Nachweise für nicht vorsieht. In Dresden, wo es die Bargeldauszahlung eine Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus zu erbringen. dennoch bereits gibt, handelt es sich um eine so genannte Jetzt stell Dir nochmal vor, Du sitzt zu Hause auf generelle Ausnahmeregelung – soviel zum Thema landes- Deinem gemütlichen Sofa vor dem Fernseher und beeinheitliche Regelungen. kommst plötzlich Hunger. Im Kühlschrank: kein Brot, Eine auf den ersten Blick andere Möglichkeit, Asylbe- keine Wurst. Stell Dir vor, Du verzichtest darauf, gleich werber mit Nahrungsmitteln zu versorgen, ist das Chip- zum nächsten Supermarkt zu rennen, sondern schaust kartensystem, welches 2008 auch in Leipzig eingeführt im Internet nach, was der Lebensmittelkatalog für werden soll. Dabei soll jeder Asylsuchende eine Chip- Leipziger Asylsuchende so hergibt. Am nächsten Tag karte mit monatlichem Guthaben bekommen, mit der er gibst Du Deine Bestellung bei der Umtauschinitiatiin den angeschlossenen Lebensmittelmärkten seine Ein- ve ab und binnen einer Woche hast Du zum Beispiel käufe bezahlen kann. Dabei könnten die Asylbewerber „Märkische Landente“ zum Mittag. „Die strukturelle immerhin selbst durch die Geschäfte laufen, müssten Diskriminierung von AsylbewerberInnen wird dadurch sich nicht auf das relativ knappe Angebot des Katalogs nicht beseitigt, ist aber auf jeden Fall besser, als nur beschränken und hätte zusätzlich Kontakt „zur Außen- hilflose Appelle an die Politik zurichten“, sagt Nomy. welt“. Nichtsdestotrotz wären die Asylsuchenden bei ihren Einkäufen an bestimmte Supermärkte gebunden. Fußnoten Bisher scheitert das Chipkartensystem in Leipzig jedoch daran, dass offiziell kein Chipkartenhersteller gefunden 1 Alle Namen wurden aus Gründen des Persönlichkeitsrechts und werden konnte, der diese Systeme installieren und alle des Datenschutzes von der Redaktion geändert. Asylbewerber mit Chipkarten ausstatten würde.
Die Essensversorgung – mehr Symptom als Ursache Doch auch wenn ein Chipkartenhersteller gefunden wird, selbst wenn die Bargeld-Alternative gesetzlich und praktisch greifen würde, bleiben andere „freiheitliche“ Probleme wie Residenzpflicht, Arbeitsmarkt, deutsche Asylgesetzgebung bestehen. Warum werden insgesamt nur 0,9 Prozent der Asylsuchenden überhaupt als Flüchtlinge anerkannt? Ein möglicher Grund könnte sein, dass es für die Betroffenen in vielen Fällen schwer bis unmög-
Referenzen
http://umtauschini.antispe.org/blog/about/ http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/asylblg/gesamt.pdf http://www.deutschland-lagerland.de/index.php?arbeitsverbote
Cornelia Lemke (28) ist Mitbegründerin der Umtauschinitiative. Babette Pohle (22) studiert Kunstgeschichte, Russisch und Journalistik an der Uni Leipzig.
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Zwischen Malatang und Frühlingsfest Einblicke in das Shanghaier Alltags- und Arbeitsleben von chinesischen Binnenmigranten Ein Fallstudie von Lena Kaufmann
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ranslokalität nimmt in der heterogenen Chinesischen Moderne einen zentralen Platz ein, sei es im Hinblick auf Wirtschaftswachstum, sozialen Wandel oder auf die rasche Urbanisierung. Mit den Öffnungsreformen in den Achtziger Jahren, unter dem damaligen Staatspräsidenten Chinas, Deng Xiaoping, ging eine graduelle Lockerung des zuvor äußerst rigiden und nahezu jegliche Mobilität unterbindenden Haushalts-Registrierungssystems (hukou zhidu) einher. Das System klassifiziert die chinesische Gesellschaft in ländlich, städtisch, landwirtschaftlich und nicht-landwirtschaftlich und zieht somit vor allem durch die ländlichen und städtischen Bevölkerungsteile eine Trennungslinie, die die Bevölkerung in ein „caste-like system“ (Potter 1983) einordnet. So genießen in der Stadt registrierte Personen zum Beispiel Sozialleistungen, die ländlichen Bevölkerungsteilen vorenthalten werden (Oakes 2006). Obwohl sie nach dem Umzug in die Stadt weiter keinen Zugang zu den städtischen Privilegien erhalten, zieht es in den letzten Jahrzehnten unzählige Arbeitsmigranten, sei es auch nur temporär, in die Städte. Exakte Zahlenangaben sind auf Grund der meist nicht registrierten und schwer definierbaren Formen von Mobilität nicht möglich. Vermutlich migrierten allein Mitte der Neunziger Jahre 40 bis 50 Millionen Bauern saisonal oder längerfristig in urbane Zentren. Häufig stammen die Migranten aus den ärmeren westlichen und inneren Provinzen, sind noch unverheiratet und besitzen geringe Schulbildung. Mit familiären oder landsmannschaftlichen Netzwerken über informelle Institutionen migrierend, tragen sie nicht nur zur städtischen Entwicklung, sondern mit Geldüberweisungen auch zum ländlichen Einkommen bei (Scharping 2003). Die Wanderungen sind vielschichtig. Sie sind keineswegs allein ökonomisch motiviert und implizieren häufig auch eine soziale Mobilität. Flankiert werden sie von Kapital- oder Güterflüssen, wie etwa von Strömen von Informationen, Technologien, Ideen oder Bildern. Trotz vielfältiger Veränderungen bildet der Heimatort (laojia) meist weiterhin einen festen Bezugspunkt.
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Shanghai ist eine der modernsten Städte Chinas und Anzugspunkt für zahlreiche Arbeitsmigranten. So schätzt beispielsweise Prof. Dr. Peng Xizhe, Dekan der School of Social Development and Public Policy der Shanghaier Fudan Universität, die Zahl der temporären Migranten in Shanghai auf über 5,8 Millionen (Peng Xizhe 2008). Auch Familie Wu1 zählt zu den waidi ren. So werden die von außerhalb stammenden Personen, die sich unter anderem in Dialekt, schlichter Kleidung und dunkler Hautfarbe von den Shanghaiern, shanghai ren, unterscheiden, von den Shanghaier Stadtbewohnern bezeichnet und dabei oft als als als „dreckig“ und „unzivilisiert“ angesehen.2 Als waidi ren sehen und bezeichnen sich die betreffenden Personen auch selbst. Herr Wu wird dieses Jahr 43 Jahre alt. Er stammt aus der ländlichen Anhui-Provinz, wo er mit seiner Kernfamilie ein bis jetzt nur außen fertig verputztes Haus besitzt. Nachdem der ehemalige Reisbauer im Nordosten Chinas sein Glück in einem Sägewerk versuchte, fasste er vor fünf Jahren den Entschluss, nach Shanghai zu kommen und sein eigener Chef zu werden. Einigen „Landsmännern“ (laoxiang)4 war bereits die Eröffnung eines Malatang5-Imbisses gelungen. Bei einem laoxiang durfte er, während er sich nach einer passenden Lokalität umschaute, für einen Monat die Kunst der Zubereitung erlernen. In einer alten Ladenzeile in der ehemaligen französischen Konzession, umgeben von Wohnblocks, Krankenhäusern, Hotelrestaurants und der Jiaotong Universität, gelang ihm schließlich die Einmietung in eine schlichte Gewerbewohnung. Wus Ehefrau, die 18-jährige Tochter, seine jüngere Schwester und ihr Ehemann Herr Wang folgten ihm nach Shanghai. Der 14-jährige Sohn des Paares und die gleichaltrige Tochter seiner Schwester besuchen in der Heimatprovinz die Schule. Der Sohn lebt beim älteren Bruder von Frau Wu. Tochter Wang bewohnt indessen heute allein das Haus ihrer Eltern und zeugt damit von einer Selbstständigkeit, die in starkem Kontrast zu den oft gut behüteten städtischen Kindern und Jugendlichen steht. Jeden Sonntag wird mit den Kindern telefoniert. Zweimal im Jahr gibt es ein Wiedersehen. Die Sommerferien verbringen die Kinder in Shanghai. Im Früh-
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Das Kochen der Spießauswahl in Sieben in der dampfenden Brühe (l.). Eine Schüssel Malatang (r.). Fotos: Lena Kaufmann
jahr fährt die Familie zum chinesischen Neujahrsfest zusammen für drei Wochen nach Hause. Diese Zeit, in der sich fast ganz China im Verkehrsaufruhr befindet, bietet die einzige Ferien- und Rückkehrmöglichkeit vieler Chinesen in ihren Heimatort und zu ihren Familien. Im Vorfeld wächst die Vorfreude stetig. Jeden Tag werden verbleibende Wochen und Tage gezählt und über die bevorstehende Festzeit gesprochen. Die Gedanken an das Frühlingsfest verbinden die Personen in ihrer Abwesenheit weiterhin mit ihrem Zuhause und der zurückgelassenen Verwandtschaft. Mit der Vorfreude kann das Heimweh, xiang jia, zeitweilig überbrückt werden. Obgleich der Imbiss von 10.30 früh bis 3.00 Uhr nachts geöffnet hat, wird oft 24-stündig und an sieben Tagen die Woche gearbeitet. Die Arbeitszeiten und vor allem die Verteilung der Tätigkeiten reflektieren die Familienhierarchie (einschließlich Alter und Geschlecht) sowie Erfahrungen und Fertigkeiten der Angehörigen. Herr Wu ist der Chef des Ladens. Er ist der älteste Sohn der Familie und allein er ist in das Geheimnis der Brühe-Herstellung eingeweiht. Den Tag beginnt er zwischen 14.00 und 15.00 Uhr. Sein Frühstück ist das von seiner Frau zubereitete Mittagsmahl. Während des Nachmittags behält er den Überblick über das Geschehen im Laden, reinigt ihn und schneidet Fleisch oder Gemüse. Obwohl das Kochen im Heimatort Aufgabe der Frauen ist, bereitet er das tägliche Abendessen für die Familie zu. Seine Frau scherzte öfter, er habe sich den Shanghaier Sitten angepasst, denn die Shanghaier Männer sind für ihr Engagement im Haushalt bekannt. Daheim zum Frühlingsfest überlässt er allerdings die Küche wieder seiner Frau. Nach dem Abendessen gegen 20.00 Uhr – über zwei Stunden später als die Essenszeit vieler Chinesen und der Familie im Heimatort – fährt Herr Wu mit dem Familienmoped zum Gemüsegroßmarkt. Lediglich sein Schwager und er wissen das Moped zu bedienen, die weiblichen Familienmitglieder wagen sich im Shanghaier Verkehr nicht einmal aufs Fahrrad. Vor Mitternacht kehrt er, schwer beladen mit Gemüse und Gewürzen für den nächsten Tag, zurück. Anschließend beginnt er mit der Zubereitung der Ge-
würzmischung und wenn die letzten Kunden gegen 3.00 Uhr gehen, ordnet und säubert er den Imbiss. Die Familie Wu wäscht sich vor dem Schlafen mit warmem Wasser aus Thermoskannen in einer kleinen Wanne in der Kammer. Im Winter darf gelegentlich bei der Nachbarin geduscht werden. Eine Toilette ist in der alten Ladenwohnung, die im Erdgeschoss als Gewerbebereich und im Obergeschoss als Wohnbereich je etwa 20 qm misst, nicht untergebracht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt es eine öffentliche Krankenhaustoilette. Nach einer Portion Instantnudeln legt sich Herr Wu gegen 6.00 Uhr schlafen. Etwa zur selben Stunde beendet Frau Wu ihre Nachtruhe und bereitet Reisbrei zum Frühstück zu. An einen Reiskocher und den mit Kohlen beheizten Wok musste sich die Familie in Shanghai erst gewöhnen. Zu Hause kocht man auf einem großen geziegelten, mit Reisstroh beheizten Herd. Der frühe Vormittag wird mit dem Herstellen von Gemüse-, Fleisch-, Fisch- und Tofuspießen verbracht. Zuvor öffnet Frau Wu dem Fleisch- und Tofulieferanten. Die fertigen Spieße liegen im Vorraum des Imbisses zur Selbstbedienung aus. Die Kunden legen für umgerechnet ca. 10 Cent pro Fleisch- und 5 Cent pro Gemüsespieß ihre persönliche Auswahl in einen Plastikkorb. In der Heimat verbrachte Frau Wu ihre Freizeit mit dem Nähen von Stoffschuhen. Ihre Finger sind geschickt. Das Spieße machen oder Bündelschnüren einiger Gemüsesorten erledigt sie geübt. Insgesamt sind fast 60 verschiedene Spieße und einige Nudelsorten im Angebot. Herr Wang, Ehemann der Schwester ihres Mannes, steht gegen 8.00 Uhr auf und hilft Frau Wu bei dieser Aufgabe. Um 9.00 Uhr kauft er noch frittiertes Gebäck für das gemeinsame Frühstück. Seit eine temporär im Imbiss beschäftigte, angeheiratete Tante von Herrn Wu nach einem Streit den Laden verließ, kommt um 10.00 Uhr zum freiwilligen Aushelfen ein älterer laoxiang vorbei. Aus der gleichen Region stammend, kennt er die Familie jedoch erst aus Shanghai. Stets wird er freudig als yeye, „Großvater“, begrüßt. Frau Wu und Herr Wang, die sich häufig streiten und sich nicht auszustehen scheinen,
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Im Essbereich des Imbisses. Herr Wang (v.o.l.), ein Neffe des Chefs (auch MalatangImbiss-Inhaber), Tante des Chefs, Frau Wang, Frau Wu und Herr Wu. scherzen zu diesem Anlass auch ganz gerne einmal miteinander. Zwischen 10.30 und 11.00 Uhr erscheinen die ersten Kunden und mit ihnen Frau Wang. Ihre Aufgabe ist das Bedienen des großen Topfes im Vorraum zu den Stoßzeiten, gegen 12.00 Uhr und 18.00 Uhr. Dabei reichen ihr die Kunden die jeweilige Spießauswahl, die sie in Sieben für einige Minuten gart und in eine Schüssel gibt. Bei dieser Aufgabe ist größtes Konzentrations-, Rechen- und Erinnerungsvermögen gefragt. In Hinsicht auf jeden Kunden müssen die Spießpreise addiert und Informationen wie Reihenfolge, Gesicht der Kunden, zusätzliche Zutaten, der Gesamtpreis und ob zum Mitnehmen (da bao) oder am Ort-Essen memoriert werden. Obwohl nur ihr älterer Bruder das Glück hatte, fünf Jahre die Schule besuchen zu dürfen, ist Frau Wangs Gedächtnis gut und ihre Additionsfertigkeit ausgezeichnet. Als Tochter einer erblindeten Mutter unterstützte sie seit dem Alter von 15 Jahren mit dem Straßenverkauf von Kleidung ihre Familie. Ihr Verhandlungsgeschick und Rechenvermögen kommen ihr nun zugute. Das Zeichenschreiben beherrscht sie nicht. Stattdessen hat sie es wie Frau Wu erlernt, sich durchzufragen und einige Zeichen und Zahlen auf den Bestellzetteln zu erkennen, sodass beide Frauen auch Malatang in die nähere Umgebung ausliefern (song waimai). Frau Wu liefert den Rest des Tages vor allem an Krankenschwestern und Ärzte der nahen Krankenhäuser, an Bedienstete der Hotelrestaurants und in Studentenwohnheime. Die meisten Kunden sind ihr bekannt. Besonders mag sie das gegenüberliegende Krankenhaus, da die gut verdienenden Ärzte dort mehr Fleischteile ordern und ihre Bestellungen gesammelt aufgeben und bezahlen. Auch die ihr gegenüber meist höflichen, gerne scharf essenden koreanischen, indonesischen und thailändischen Studenten sind ihr sympathisch. Im Gegensatz zu den chinesischen Kunden, die ca. 70 Cent bezahlen, gilt für das Ausländerwohnheim ein Mindestbestellpreis von umgerechnet etwa einem Euro. Heute recht vertraut im Umgang mit den aus über 20 Ländern stammenden ausländischen Kunden, macht
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Die Zeichen zeugen vom ehemaligen Gemischtwarenladen, nur die Fahne im Fenster weist auf Malatang hin.
sich Frau Wu nun über ihre Familie lustig, die in ihrer Anfangsphase in Shanghai selbst Kantonesisch sprechende Chinesen für Ausländer (laowai) hielt. Zu jener Zeit beherrschte Frau Wu auch noch kein Hochchinesisch (ganz zu schweigen vom Shanghaier Dialekt), da die Familienmitglieder sich untereinander stets des Heimatdialektes bedienen. Frau Wang liefert abends gelegentlich Essen aus. Ihr Mann übernimmt täglich die längeren Wege auf dem Moped. Kommunikativ und geistreich genießt er es, Frauen Komplimente zu machen. Bei Kunden und Kundinnen findet er großen Anklang. Nicht selten müssen Frau Wang und Frau Wu ihn zur Arbeit ermahnen, da er sich in freien Minuten gern ablenken lässt. Das Telefon im Laden läutet fast pausenlos. Es ist vor allem die Aufgabe von Herrn Wang und seiner Nichte, Tochter Wu, die Anrufe entgegenzunehmen. Beide haben sie einen Grundschulabschluss und sind in der Lage, die Bestellungen niederzuschreiben und auszuführen. Insgesamt wird etwas mehr ausgeliefert als im Laden gegessen (der Imbiss bietet auf Plastikhockern, dicht gedrängt an zwei langen Tafeln 16 bis 18 Personen Platz). Unter der Woche erscheinen mehr Kunden als am Wochenende; im Sommer sind die Zahlen höher als im Winter, da Malatang im Sommer den fehlenden Appetit anregen würde, wie Frau Wu erklärt. Da Malatang als eine recht günstige Mahlzeit gilt, sind die meisten Kunden einkommensschwächere, oft von außerhalb stammende waidi ren. Den shanghai ren sagt die Familie nach, knauserig (xiao qi) zu sein und auf waidi ren herab zu sehen (kan bu qi). Wie viele Kunden pro Tag im Laden erscheinen, vermögen die Familienmitglieder nicht zu sagen. Die Zahl der verbrauchten Einwegessstäbchen müsste darüber wohl Aufschluss geben, Herr Wu scheint jedoch keine genaue Auskunft geben zu wollen. Was die Familie verrät ist, dass im Monat, abgezogen von der umgerechnet etwa 400 Euro teuren Gewerbewohnung, insgesamt etwa ebenso viel übrig bleibt. Damit steht besonders Herr Wu, der seiner Schwester und ihrem Mann jeden Monat nur einen Teil davon auszahlt, in seinem Heimatort recht gut da, was sich in
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den Geschenken, die er jedes Jahr zum Frühlingsfest nach Hause bringt, öffentlich widerspiegelt. Das Geld wird allerdings nach Angaben von Frau Wang jeweils auf Frauenseite verwaltet, da Männer mit zu viel Geld in der Tasche nur Unsinn anstellen würden. Tochter Wu wird für ihre Arbeit nicht entlohnt, da für ihre Mitgift in Form von Möbeln, Farbfernseher, Waschmaschine oder Moped gespart wird. Zum Neujahrsfest darf sie sich allerdings ein paar neue Kleidungsstücke kaufen. Stolz zeigt sie ihre Kleidung und bemerkt, sie werde zu Hause kaum wagen, die der Shanghaier Mode entsprechend recht extravagante Kleidung zu tragen. – der Bitte der Tochter, sich die Haare färben zu dürfen, kommt der Vater indes nicht nach. Die meiste Zeit des Tages wird unten im Gewerbebereich verbracht. Gegessen wird am gleichen Tisch mit der Kundschaft; in der täglichen Sitzordnung spiegelt sich die Familienhierarchie wider. Der mit einer Holztreppe zugängliche Wohnbereich besteht aus einem einzigen Raum, der durch nach oben offene Holzwände in zwei Kammern und einen Gang – Schlafplatz der Tochter – unterteilt ist. Die Familie entschuldigt sich für die scheinbare Unordnung im Wohnbereich mit den Worten, sie würden ja nur vorübergehend von zu Hause entfernt leben. Andererseits erzählen sie, ihre Wohnungen im Heimatort seien fast unmöbliert, da in ihrer Abwesenheit eingebrochen werden könnte und sie ohnehin vorwiegend „außerhalb seien“ (zai waimian). Zu Hause wie in Shanghai sind sie dennoch in Besitz eines flimmernden Farbfernsehers, mit dem sich besonders Frau Wang gerne nach dem mittäglichen Kundenansturm ihren Freiraum nimmt und eine Fernsehserie anschaut. Explizit von der Arbeit abgegrenzte Freizeit gibt es kaum. Bei geringem Kundenandrang wird jedoch mit den Nachbarn geplaudert, eine Zigarette geraucht, in einem Heftchen mit Kurzgeschichten geblättert, MP3 gehört oder ein Nickerchen gehalten. Selten kann am Wochenende ein Ausflug zum nächsten Einkaufszentrum unternommen werden, bei dem meist mehr geschaut als gekauft wird. Oder aber man trifft sich mit in der Stadt lebenden Familienangehörigen. Zahlreiche Verwandte leben in Shanghai. Außer Herr Wu beherrschen bislang vier weitere männliche Familienmitglieder die Kunst der Malatang-Herstellung. Persönlich hat er einige von ihnen, wie auch weitere, meist aus dem Heimatort stammende, Praktikanten temporär aufgenommen und ausgebildet. Werden die Familienmitglieder nach ihrer Arbeit gefragt, so antworten sie gewöhnlich, die Arbeit sei hart (xinku) und ermüdend (lei). Gleichwohl sei es besser für sich selbst als für jemand anderen zu arbeiten. So sei man etwas freier (bijiao ziyou) und könne mehr verdienen. In der Frage, wie sie sich die Zukunft vorstellen und was ihr Ideal (lixiang) ist, sind sich beide Paare einig: Sohn und Tochter sollen fleißig lernen, die schwere Aufnahmeprüfung zur Universität bestehen und zukünftig einer weniger ermüdenden Tätigkeit nachgehen. Für die Eltern steht außer Frage, dass sie, wenn sie einmal alt sind (lao le), in ihren Heimatort zurückkehren. Denn nur dort ist ihr wirkliches „zu Hause“ (jia).
Referenzen Oakes, Tim und Louisa Schein 2006. Tanslocal China: An Introduction. In:. Translocal China. Linkages, identities and the reimagining of space. Oxon/New York: Routledge, S. 1-35. Peng Xizhe 2008. Population Factor in Metropolitan Management. The case of Shanghai. http://www.ihdp-cnc.cn/En/meeting/ Regiona l _workshop/ppt/Open% 20Lectures/ Population%20 Factor%20in%20Shanghai_Peng.pdf, entnommen am 23.01.2008. Potter, Sulamith Heins 1983. The Position of Modern China’s Social Order. In: Modern China, Vol. 9, No. 4: 465-499. Scharping, Thomas 2003. Wanderungen. In: Staiger, Brunhild u.a. (Hrsg.). Das große China-Lexikon. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Seite 719-722.
Fußnoten 1 Alle Namen wurden geändert. Obwohl Frauen in China in der Regel ihren Geburtsnamen behalten, wurde hier der Übersicht halber der Nachname des Mannes verwendet. Die Informationen stammen aus teilnehmender Beobachtung sowie Gesprächen mit den Familienmitgliedern, Kunden, Nachbarn, Verwandten und Personen aus dem Heimatdorf, die seit März 2007 geführt wurden. 2 wai bedeutet „außerhalb“, di bedeutet „Erde“, die Kombination waidi bezieht sich auf „einen anderen Ort, als der, an dem man sich gerade befindet“ und ren bedeutet „Mensch“. 3 laoxiang: Personen aus dem gleichen Heimatort; Landsmänner 4 Malatang, eine Spezialität aus der Region Sichuan, beschreibt eine Brühe, tāng, deren wesentliches geschmackliches Merkmal äußerste Schärfe ist. In ihr werden Gemüse, Tofu oder Fleischstückchen gegart. má bedeutet u.a. „prickeln“ oder „taub werden“ und impliziert einen anderen Geschmackseindruck als là, „beißend“, „scharf“ oder „brennen“. tàng, enthält Bedeutungen wie „sich verbrennen“ und „sehr heiß“. Die Brühe variiert nach Lokalität. Schärfe bringen Gewürze wie Chinesischer Blütenpfeffer, Chilischoten oder schwarzer Pfeffer. Sojabohnenmus, Ingwer, Knoblauchzehen oder Gewürznelken verleihen der Brühe zusätzliche Schärfe und ihr eigentümlich würziges Aroma, dessen Geschmack durch die Beigabe von fermentiertem Reis, Reiswein, Zimt, Anis, Fenchelsamen oder Kardamom abgerundet werden kann. Der typische Geschmack entsteht durch die Zubereitungsweise, in der ein Teil der Ingredienzien in Rapsöl und Schweinefett frittiert wird. Die würzige Mischung wird dann mit klarer Fleischbrühe aufgegossen und weitere Bestandteile wie Zucker, Speisesalz und Glutamat werden hinzugefügt.
Lena Kaufmann (27) studiert seit 2003 Ethnologie und Sinologie an der Freien Universität Berlin. Von 2006 bis Ende 2007 studierte sie im Rahmen eines DAAD-Stipendiums an der Shanghaier Jiaotong Universität Chinesisch und erforschte dort das Alltags- und Arbeitsleben der oben beschriebenen Migrantenfamilie. Zum diesjährigen chinesischen Neujahrsfest begleitete sie die Familienmitglieder in die jeweiligen Heimatorte.
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Festland Installation, Fotografien, Malerei (2006-2008)
Ein Projekt von Victor López González
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as Projekt Festland beschäftigt sich mit dem Phänomen der Migration, speziell mit den illegalen aus Afrika stammenden Immigranten, die versuchen über das Meer nach Europa zu gelangen. Die Flüchtlinge, die sich entschließen, in ein Boot zu steigen, wissen weder, wie viele Tage die Überfahrt dauern wird, noch ob sie ihr Ziel wirklich erreichen werden. Es sind Seereisen von oft mehr als tausend Kilometern, welche den Ozean zu einem unsichtbaren Friedhof gemacht haben. Die Zahl der Toten und Vermissten variiert je nach Information der Medien und Organisationen. Zweifellos sind es Hunderte, die auf der Suche nach einer Zukunft ihr Leben verloren haben. Die Zukunft der Seemigranten ist geprägt von der Verbindung zwischen zwei Ufern, Afrika und Europa. Deshalb wurde das Projekt Festland in zwei Ausführungsperioden verwirklicht; zum einen am Ufer der Ankunft, auf Teneriffa 2006, und zum anderen am Ufer der Abreise, an der Küste Senegals 2007-2008.
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Die Mehrheit der Fotografien der ersten Arbeitsphase zeigen Porträts von jugendlichen Immigranten, welche die mehrtägige Bootsfahrt überlebt haben und schließlich in Europa gelandet sind. Sie wurden in einem Zentrum für Minderjährige auf Teneriffa untergebracht. Um für eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien zu kämpfen, brachen diese Jugendlichen mit der Devise „Barça ou Barsakk“ auf. In etwa bedeutet das: entweder Barcelona erreichen - Symbol für Reichtum und Wohlstand - oder das Jenseits. Diese jungen Menschen, als Individuen dargestellt, machen deutlich, dass ihre Situation nicht anhand einfacher Statistiken wiedergegeben werden kann. Hinter jedem von ihnen finden wir eine persönliche einzigartige Lebens- und Überlebensgeschichte. Der zweite Teil der Realisation des Projektes wurde an die wichtigsten Orte der Abwanderung an der senegalesischen Küste verlagert. Wie im ersten Teil der Arbeit, stellt die Mehrheit der Fotografien Porträts dar. Sie zeigen Mütter, die ihre Männer und Söhne in der See verloren haben. Dieses Projekt befindet sich momentan noch in Arbeit.
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Asse ©-print auf Dibond 165x120 cm - 2006. Foto: Victor López González
Pape ©-print auf Dibond 165x120 cm - 2006. Foto: Victor López González
Omar ©-print auf Dibond 165x120 cm - 2006. Foto: Victor López González
Moussa Bathia ©-print auf Dibond 165x120 cm - 2006. Foto: Victor López González
Victor López González (victorlopezgo@hotmail.com) wurde in Paris geboren, studierte Kunst und Industriedesign in Valencia/Spanien, Monterrey/Mexiko und Halle/Deutschland. In diesen Ländern nahm López an zahlreichen Ausstellungen teil und erhielt 2005 von Halle a.d. Saale den Bürgerpreis „Der Esel, der auf Rosen geht“ verliehen. Momentan ist Victor López Gasthörer in der Meisterklasse von Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sein künstlerischer Schwerpunkt kreist dabei rund um das Thema Migration.
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Notizen aus meiner Gründerzeitbude Ein Leserbrief von Michael Schweßinger
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iebe Cargo, nach zwei Jahren intensiver und oft auch exzessiver Forschung bei der West-Leipziger Ethnie der Lindenauer ist es an der Zeit, ein Zwischenfazit zu ziehen und auf die Kritik zu antworten, die sich diesbezüglich angestaut hat. Lindenau gilt in Leipzig als soziales Problemviertel mit hoher Arbeitslosigkeit und einer hohen Rate der daraus resultierenden Nebenerscheinungen wie Kriminalität und Drogenkonsum. Die erste Veröffentlichung meiner Forschungsergebnisse 2006 (Auszüge siehe Cargo Nr. 27) hat nicht nur bei den Lindenauern, sondern auch bei Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften für wilde Diskussionen gesorgt. Dies ist sicherlich nicht sonderlich verwunderlich, wenn man „deutsche Bürger“ mit Begriffen und Termini kategorisiert, die dem Wortschatz der traditionellen Ethnologie entstammen und eigentlich für „die Wilden“ in anderen Teilen der Welt reserviert waren. So verwendete ich für herum streifende Alteisen- und Pfandflaschensammler beispielsweise den Begriff seminomadisch oder unterteilte die Trinkertreffs vor den Supermärkten in einzelne Clans. Am meisten nahm man allerdings Anstoß an den von mir verwendeten Bezeichnungen Wilde oder Eingeborene. Bevor ich zu den Reaktionen eben dieser Eingeborenen komme, möchte ich noch kurz auf die Kritik einiger Studenten der Ethnolo-
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gie eingehen. Die beiden häufigsten Vorwürfe, die mir hier gemacht wurden, waren zum einen, die mangelnde Objektivität meiner „Forschung“ und zum anderen der Vorwurf der fehlenden political correctness. Das heißt, man war der Meinung ich würde pejorativ und abwertend über die Bewohner eines sozialen Problemviertels berichten. Zu ersterem Vorwurf muss man sagen, dass es sich bei In darkest Leipzig um ein rein literarisches Werk handelt, das zu keiner Zeit den Anspruch hatte mit wissenschaftlicher Exaktheit über die Lindenauer1 zu schreiben. Allein der Titel „In darkest Leipzig“, eine Entlehnung von Henry Morton Stanleys Werk „In darkest Africa“, sollte auf diese ironische Anspielung hinweisen. Dieser Aspekt wurde jedoch scheinbar von einigen übersehen. Offenbar auch die breite Streuung von Witz und Ironie oder wie einige meinten, denen mein Humor nicht zusagte, von Zynismus und Sarkasmus. Stattdessen gab es sogar eine ethnologische Internetseite, die hinter diesem Buch eine seriöse ethnologische Forschung vermutete, aber anscheinend selbst von seriöser Recherche noch nicht soviel gehört hat, da sich ihre Informationen nicht auf das oben genannte Buch, sondern auf ein von mir gegebenes Interview in der Leipziger Internetzeitung2 bezog.3 Aber zurück zu der mir von einigen Lesern vorgehaltenen fehlenden political correctness. Dieser Begriff mag seine Berechtigung innerhalb eines akademischen
Elfenbeinturms haben, verblasst aber sehr schnell, sobald man sich davon entfernt. Am deutlichsten wird einem das bewusst, wenn man in seiner „Forschung“ plötzlich auf politisch unkorrekte Menschen des real life trifft. Das färbt in jedem Fall ab. Sich als politisch korrekt zu bezeichnen ist meines Erachtens somit nur eine andere Form von ethnologischer Arroganz, eine moralische Anmaßung des Schreiben über. In der Welt sein, heißt auch Stellung zu etwas beziehen und eben dieser scheinbar darüber erhabene Standpunkt der political correctness ist meines Erachtens in sich weitaus zynischer als beispielsweise ein zynischer Text über soziale Problemviertel. Ein politisch korrekter Standpunkt suggeriert, dass man über diesen Prozess, der zweifelsohne subjektiven moralischen und sozialen Stellungnahme, erhaben wäre und damit per se unpolitischer Beobachter. Also durch sein Tun und Schreiben nicht mitverantwortlich für die Welt. „Sich von den Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles hinzu sehen muss, um sie noch zu sehen“, schreibt Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft. Mutatis mutandis trifft auch hier zu. Sich einige Zeit von dem Gequatsche und dem Trott der Hörsäle fernzuhalten, befreit den Geist und macht schließlich den Blick frei für ein wesentliches Charakteristikum der Ethnologie, der kritischen Beobachtung. Man kann sich sicherlich darüber streiten, ob und
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wie weit eine wissenschaftliche Beobachtung kritisch sein kann, wenn sie a priori an Forschungsgelder gebunden ist oder inwieweit vorangegangene exzessive Literaturrecherche die Wahrnehmung bei der Feldforschung in eine vorgegebene Bahn lenkt. Zumindest denke ich, ist sie nur so selbstkritisch, wie der ethnologische common sense eben zulässt. Schreibt man literarisch-provokant und nicht wissenschaftlichseriös entfällt dieses Kriterium. Es schließt allerdings eine kritische unwissenschaftliche Betrachtung nicht aus. Zudem ist es auf diese Art und Weise auch wahrscheinlicher, dass der Text auch gelesen und darüber diskutiert wird und das Geschriebene nicht ungelesen in irgendeinem Bibliotheksregal verstaubt – ein Anliegen, das mir bei der Behandlung dieses Themas sehr wichtig war; viel wichtiger als eine „seriöse Arbeit“ über dieses Thema zu verfassen. Aber um denen kurz zu antworten, die mir fehlende political correctness unterstellen, bei der Lektüre des letzten Artikel schnell den moralischen Zeigefinger hochreckten oder gleich das kalte Kotzen bekamen (Ich hoffe, dass sie auch die neue Cargo lesen): Ja, durchaus richtig gesehen. Der Text ist politisch völlig inkorrekt und das war auch so beabsichtigt. Neben dieser studentischen Kritik waren es vor allem einige Lindenauer, die sich – zugegeben mit mehr Recht als die Studenten – entrüstet darüber zeigten, dass sie von mir als Wilde und Eingeborene bezeichnet wurden.
Daraufhin machte ich etwas, was man ethnologisch wohl als cross-checking bezeichnen würde. Ich veranstaltete mit einer in Lindenau ansässigen Buchhandlung eine Lesung mit anschließender Diskussion zusammen mit Mitgliedern der von mir untersuchten Völkerschaften. Der Titel der Veranstaltung lautete: „Liegt Lindenau wirklich In darkest Leipzig?“ Neben Vertretern des Stadtteilvereins Lindenau waren zu dieser Runde auch urwüchsige Eingeborene geladen, die schon seit über siebzig Jahren in Lindenau siedeln. Einige von ihnen nahmen die Zuschreibung als Eingeborene des Leipziger Westens sehr humorvoll auf. Einer meinte beispielsweise: „Ich hab’ Hitler und die DDR überlebt, dann werd‘ ich das auch noch überstehen!“ Kritik hagelte es von den Wendeverlierern, wohlgemerkt eine Selbstzuschreibung und nicht meine Wortschöpfung. Sie brandmarkten In darkest Leipzig als Siegerliteratur eines Wessis. Ich entgegnete ihnen, dass derjenige, der auf welche Art und Weise auch immer über soziale Problemlagen schreibt, nicht für diese verantwortlich ist, sondern im Gegenteil durch die Thematisierung von Alkoholismus und sozialer Verwahrlosung dazu beitrage, diesen Problemen eine öffentliche Plattform zu geben. Diese Argumentation wurde von vielen Besuchern der Lesung nicht geteilt. Stattdessen herrschte Konsens darüber, dass ich der Wessi bin, der herablassend über die Ossis geschrieben hat, nicht zuletzt wohl auch aufgrund der Wahl mei-
ner „ethnologischen“ (ist ja schon wieder ironisch bzw. humoristisch, kommt aber nicht so heraus, deshalb in Anführung) Beobachterund Erzählperspektive. Diese Meinung stand im Gegensatz zu einer Lesung, die ich einige Wochen später ein paar Straßen weiter in einem Lindenauer Jugendclub abhielt. Dort fanden viele Jugendliche In darkest Leipzig sehr cool und waren stolz darauf in einem „rotzigen Stadtteil“ zu wohnen und nicht in der cleanen Südvorstadt. Hauptschwerpunkt der ersten Diskussionsveranstaltung war, ob Lindenau wirklich die düsterste Ecke von Leipzig sei. Ein Großteil meinte, dass es im Leipziger Osten noch viel schlimmer zugehe oder dass die Probleme von außen durch die Medien herein getragen wurden und auch nicht so schlimm seien, wie von diesen dargestellt. Die meisten kritisierten erstaunlicherweise nicht grundsätzlich meine Terminologie, waren also der Meinung, dass es „die Wilden“ schon irgendwo gäbe, wenn auch gewiss nicht in Lindenau. „Es kann ja durchaus sein, dass da im Nachhinein noch Leute nach Mügeln gekommen sind, was man ja nie verhindern kann, die solche Parolen gerufen haben“4, meinte der Bürgermeister nach der Hetzjagd von Mügeln. Vor einigen Monaten wurden nun die ersten Jugendlichen wegen „jugendtypischen Verfehlungen“ zu Geldstrafen verurteilt. Man mag sich wieder einmal darüber streiten, inwieweit Rechtsradikalismus oder, wie in meiner Publikation dargestellt,
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öffentlicher Alkoholismus und soziale Verwahrlosung als normal angesehen werden sollten. Auch wenn ich diese beiden Fälle nicht gleichsetzen, sondern nur auf das zugrunde liegende Denken, die Verortung des Bösen außerhalb des eigenen Lebensumfeldes hinweisen will, egal ob es sich nun um Mügeln oder Lindenau handelt, normal sind diese gesellschaftlichen Auswüchse für mich in jedem Fall nicht. Nach Polizeiangaben gibt es in Leipzig 74 Trinkertreffs. Seit neuestem nutzen sogar die Leipziger Verkehrsbetriebe den Slogan „Ziemlich blau nach Lindenau“ für ihre Werbung, aber die Werbetexter wohnen wahrscheinlich auch nicht Tür an Tür mit Menschen, bei denen in den frühen Nachmittagsstunden aufgrund des Alkoholkonsums das Sprachzentrum aussetzt oder der vierzehnjährige Sohn sein berufsvorbereitendes Praktikum in einer 23 Stunden-Kneipe ableistet, weil die gleich unten im Haus ist und er es so nicht so weit zur Arbeit hat. Meine Intention war es, mit Hilfe von übersteigertem Humor
und der Perspektive ethnologischer Entfremdung literarisch auf schon alltäglich gewordene soziale Probleme in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Die kontroversen Meinungen, die dieses Buch in Lindenau ausgelöst hat, zeigen in jedem Fall, dass sich mit Hilfe ethnologischer Termini, weit ab der Universität, wunderbar provozieren lässt. Grundsätzlich bin ich jedoch der Meinung, man sollte das alles nicht so ernst nehmen. Humor ist ein guter Transportweg, und wie sagte doch mein Großvater immer: „Man kann im Leben alles verlieren, nur seinen Humor, den darf man nicht verlieren!“ Auch ich habe es ja schließlich nicht weit zur Arbeit und kippe dann mal schnell einen Flachmann vor dem Frühstück. Das bringt die „Feldforschung“ hier in Lindenau so mit sich. Teilnehmendes Trinken ist angesagt, weil es mit einer Limo in der Hand schwer wird, neue Informanten für sich zu gewinnen. Man muss da höllisch aufpassen mit dem „going native“.
Michael Schweßinger bei einer Forschungspause. Foto: Michael Schweßinger
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In diesem Sinne Beste Grüße aus der West-Leipziger Wildnis Michael Schweßinger
Fußnoten 1 Noch dazu, wo es sich bei den Lindenauern ja um keine Ethnie handelt, sondern um Bewohner eines Leipziger Stadtviertels und man also, die von mir vorgenommenen Zuschreibungen bestenfalls als „Invention of Culture“ bezeichnen würde. 2 www.lizzy-online.de/modules.php?op=m odload&name=News&file=article&sid=9 393 - 57k 3 http://www.antropologi.info/blog/ethnologie/ethnologie.php?p=2772&more=1&c= 1&tb=1&pb=1
Michael Schweßinger (michael.schwessinger@web.de) lebt und arbeitet in Leipzig. Zur Zeit schreibt er an seinem Buch „Wir sind die Polen von Morgen. Mein Leben als Minijobber.“
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„Habermas auf ethnologisch“ Die DGV-Tagung im fachfremden Licht Ein Seitenblick von Magdalena Wolf
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ch, die Politikstudentin, brauche Geld, sitze im Workshop, soll Wasser nachschenken, den Beamer anschmeißen. Und zwangsläufig zuhören. Hmm…ist das immer so? Ich verstehe nichts von dem, was diskutiert wird. Synkretisierung. Black Atlantic. Black Africa?! Paul Gilroy. Scheint wichtig zu sein. Es geht um Musiker wie Bountykillers und 50 Cent oder auch um afrikanische Könige und kolumbianische Regierungen. Die Ethnologen wirken
wie eine kleine, verschworene Gemeinschaft. Sie kennen sich, verfügen über eine Geheimsprache. Wo wohnen sie während dieser Tagung in Halle? Sie gehen bestimmt abends feiern. Hmm… Ach ja, es geht auch um Moderne, Gegenmoderne, Postmoderne. Um Habermas und Bourdieu. Aha! Die empirische Realität Lateinamerikas widerspricht also dem Gilroy-Konzept. Das ist gut zu wissen, vielleicht kann ich das mal anbringen in einer Diskussion. Der erste Referent geht bestimmt auf Reggae-Konzerte, mit seinem schwarzen Anzug und seinem breiten österreichischen Dialekt. Er sieht so aus, als wüsste er nicht mal, wer oder was Reggae ist. Aber er schreibt Bücher über Rastafari. Ich stelle ihn mir vor, wie er im edlen Hausanzug mit einem Glas exquisiten Rotwein über Kopfhörer Bountykillers hört – großartig! Jetzt geht´s um Kuba, genauer, um kubanische Zeugen Jehovas (Kuba gehört übrigens zu den Top20 Ländern dieser Truppe, das merk ich mir). Authentische Afrikanität. Hm. Spricht jeder Fachbereich so eine seltsame Sprache? Wir auch? Da, schon wieder Gilroy. Und “busy intersections”. Die gibt´s aber bei uns auch, dienstlich und privat sowieso. Was genau sind jetzt noch mal Santeros? Mist, nicht aufgepasst. Doch: das sind Leute, die „Heilige“ heißen, keine Ahnung wie sie es werden. Durch irgendwelche Lernprozesse, denk ich. Warum können sich Afrokubaner verschiedener religiöser Elemente bedienen, um ihre katholische Prägung zu ergänzen? Warum können nicht auch wir Eu-
ropäer das machen und mythische, „heidnische“ Aspekte mit einbeziehen? Gott und Götter müssen sich nicht widersprechen. Was meint „Transkulturation“? Etwa Transformation von Kultur? Oder transnationale Kulturen? So. Pause vorbei. Die nächste Referentin will einen Film zeigen, der Laptop spielt erst einmal die DVD nicht ab, die Dame reagiert pikiert und klimpert mit ihren schätzungsweise fünfundzwanzig Armreifen. Vom aktuellen Vortrag verstehe ich kein Wort - dann eben nicht, ich überlege lieber, wie ich die klimpernde Dame dazu bringe, mich trotzdem noch nett zu finden. Vortragsstil: mittelmäßiges bis schlechtes Studentenreferat. Aber man müsste das sehen. Ein Bild für alle Candomblé-Götter! Viel Türkis, viel roter Lippenstift, noch mehr anmutige Körperbewegungen. Jetzt ist der Film hängen geblieben. Keine Bilder von tanzenden Migrantinnen. Das kompensiert die Referentin mit Freuden selbst. Und ich als unwissende Politikstudentin frage mich, ob Vorurteile dazu da sind, bestätigt oder verworfen zu werden. Magdalena Wolf (26) studiert Politikwissenschaft auf Diplom an der Martin-Luther-Universität in Halle. Neben dem Studium engagiert sie sich im Verein Studentenwerkstatt Triftpunkt e.V. und ist Mitglied der Cargo-Redaktion.
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Tubabo: Mit dem Bullenwagen im Baumarkt Eine Kurzgeschichte von Christian Weinert
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ir standen mitten im Busch. Unsere Sicht war aufgrund eng stehender Palmen und Sträucher auf wenige Meter beschränkt. Lamin versuchte sich zu orientieren. Wir waren mit Ablie, dem Holzverkäufer, verabredet. Verkauft wurden meine bestellten Dachbalken dort, wo die Palmen gefällt wurden: drei gefühlte Kilometer waldeinwärts von der großen Straße. „Hier müsste es sein,“ sagte er zu mir und begann erneut einen Namen in die grüne Umgebung zu rufen. Nur einige Vögel meldeten sich zurück. Eingetroffen waren wir eine halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit. Nach allen bisherigen Erfahrungen bedeutete dies wahrscheinlich viel zu früh und sollte kein Grund für Ungeduld sein. Lamins Stirnfalten verrieten mir jedoch, dass er sich unsicher fühlte. „Ich war viele Jahre nicht mehr hier“ murmelte er mir verlegen zu. Auch ich war von unserer Umgebung überrascht und hatte mir den Baumarkt anders vorgestellt. Wir beschlossen uns auf Hörweite zu trennen und für eine Weile separat weiter nach Ware und Verkäufer zu suchen. Hundert geschlagene, fünf Meter lange Palmenbalken sollten sich selbst in einem westafrikanischen Busch nicht so leicht verstecken lassen. Doch es war vergebens, als wir uns wieder trafen, war weder vom Holz noch von Ablie eine Spur zu finden. Resigniert begann Lamin eine Feuerstelle für das Kochen von Ataya-Tee einzurichten, als plötzlich ein Rascheln und Schnaufen unsere Aufmerksamkeit auf das Gebüsch vor uns lenkte. Die Äste rissen auseinander und zwei dicke Bullen stampften in schwankenden Schritten auf uns zu. Auf ihren Rücken war ein Balken befestigt, der sie mit dem Wagen verband, den sie hinter sich herzogen. Bullen sind dicke abwesend dreinschauende männliche Kühe mit Hörnern auf dem Kopf und werden in Gambia im Transportwesen eingesetzt. Die Kuh links suchte nach Nahrung am linken Wegesrand, die Kuh rechts versuchte mit ausgestreckter Zunge Mangos am rechten Wegesrand aufzulutschen. Ein verrücktes Bild. So würde ich mir die Wildecker Herzbuben vorstellen, wenn sie betrunken Arm in Arm eine Bühne besteigen.
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Lamin freute sich. Der Transporter war da. Insofern waren wir am richtigen Ort. Auch die beiden Kutscher waren fröhlich und gut gelaunt. Als sie jedoch mitbekamen, dass weder Ablie noch die Balken da waren, teilten sie mir vergnügt aber mit ernster Stimme mit, dass sich bei längerem Warten der Mietpreis für ihre Bullenkutsche erhöhen würde. Mit den Gedanken noch bei den Kühen konnte ich die neuen Geschäftsbedingungen nicht ernst nehmen. Nach allem was im Vorfeld mit dem Bullenwagen passiert war, wollte ich dies auch nicht. Seit drei Tagen mussten Lamin und ich das Abholen meiner bestellten Palmenbalken verschieben. Immer wieder hieß es, der Wagen sei kaputt; sie können erst am Nachmittag, sie können erst am Abend, sie können erst am nächsten Tag vorbeikommen. Irgendwann verlor ich die Geduld und besuchte den Compound vom Kutscher um mir selbst den Wagen anzuschauen. Der rechte Reifen war platt. Wieder hieß es, ich soll am Nachmittag wiederkommen. Er könnte eine Schraube im Moment nicht lösen. Lamin überzeugte ihn, dass er es noch einmal versuchen sollte. Genervt lies sich der Besitzer von seinen Kindern das Werkzeug bringen. Mit einem Rohrstück, einer verbogenen antiken Zange und einem alten Hammer kamen sie zurück. Währenddessen hatte sich schon längst eine Menschentraube um den Wagen und den davor sitzenden Tubabo1 gebildet. Jeder wusste eine andere Methode wie man die alte verrostete Schraube ohne Gewinde lösen könnte und redete auf den armen Wagenbesitzer ein. Alle, mich eingeschlossen, probierten die Schraube zu lösen. Sie bewegte sich jedoch keinen Millimeter. Mittlerweile waren mit mir sieben Männer an dieser Herausforderung beteiligt. Eine Stunde verging ohne irgendeine Spur von Erfolgserlebnis. Ich resignierte und setzte mich in den Schatten eines Orangenbaums und dachte über eine Alternative nach, als mich freudiger Jubel aus meinen Gedanken riss. „Sie bewegt sich!“ übersetzte mir Lamin die Rufe. Ich schaute mir das Schauspiel an. Zwei Männer hielten verkrampft auf der Wagenrückseite die Zangenenden beieinander. Gleichzeitig wurde auf der Vorderseite das Rohrstück mit Hilfe des Hammers auf die Mutter gedroschen. Jemand hatte von irgendwo einen viel zu großen Schraubenschlüssel aufgetrieben. Mit dem
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Rohr als Überzieher konnte der Schlüssel jedoch nun die Schraube greifen. Der Wagenbesitzer schlug mit aller Kraft mit dem Hammer gegen den Schlüssel. Sein Sohn sprang und trat als Verstärkung gegen das Rohr. Unter der Beteiligung von vier Personen begann sich die Schraube tatsächlich Stück für Stück zu bewegen bis sie schließlich auf den sandigen Boden fiel. Wir alle waren begeistert und umarmten uns. Voller Stolz erklärte mir der Wagenverleiher, dass er jetzt seinen Sohn losschicken werde, um in der nächsten Stadt einen neuen Reifen zu kaufen. Morgen könnte er mir den Wagen zur Verfügung stellen, sprach er und klapste mir auf die Schulter. Was sollte man da antworten? Resigniert ließ ich den Abholtermin zum vierten Mal verschieben. Ich war also nicht gewillt einen höheren Preis zu zahlen und erzählte ihnen etwas von der Philosophie unseres Bauprojektes. Sie waren einverstanden. Nach all den Verschiebungen hatte Ablie meiner Meinung nach jedoch einen guten Grund, uns hier im Busch sitzen zu lassen und auch ich begann nervös zu werden. Nach einer viertel Stunde fiel Lamin ein, dass er eine Telefonnummer von Ablie’s Bruder besitzt. Wir wählten diese Nummer und erreichten seine Schwester. Sie berichtete uns, dass ihr Bruder gerade Ataya-Tee kochte und schnellstmöglich kommen würde. Nach einer Stunde, die wir auch mit Teetrinken verbrachten, war er da. Wir folgten ihm und seiner Machete in das grüne Dickicht. Die fetten Bullenkühe mussten zurückbleiben. Der Weg war zu verwachsen für ihren Körperumfang. Nach hundert Metern erreichten wir eine Lichtung. Und dort lagen sie: unsere Palmenbalken. „Das ist nur ein Teil der Balken“ versicherte mir Ablie. „Die anderen liegen tiefer im Busch.“ Stunden des Tragens von fast fünf Meter langen und unhandlichen Palmenbalken auf unseren Schultern lagen vor uns. Stunden in denen mir kleine Geister Schlagwörter wie „OBI“ oder „Hagebaumarkt mit Lieferungsgarantie“ zuriefen. Es dämmerte bereits, als wir alle Balken erst zu den nach wie vor uneinigen Bullen und dann mit deren Hilfe zum Grundstück transportiert hatten. Ohne die Mithilfe der beiden Kutscher und Ablie hätten Lamin und ich die halbe Nacht gebraucht. Nach der Arbeit waren die T-Shirts zerrissen und die Schultern zerkratzt vom Tragen des splittrigen Holzes.
Verglichen mit der Arbeit, die Ablie und sein Kollege im Vorfeld leisten mussten, war unser Einsatz jedoch kaum der Rede wert. Mit einem kleinen Beil hatten er und sein Helfer ohne andere technische Hilfsmittel die meterdicken Palmen erst gefällt und mit dem gleichen Werkzeug, die Stämme in gleichgroße Balken gespalten. Ich habe diese wahnsinnige mühevolle und geduldige Arbeit wenige Wochen später auf unserem Nachbargrundstück beobachten können. Zentimeter für Zentimeter haute sich das Beil in den dicken Stamm. Liegt der Stamm erst einmal auf dem Boden, muss er so schnell wie möglich in Balken geteilt und abtransportiert werden, da sonst nach nur wenigen Tagen die Termiten auf und mit dem Holz eine neue Stadt errichten würden. Am Ende des Tages waren wir alle glücklich. Lamin und ich hatten endlich unser Holz und konnten somit am folgenden Tag mit dem Dachbau beginnen. Die Kutscher erhielten von Ablie noch einen anderen Auftrag und die beiden dicken Bullenkühe machten sich über die Kassavapflanzen vor unserem Haus her. Ich habe diese immer streitenden und stinkenden, stets langsamen Trampeltiere noch häufiger auf meiner Straße gesehen. Ich hatte nie die Motivation gehabt diese Walzen zu steuern und wich ihnen lieber in respektvollem Abstand aus. Bei meinem nächsten Baumarkttermin - und dies war tatsächlich ein Laden, - mietete ich mir einen Kleinwagen, einen Eselskarren.
Fußnoten 1 in der Mandingo-/Mandinka-Sprache „Weißer“
Christian Weinert (25) studiert Kulturwissenschaften an der Viadrina Europauniversität Frankfurt (Oder). 2007 bereiste er zum zweiten Mal Gambia (5 Monate) und war dort für den Verein VolNet e.V. unter anderem als Aufbauhelfer eines Volunteercamps tätig. Dort wohnte er bei einer gambischen Mandingo-Familie im Dorf Gunjur. Neben Studium und Vereinsarbeit schreibt er Kurzgeschichten unter dem Titel „Tubabo“ über Begegnungen und Erlebnisse in Gambia.
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Braucht ein Ethnologe Privatsphäre? Das Leben mit den Saharauis in einem algerischen Flüchtlingslager Ein Feldforschungsbericht von Judit Smajdli
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chon immer war ich sehr stolz darauf, bei den misstrauischen Blicken, die ich dank meines Studienganges eingefangen habe, voller Leidenschaft erwidern zu können, dass ich niemals etwas anderes studieren würde. Ich liebe mein Studienfach und bin felsenfest davon überzeugt, dass „wir zwei“ füreinander bestimmt sind. Meine Neugierde für fremde Gewohnheiten und Eigenschaften, ausländische Sitten und Religionen, sowie die Lust, diese unbekannten Lebenskonzepte „(mit-) zu erleben“, um zu erfahren, wie sie sich anfühlen und was sie bedeuten können, scheinen wie geschaffen für die „Laufbahn der Ethnologin“. Natürlich, eine ethnologische Laufbahn gibt es in diesem Sinne nicht. Auch die Frage „Und was macht man damit später?“ ist gar nicht weit hergeholt. Ich kann sie jedenfalls, trotz meiner grenzenlosen Leidenschaft für das Fach, nicht beantworten. Aber vielleicht gehört das einfach dazu. Schließlich ist die erste Lektion, die man als blutige Anfängerin im Feld lernt, also bei Anwendung der ethnologischen Arbeitsmethode par excellence, dass man immer mit Überraschungen rechnen muss und nie alles vorhersehen kann. Unser Forschungsbereich ist weder statisch noch homogen. Es handelt sich um Beispiele, um Ausschnitte, die wir skizzieren, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Teile von Gesellschaften funktionieren können! Dass sie es nicht immer und immer wieder auf gleiche Weise tun, ist nur verständlich und natürlich. Menschlich eben. In diesem Artikel möchte ich auf einen äußerst sensiblen Aspekt der ethnographischen Feldforschung zu sprechen kommen: Die Grenzen der gesellschaftlichen Integration als Forscherin im Feld. Meine persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema haben einen nicht unbedeutenden Einfluss auf meine Selbstwahrnehmung als Ethnologin ausgeübt. Vor nicht allzu langer Zeit wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass meine Rolle als Forscherin mich in gewisser Weise vor die Wahl stellt. Denn sie steht im Widerspruch zu der angestrebten Integration in die fremde Gesellschaft. Je mehr ich als Wissenschaftlerin auftrete und Chancen wahrnehme, die mir meine
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Rolle ermöglicht, desto weniger akzeptiert und behandelt man mich als einen integrativen Teil der fremden Gesellschaft. Ausgehend von diesem Dilemma begann ich mir Gedanken darüber zu machen, inwieweit ich überhaupt fähig bin, mich in eine fremde Gesellschaft zu integrieren. Bis ich mir schließlich die Frage stellte: Inwieweit bin ich überhaupt bereit, mich zu integrieren und wie viel von meinem eigenen gesellschaftlichen Hintergrund muss ich dafür aufgeben oder gar verleumden?
Der Westsahara-Konflikt Im Dezember letzten Jahres verbrachte ich drei Wochen im Flüchtlingslager der Saharauis, um Informationen für meine Magisterarbeit zu sammeln. Nach ich einmal in der Hauptstadt Algier umgestiegen war, kam ich um 3 Uhr nachts in Rabouni an. So heißt das administrative Zentrum der fünf saharauischen Flüchtlingslager, die sich mitten in der Wüste im Südwesten Algeriens befinden. Kontrolliert wird das Gebiet von der saharauischen Befreiungsfront POLISARIO (Frente Popular para la Liberación de Saguia el Hamra y Río de Oro). Die Bewohner der Lager stammen aus der Westsahara. Die ehemals spanische Kolonie liegt eingeschlossen zwischen Marokko, Mauretanien und dem atlantischen Ozean. Seit dem Abzug der spanischen Kolonialherren 1975 wird das Land von Marokko okkupiert, wobei ein Großteil der Bevölkerung vor der Besatzungsarmee fliehen musste und seitdem unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern lebt. Sie warten seit inzwischen über 30 Jahren darauf, mit Hilfe eines Referendums über die Zukunft ihres Landes abstimmen zu dürfen. Leider vergebens. In der Zwischenzeit werden Kinder geboren und wachsen in den Lagern auf, wobei ihr Überleben allein von internationaler Hilfe abhängt. In der Wüstengegend, wo 1976 die Lager erbaut worden sind, ist jede Vorstellung von Subsistenzwirtschaft utopisch. Währenddessen beutet Marokko die Naturschätze Westsaharas aus und erzielt hohe Exportgewinne. Noch gravierender erscheint die Tatsache, dass sich die EU Teilrechte an diesen Ressourcen von Marokko erkauft hat und ebenfalls an der Ausbeutung saharauischer Naturschätze beteiligt ist.
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„Die Gesellschaft der Sahara ist eine harte Schule für die Geduld eines europäischen Städters.“ (Sophie Caratini, 1993)
Geburtstagsfeier unter Freundinnen. Foto: Judit Smajdli Bis 1991 kämpfte die saharauische Befreiungsfront mit militärischen Mitteln gegen die marokkanischen Invasoren. Dann drängte die UN die Konfliktparteien verstärkt dazu, die Waffen niederzulegen und versicherte im Gegenzug ein Referendum durchzuführen und zu beaufsichtigen. Die saharauischen Befreiungsfront POLISARIO erklärte sich einverstanden, den Konflikt auf diplomatischem Wege zu beenden und akzeptierte die UN als Mediator. Seitdem sind die Hände der Saharauis gebunden. Sie können nur erinnern, bitten und abwarten. Umso enttäuschender ist die Tatsache, dass in den letzten 17 Jahren weder ein Referendum, noch grundlegende Verbesserungen der Lage der Saharauis erreicht wurden. Die „westlichen Mächte“ sind viel zu besorgt, bei jeglichen Veränderungen zum Nachteil Marokkos, dessen stabilisierende Wirkung im Maghreb gefährdet zu sehen. In Deutschland wird der Westsahara-Konflikt totgeschwiegen. Es sickern kaum Nachrichten über die „letzte Kolonie Afrikas“ durch.
Das Leben in den Flüchtlingslagern Drei Wochen verbrachte ich in Smara, einem der fünf Lager des Flüchtlingscamps. Die Familie von Mimi nahm mich für diese Zeit bei sich auf. Ich hatte den aufgeweckten 11-jährigen Jungen einige Monate zuvor in Spanien kennen gelernt, wo er im Rahmen eines Hilfsprojektes namens „Vacaciones en Paz“ die zwei
heißesten Sommermonate bei einer spanischen Gastfamilie verbrachte. Im Sommer können die Temperaturen in der Wüste über 50 Grad ansteigen. Häufige Sandstürme erschweren zusätzlich den Alltag der etwa 165.000 Flüchtlinge. Der Winter hingegen ist die schönste Jahreszeit: Tagsüber herrschen dann bei strahlender Sonne angenehme Temperaturen und die Kinder spielen barfüßig im Sand. Die Nächte können in den unbeheizten Zelten zwar sehr kühl werden, aber dann werden die dicken Wolldecken, in die sich die Saharauis zum Schlafen einrollen, einfach ganz über die Köpfe gezogen. „Gumi, salli!“ (Steh auf, bete!) war der tägliche Weckruf der verwitweten Mutter Marmada, mit dem sie morgens ihre Kinder, Enkelkinder und mich aus dem Schlaf riss. Der Vater der insgesamt acht Kinder fiel im Krieg gegen Marokko. Dieses Schicksal ereilte viele saharauische Familien. Während sich die Kinder und Jugendlichen schlaftrunken aus den Decken schälen und sich gen Mekka beugen, holt Marmada bereits den glühenden Kohlekessel und setzt ihn auf dem Teppich ab. In eine Decke gehüllt sitzt sie in der Mitte der Hayyma, dem traditionellem Zelt der Saharauis, während das Teewasser in der kleinen Emaille-Kanne zu zischen beginnt. Die Zelte wurden den Flüchtlingen von der UN gestellt. Inzwischen haben viele Saharauis auch Lehmgebäude um ihre Hayymas herum erbaut, doch nur selten findet man eine Familie ohne die traditionelle Behausung.
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Saharauische junge Frau im Flüchtlingslager Smara. Foto: Judit Smajdli Die Zelte dienen zugleich als Aufenthaltsraum und Schlafsaal für die gesamte Familie. Hier sitzt man den ganzen Tag, nimmt die Mahlzeiten zu sich, empfängt Gäste und führt etliche Male die traditionelle Teezeremonie durch. Es handelt sich dabei um einen einzelnen Raum ohne Möbel mit jeweils einer Öffnung in alle vier Himmelsrichtungen. Gleich nach dem Aufstehen, noch bevor die Decken eingesammelt werden, trudeln bereits die ersten Besucher ein. Schulfreunde der Kinder, Nachbarn, Verwandte. Die Saharauis legen sich in ihrer Tageskleidung zum Schlafen. Den Brauch, sich für die Nachtruhe umzuziehen, kennen sie nicht. Sehr bald verschwand auch mein Schlafanzug in den Tiefen meines Rucksacks. Denn mein morgendliches und abendliches „Umziehritual“ führte immer wieder zu peinlichen Zwischenfällen. Die Hayymas stehen offen, jeder kann und darf nach Lust und Laune rein und raus spazieren, zu jeder Tageszeit. Die saharauische Gastfreundschaft scheint grenzenlos. Jeder Besucher ist willkommen, sich in der Hayyma nieder zu lassen und wird mit Tee und Essen, falls vorhanden, bewirtet. Die Teezeremonie dauert mindestens eine halbe Stunde, wobei ein sehr starkes Gebräu aus grünem Tee und sehr viel Zucker in kleinen Gläsern aufgeschäumt serviert wird. Gewöhnlich erhält man drei Gläser, wobei das Getränk durch erneutes Aufbrühen immer süßer und milder wird. Falls der gemeinschaftliche Abend fortschreitet, werden dem Gast Decken umgelegt und er ist angehalten, die Nacht in der fremden Hayyma zu verbringen.
Einige saharauische Umgangsformen Wird man jemandem vorgestellt oder begegnet man einem Bekannten, wird stets ein langes und umständliches Begrüßungsritual abgehalten. Dabei werden von
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Traditionelle Hayyma saharauischer Nomaden. allen Anwesenden Höflichkeiten gemurmelt, bei denen nach dem Wohl der Person und ihrer Familie gefragt und zugleich die Güte Gottes angepriesen wird. Die Personen schauen sich dabei kaum an. In der Regel verläuft das Teetrinken entweder ganz still oder ganz laut. Je nachdem, wer daran beteiligt ist, hüllt sich die Teegesellschaft in unbewegliches Schweigen oder es herrscht ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr. Generell verhalten sich die meisten Saharauis eher wortkarg, ruhig und zurückhaltend. Sie zeigen kaum Emotionen, was sie sehr stolz und unnahbar erscheinen lässt. Sobald sie jedoch diese Respekt einflößende Fassade aufgeben und sich in Diskussionen oder Streits verstricken, werden sie schnell unangenehm laut. Das anhaltende Schweigen war mir ebenso unangenehm, wie die hitzköpfigen Gespräche, bei denen jeder gleichzeitig zu sprechen scheint. Leider konnte ich wegen meiner fehlenden Arabischkenntnisse nur mit Mühen an den Unterhaltungen teilnehmen. Stattdessen war ich darauf angewiesen mich der Situation zu fügen und darauf zu warten, dass man mich auf Spanisch oder Englisch in die Unterhaltung einband. Kam jemand in unsere Hayyma, der eine dieser beiden Sprachen beherrschte und Interesse an einer Unterhaltung mit mir zeigte, konnten wir trotzdem nur in den seltensten Fällen in Ruhe kommunizieren. Die Unruhe im Zelt ermöglicht keine Rücksichtnahme auf persönliche Unterhaltungen. Immer wieder musste ich verärgert feststellen, dass meine Interviewaufnahmen in dem Stimmengewirr und Gekreische von Kindern und jungen Erwachsenen untergingen. Kinder werden zum Teil sehr forsch angefahren. Aber auch Frauen reden untereinander häufiger mit sehr spitzer Zunge und einem aggressiven Tonfall. Was für mich bereits unfreundlich und aggressiv erscheint, ist für sie jedoch lediglich eine Art sich auszudrücken, ohne dass sie sich gegenseitig als unangenehm wahr-
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Foto: Judit Smajdli
Bei der Teezeremonie in der Hayyma. Foto: Judit Smajdli
nehmen. Erzählt eine Saharaui ihrer Nachbarin eine Geschichte, so kann es von ihrer Tonlage her den Anschein haben, als würde sie ihr die schlimmsten Vorwürfe machen. Wird man jedoch über den Inhalt der Wörter aufgeklärt, so muss man feststellen, dass es sich um nichts dergleichen handelt, sondern lediglich um eine simple Angelegenheit. Zwischen Männern und Frauen herrschen strikte Verhaltensregeln. Obwohl die Frauen der saharauischen Gesellschaft sehr selbstbewusst sind und sich viele Freiheiten und Rechte erkämpft haben, so hält man sich doch noch an eine Vielzahl traditioneller Umgangsformen. In der Öffentlichkeit ist das Austauschen von Zärtlichkeiten zwischen Ehepartnern absolut tabu. Junge Frauen müssen sich vor ihrem Vater sowie ihren Onkeln besonders bescheiden verhalten. Generell sind die Bereiche von Frauen und Männern getrennt. Falls mehrere Personen zusammen essen, wird auch die Mahlzeit jeweils unter Frauen und Männern getrennt eingenommen. Die Kinder essen wiederum gesondert. Jeder Gruppe wird eine flache Emailleplatte mit Reis, Couscous oder Linsen gereicht, die je nach finanzieller Lage der Familie mit Hühnchen-, Ziegen- oder Kamelfleisch gemischt ist. Zu jeder Mahlzeit isst man Weißbrot. Die breiige Nahrung wird mit der Hand zu Kügelchen geformt oder mit Hilfe von Weißbrotstücken verzehrt. Die meisten Saharauis verbringen ihre Freizeit, wenn sie sich nicht mit der Hausarbeit beschäftigen oder kleinere Pflichten erledigen, mit Besuchen bei Verwandten und Freunden. Ich hatte für viel Aufsehen gesorgt, wenn ich mich, die Stille und meine Untätigkeit im Zelt nicht weiter ertragend, mit einem Roman oder Stift und Notizblock in eine Ecke der Hayyma verzog. Dies signalisierte bei weitem nicht, dass ich ungestört bleiben wollte, ganz im Gegenteil. Kinder und Erwachsene rückten ganz nah und fragten, was ich
tue und warum. Meine Versuche, eine gewisse Privatsphäre zu schaffen, um einen Moment der Isoliertheit heraufzubeschwören, empfanden meine Mitbewohner als überaus merkwürdig. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnten, dass das Buch in meiner Hand gleichzeitig bedeutete, dass ich keine Fragen beantworten wollte. Wie glücklich war ich zugleich darüber, meine Notizen auf Deutsch schreiben zu können. Denn wären sie auf Spanisch oder auf Englisch geschrieben, dann wären sie sicherlich eingehend studiert worden. Nicht nur, dass man sich in der Hayyma keinen eigenen Platz schaffen kann, um sich zurückzuziehen: Genauso wenig besitzt man die Gegenstände, die sich in der Hayyma befinden. Legt man Wert darauf, etwas vor der Öffentlichkeit zu schützen, so ist es üblich, den Gegenstand zu verstecken. Sobald man darauf verzichtet, ist der Gegenstand ein Allgemeingut. So war zum Beispiel mein herumliegendes Handy sowohl für die Familie als auch für ihre Gäste frei zugänglich und einsehbar.
Fazit Was ich in dieser kurzen ethnographischen Zusammenfassung einiger Aspekte des saharauischen Alltages betonen will ist, dass für europäische Verhältnisse viele Gewohnheiten nicht nur ungewohnt, sondern auch unangenehm erscheinen. Dabei will ich gesondert unterstreichen, dass sich diese Verhaltensregeln dennoch nicht in besser oder schlechter, richtig oder falsch kategorisieren lassen. Im Gegenteil: Je nach Gewohnheit und Erziehung werden sie zumeist als vertraut und angenehm oder ungewohnt und unangenehm empfunden. Natürlich gibt es mindestens genauso viele Eigenarten fremder Kulturen, die uns unbekannt und ungewohnt erscheinen, zugleich aber überaus angenehm sind. Vielleicht sind manche sogar dem Verhalten, das man aus der eigenen Gesellschaft gewohnt ist, vorzuziehen.
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Ich bin vor allem auf die fehlende Privatsphäre und Diskretion in der saharauischen Gesellschaft eingegangen und gleichzeitig auf die mir etwas fremd erscheinenden Umgangsformen. Ich denke, viele Leser werden die Vorstellung, unter solchen Bedingungen zu leben, befremdlich und gar unangenehm empfinden. Doch die Wahrheit ist, dass ich mir in Smara, in der Hayyma sitzend, unter all diesen Menschen, die mich aufnahmen und sich um mich sorgten, die schlimmsten Vorwürfe machte. Denn was ist, wenn ich nun Verhaltensweisen verurteile, als unangenehm einstufe, die in Wirklichkeit ganz natürlich sind? Was, wenn in Wirklichkeit meine sozialen Fähigkeiten in meiner Isoliertheit in Deutschland „verkümmert“ sind? Hier, wo man stets von allem und jedem durch dicke Wände getrennt ist, immer unter Zeitdruck steht und nach Ruhe trachtet, die man wiederum schnell als depressiv empfindet, fühle ich mich hier wirklich wohler als in der familiären Atmosphäre der Saharauis? Angst beschlich mich, dass die Fähigkeit, neue Situationen ganz ungezwungen und jungfräulich zu erleben, mir nie hätte abhanden kommen dürfen. Trotzdem konnte ich gegen mein ungutes Gefühl in vielen Situationen nicht ankämpfen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir Gedanken darüber zu machen, welche soziale Struktur ich besser bzw. als menschlicher empfinde. Und ich konnte nicht anders, als festzustellen, dass ich zwei Extremfälle auf die Waage legte. Die fehlende Privatsphäre und Diskretion dieses ehemals nomadischen Volkes stellt eine extreme Situation dar, aber im Vergleich dazu erscheint die Isoliertheit, in der ich in Deutschland lebe, erst recht unnatürlich und unmenschlich. Trotzdem habe ich bereits mein Leben danach ausgerichtet und drei Wochen können nicht ohne weiteres meine psychischen Bedürfnisse ausschalten. Ob sich diese persönlichen Bedürfnisse mit den Jahren an die fremden Umstände anpassen, bleibt offen. Für mich wurde in der Sahara jedoch klar, dass ich meine Gefühle gar nicht bekämpfen möchte. Ich möchte zu ihnen stehen können, auch wenn das impliziert, niemals als vollwertiges Glied in einer mir fremden Gesellschaft aufgenommen zu werden. Und auch wenn es bedeutet, dass ich teilweise verstockt und unsozial erscheine. Denn diese Gefühle widerspiegeln meine Erfahrungen, Freuden und Ängste und somit meine Persönlichkeit. Das Fehlen von Wasser und Nahrung, belastende Wetterbedingungen, fremde Lebensgewohnheiten bereiten mir keine Probleme, sie fordern mich eher heraus. Aber um mich als vollwertige Person wahrzunehmen und mich wohl zu fühlen (was nun einmal eine Grundvoraussetzung zum Arbeiten und Leben ist) habe ich ascheinbar Bedürfnisse entwickelt, auf die ich nicht verzichten kann. Dazu gehören neben Ruhe und Zeit zum Nachdenken z.B. auch Freunde. Einige wenige Menschen, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass sie mich etwas besser kennen und einschätzen können. Wochenlang von Personen umgeben zu sein, die man zwar mag, aber zu denen man keine tiefsinnige Beziehung aufbaut, die einen nicht wirklich verstehen, kann eine sehr belastende Erfahrung sein.
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Menschen, denen man seine Zweifel und Gefühle ungezwungen anvertrauen kann, findet man in fremden Kulturen jedoch häufig genug nur in Gesellschaftsgruppen, in denen einheimische Frauen meines Alters nicht verkehren sollten. Somit verließ ich das Flüchtlingslager mit einer neuen und für mich sehr wichtigen Erkenntnis. Ich bin weiterhin überzeugt davon, als Ethnologin forschen und arbeiten zu wollen. Ich möchte das Leben anderer kennen und verstehen lernen. Aber ich möchte den Einfluss meines kulturellen Hintergrundes nicht unterdrücken. Mein Ziel wird es nicht sein, mich so gut wie möglich in eine fremde Gesellschaft zu integrieren und meine eigene Identität für die Zeit zurück zu stellen. Ich habe Forscher kennen gelernt, auch unter den Saharauis, die dazu im Stande sind. Und ich erkenne die Vorteile, die es für ihre wissenschaftliche Arbeit mit sich bringt, zweifellos an. Sie erlangen Einblicke in Bereiche, von denen ich in meiner eigenen gesellschaftlich marginalisierten Position vor Ort nur träumen konnte. Und ohne Zweifel entwickeln sie dabei auch ihre Persönlichkeit in hohem Maße weiter. Trotzdem müssen sie auf vieles verzichten, was ich, stärker auf meine Rolle als Forscherin bedacht, einfordern kann. So kann ich mich von meiner Rolle als Frau distanzieren, und mich zwischen meiner Rolle als Gast und Tochter der Familie bewegen, was mit vielen Freiheiten einhergeht und mir ermöglicht, mit mehr Menschen in Kontakt zu treten. Dadurch kann ich einfacher Freunde finden und auch mein Bedürfnis nach Privatsphäre befriedigen. Indem ich keine festgeschriebene Rolle in der Gesellschaft einnehme, sondern eine Art Zwischenrolle, kann ich die Regeln, denen ich mich unterzuordnen habe, neu definieren und neue Grenzen ziehen. In diesem Sinne denke ich, dass jeder Ethnologe für sich entscheiden muss, bis zu welchem Grad er auf die emische Sicht, also „mit den Augen der lokalen Bevölkerung“ zu sehen, verzichten kann bzw. will, indem er seinen eigenen gesellschaftlichen Bedürfnissen mehr Beachtung schenkt, ergo sich bewusst als etwas Fremdes definiert.
Referenzen Callau, Tomas 2004. El Sahara Occidental. Historia y actualitat d’un poble. Barcelona Caratini, Sophie 1996. Kinder der Wolken. München: Knaur Zoubir, Yahia 1998. International relations of Western Sahara Conflict. In: L’Ouest Saharien. État des lieux et matériaux de recherche. Vol. 1, S. 127-140 Eu-Moroccan Fisheries Agreement (in Kraft getreten am 29. Mai 2006): www.europarl.europa.eu/oeil/FindByProcnum.do?lang=2 &procnum=CNS/2005/0280 Initiative Nachrichtenerklärung: www.nachrichtenaufklaerung.de (13.02.08)
Judit Smajdli (24) studiert seit 2003 Ethnologie an der J.-W. Goethe Universität in Frankfurt am Main.
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Hinduistische Hochzeiten und fotografische Praktiken
© Boris Wille
Eine Exploration visueller Kultur in Bhopal, Indien Ein Feldforschungsbericht von Boris Wille
Abb. 1
I © Boris Wille
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n einer Kultur, die verrückt nach Bildern ist, spielen Aufnahmen von bedeutenden Rites des Passages eine große Rolle. So ein bedeutender, wenn nicht der bedeutendste Übergangsritus ist die Hochzeit (Shaadi oder Vivah). Jede Hochzeit, an der ich in Bhopal teilgenommen habe, um Fotografen zu begleiten, dauerte mehrere Tage. In den Hochzeitssaisons sind die Fotografen völlig ausgelastet, so dass sie im wahrsten Sinne des Wortes auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig ‚tanzen‘. Es kam nicht selten vor, dass die Fotografen drei Hochzeiten an einem Abend bearbeiteten. Um die Beschreibung allerdings nicht zu verkomplizieren, konzentriere ich mich hier auf eine Hochzeit und erläutere an ihr exemplarisch, welche konkreten Handlungen zu den Hochzeitsfotografien führen.
Shaadi-Shootings
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Die Fotografen, die ich begleitete, betreiben ihr eigenes Studio an einem der Märkte, die sich überall in der Stadt an Bushaltestellen befinden. Das Studio beschäftigt ca. 14 Angestellte, wovon drei Fotografen und einer Kameramann sind. Das Klientel, das dieses Studio besucht, besteht meist aus der finanziell gut gestellten Mittel- bis Oberschicht. Aus diesem Grund landete ich oft bei sehr pompösen Hochzeiten. Diese Hochzeiten fanden alle in eigens dafür angemieteten Hochzeitsgärten oder Fünf-Sterne-Hotels statt. Die hier beschriebene Hochzeit wurde im Garten des Hotel Imperial Sabre veranstaltet. Hinduistische Hochzeiten sind eine lange Sequenz von aneinander gereihten Ritualen. Um mich nicht in zu vielen Details zu verlieren, möchte ich mich hier auf die Elemente beschränken, die explizit von den Fotografen als einzelne Segmente einer Hochzeit unterschieden werden. Das sind zum einen das Ladies Sangeet (Gesang der Frauen) und das Barat (Festzug des Bräutigams) sowie die Reception (Empfang) und die eigentliche Trauung. Diese Unterscheidung spiegelt sich darin wider, dass bei der Buchung eines Auftrags nur
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diese Blöcke ausgewählt werden können. Das Ladies Sangeet möchte ich hier allerdings aussparen, weil einerseits nicht signifikant andere fotografische Praktiken zu beobachten sind, wie sie auch beim Barat und bei der Trauung auftreten und andererseits, weil ich davon keine Fotografien habe. Ich konzentriere mich also auf den Höhepunkt der Hochzeit: auf das Barat, die Reception und auf die Trauung. Diese drei Elemente finden an einem Tag, oder richtiger, in einer Nacht statt und dort werden mit Abstand die meisten Fotografien aufgenommen. Das Barat (s. Abb. 1 bis 4) ist ein Festzug, in dem Verwandte des Bräutigams zum Ort der Veranstaltung ziehen. In Adriam C. Mayers Beschreibung des Barats
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sind es Verwandte, die vom Heimatdorf zu einem anderen ziehen, da dort exogam geheiratet wurde (2002: 228). Doch hier, im urbanen Kontext Bhopals, gibt es kein Heimatdorf, sondern einen klassifikatorischen ‘Heimatpunkt’, der zirka ein bis zwei Kilometer vom Veranstaltungsort entfernt liegt. Angeführt wird das Barat, das kurz vor Einbruch der Dunkelheit beginnt, von einem Geländewagen, auf dem Lautsprecher und Discobeleuchtung angebracht sind. Dahinter tanzt eine Menge männlicher Verwandter des Bräutigams, angetrieben von einer Gruppe Trommler. Hinter den Männern folgt eine Kutsche, in der der Bräutigam sitzt, und ein Gehilfe, der einen Generatorwagen zieht. Ganz am Ende schließen sich
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die Frauen an, ebenfalls ausschließlich Verwandte des Bräutigams. Die Flanken werden durch zwei Lichterketten links und rechts markiert, die von Trägern fortbewegt werden (s. Abb. 2 und 3). Dieses Barat zeiht aufgrund der Lage des Gartens auf einer Schnellstraße entlang. Während dieses Abschnittes der Hochzeit agierten die Fotografen, indem sie um die Menge kreisten. Mal suchen sie nach einer Anhöhe, um ein Foto von ‚oben‘ zu bekommen, und mal streckten sie ihre Arme nebst Kamera über den Kopf (s. Abb. 3). Dabei müssen sie ständig auf der Hut sein, nicht von den ekstatisierten Männern in die Menge gezogen zu werden. Auf die beschriebenen Handlungen bezogen kann man also sagen, dass hier die Produktion von Hochzeitsaufnahmen dadurch bestimmt ist, wie Fotografen sich positionieren können. Sie haben keine Möglichkeit, gestaltend in die Abläufe einzugreifen und können lediglich versuchen, Bilder vogelperspektivisch zu schießen. Am Hochzeitsgarten angekommen, wird der Bräutigam in einem Ritual von einem männlichen Verwandten der Braut begrüßt. Auf dem Weg zur Bühne passieren alle Hochzeitsteilnehmer den Garten, der mit Leuchtketten geschmückt ist (s. Abb. 4). Der Bereich, in dem die Reception stattfindet, ist mit zirka 200 Sitzen bestuhlt, welche durch einen Mittelgang getrennt sind. Auf der Bühne sind zwei Throne vor einer Kulisse aus mit Blumenarrangements verzierten, abgehangen Tüchern aufgestellt (s. Abb. 6). Die Bühne ist mit Abstand der
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hellste Bereich des Hochzeitsgartens, da er durch mehrere Flutlichter ausgeleuchtet wird. Hier bauen die Fotografen ihr Equipment auf, bestehend aus zwei Studioblitzlichtern und einem Stativ für die Videokamera. Im Unterschied zu den übrigen Teilen der Hochzeit (Ladies Sangeet, Barat, Trauung) sind bei der Reception nicht nur ein Kameramann und ein Fotograf anwesend, sondern ein zusätzlicher zweiter Fotograf. Dieser Fotograf ist für Nahaufnahmen zuständig und verwendet eine digitale Spiegelreflexkamera mit einem Objektiv, das starke Vergrößerungen erlaubt (s. Abb. 5 und 7 rechts). Zusätzlich sind hier zwei, statt wie sonst üblich, einem Assistenten anwesend. Die Bühne ist der Bereich, an dem die Fotografen ihren Raum abstecken. Das geschieht einerseits dadurch, dass sie diesen Raum symbolisch abgrenzen, indem sie ihr Equipment im Halbkreis um das Brautpaar anordnen und andererseits dadurch, dass sie mit mehr Personal auftreten. Dass sich die Position der Fotografen im Verhältnis zum Rest der Hochzeit hier signifikant ändert, zeigt sich außerdem an den Möglichkeiten, wie sie Agency ausüben können. Denn hier ist ihre Kompetenz gefragt, hier können sie agieren und gestalten und hier ist der Ort, an dem sie den Verlauf der Hochzeit beeinflussen können. Sie bestimmen, wie sich Gäste und Brautpaar positionieren sollen und ob ein Foto genügt oder nicht. Sie weisen an, dirigieren förmlich, und strukturieren dadurch den Ablauf. Denn erst nach-
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dem ein oder zwei Fotos gemacht wurden, können die nächsten Gäste die Bühne betreten, vorher nicht. Dieses Anweisen geschieht nicht nur verbal und durch Gesten, es wird auch durch Technik vermittelt. Das Erlöschen des Blitzlichts gibt den Gästen so zu sagen das Zeichen, sich von der Bühne zu entfernen. Die Fotografien, die dabei entstehen, zeigen die Gäste von Kopf bis Fuß, sind also in der Halbtotalen aufgenommen, wie man in der Filmwissenschaft sagen würde (s. Abb. 8). Der ‚ganze‘ Gast ist damit dokumentiert. Und genau darauf kommt es auch an. Denn ein normaler Gast, das heißt kein naher Verwandter, nimmt nicht am Barat teil, sondern kommt erst später. Er begibt sich direkt auf die Bühne und lässt sich zusammen mit dem Brautpaar ablichten. Danach geht er zum Buffet, isst, und verschwindet wieder, denn an der Trauung nimmt er ebenfalls nicht teil. Ein normaler Gast muss aber fotografiert werden, da er sonst seinen Gastgeber beleidigen würde. Ich beobachte, wie der Gastgeber Gäste auffordert, auf die Bühne zu treten. „He is making his pride“, erklärte mir daraufhin der Fotograf. Dem Gastgeber ist bewusst, dass er die Gäste zu den Fotografen bringen muss und nicht umgekehrt, wenn er später auf den Bildern sehen möchte, wer bei der Hochzeit war, um dadurch seinen sozialen Status anzuzeigen. Dieser Raum der Fotografen ist also dafür prädestiniert, soziales Kapital mittels fotografischer Technologie einzufrieren. Von daher ist es für die Fotografen von großer Bedeutung, dass sie alle Gäste richtig fotografieren, denn später haben sie nicht mehr die Gelegenheit dazu. ‚Richtig‘ fotografiert sind Gäste, wenn ein Foto den Gast gut ausgeleuchtet, fokussiert und idealerweise von Kopf bis Fuß abbildet.
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Nach der Reception, die je nach Anzahl der Gäste zwei bis drei Stunden dauert, werden inszenierte Nahaufnahmen geschossen. Inszeniert deshalb, weil der zweite Fotograf, während der Reception ‚heimliche‘ Nahaufnahmen gemacht hatte (s. Abb. 10). Diese heimlichen Nahaufnahmen sollen nach Meinung der Fotografen realistischer wirken, gerade weil die Fotografierten nicht wissen, dass sie aufgenommen werden und dadurch auch nicht in die Kamera blicken. „A natural look on the pictures“ wird bei den inszenierten Nahaufnahmen hingegen nur über die Wahl des Hintergrundes erzeugt, wie mir der Fotograf erläuterte. Hier werden Braut und Bräutigam vom Assistenten des Fotografen angeleitet, spezielle Posen einzunehmen (s. Abb. 9, 11 und 12). Durch einen Vergleich der Aufnahmen lässt sich feststellen, dass bestimmte Körperhaltungen bei der Komposition vorherrschend sind. So werden bei den meisten Bildern entweder eine oder beide Hände nach oben gehalten, so dass Henna und Schmuck zu sehen sind. Bei der Lichtgestaltung wird einmal akzentuierendes Licht von der Seite gegeben und mit einem halbfrontalen Füllblitz gegengeblendet. Für das Arrangieren der Posen haben die Fotografen eigens eine Stütze mitgebracht, auf der Braut oder Bräutigam lehnen können. Interessant daran ist, dass sie im Besitz von zwei verschiedenen Stützen sind. Eine ist ein labiles ausklappbares Stativ (s. Abb. 11 und 12) und die andere ein Imitat einer ionischen Säule. Je nach Größe und Wichtigkeit des Auftrags führen sie die eine oder die andere Stütze mit. Hier war es ein großer Auftrag, also haben sie das ionische Säulenimitat mitgenommen. Sie erklärten mir, dass es professioneller wirkt,
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wenn man diese Stütze benutze. Diese Säule ist dann aber nicht auf den Aufnahmen zu sehen oder wird in der Nachbearbeitung weggeschnitten. Sie ist also nur für den Zeitpunkt der Aufnahme wichtig, da die Fotografen mit ihr professioneller wirkendes Auftreten verbinden. Das könnte Folgeaufträge von Gästen auslösen, die möglicherweise selbst bald einen Fotografen für eine Hochzeit buchen möchten, so ihre Argumentation. Die Fotografen sind sich der performativen Ebene ihrer Arbeit durchaus bewusst und artikulieren das, indem sie Professionalität auf die Säule projizieren. Ähnlich lässt sich die Wahl des Hintergrundes für die inszenierten Nahaufnahmen interpretieren, denn ganz gleich wie viel Sorgfalt auch auf das richtige Arrangement gelegt wird, ist es für die daraus resultierenden Fotografien nicht entscheidend, wie die Hintergründe erscheinen, da sie in der Nachbearbeitung ebenfalls retuschiert oder gar gänzlich entfernt werden. Vergleichbare Bemühung von Videowallas1 hat Sengupta (1999) in Delhi beschrieben. Diese Videowallas verwenden große Anstrengungen darauf, die Aura eines Fernsehteams zu erzeugen, indem sie mit besonders klobigen Kameras hantieren und manchmal Equipment mit sich führen, dass technisch nicht benötigt wird, wie Kopfhörer, die nirgends angeschlossen sind (Sengupta 1999: 287). Nachdem die Nahaufnahmen geschossen sind, hat das Brautpaar Zeit zu essen, bevor die Trauung vollzogen wird. Bei der Trauung sind wieder nur ein Fotograf und ein Kameramann anwesend, und ihre Einflussnahme ist vergleichbar mit der beim Barat. Der Vollständigkeit halber habe ich Screenshots aus dem fünfeinhalbstündigen Hochzeitsvideo eingefügt (s. Filmstreifen). Zu sehen sind dort einige rituelle Handlungen, die vom Brautpaar durchgeführt werden (Bilder 1 bis 6) sowie die Abschiedssequenz des Hochzeitsvideos, welche das Ende der Hochzeit zeigt (Bilder 7 bis 9).2 Näher möchte ich darauf allerdings nicht eingehen, denn interessanter erscheint mir eine kurze Darstellung der Postproduktion.
Postproduktion Von der eben beschriebenen Hochzeit standen zum Zeitpunkt meiner Abreise noch keine nachbearbeiteten Bilder zur Verfügung. Aus diesem Grund ist auf den Aufnahmen ein anderes Hochzeitspaar zu sehen (s. Abb. 11 bis 13), was nichts an den Prozessen ändert, die die Aufnahmen in der Nachbearbeitung durchlaufen. Nachbearbeitet werden nur Bilder, die vom Fotografen mit der Digitalkamera geschossen werden. Die Nachbearbeitung findet also ausschließlich digital mit Adobe Photoshop statt und nicht analog, wie sie Christopher Pinney für Fotografen der Kleinstandt Nagda in den 1990ern beschrieben hat (1997: 116ff, 131ff). Abgesehen davon unterscheiden sich die konzeptionellen Praktiken bei Montagen prinzipiell nicht, da auch hier verschiedene Elemente miteinander kombiniert werden. Auf der unbearbeiteten Aufnahme (s. Abb. 11) sind deutlich der Schatten, der durch das Licht von
der Seite erzeugt wird, und das labile Stativ, welches zur Abstützung benutzt wird, erkennbar. Nach der ersten Bearbeitung (s. Abb. 12) wird der Schatten retuschiert, wobei nicht darauf geachtet wird, dass der Hintergrund ‚natürlich‘ erhalten bleibt.3 Bei genauerer Betrachtung sind die Spuren der Bearbeitung besonders hinter den Köpfen erkennbar. Im nächsten Schritt wird das Bild mit verschiedenen Photoshop-Filtern bearbeitet, die einerseits zur Reduzierung der Schärfe führen und andererseits das Bild weicher wirken lassen. Der erzeugte Effekt ergibt im Bild ein helles Glimmen, vergleichbar einer Traumsequenz im Film. Das heißt also, dass die Bilder so verfremdet werden, dass sie alles andere als realistisch wirken sollen. Das Brautpaar wird dann per Photoshop ausgeschnitten, wobei Hintergrund und Stativ wegfallen, und auf eine Vorlage montiert (s. Abb. 13). Die Fotografen haben zehn verschiedene Vorlagen, auf denen sie die Bilder einfügen. Die Vorlagen haben meist einen grellen Hintergrund und sind mit Blüten, Schmuck, Ganesha-Figuren, Tablas oder Shehnais verziert. Tabla und Shehnai sind Instrumente, die stark mit Hochzeiten assoziiert werden. Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Produktion von Hochzeitsfotografien in Bhopal durch verschiedene Praktiken der Fotografen bestimmt ist, die vor allem während der Hochzeit und nicht nur für die Bildproduktion per se, relevant sind. In der Postproduktion werden dann Einflüsse dieser Interaktionen wieder entfernt.
Fußnoten 1 Der Suffix ‘walla’ oder auch ‘vālā’ wird im Hindi in diesem Fall benutzt, um ein Nomen mit einer Person zu verbinden. Also ist ein Videowalla jemand, der sich mit Videoaufnahmen beschäftigt, ein Videograf. 2 Für eine detaillierte Diskusion zur Gestaltung von Hochzeitsvideos s. Sengupta (1999). 3 Zwischen den beiden Aufnahmen liegen nur wenige Momente. Sie sind Teil einer Serie.
Referenzen Mayer, A. C. 2002 (1960). Caste and kinship in central India. Berkeley,: University of California Press. Pinney, C. 1997. Camera Indica : the social life of Indian photographs. Chicago: University of Chicago Press. Sengupta, S. 1999. Vision Mixing: Marriage-Video-Film and the Video-Walls Images of Life. In Brosius, C. and Butcher, M. (Eds.). Image journeys : audio-visual media and cultural change in India. New Delhi ; Thousand Oaks, CA: Sage Publications.
Boris Wille (26) studiert Ethnologie und Medienund Kommunikationswissenschaften in Halle und ist Mitglied der CARGO-Redaktion. Im Frühjahr 2006 hat er eine Lehrforschung in Bhopal, Indien durchgeführt.
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Flüchtige Schatten Einige Szenische Impressionen aus der Feldforschung von Henning Schwanke
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us der Dunkelheit huscht der Jäger hervor, am Schatten des Schornsteins vorbeijagend schwingt er sein geheimnisvolles Spezialschwert, dreht sich zweimal schneller als das Monster in der Luft, trickst es mit einer angedeuteten Flugnummer aus und säbelt ihm den Kopf vom Hals. Der Supervampir Blade, verkannter Retter aus der Dunkelheit, hat wieder einmal die Welt gerettet und fast keiner hat es bemerkt. Seine Wunden versorgend zieht er sich in die Vergessenheit zurück, da, wo er unbemerkt heimlich sein unheimliches Leben führen kann. Ich sitze im Haus einer Roma-Familie, die während des Kosovo-Krieges aus Bosnien geflüchtet war, später aus Deutschland abgeschoben wurde und mittlerweile in Topaana lebt. Topaana ist eine der vielen Roma-Siedlungen Skopjes, der mazedonischen Hauptstadt, im unbeachteten Saum jenseits der EU-Grenze und diesseits des Orients. Vater und Sohn sitzen vor ihrem Götzen, der Glotze, dem neuen Flachbild-Fernseher mit seinen 4000 geknackten Satellitenprogrammen, und sehen sich zum x-ten Mal diesen Film des allmächtigen, aber leider verkannten Superhelden an. Als ich den Vater gestern vormittag unter Bäumen stehend im Stadtzentrum getroffen hatte, hatte die Polizei gerade wieder einmal seine gesamten Waren beschlagnahmt. Nach dem Vorfall stand er, der Verbal-Gigant, tonangebend in der Runde seiner Schicksalsgenossen und wetterte mit ihnen lautstark über die Machtlosigkeit gegenüber ihren staatlichen Zwingherren. Von dort beobachteten sie aus ihrer Empörung heraus das Gewimmel der Passanten. In der grellen Sommersonne zog dieser nie abreißende Strom von Menschen über den mit grell widerscheinenden Granit gepflasterten Platz, über die Brücke des Flusses Vardar, hin und her, wo es auch sie, die flüchtigen Händler wieder hintreiben sollte. Jedem in der streitenden Gruppe war es ähnlich ergangen. Zwei der Straßenhändler saßen sogar auf der Polizeiwache und warteten auf ihre Strafen. Manche besaßen Handelsgenehmigungen und waren an ihren Ständen verblieben oder streiften mit großen Taschen beladen durch weit entfernt liegende
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Teile der Stadt. Der Vater selbst hatte, wie viele andere, keine Lizenz für den ambulanten Warenverkauf in den Straßen Skopjes, und fiel so der Ordnungsmacht wieder und wieder zum Opfer. Er spürte dabei eine Ohnmacht in sich heraufziehen, die fortlaufend an seiner Substanz als Mann und Familienoberhaupt zehrte. Das ohnmächtige Ausgeliefertsein an feindlich auf ihn eindringende Übergewalten bestimmte den Ton vieler unserer Gespräche. Das Dominierende, ihn Überwältigende, über ihn Triumphierende und dennoch anziehend Faszinierende dieser Übergewalt schuf eine gefahrvolle Aura um die ihn umgebende Welt. Eine Aura, in die er sich einmal mit viel Eifer hineinstürzte, um ein anderes Mal wieder aus ihr heraus zu flüchten oder benommen und orientierungslos in ihr herumirrte.
Schattenjäger In einem anderen Teil Skopjes ging ich eines Abends mit Ahmet herum, einem 23-jährigen Roma aus Topaana. Für ihn war es eine Abwechslung, mit mir durch die Stadtwüstungen zu ziehen, am Flußweg entlang, entfernten Leuten Grüße zurufend, durch das Zwielicht des späten Abends zu trotten; unter der Brücke durch, am Zusammenfluss von Treska und Vardar entlang liefen wir ziellos dahin. Enttäuscht von der vergeblichen Suche nach einem Pferdezauberer, den es scheinbar nur in meiner und Ahmets Vorstellung gegeben hatte, schwiegen wir uns an. Ich bildete mir ein, diesen Pferdemann gäbe es dennoch und dachte mir Methoden aus, ihn zu finden. Auf einmal rannte ein junger Mann keuchend an uns vorbei. Ahmet schlussfolgerte daraus, dass es sich dabei um eine wortlose Aufforderung handelte, ihm folgen. Wir liefen los, dass heißt er – Ahmet. Ich stand im Dunkeln. Dann rannte auch ich ihm hinterher. Welchen Sinn diese Verfolgungsjagd haben könnte, fragte ich mich dabei keinen Moment. Auf jeden Fall hinterherlaufen, dachte ich mir! Ich hörte Ahmet irgendetwas von einem verschwundenen Mädchen und einem Vampir raunen, als wir schon auf der anderen Seite des Vardar-Flusses ankamen und dort auf zwei Jugendliche stießen. Während diese wild gestikulierend auf Ahmet einredeten, zeigten sie der Reihe nach zuerst nach oben
Frisch vom Feld
Im Schatten albanischer und mazedonischer Häuser suchen Recycler und Händler ihren Weg und ihren Zugang zu Abfallressourcen und flüchtigen Kunden. Foto: Henning Schwanke
auf die Brücke, dann auf das Ufer und schließlich in Richtung Schuttgelände. Trotz der bruchstückhaften Erklärungen, die den Handzeichen folgten, schien allen Anwesenden außer mir alles klar zu sein. Die Jugend trifft sich abends gern am Fluss, bis spätestens 22 Uhr. Sind die Mädchen dann nicht daheim, werden die Verwandten unruhig und die Suche beginnt – anfangs verdeckt, später in aller Offenheit. Jetzt war es um Zehn und ein Mädchen war nicht zu Hause angekommen. Der Fall lag klar auf der Hand: ein Vampir hatte es entführt. Das stand fest. Jemand hatte nämlich genau das beobachtet, dort oben von der Brücke aus. Aufruhr! Wir bekamen unsere strategische Aufgabe von einem der Jugendlichen zugeteilt. Es wurde uns genauestens erklärt, wie wir in das Schuttgelände eindringen und den Vampir plus Mädchen von dort heraus jagen sollten. Mein Puls jagte mir die Aufregung in die Schläfen und schlug mich in helle Wachsamkeit. Überall tönte schnelles Atmen, lautes Keuchen um mich herum - dann stürzten wir los Richtung Schuttgelände. Auf dem Weg dorthin erschienen noch mehr Vampir-Jäger auf der Bühne des Geschehens. Springend und jaulend preschten sie sich durch die Büsche und drangen auf das Schuttareal vor. Da war er! Jemand hatte ihn gesehen! Wen, fragte ich? Den Vampir, rief mir Ahmet entgegen. Mit festerer Stimme als sonst, rief er zu mir von einer im Boden gerammten Betonplatte herab, fast so als müsste er etwas Unglaubwürdiges glaubhaft bestätigen. Im Dunkeln konnte zum Glück niemand ein Grinsen erkennen, nicht meins, nicht seins – wenn er denn grinste. Ich schaute in die vielen Schatten. Irgendwo in der Entfernung bei einer Straßenlaterne drückte sich jemand durch den staksigen Krautwald der bewachsenen Schotterhügel. Naja, Bewegungen konnte ich da schon daraus erraten, aber einen Vampir? Da war das Mädchen! Ich stolperte los, hinter jemanden her, der nicht mehr Ahmet war. Er redete auf mich ein: „Wir müssten jetzt sehr schnell sein!“ Ich fragte mich, was er meinte, was er machen wollte, wenn plötzlich der Vampir mit dem Mädchen vor ihm stehen würde. Aber das tat hier nichts zur Sache. Nicht in der Hatz, in der wir dahinstürmten. Was hier zählte, war entfesseltes Jagen, gegenseitiges Antreiben, Über-
holen, aneinander Vorbeirauschen, andere nur im Vorbeihuschen wahrnehmen und laufen, stürzen, stolpern, springen, laufen nochmals laufen. Solange man vorwärts strebte, schien die Richtung beinahe egal. Vorne rief jemand, dort sei ein Ziel, dann rief jemand von vorne rechts und mit einmal von hinten unter den Bäumen hervor, also alle kehrt und Achtung, dass keiner den anderen zu Boden trete! Das flüchtige Wesen war ständig an undurchsichtigeren Orten, im trughaft spielerischen Schatten der Hölzer, über dahinhuschenden Lichtstrahlen aus der Stadt, im trügerischen Dunkel schlecht sichtbarer Geröllhaufen und in sich schmierig spiegelnden Drecklachen sumpfiger Mulden. Es tauchte im selben Moment auf wie es gleichzeitig wieder verschwand und zeigte sich erneut in den Rufen der weit entfernt johlenden Treibern. Man rief sich gegenseitig Positionen zu und lief unmittelbar sofort dorthin los, dem wagen Ziel entgegen. Außer Atem erreichte ich Ahmet mit den anderen, die wir anfangs beim Ufer getroffen hatten. Ihre Kehlen klangen vom Schreien strapaziert und rau. Verzweiflung über die Bedrängtheit des Ortes kam aus ihren Mündern - unübersichtlich, unbeherrschbar, unheimlich erschien dieser unmögliche Fleck. Das Ungetüm zeigte sich ihnen hier vollkommen überlegen. Und schon liefen sie wieder. Jemand hatte ihn außerhalb des Geländes in einem Bus gesichtet. Aus dem schattigen Geröllgelände stürmten wir los ins Licht der grell gleißenden Straßenbeleuchtung und enterten den nächsten Bus mit seinen mazedonischen Insassen. Angstvoll in ihr Schweigen eingehüllt, schielten sie zu uns herüber. Jetzt sahen sie sich im Bus gefangen, der Nacht ausgeliefert, zusammen mit einer Gruppe aufgebrachter Zigeuner, die sonst ihrerseits scheu schweigend in den Bussen durch den Tag fuhren und sich im Verschwinden übten. Nun liefen plötzlich die aufgetauchten Männer laut schreiend und diskutierend im Bus auf und ab, ihre kurze Tatenlosigkeit und den fahrenden Bus verdammend, der sie daran hemmte weiterzustürmen. Sie schrien: „Stop, anhalten!“ Raus mussten sie, raus! Warum? Der Vampir wurde gesehen, von anderen, die schon weiter waren als wir. Sie trugen alle Handys mit sich und konnten so kommunizieren und sich gegenseitig koordinieren. Furchtbar sahen die Platten-
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Frisch vom Feld
on von eben. Ahmet stieß mich beim Laufen leicht mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Vampire, he!“ Er lachte kurz auf und schielte grinsend zu mir herüber, seine beiden Kumpels neben mir gikkerten in die Nacht hinein und den ganzen Weg und die nächsten Stunden auf dem Rückweg nach Shutka folgten Geschichten über zauberhafte Begebenheiten. Solche, die sie selbst oder irgendwelche Freunde erlebt haben wollten. Ob ich schon mal verschwunden wäre, wollten sie wissen. Ich überlegte kurz und bejahte. Volltreffer: Es folgten Geschichten von Spaziergängen, auf denen sie wie aus dem Nichts verschwunden waren und sich urplötzlich in fernen Diskotheken oder Sportstadien wieder fanden. Oder es kamen Berichte über drei Meter hohe Sprünge beim Fußball inklusive Fallrückziehern. Um welche Geschichte es sich auch immer drehte, alle lachten den Erzähler von Neuem als Spinner aus.
Sprünge aus dem Schatten
Als Zeugen Jehovas treten sie aus dem heidnischen Schattenleben ins göttlich erleuchtete Licht. Foto: Henning Schwanke bauten aus, zwischen denen wir im Pulk dahin rannten, wie düster drohende Bollwerke. Plötzlich erklang von einem der Schatten unter einem dunklem Betongiganten der Anruf: „Da herum, er war dort entlang!“ Die Meute teilte sich, lief durch das Wasser auf den Wiesen, rannte durch den Müll in den Büschen und huschte entlang der Licht- und Schattenwechsel unter den marode bröckelnden Häuserpfeilern. Ich sprang, ich fiel und lag im nächsten Moment der Länge nach auf dem Boden. Neben mir landete ein Junge, genauso mit der Nase im welken Gras wie ich, und da kam noch einer angeflogen. Ein schlecht sichtbarer Draht, als Rasenkante zum gebrochenen Betonweg dienend, hatte unseren Lauf beendet. Lachen! Sie lachten! Kichernd rappelten sich alle wieder auf. Ja der Vampir, da oben war er wohl, an der Häuserwand empor gestiegen. Ich sah auf. Alle reckten die Köpfe in die Finsternis. Ratlosigkeit kam auf. Stille beherrschte die Runde. Da kamen weitere Hetzer noch nach Luft schnappend, nun im Schleichtempo daher. So trotteten sie vor sich hin, schmunzelten und scherzten. Einige verabschiedeten sich bereits, ich schaute leicht irritiert und suchte nach Ahmet. Da kam er, zusammen mit zwei Jungs in Trägershirts zwischen parkenden Autos hervor. Er schaute zu mir herüber, ich ging hin und wir verließen die Szene - ohne irgendeine Erklärung. Ich fragte, was los gewesen sei. Das Mädchen wäre wieder zu Hause. Irgendwer hatte irgendjemand anderen aus der Meute angerufen. „Sie war nur mit Freundinnen zu lange unterwegs gewesen“, antwortete mir einer laut. „Freundinnen?“, fragte ich. „Nicht eher mit einem Jungen?“ Niemand in der Gruppe reagierte – mein Fehler, so was fragte man nicht. Wir liefen zurück nach Hause, kein Wort fiel mehr über die Akti-
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Im Sommer 2006 erschütterte die Nachricht von einem Polizeiüberfall auf zwei Roma-Jungen die versammelte Zigeunergemeinschaft der Bewohner und tausende der Besucher aus aller Welt in den Stadtteilen Skopjes und darüber hinaus in weit entfernt liegenden Wohnorten in anderen Ländern. So sehr ergriff es die Menschen, dass es einige schafften, den Fall vor ein europäisches Gericht in Straßburg zu bringen, dessen Arbeit üblicherweise in Mazedonien wenig verfolgt wurde. Bei einem nächtlichen Ausflug durch die dunklen Straßen der Stadt außerhalb der einschlägigen ZigeunerMahallas überraschte die beiden Jungen eine Polizeistreife von zwei Männern der albanischen Alpha-Truppe auf dem leeren düsteren Platz vor dem Flussübergang Khameni Most. In der Nähe wäre ein Auto aufgebrochen worden, und die Jungs sollten dafür zur Rede gestellt werden. Beide liefen zu ihrem Unglück beim Anblick der Polizisten erschrocken fort. Einen ergriffen die Schläger gleich, prügelten ihm das Leben aus dem Leib, den anderen erhaschten sie kurz darauf, er konnte aber kurz darauf wieder schwer verletzt entkommen. Der erste hatte das Pech, von den Beamten ins Krankenhaus gebracht zu werden, wo er bald verstarb. Das Personal des Hospitals entsorgte den Leichnam, angeblich um einige Organe weniger, im Vardar. An einem Abend im Mai 2007 ging ich auf der Suche nach einem Bekannten eine Straße hinauf ins Zentrum von Shutka. Am Tag war dort immer viel los, abends noch mehr. Da standen dort Pferdefuhrwerke mit gesammelten, ordentlich gefalteten, gepressten und hoch gestapelten Pappkartons oder mit tausenden Plastikflaschen. Jede Fuhre brachte dem Eigentümer ungefähr 1000 Dinar ein, ein Brot kostete 60 Dinar. Daneben parkten glänzende große Autos und solche, die fortlaufend neu geschweißt werden mussten – vorrangig Ladas. An einigen Stellen verdichtete sich die Menge noch mehr, und die Bewegung auf der Straße glich einem Geschiebe von unterschiedlichen Massen aneinander entlang und ineinander hinein.
Frisch vom Feld
Was die Dzambasi, die Sammler und Händler, den Tag über gesammelt hatten und für verkaufbar hielten, hatten sie auf Decken und Kartons vor sich ausgebreitet. Die Hauptmasse der vielen Betrachter begutachtete die Dinge nach Möglichkeiten für deren Verwendbarkeit oder nutzte die Chance der Menge irgendwelche Informationen zu entlocken oder ebensolche in sie hinein zu streuen. Man traf Verabredungen, fragte diesen und jenen nach Arbeitsaussichten, erzählte sich abenteuerliche Geschichten, stritt sich und tratschte über alle möglichen und unmöglichen Leute. Da lösten sich aus dem losen Gewimmel fünf Hünen, schossen auf eines der Pferdefuhrwerke los und zerrten einen von Entsetzen gelähmten, vielleicht 20-jährigen Jungen herab, warfen ihn auf die Straße, schlugen ihn auf einen großen Stein, hoben die Fäuste in den Himmel und ließen ihre Prügel auf ihn hinab regnen. Erstarrt stand ein erschrockener Haufen von 50 Männern lose um das Geschehen herum und starrte in die Szene. Gebrochen krümmte sich der Junge am Boden und zerrte sich unter das Fuhrwerk, einige wuchtige Fußtritte erreichten ihn noch, da waren die fünf auch schon verschwunden. Aufgelöst gingen sie einzeln ruhig ihre Wege, und liessen die vom Schrecken gebannten Menschen mit sich allein zurück. Weiter weg ging alles seinen ganz normalen Lauf, nach 20 Metern wusste schon niemand mehr etwas von dem Überfall. Kein Schrei war erklungen, nein, Schweigen markierte den sonst so lauten Ort. Peinlich berührt von der eigenen Tatenlosigkeit schauten die Herumstehenden einander an. Ein paar Besucher aus EU-Europa packten den Blutenden hilflos an den schlaffen Armen, zerrten fürchterlich an ihm, so dass er leise aufschrie. Da hörte ich den, den ich besuchen wollte, in einem Haustor stehend, schimpfen. Der Schreihals rief, sie sollten den Gepeinigten liegen lassen. Wild fuchtelte er mit seinen Armen und kommandierte die Helfer. Er sagte, man dürfe das jetzt nicht machen, der Junge stehe doch unter Schock und sein Kreislauf wäre völlig am Boden, diese trotteligen Helfer würden den stummen Geschlagenen nur umbringen. Er verjagte sie. Die Menschen der Menge, erstarrt in ihrem Entsetzen, schauten bedrückt und verlegen einander an und an sich vorbei, die eigenen Blicke nicht aushaltend, suchten wirr nach einem Punkt zwischen den vielen anderen Blicken der wie angewurzelt Herumstehenden, wohin sie mit ihrer Verlegenheit schnell hinflüchten könnten. Vielleicht konnten sie so das eben Geschehene durch Ausweichen ungeschehen machen? Die Heftigkeit der Gewalteruption in ihrer Mitte zog als Schockwellen der Furcht durch alle Häuser und Straßen, erreichte bald jede Familie. Kurz verstummten die Hörer, lauschten dem Erzählten, schauten den Boten zu, wie sie mit ausladenden Armbewegungen die gesehene Gewalt vorführten und mit dumpfen „Bam, Bam“ - Lauten das furchtbare Geräusch der Hiebe nachschrien, wie es tönt, wenn schlagendes Fleisch auf geschundenes Fleisch trifft. Die Frauen zuckten zurück, die Männer sprangen auf, zum Aufruhr bereit, hoch von ihren Sitzen, liefen laut rufend, fluchend und die Welt
zusammenbrüllend, durcheinander, sie wollten losziehen – aber wohin? Sie beschimpften sich gegenseitig, sie sackten zusammen, erzählten sich die Sache wieder und wieder, sprangen auf, wieder fluchend, Gott und die Welt verteufelnd. Loslaufen müssten sie können, nur zu wem? Was da tun? Die Täter waren ja selber die allmächtige, ordnende Macht. Allmählich senkte sich Ruhe herab auf die erregten Gemüter, und Unwohlsein überkam die Menschen. Besuche sagten sie ab. Einige Frauen befiel kränkelnde Schwäche, einige Männer hinderte lähmende Apathie an ihrem sonst so lebendigen Treiben. Der Junge war bald still und heimlich davon geschlichen, hatte sich in das nahe Haus seiner Verwandten gerettet. In den Berichten, die in den folgenden Tagen weiter getragen und debattiert wurden, verdammten die Runden immer und immer wieder die Albaner und speziell die albanische Alpha-Polizei. Dazu verwiesen die Redner fortlaufend auf das grässliche Schicksal des Jungen. Sie verbanden dies mit dem Schicksal der Dzambasi, denen da unten in der modrigen Senke. Für sich selber erhoben sie Anspruch auf Zugehörigkeit zu ganz anderen, vor allem wohlhabenderen Zigeunergruppen. In dieser Weise retteten die Erzähler sich aus dem Dilemma, ebenfalls Teil der Verdammten zu sein. Sie jedenfalls wären aus dem Schatten des Elends längst heraus gesprungen, auf das hier jeder so furchtbar spuckte. Die Zunge fest zwischen beiden Lippen eingeklemmt, saß Sejo mit der Fernsteuerung der Spielekonsole angespannt vor einem Bildschirm. Der stand mit weiteren 20 in einem der vielen Internetläden Shutkas, in denen die Leute ihre Nächte und Winter mit Chatten und Zocken ausfüllten. Es herrschte reger Betrieb, und Sejo sollte rücken, sagte der Besitzer. Der ließ die kleinen Jungs an die Rechner, wenn keine Kunden zum Chatten da waren. Eben war Sejo in die virtuelle Welt eines Menschjägers versunken. Er konnte auswählen, wer er lieber sein wollte, ein Cop oder ein Krimineller, ein Söldner oder ein Auftragsmörder. Dazu musste sein virtuelles Ego vorgegebenen Personen durch eine fiktive Stadt folgen. Lange Zeit lief und fuhr er diesen Ahnungslosen unbemerkt hinterher, bis er vom Rechner den Auftrag bekam: jetzt zupacken! Die Kunst dabei war, sich während der Verfolgungsjagd fortlaufend in Verstecken, Schatten und Nischen zu verbergen oder aus weitem Abstand den Delinquenten zu beobachten – möglichst so, dass er oder sie von ihm keine Kenntnis nahm. Als Sejo sich mit seinem Spieler ein Auto erobert hatte, um endlich zuzuschlagen, raste er, unvorhersehbar für das Opfer, die Straße verlassend unter dunklen Bäumen entlang auf die Kreuzung zu und mit Vollgas in das Fahrzeug des plötzlich Flüchtigen hinein. Sejo hatte gewonnen und räumte den Platz für die zahlende Kundschaft. Sejo gehörte wie seine anderen zockenden Freunde zu den Dzambasi. Sie alle liebten dieses Spiel, und wenn sie mit einem Jeep ein Fahrzeug zerlegt hatten, sagten sie mir strahlend: „Hey, ich bin die Alpha!“ Henning Schwanke (29) ist momentan Biologe und Ethnologe. In seiner Freizeit wandert er gern ohne Hirtenstab die Donau entlang.
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Studium | Lehre | Forschung
„Does the Theory of Anthropology disappear?“ Wieder erfundene ethnologische Streitfragen im 21. Jahrhundert Ein kritischer Rückblick auf die Tagung der DGV 2007 von Markus Feder
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eiß hergehen sollte es vom 1. bis 4. Oktober 2007 im Audimax und Melanchtonianum der Universität Halle. Aktuelle „Streitfragen“ der Ethnologie wollten gewälzt werden, so versprach es der Tagungstitel. Internationale, deutschlandweite und Hallenser Streitfragen – die schon seit Jahrzehnten auf ihre Beantwortung warten und auch diesmal in alter Tradition lediglich umrissen werden konnten. Der Leittext der letzten DGV Tagung hatte etwas von einer Nullstunden-Mentalität der Ethnologie, die abermals ihre „späte historische Chance“ einräumen wollte. Einmal mehr durften Writing Culture und die Fragen nach dem Wie und Warum der Ethnologie nicht fehlen. Die deutsche Ethnologie kam als „Speerspitze der reflexiven Selbstthematisierung“ auch diesmal nicht drum herum, sich in Selbstkritik und Sinnfragen zu baden. Oder wie es Dieter Neubert als Vertreter der Hallenser Entwicklungssoziologie im Eröffnungsvortrag nicht ganz unparteiisch anklingen ließ: „Es fehlt der Völkerkunde an Theorien, Wissenschaftlichkeit und Selbstbewusstsein“. Einmal mehr eine prekäre Situation, möchte man meinen! Die Tagung teilte sich in drei Plenen auf. Die erste Plenarveranstaltung versuchte sich zunächst international zu positionieren. Die Ethnologie schwankte dabei zwischen empirischer Sozialforschung
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(Thomas Bierschenk), Wissenschaft vom Wirklichkeitsverlust (Brigitta Hauser-Schäublin) und Interpretative Anthropology (Shalini Randeria). Verschiedene Wendungen, die die Völkerkunde in den letzten Jahren erlebt hat, wurden angesprochen. Auffällig wie zufällig war dabei wohl, dass in allen drei Beiträgen Clifford Geertz respektvolle Erwähnung fand. Die zweite, nun nationale Debatte verlegte den Beginn der deutschsprachigen Ethnologie ganz unerwartet ins 18. Jahrhundert (Han Vermeulen). Sie beleuchtete zudem die Völkerkunde der Nachkriegszeit (John Eidson) und gab einen Eindruck vom deutschen Einfluss auf die Ethnologen Portugals (Jorge Branco). Auch die Berliner Schule kam nicht zu kurz (Antonio Palmisano). Mehr noch: sie verlor sich von Zeit zu Zeit in einen Ausdruck der Selbstprofilierung, mit dem sie nicht nur auf freudige Reaktionen stieß. Schließlich vervollständigte Prof. Dr. Bernhard Streck die zweite Plenumssitzung noch mit einigen deutsch-ethnologischen Sonderwegen des 20. Jahrhunderts – vor allem aber dem Leipziger. Das sich dabei am Rande abspielende Fremdsprachenproblem ließ tief blicken! So taten sich einige Gäste schwer, die zwei englischsprachigen Rednerinnen zu verstehen. Und beim Roundtable versäumte man es glatt, für eine der Discussants einen Übersetzter zu finden, um ihr die Teilnahme an der in Deutsch geführten Diskussion überhaupt zu ermöglichen. Selbst Schuld, könnte man sagen, war es doch eine „aus-
nahmsweise auf Gastredner aus dem deutschsprachigen Raum“ konzentrierte Tagung – aber auch bei einer EthnologInnen-Tagung? Nimmt man allein die Anzahl der in diesem Text vorkommenden (kursiv gedruckten) Anglizismen, wird die Ironie dieser Diskussion schnell augenfällig – und das ist keine Übertreibung! Leider ließ die dritte Runde, welche aktuelle Forschungsansätze aus Halle vorstellte, an Vielfalt zu wünschen übrig. So handelte es sich bei fast allen Beiträgen um neuere, bereits bekannte, und ältere Konflikttheorien. Ob Kriminalitätsprävention in Afrika (Thomas Kirsch), Extremismus im Islam (Julie McBrien) oder Konfliktstrategien in Nordwestkamerun (Michaela Pelican) – die Richtung war klar. Sie wurde lediglich durch den letzten Vortrag von Tatjana Thelen über postsozialistische soziale Sicherung etwas gebremst, behielt aber auch hier ihre politische Komponente bei. Fraglich war einmal mehr, ob die Ethnologie ohne „weiße Flecken“ auf der Landkarte, ohne koloniale Legitimität, aber mit ihrem Image als selbsternannte „Stimme der Markus Feder (24) studiert Ethnologie auf Magister und seit letztem Wintersemester Deutsch als Lehramt (BA) an der Georg-August-Universität in Göttingen. Momentan ist er für ein Auslandssemester in Südspanien.
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Stimmlosen“ und den heutigen brisanten und gruppenübergreifenden Problemfeldern der Globalisierung und des Klimawandels überhaupt noch sinnvoll existieren kann, ohne sich mit anderen Disziplinen zu verknüpfen. Zum Glück hatten an dieser Stelle die Tagungs-Workshops eine sehr große Bandbreite zu bieten: ethnologische Zeitschriften, Nation-Building, Gender, Religion, Medien, Kognition, Entwicklungsethnologie, Cyberculture, Ethnologie in der Schule – vieles war vertreten und ermöglichte damit in facettenreichen, deutschen und englischen Vortragsrunden einen Einblick in die Welt der gegenwärtigen, „praktischen“ Ethnologie.
Insgesamt war die Tagung gut organisiert. Zum Großteil lief sie reibungslos und mit nur wenigen Verzögerungen ab. Außerdem fiel die internationale Zusammenstellung der Redner trotz der angestrebten Einsprachigkeit positiv auf, trug sie doch zu einer akzent- und perspektivreichen Vortragskultur bei. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass der wissenschaftliche Nachwuchs dazu gebracht werden soll, lieber zwei Mal darüber nachzudenken, ob er mit am Speer der ethnologischen Selbstreflexion feilen möchte. Denn bei den 330 TeilnehmerInnen, die in jenen Tagen den Weg nach Halle fanden, waren am Ende nur wenige Studierende
dabei – nicht zuletzt wohl wegen dem Tagungsgeld von 70 Euro (ohne Essen und Unterkunft)! Ein Rabatt für die geschröpften Geldbeutel der Studentenschaft wäre beim nächsten Mal sicher keine schlechte Idee. Vielleicht würde ein solcher Obolus die scheinbar latente, ethnologische Nachwuchslücke sogar schließen. Vielleicht würden mehr Studierende sogar die während der Tagung oft mitklingende, von Antonio Branco in seinem Vortrag schließlich ausformulierte Angst verringern. Die Angst, „the theory of Anthropology does disappear! “. Ausführliche Abstracts der Vorträge unter: www.dgv-tagung2007.de
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„Da hilft ein Magistertitel nicht wirklich“ Regisseur Leopold Lummerstorfer über sein Studium und den Traum, der bleibt Ein Interview von Hendrik Konzok
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eopold Lummerstorfer, geboren 1968, ist österreichischer Drehbuchautor, Filmregisseur und Produzent. Nachdem er Ethnologie, Philosophie und Publizistik in Wien studierte, finanzierte er seine Filme durch Jobs als Straßenarbeiter, Fernwärmeinspektor oder Gutsverwalter. Heute lebt er in Wien und betreibt seine Filmproduktionsfirma BLACKBOX FILMS. Cargo: Sie haben Ethnologie, Philosophie und Publizistik in Wien studiert. Warum studiert man nicht etwas künstlerisches, wenn man schon mit neunzehn Jahren den ersten Spielfilm dreht? Lummerstorfer: Die Frage hat sich für mich so nicht gestellt. Ich bin eher zufällig zur Filmarbeit gekommen. Ich habe das nicht als Kind schon vor gehabt, so wie ein Jugendtraum. Sondern ich habe normal die Schule gemacht und dann Matura, Abitur. Wenn man in Österreich Film studiert, gibt es nur die Filmakademie in Wien. Der Studiengang war damals nur sehr verschult. Und ich habe mir gedacht, zwölf Jahre Schule sind genug. Ich habe eher die Vorstellung gehabt mich mit einem Studium der Geisteswissenschaft etwas grundlegender und offener mit der Welt zu befassen. Damals waren manche Studienrichtungen noch offener, so dass man sich im ersten Studienjahr selbst bestimmte Lehrveranstaltungen aussuchen konnte. Zuerst hatte ich Publizistik im Hauptfach, was damals schon
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ziemlich verschult war. In Massenveranstaltungen habe ich mir dann gedacht: „Das ist aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Und so sehr interessiert es mich jetzt nicht, dass ich drei Jahre dieses Schulprogramm absolviere, um mich dann vielleicht im letzten Jahr auf spezielle Interessen konzentrieren zu können.“ Und dann habe ich mich umgeschaut, das Studium gewechselt, Ethnologie im Hauptfach und die anderen Fächer als Nebenfächer weiter gemacht. Das war dann eine sehr praktische Form, weil man sich seinen Studienplan selbst zusammenstellen konnte. Cargo: Wie lange haben Sie dann studiert? Lummerstorfer: Ich habe länger studiert. Zuerst habe ich das sehr intensiv gemacht, dann aber angefangen gleichzeitig meine Filme zu machen. Dann habe ich zwar noch weiter studiert und hin und wieder Lehrveranstaltungen absolviert, aber irgendwann habe ich beschlossen, das Studium nicht zu beenden. Ethnologie habe ich, glaube ich, vier Jahre gemacht. So ungefähr. Aber wie gesagt, da habe ich schon gleichzeitig Filme gemacht. Cargo: Sie haben also nie mit der Perspektive studiert, einmal Wissenschaftler zu werden? Lummerstorfer: Die Frage hat sich mir natürlich damals gestellt und diese Diskussion gab es auch unter den Studenten und Professoren. Was macht man mit diesem Studium eigentlich? Wenn man Jura studiert ist es scheinbar klar, dann wird man Jurist, wenn man Medizin studiert wird man Arzt.
Detaillierter überlegt ist das natürlich auch nicht immer so klar, aber es gibt zumindest vordergründig ein klareres Bild. Ich habe das aber von Anfang an offener gehalten und mir gedacht, dass mir das schon irgendwann zu Gute kommt. Man beschäftigt sich mit interessanten Dingen und die kann man so oder so für einen Beruf verwenden. Mir war nicht wichtig, dass ich eine Ausbildung habe, mit der ich nachweisen kann, dass ich jetzt genau die und die Schraube umdrehen kann. Ich habe das immer viel grundsätzlicher gesehen. Cargo: Ein schönes Beispiel für ein Studium aus Interesse, einfach zur Bereicherung der eigenen Perspektiven. Mir kommt es so vor, als würde der Druck steigen etwas zu studieren, das schnell und direkt ökonomisch verwertbar scheint. Lummerstorfer: Ich denke da hat sich grundsätzlich etwas geändert. Man hat früher mal an diesem aufklärerischen Ideal festgehalten, dass es grundsätzlich gut ist, wenn sich die Menschen für die Welt interessieren. Ohne, dass das jetzt sofort mit einem konkretem Nutzen verbunden werden kann. Diese Herangehensweise hat den großen Vorteil, dass man dadurch auf Sachen kommt, die man aus einer ökonomischen Perspektive eben nicht sieht. Und da hat es in den letzten Jahren scheinbar einen Paradigmenwechsel gegeben. Jetzt muss alles sofort und binnen kurzer Zeit verwertbar sein. Das hat den großen Nachteil, dass man nicht weiß wie die Welt in zehn Jahren ist. Es kann gut sein, dass man dann ganz
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Regisseur Leopold Lummerstorfer Foto: Hannelore Tiefenthaler
andere Fähigkeiten braucht, die es dann eben weniger gibt. Es wird alles mit der Perspektive aufs Jetzt gemacht und es muss einen konkreten Nutzen in der Wirtschaft oder sonst wo haben. Das kann natürlich auch von Vorteil sein, aber es gibt schon heute die Gefahr, dass so etwas wie eine breitere Sichtweise verloren geht. Cargo: Wie haben Sie den Wissenschaftsbetrieb während Ihrer Studienzeit wahrgenommen? Wurden Sie gut betreut? Lummerstorfer: Ich habe das ganz unterschiedlich erlebt. Als ich angefangen habe zu studieren, war gerade der letzte große Studentenstreik in Wien. Da gab es erstmal ein großes Durcheinander und zwei Monate Streiks, weil Zuwendungen gekürzt wurden und Ähnliches. Das hat den Vorteil gehabt, dass man sehr schnell viele Leute kennen gelernt hat. Da war dann gleich eine andere Solidarität unter den Studenten. Mit der Betreuung habe ich das dann unterschiedlich erlebt. Ethnologie war damals ein sehr uncooles Fach, was den großen Vorteil hatte, dass wir nur wenige Studenten waren. Bei der Publizistik zum Beispiel gab es Hendrik Konzok (25) studiert Politikwissenschaft, Ethnologie und Kunstgeschichte in Halle. Er führte das Interview mit Leopold Lummerstorfer am 16.02.2008. Das Interview ist in gekürzter und bearbeiteter Fassung abgedruckt.
Massenvorlesungen im Audimax in Wien, da gingen über 1000 Leute hinein. Das Institut für Ethnologie hieß damals noch Institut für Volkskunde und trug irgendwann den Zusatztitel Europäische Ethnologie. Das spiegelte den Wechsel von dem älteren Ansatz, der mit Brauchtümern etc. zu tun hatte, hin zu neuen Kräften, die sich für ganz andere Dinge interessierten und ganz andere Lehrveranstaltungen hielten. Das ganze Institut war im Wandel. Mit der Betreuung dort war es deswegen super, weil wir nur 15 bis 30 Studenten in einer Vorlesung waren. Das war schon ziemlich familiär. Man hat bei den Prüfungen sogar einen Kaffee bekommen. Die Betreuung war natürlich auch bei schriftlichen Arbeiten ganz anders, als wenn man jetzt, - wie in anderen Fächern, - 200 Studenten pro Lektor hat. Cargo: Und was hat Sie dann dazu bewogen Ihr Studium abzubrechen? Sie waren nach Ihrer Studienzeit unter anderem Straßenarbeiter, Fernwärmeinspektor und Gutsverwalter. Das hört sich nicht so an, als hätten Sie Ihr Studium abgebrochen weil Sie schon genügend Geld mit Film verdienten? Lummerstorfer: Genau. Das lief parallel. Ich hab zum Teil Geld für die Filme gebraucht, weil es zu wenig Filmförderung gab. Zum Teil brauchte ich einfach Geld zum Leben. Ich habe dann immer irgendeinen Job gemacht. Aber das Studium habe ich abgebrochen, bzw. auslaufen lassen, weil die Filmprojekte immer umfangreicher und zeitintensiver geworden sind. Ich musste mich entscheiden. Filmarbeit ist et-
was, das sehr viel Zeit beansprucht und bei der man ziemlich dabei sein muss. Ich dachte mir: Wenn ich das machen will, dann muss ich das ganz machen. Wenn ich mich darauf richtig konzentriere, dann hilft mir ein Magistertitel nicht wirklich dabei. Auf der anderen Seite standen natürlich viele Erfahrungen, die ich an der Uni gemacht habe. Die waren natürlich trotzdem sehr hilfreich, weil man lernt, wie man sich Informationen beschafft und diese bewerten kann. Cargo: Bei Ihrem Dokumentarfilm „Der Traum der bleibt“ haben Sie klassisch ethnologisch gearbeitet. Der Film dokumentiert das Leben der Menschen in Österreichs größtem Wohnkomplex am Rennbahnweg in Wien, in dem zwischen acht- und zehntausend Menschen leben. Um Ihre Akzeptanz zu steigern und das Vertrauen der Bewohner zu gewinnen, haben Sie selbst einige Zeit dort gewohnt. Könnte man Feldforschung nennen. Lummerstorfer: Ja, das kann man so sagen. Dieser „ethnologische“ Zugang war auch nötig, weil wir sonst bestimmt nicht so einen Kontakt zu den Menschen bekommen hätten. Für mich war völlig klar, dass wir dort auch wohnen müssen. Es wäre doch auch völlig komisch, einen Film über ein kleines Dorf zu machen und nicht auch länger dort zu leben. Man bekommt einfach mehr von dem mit, was da passiert. Wenn man nur zum Drehen hinfährt, kriegt man die Sichtweise der Menschen nicht so intensiv mit. So war es für mich nahe liegend das auch in dieser Siedlung so zu organisieren und
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zu versuchen. Im Grunde ist das ja eine eigene Kleinstadt. Cargo: Dass dieser Plattenbaukomplex eine Stadt in der Stadt wäre, ist ja auch ein Bild, das in dem Film geprägt wird. Lummerstorfer: Genau. Es war am Anfang auch sehr schwierig Zugang zu den Bewohnern zu bekommen. Viele hatten ziemliche Ängste. Zum einen hatte die Siedlung schon einen schlechten Ruf. In den Medien ist natürlich auch nur dieses Bild vermittelt worden. Zum anderen haben die Leute dort auf Grund der vielen sozialen Probleme auch einfach persönliche Ängste. Viele hatten zum Beispiel Angst ihren Job oder ihre Wohnung, die sie nur über die Partei (die SPÖ: Anm. d. Red.) bekommen haben, zu verlieren, wenn sie jetzt in dem Film etwas Kritisches sagen. Das war am Anfang eine schwierige Situation. Die Bewohner waren auch sehr verwundert, dass wir dort gewohnt haben. Das hat viele irritiert. Die kannten es nur so, dass alle so schnell wie möglich wieder weg möchten. Normalerweise kommen die Fernsehteams, nehmen drei Sachen auf und das war es auch schon wieder. Der Umstand, dass wir dort wohnten, hat sie dann ziemlich für uns eingenommen. Als wir dann länger dort gedreht hatten, war das wie in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Man läuft herum und trifft ständig irgendwelche Bekannten. Dann heißt es: “Hallo. Ach, Hallo! Wollen sie vielleicht vorbeikommen und einen Kaffee trinken?“ Wir haben dann schon aufpassen müssen, dass wir mit unserer Arbeit fertig werden. Cargo: Bei unserer Cargo-Umfrage in dieser Ausgabe haben wir gefragt, was Menschen fremd vorkommt. Viele antworteten wie die Bewohner des Rennbahnwegs. Sie wunderten sich, warum sie nicht mal ihre Nachbarn kennen. Sie dürften hingegen schnell der bekannteste Bewohner des Rennbahnwegs geworden sein. Lummerstorfer: Die Menschen waren natürlich neugierig auf das, was wir da machen. Man ist da ja ein Fremder. Zum einen ein Fremder und dann auch noch einer mit einem speziellen Plan. Da wird man schon
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Der Traum der bleibt (Österreich 1996) Genre: Dokumentation Buch & Regie: Leopold Lummerstorfer Produzenten: Leopold Lummerstorfer, Nikolaus Geyrhalter Kamera: Robert Angst Schnitt: Eliska Stibrová Ton: Bruno Pisek Musik: Sergei Dreznin Mit: Christine und Mario Zampa, Christine und Roland Gillitschka, Familie Schlapschy-Schmalhofer, Peter Nemeth, Christian Pelzer u.v.m. genau beobachtet. Aber bei den Leuten stimmt das schon, dass sie die Nachbarn nicht kennen. Manchmal mögen sie sich auch einfach nicht und kennen sich deswegen nicht näher. Es gab aber relativ viele Verwandtschaften oder Bekanntschaften, die man erst mit der Zeit mitbekommen hat. Der von Stiege xy kennt den von Stiege so und so, der redet mit dem, die redet mit der. Man kennt sich halt irgendwann nur noch aus Erzählungen. Bei der Premiere sind sich zum Beispiel die Hauptdarstellerin Frau Zampas und die Frau, die sich darum kümmert, dass die zu Unrecht eingetriebenen Betriebskosten von der Gemeinde Wien zurück gezahlt werden, um den Hals gefallen und haben sich gratuliert. Da habe ich dann erfahren, dass die sich schon kannten aber gehasst haben. Cargo: Obwohl sie sich wahrscheinlich nie miteinander auseinandergesetzt haben? Lummerstorfer: Zumindest nicht in der Art. Da ist wahrscheinlich etwas zwischen den Kinder schief gelaufen oder es gab einen anderen Konflikt. Durch den Film haben die Beiden alles auf einmal anders wahrgenommen. Sie haben auf einmal gesehen, was die jeweils andere macht und denkt. Das fand ich ziemlich interessant. Wie man ein fixes Bild von jemandem haben kann und gar nicht mehr auf die Idee kommt, sich mit dem Anderen zu beschäftigen. Cargo: Die Gerüchte und Erzählungen werden eine von vielen Wahrheiten. Lummerstorfer: Ja genau. Und das ist da sicher ganz massiv so. Das
ist fast wie in einem Dorf, nur spezieller. Man kann das nicht einfach eins zu eins vergleichen. Es fällt mir schwer, das zu beschreiben, aber es ist wahrscheinlich einfach so: Es ist ein Dorf, aber dann auch doch nicht. Die Architektur und die Struktur ist ganz anders. Durch diese riesigen Innenhöfe ist dort alles ziemlich reglementiert und eingeengt. Die Container in denen diese Verwaltungsmenschen sitzen sind zum Beispiel der einzige Ort an dem es Leute gibt, die gewisse Verantwortungen haben. In einer kleinen Stadt gibt es einen Gemeinderat, einen Bürgermeister und so weiter. Das gibt es dort nicht. Die Situation ist hier irgendwie noch spezieller. Cargo: Ein Verwalter sagt gegen Ende des Filmes, dass eigentlich nur noch eine U-Bahn fehle, um dort glücklich zu sein. Der wohnte nicht da oder? Lummerstorfer: Doch, der wohnte schon da. Er war Hausmeister und gleichzeitig Bezirksvorsteherstellvertreter, also der Stellvertreter der SPÖ in einem großen Bezirk. Der war immer sehr bemüht um den Ruf der Anlage und hat sich engagiert, wenn irgendetwas passiert. Er hat dann natürlich vieles sehr übertrieben positiv dargestellt. Natürlich hatte der auch einfach ein anderes Einkommen als die anderen Leute dort, dadurch sieht man natürlich viele Probleme nicht. Aber das mit dem U-Bahn-Anschluss war ernst gemeint. Mittlerweile gibt es den U-Bahn-Anschluss auch seit ein paar Jahren. Eigentlich war der schon geplant, als die Anlage gebaut wurde. Allerdings hat es dann
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doch eine Generation oder sogar mehrere gedauert. Cargo: Als ich seine Aussage hörte war ich schon verwundert. Das passte einfach nicht zu dem Tenor der anderen Bewohner. Lummerstorfer: Ja, ja natürlich. Der hat da vieles komplett verdrängt. Da gibt es schon viele soziale Probleme. Da ist die U-Bahn nicht das größte Ding. Cargo: Wann waren Sie das letzte Mal wieder da und was hat sich verändert? Werden die Bewohner mehr in die Planungen einbezogen? Lummerstorfer: Ich war das letzte Mal vor ca. vier Monaten dort. Aber ich war nicht lange da. Ich hab mir nur angeschaut, wie das mit der U-Bahn aussieht. Es gibt immer so Versuche, dass sieht man auch im Film, dass es Abstimmungen mit den Bewohnern gibt. Was schon deswegen sinnvoll ist, weil es einen Austausch über Fragen gibt, die das gemeinsame Leben betreffen. Stadtplaner sagen ja eigentlich schon seit Jahrzehnten, dass man gewisse Räume offen halten muss. Wenn man so große Siedlungsgebiete anlegt, muss die Siedlung selbst auf Entwicklungen reagieren können. In jedem anderen Stadtteil, der langsamer gewachsen ist, gibt es Geschäfte und verschiedenste Einrichtungen. Wenn es keinen Bedarf mehr gibt, wird etwas geschlossen und dann ist wieder etwas frei für Neues. Das gibt es in diesen durchverwalteten Arealen kaum. Es wird dann zwar irgendein Container hingestellt, aber die Struktur ist immer noch ziemlich fixiert. So hält sich der Spielraum der Bewohnerbeteiligung ziemlich in Grenzen. Man kann sich zwar gemeinsam überlegen, ob zum Beispiel ein Spiegel in
den Lift gebaut werden soll, aber der Spielraum für solche Dinge ist einfach nicht sehr groß. Cargo: Diese Siedlung ist ja wahrscheinlich auch so eine Art politischer Traum. Ist „Der Traum der bleibt“ eine Art sozialistischer Wohntraum? Lummerstorfer: Ich bin durch die Hauptfigur auf den Titel gekommen. Sie erzählt am Ende, wie sie früher in einem älteren Gemeindebau im Stadtteil Meidling gewohnt hat. Sie sagt dann, Meidling wäre der Traum, der bleiben würde und am Rennbahnweg, das wäre die Realität. Da ist mir erst aufgefallen, dass diese Aussage öfters im Film vorkommt. Der Architekt schilderte mir zum Beispiel, dass es ein Wunschtraum war, eine so große Anlage planen zu dürfen. Im Vergleich zu dem was es in Altbauwohnungen an Schimmel gab, war der Traum auch gut geträumt. Es gibt zum Beispiel ein Schild, auf dem steht: „Gesunde Wohnungen - glückliche Menschen“. Das war sozusagen das Motto. Gleichzeitig ist das Ganze natürlich irgendwie zu einem Traum geworden. Sicher auch zu einem sozialistischem Traum. Die Realisierung war nur sehr korrupt oder mangelhaft. Da haben dann ganz andere Dinge eine Rolle gespielt als der Traum oder das Motto „Gesunde Wohnungen - glückliche Menschen“. Es steht aber natürlich noch drauf. Heute ist der ganze Bau selbst total schimmelanfällig. Wien war ja in den 20er Jahren bekannt für soziales Wohnen und so war es sicher ein großer Schritt so ein Projekt in der Zeit umzusetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg mangelte es an Geld und trotzdem hat man es geschafft, so viel Wohnraum in re-
Filmempfehlungen von Leopold Lummerstorfer „Shouzou River“ von Lou Ye „Der Bayerische Wald durch die Augen eines Arschfickers gesehen“ einer der „Arnold Hau“-Filme „Der Ritus“ von Ingmar Bergman Buchempfehlungen von Leopold Lummerstorfer „Megaphilosophie“ von Joachim Koch „American Psycho“ von Bret Easton Ellis „Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti
lativ guter Qualität zu schaffen. In den siebziger Jahren wurde dieser Traum vielleicht eher nur übernommen aber gar nicht mehr so konkret geträumt. Cargo: Endet der Film mit einer Silvesternacht, weil es einfach ein schöner turnusmäßiger Abschluss ist? Mich haben die Bilder irgendwie an Kriegsszenen erinnert. Lummerstorfer: Ich weiß gar nicht mehr genau wie das war. Wir haben das schon absichtlich gedreht und ich dachte mir dann auch, dass das ein schönes Ende sein könnte. Irgendwie schließt das einen Zeitraum ab. Wir haben den Film einen großen Teil im Sommer gedreht, aber es kommen ja verschiedene Jahreszeiten vor. Irgendwie ist Sylvester bzw. Neujahr immer so eine Art Reset. Da geht es wieder von Null los. Und das kriegerische ... natürlich geht es da ziemlich ab und so ... Cargo: ... hat mich an Weltraumkrieg erinnert. Eine Anwohnerin sagt auch, dass ihr die Gebäude zuerst wie Mondbauten vorgekommen wären. Lummerstorfer: Wenn man das so sieht. Da habe ich wahrscheinlich eher die Gefühle der Leute nachempfunden. Es gibt einfach sehr viele soziale Probleme, Probleme mit Drogen und Ähnlichem. Ich habe viel mit den Menschen gesprochen und war diese Probleme in so einer Dichte nicht gewohnt. Dadurch gab es natürlich öfter eine aggressive Stimmung. Es zog sich irgendwie eine Spannung durch die gesamte Wohnanlage. Ich habe das eigentlich erst beim Drehen mitbekommen und dann gedacht: Wenn man schon schießen will, dann wenigstens nur Raketen. Irgendwie habe ich diesen Abend dann als sehr befreiend empfunden. Hinterher war die Luft irgendwie friedlich. Wo es vorher bedrückend war konnte man an diesem Abend durchatmen. Dieses opulente Silvesterfest mit den ganzen Raketen hat so etwas Luftiges gehabt. Cargo: Alle haben sich die Sorgen von der Seele gesprengt. Lummerstorfer: Ja genau.
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N-orth E-ast W-est S-outh
+++ „Embedded Ethnologists“ im Irak und Afghanistan +++ Der US-amerikanische Verteidigungsminister Robert M. Gates stellte unlängst 40 Mio$ für ein Versuchsprogramm des Pentagon bereit, das allen 26 US-amerikanischen Kampfeinheiten im Irak und in Afghanistan Ethnologen zur Seite stellen soll. Wie die New York Times berichtete, sollen Ethnologen helfen in so genannten “Human Terrain Teams“ die sozialen Systeme der in die lokalen Konflikte involvierten Gruppen aus einer emischen Perspektive zu verstehen. Laut der American Anthropological Association, reagierten US-Anthropologen größtenteils besorgt über die Entwicklung der “embedded scientists“ und gründeten das Network of Concerned Anthropologists (NCA).
+++ AAA gegen Antidrogenpolitik in Thailand +++ Die Präsidentin der American Anthropological Association (AAA) Setha Low und die Vorsitzende des Menschenrechtskommitees der AAA Sara Davis haben sich in einem diplomatischen Brief an den amtierenden thailändischen Premierminister Samak Sundaravej gegen seine radikale Antidrogenpolitik im Land ausgesprochen. Samak Sundaravej (People‘s Power Party) setzt, nach dem blutigen Drogenkrieg der damaligen Regierung unter Thaksin Shinawatra (Thai Rak Thai) im Frühjahr 2003, wieder auf groß angelegte Polizeirazzien mit Freibrief zum Schießen. Damals wurden über 2500 Verdächtige binnen weniger Wochen ohne gerichtliche Beschlüsse hingerichtet. Nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International hatten über die Hälfte der brutal niedergeschossenen Menschen keine Verbindungen zur Drogenszene. Auch die internationale Presse übte scharfe Kritik am Vorgehen der thailändischen Regierung. Innenminister Chalerm Yubamrung entgegnete den Vorwürfen: „When we implement a policy that may bring 3,000 to 4,000 bodies, we will do it“. Low und Davis verfolgen die aktuelle Antidrogenkampagne mit Sorge und plädieren für eine Politik, die HIV-Infizierten Drogensüchtigen Zugang zu antiretroviralen Behandlungen erlaubt sowie auf Prävention und Aufklärung setzt.
+++ Barack Obamas Mutter war Anthropologin +++ Anne Dunham, die verstorbene Mutter von Barack Obama, einem der derzeitigen Präsidentschaftskandidaten der USA, war eine PhD Studentin des Instituts für Anthropologie auf der University of Hawai in Manoa. Das berichtete unlängst ein Mitarbeiter des hawaianischen Instituts auf dem Anthro-Blog savageminds.org. Um die Privatsphäre der Obamas zu wahren, möchte der Anthropologe keine weiteren Details über Obamas Mutter verraten. Nur soviel: Ihre Doktorarbeit war sehr umfangreich und behandelte Schmiede auf Java, der bevölkerungsreichsten Insel der Welt, die zwischen Sumatra und Borneo liegt. Das erklärt zumindest, weshalb Obama von sich sagt, dass er „hip to Margaret Mead“ sei.
+++ Villen statt Roma in Sulukule +++ Eines der ältesten Roma-Viertel der Welt, Sulukule in Istanbul, soll abgerissen werden. Sulukule ist eines der ersten Orte Europas in denen Roma sesshaft wurden. Es gehört zu Fatih, einem der Viertel, das sich seit den Siebziger Jahren zum bevorzugten Wohngebiet der besonders frommen und orthodoxen Muslime in Istanbul entwickelt hat. Anstelle der teilweise schon stark baufälligen Holzhäuser der Roma, sollen nun in Sulukule Stadtvillen entstehen, die den Bedürfnissen der neuen islamischen Oberschicht entsprechen. Wie die taz berichtete, kommentierte der Bezirksbürgermeister von Sulukule, Mustafa Demir, die Proteste gegen die Modernisierungsmaßnahmen von Seiten der Bevölkerung so: „Kultur ist ja gut und schön, aber wir können Ethno NEWS-Portale und -Blogs die Kinder doch nicht länger in diesem Dreck aufwachsen lassen.“ Mustafa antropologi.info (D) Demir gehört zu den aufstrebenden Politikern der regierenden türkischen http://www.antropologi.info/ Partei AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Große Teile der Häuser, ETHNO: :LOG (D) in denen die Roma leben, wurden bereits aufgekauft und vermessen. Offiziell http://sonner.antville.org/ müssen die Roma das Viertel zwar noch nicht räumen, sind aber dazu angefeldnotitzen (D) halten, die nach den Sanierungsmaßnahmen horrend steigenden Mietpreise http://feldnotizen.twoday.net/ zu zahlen. Schon seit Anfang der Neunziger Jahre stieg der soziale Druck journal-ethnologie.de (D) auf Sulukule, das seit jeher von der türkischen Mehrheitsbevölkerung und http://journal-ethnologie.de/ diversen Reiseführern als Klischee-Zigeunerviertel wahrgenommen wurde, American Anthropological Associin dem Musik, Glücksspiel, Prostitution, und Nachtclubs die Straßen beation (Eng) herrschten. Die als unmoralisch wahrgenommen Institutionen wurden behttp://aaanewsinfo.blogspot.com/ reits damals geschlossen. AnthroBlogs (Eng) Trotz einer erneuten Abriss-Welle von Sulukule, warnt der Tsiganologe Udo http://www.anthroblogs.org Mischek vom Göttinger Institut für Ethnologie vor überstürzten SchlussEuropean Association of Social folgerungen und einer, wie er es nennt, „Ethnologie des Verlusts“, die in Anthropologists (Eng) Deutschland, wie auch in anderen Ländern, seit ihrem Begründer Adolf http://www.easaonline.org Bastian eine mächtige Triebfeder für die Ethnologie gewesen sei: „Freilich MASN (Eng) stimmt es, dass immer wieder Kulturen verloren gehen, sei es durch Kriege http://www.movinganthropology.de oder Völkermord oder durch Aufgabe der traditionellen Lebensweise, aber Savage Minds (Eng) diese Sichtweise vernachlässigt die Dynamik, die kulturellen Entwicklungen http://savageminds.org/ eigen ist. Kultur entsteht dann neu in allen möglichen und unmöglichen Kontexten. Und Roma sind Meister in kulturellen Neuschöpfungen.“
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Frobenius-Gesellschaft (Deutsche Gesellschaft für Kulturmorphologie) e.V. Die Frobenius-Gesellschaft ist einer der ältesten ethnologischen Fördervereine im deutschsprachigen Raum. Sie wurde 1924 in München als „Deutsche Gesellschaft für Kulturmorphologie“ zur Unterstützung des „Forschungsinstituts für Kulturmorphologie“ ins Leben gerufen, das 1946 nach seinem Gründer Leo Frobenius (1873-1938) in „Frobenius-Institut“ umbenannt wurde. Zielsetzung der Frobenius-Gesellschaft ist laut Satzung die Förderung der wissenschaftlichen Arbeiten des Frobenius-Instituts über außereuropäische Kulturen mit dem Schwerpunkt Geschichte und Kulturen Afrikas. Dies geschieht heute vor allem durch die finanzielle Unterstützung von Forschungsprojekten und Publikationen sowie Vortragsreihen, Ausstellungen und anderen Veranstaltungen. Die Gesellschaft wird für diesen Zweck ihrerseits durch die Hahn-Hissink’sche Frobenius-Stiftung unterstützt. Die Zuschüsse der Gesellschaft und der Stiftung ermöglichen dem Frobenius-Institut u.a. die Veranstaltung der jährlich stattfindenden Ad. E. Jensen-Gedächtnisvorlesungen und der Frobenius-Vorträge, die Veröffentlichung der Zeitschrift Paideuma und der Studien zur Kulturkunde sowie die Verleihung des Frobenius-Forschungsförderungspreises. Die Frobenius-Gesellschaft trägt die Rechtsform eines gemeinnützigen eingetragenen Vereins. Dem Vorstand gehören z. Z. Dr. Eberhard Mayer-Wegelin als Vorsitzender sowie Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl und Dr. Carl Voigt an. Die Mitgliedschaft in der Frobenius-Gesellschaft steht jeder Person offen. Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt 50,00 € für ordentliche und 25,00 € für studentische Mitglieder. Bei Erteilung einer Einzugsermächtigung reduziert sich der Mitgliedsbeitrag auf 40,00 € bzw. 20,00 €. Im Beitrag ist der kostenlose Bezug der jährlich erscheinenden Zeitschrift Paideuma: Studien zur Kulturkunde enthalten. Paideuma ist das offizielle Publikationsorgan des Frobenius-Instituts an der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main. 1938 von Leo Frobenius gegründet, ist sie eine der führenden ethnologischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Der traditionelle regionale Fokus von Paideuma: die Geschichte und Kulturen Afrikas, ist in den letzten Jahren um Ozeanien und Südostasien erweitert worden; daneben finden sich in der Zeitschrift auch Beiträge von allgemeinem theoretischem Interesse. Mitglieder der Frobenius-Gesellschaft werden regelmäßig von den öffentlichen Veranstaltungen des FrobeniusInstituts und der Frobenius-Gesellschaft informiert. Darüber hinaus können sie die Veröffentlichungen des Frobenius-Instituts zu einem Vorzugspreis beziehen, der bis zu 20 % unter dem offiziellen Ladenpreis liegt. Dabei handelt es sich um folgende wissenschaftliche Reihen: Studien zur Kulturkunde (1933ff., 115 Bde.), Sonderschriften des Frobenius-Instituts ( 1983ff.,14 Bde.), Afrika Archiv (1995ff., 4 Bde.), Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts (1998ff., 4Bde.). Die noch lieferbaren Bände sind im Internet auf der Seite www.frobenius-institut.de aufgeführt. Aufnahmeanträge können formlos an die Geschäftsstelle der Frobenius-Gesellschaft, Postfach 1245, 61452 Königstein geschickt werden. Für die Inanspruchnahme des ermäßigten studentischen Mitgliedsbeitrags für den Zeitraum von fünf Jahren ist die einmalige Vorlage einer Immatrikulationsbescheinigung erforderlich. Nach der Aufnahme durch den Vorstand der Gesellschaft erfolgt eine offizielle Benachrichtigung. Weitere Auskünfte: Sekretariat des Frobenius-Instituts, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt a.M. Tel.: 069-798 33050 – frobenius@em.uni-frankfurt.de
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Das Musée du Quai Branly in Paris Grat-Wanderungen durch einen postkolonialen Bildungspark Ein wissenschaftlicher Kommentar zu einem kunstethnologischen Diskurs von Martin Hartung
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uch ein Jahr nach seiner feierlichen Eröffnung durch Jacques Chirac und Kofi Annan wurde im Untergeschoss des Musée du Quai Branly noch angebaut. Neben materiellen Finessen besann man sich bei diesem ersten Pariser Museumsneubau seit der Eröffnung des Centre Georges Pompidou im Januar 1977, auch auf ideelle Feinheiten. So verkündete Stéphane Martin, Präsident des Quai Branly, anlässlich des einjährigen Jubiläums: „The Centre Pompidou was a cultural answer to May 68. Branly is a museum for the post September 11 era”.1 Damit sei nicht nur auf den museal und institutionell angestrebten Dialog zwischen den Weltkulturen verwiesen, sondern dem Musée du Quai Branly auch als einem weiteren präsidialen Großprojekt des Landes gedacht, so wie es das Centre Georges Pompidou vormals für den gleichnamigen Präsidenten der französischen Republik darstellte. Am 20. Juni 2006 eingeweiht, beherbergt der spektakuläre Museumsneubau des Stararchitekten Jean Nouvel mehr als 300.000 Objekte, die ursprünglich die Sammlungsbestände des Musée National des Arts d’Afrique et d’Océanie und des Laboratoire d’Ethnologie du Musée de l’Homme ausmachten. Nach einer zehnjährigen Planungsphase des Großprojektes, von dem der Kunsthändler Jacques Kerchache (1942-2001) seinen Freund Jacques Chirac im Jahr 1996 überzeugen konnte, sah sich das Museum bereits zahlreicher Kritik ausgesetzt. Vor allem das museale Konzept wurde vielfach hinterfragt. Bereits 1990 hatte Kerchache in einem manifestartigen Artikel für die französische Zeitung Libération erklärt, dass „alle Meisterwerke der Welt frei und gleich geboren seien“ (vgl. Viatte 2006: 208), womit der wesentliche Kurs des Museumsprojektes eingeschlagen war. Damals unterstützte Chirac die Ansichten Kercharches in seiner Eröffnungsrede, als er das Museum zu einer Institution gegen Ethnozentrismus und jegliche Hierarchien der Kulturen und Künste erklärte. Unter Kerchaches Einfluss wurde das Musée du Quai Branly zu einem „Museum der Künste Afrikas, Asiens, Ozeaniens, und der nichtabendländischen Zivilisationen Nord- und Süda-
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merikas“. Dort erfuhren die historischen Gebrauchsgegenstände und Handwerke aus diesen Regionen eine Umdeutung zu Kunstwerken, die ohne inhaltliche Beschränkungen und mit möglichst wenigen Kommentierungen gezeigt werden sollten. Dieser Präsentationsduktus ist jedoch keineswegs unproblematisch, da sich mit ihm die grundsätzliche Debatte um eine Definition der Ausstellungsobjekte als Kunstwerke oder Artefakte und damit auch der Art ihrer Vermittelbarkeit verbindet. Dies gilt ebenso für die Exponate des Palais des Sessions im Louvre, der im Jahr 2000 Werke nicht-abendländischer Kulturen aufnahm, die den Sammlungsbeständen des Musée du Quai Branly entnommen wurden.2 Es soll nun vornehmlich die Präsentation der Exponate des Museumsneubaus in den Blick genommen werden. Dabei wird sich herausstellen, dass ihre tatsächliche Inszenierung dem Anspruch des für sie errichteten Ausstellungsraumes, in welchem sich eine gleichberechtigte Anerkennung der Leistungen aller Kulturen manifestieren sollte, häufig entgegensteht.
Die Präsentation von Leistungen nicht-abendländischer Kulturen Im Musée du Quai Branly werden die Objekte der Sammlung in einer 220 Meter langen architektonischen Landschaft präsentiert, die inhaltlich in vier geografische Bereiche aufgeteilt ist. In einem neu gestalteten, 18.000 Quadratmeter großen Park gelegen, wurde das Museum als ein einziger Raum konzipiert, in dem die mehr als 3500 Ausstellungsstücke Platz finden. Dabei standen von Anfang an explizit ästhetische Qualitäten für die Objektauswahl im Vordergrund. Diese Konzeption hatte man bereits sechs Jahre vor der Museumseinweihung im Pavillon des Sessions des Louvre umgesetzt. Seither sind dort die etwa 120 „Meisterwerke“ beherbergt, welche ausschließlich von Jacques Kerchache der Sammlung des Musée du Quai Branly entnommen wurden. Nicht zuletzt folgte man damit erst spät dem Vorbild des Metropolitan Museum of Art, dessen Michael C. Rockefeller Wing of Primitive Art bereits 1982 eröffnet wurde und die damals noch als „primitiv“ bezeichnete Kunst in einem bis dato ungekannten Ausmaß, vor allem im Bezug auf den Kunstmarkt, revitalisierte.3
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aufgrund ihres rein ästhetischen Werts Anerkennung finden“. (Price 1992: 136) Für Letzteres wurde sich sowohl im Musée du Quai Branly als auch im Louvre entschieden, obgleich der Besucher an multimedialen Stationen die Möglichkeit hat, sich an, vom Ausstellungsraum isolierten Plätzen, näher über die einzelnen Objekte zu informieren. Schon Sally Price stellte klar heraus, „[...] daß [sic] der erlernte kulturelle Hintergrund, von dem wir beim Betrachten von Kunstwerken ausgehen, eine ästhetische Komponente einschließt. Angesichts einer Kunst, die uns nicht vertraut ist, brauchen wir deshalb besondere Hilfe, um nicht nur ihre soziale, ökonomische, rituelle und symbolische Umwelt, sondern auch ihre ästhetischen Zusammenhänge – das heißt die Vorstellungen über Form, Linie, Gleichgewicht, Farbe, Symmetrie usw., die zu ihrer Schöpfung beitrugen – zu verstehen. Die Dokumentation [älterer] Kunst der Welt macht nämlich überdeutlich, daß [sic] die ästhetischen Ziele ihrer Schöpfer und Kritiker nicht universell [waren]; die Beurteilung einer afrikanischen Maske nach unseren eigenen kulturell erworbenen ästhetischen Kriterien kommt in etwa der Beurteilung eines Miró-Gemäldes nach den von Michelangelo geschätzten Kriterien gleich“ (Price 1992: 148). Das Musée du Quai Branly, Weg zum Haupteingangsbereich. Foto: Martin Hartung Die Präsentationen im Louvre und im Musée du Quai Branly stehen in einem Spannungsverhältnis, welches Sally Price in ihrem viel beachteten Buch „Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft“ für Werke nichtabendländischer Kunst bereits Ende der achtziger Jahre auseinander dividierte: „Entweder man präsentiert ein gegebenes Objekt in einem ethnologischen Kontext, zusammen mit verschiedenen Artefakten und aufgrund didaktischer Texttafeln, die seine Herstellung, seine Rolle im traditionellen Leben der Gemeinschaft und seine soziale und religiöse Bedeutung erklären, verständlich für den Betrachter. Oder man stellt es auf einen eigenen Sockel oder in eine eigene Vitrine, gibt ganz grob den Kontinent oder Archipel an, wo es erworben wurde, und gewährt ihm allein dadurch, daß [sic] man es ‚für sich selbst sprechen’ lässt, Mitgliedschaft in der elitären Gesellschaft der Kunstwerke, die
Gerade diesem Dilemma steht man als Besucher des Musée du Quai Branly gegenüber, verzichtete man dort doch weitgehend auf genaue Objektbeschreibungen, die überhaupt zum großen Teil erst nachträglich angebracht wurden. Ebenso entschied man sich gegen einen vorgegebenen Weg durch die Dauerausstellung, so dass sich die Besucher auf engen Pfaden an nahezu 300 Vitrinen entlang bewegen. Sie wechseln dabei oft zwischen Regionen und Kulturen, ohne es zu merken. Sascha Renner verwies bereits auf den postmodernen Charakter des Museums, in dem eine „Gleichwertigkeit der Perspektiven“ umgesetzt sei. Das führe jedoch zu einem ambivalenten Resultat (vgl. Renner 2006). Oft zu Lasten ihrer qualitativen Hochwertigkeit, werden die zahlreichen Exponate in relativ dunklen Räumen, definiert ausgeleuchtet, allzu dramatisch in Szene gesetzt. Zudem wird auf die Ausstellungsstücke immer wieder das Konzept des „Meisterwerkes“ angewendet. Dies ist eine, von westlicher Seite her vorgenommene
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Ein Teil des Museumsparks und Ausschnitt der hinteren Fassade des Ausstellungsgebäudes entlang der Rue de l’Université. Foto: Martin Hartung Zuschreibung und schließlich Klassifizierung von Kunstwerken, die unter Ausschluss der Herkunftsländer der betroffenen Objekte Anwendung fand - und zum großen Teil auch finden musste, da die Herkunftsgeschichte der Werke aufgrund ihres meist kolonialen Entstehungshintergrundes vielfach nicht gesichert ist.
Die Präsentation des Kunstwerks als Artefakt Im Vergleich zur Schlichtheit der Sammlungspräsentation im Louvre ist der Ausstellungsbereich des Musée du Quai Branly tatsächlich einem „Mystery Park dramaturgisch näher als einem klassischen Kunstmuseum“ (Renner 2006). So „symbolgeladen“ wie die zentrale Lage ist dann auch der Museumskomplex selbst. Die begrünte Fassade, ihre mit Pflanzen bedruckten Folien, die zwölf Meter lange Glaspalisade, welche den Bau zur Straße hin abgrenzt, der üppige Garten, aber auch die höhlenartigen Aussparungen im Ausstellungsbereich, in denen man multimediale Appetithappen genießen kann, werden schnell zu einem hoch peinlichen Zitat für eine Institution, die mit Vorurteilen aufräumen und zu einem Dialog der Kulturen anregen will: „Der Besucher wird so konsequent auf ein mystisches Naturerlebnis hin eingestimmt - eine problematische Konditionierung, wie manche Museumsleute meinen. Denn seit den ersten Entdeckungsreisen bietet die Ineins-Setzung von Mensch und Natur die Grundlage für ein rassistisch motiviertes Differenzdenken: hier die „Naturvölker“, assoziiert mit dem Irrationalen, Chaotischen und Triebhaften, dort die „Kulturvölker“ westlichen
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Besucher vor der Glaspalisade des Museums am Quai Branly. Foto: Martin Hartung
Ursprungs. Nouvels Szenografie bleibt dieser peinlichen Dichotomie verhaftet, und sie lässt an die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts denken: Damals wurden fremde Völker in Kulissenstädten [...] einem staunenden europäischen Publikum vorgeführt“ (Renner 2006). „L’Autre musée“ - „das andere Museum“ ist einer der Slogans des Quai Branly, doch lassen szenografische Schwächen starke Zweifel an seiner innovativen Kraft aufkommen. So stellt sich die Frage, warum man einem Exotismus verfallen muss, wenn man doch beabsichtigt, die Präsentation außereuropäischer Kunstwerke mit jener europäischer auf eine Ebene zu stellen. 4 Aber es ist wohl gerade dieser Anspruch, der leicht in sein Gegenteil kippt und die Gefahr birgt, dass ein postkoloniales Museum bester Absichten und seine Exponate beinahe solipsistisch beständig in Monologe verfallen, während sie einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden. Nun erreicht man mit der nüchternen Präsentation im Louvre zwar bestens das Ziel einer Widerlegung der Anschauung vom indigenen Künstler, nach der dieser, uneigenständig und fortdauernd bereits Existierendes kopiere. Doch bleibt ein altes Problem kunstethnologischer Debatten bestehen, das sowohl im Louvre als auch im Quai Branly exemplarischen Ausdruck findet: in der Unterscheidung zwischen Kunstwerk und Artefakt.5 Werden ethnographische Objekte wie mitteleuropäische Kunstwerke präsentiert, besteht die Gefahr ihrer unwiederbringlichen Fehleinschätzung, wie es Ingrid Kreide-Damani am Beispiel der Maske verdeutlicht hat:
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Die Dauerausstellung des Palais des Sessions im Louvre. Foto: Martin Hartung
„Eine Maske ist nicht dazu bestimmt, sich einem Betrachter als einzelnes Objekt mitzuteilen. Soll die Maske vom Requisit zur Kunst werden, d.h. eine inhaltliche Bedeutung erlangen, braucht sie einen Träger und der Träger wiederum einen Kontext, der dem Tragen der Maske Sinn verleiht. Erst wenn Träger und Maske vor den Augen des Betrachters zu einer Einheit verschmelzen, die Maske für den Betrachter als einzelnes Objekt nicht mehr erkennbar ist, sondern als Teil einer nicht mehr auseinanderzudividierenden Gesamterscheinung wahrgenommen wird, erhält sie einen Sinn. Masken unter solchen Voraussetzungen der Kategorie >bildende Kunst< zuzuordnen hieße, ihre Bedeutung um einen wesentlichen Teil zu reduzieren“ (Kreide-Damani 1992: 56). Im Musée du Quai Branly, in dem eine Fülle von Masken ausgestellt ist, versucht man der hier beschriebenen Differenz zwischen Gebrauchs- und Kunstwert und einer daraus resultierenden Gefahr der Erschaffung „toter Objekte“ durch multimediale Präsentationen entgegenzuwirken. Immer wieder erhält der Besucher abseits des Hauptausstellungsbereiches an verschiedenen Monitoren die Möglichkeit, sich diverse Tanzdarbietungen zu vergegenwärtigen. Jedoch überwiegt hier der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit in der Auswahl der Performances und durch die von den Ausstellungsobjekten separate Installation der „Music-Boxes“ geht viel von einer erhofften Kontextualisierung verloren. Während eine solche im Gebäude des Musée du Quai Branly zumindest angestrebt ist, folgt die Präsentation der „Meisterwerke“ der nunmehr so benannten art premier im Louvre ausschließlich kunstmusealen Begebenheiten. Wie es für diese Kategorie von Kunst üblich ist,
werden auch im Louvre zu den meisten Ausstellungsstücken die Namen der Künstler, die sie schufen, nicht benannt, wobei die Gegenstände nach Jahrhunderten und nicht nach Jahren datiert werden. Dabei vermag die Unbestimmtheit genauer Werkdaten oftmals auch die zwielichtige Herkunft der Objekte zu entlarven. Denn in der Tat entstammen die meisten Werke, die das Musée du Quai Branly eignet, kolonialen Wurzeln.6 Vor diesem Hintergrund kann einem der Ausstellungstitel „Objet blessés – La Réparation en Afrique“ durchaus sauer aufstoßen. Die so benannte Sonderschau fand vom 19. Juni bis 16. September 2007 statt und zeigte 120 der etwa 500 Objekte des Museums, deren Beschädigungen über einen längeren Zeitraum hinweg in Afrika durch dortige Werkstätten und einzelne HandwerkerInnen behoben wurden. Die Reparaturen sind stets sichtbar und an Werken vollzogen worden, die vormals durch die französische Regierung erbeutet wurden, welche man aber wieder nach Frankreich ins Museum zurück sandte, nachdem sie repariert waren. Sauer aufstoßen kann das insbesondere deshalb, weil die koloniale Herkunft der Sammlung in ihrer musealen Präsentation nicht erwähnt wird, obgleich Jacques Chirac noch vor einem Jahr vielfach erklärte, dass die Institution des Musée du Quai Branly die Schulden gegenüber den Gesellschaften anerkenne, die diese Objekte hervorgebracht hätten.7 So wird auf der 52-minütigen DVD zum Profil des Musée du Quai Branly erstaunlicherweise gar nicht auf die afrikanische Sammlung eingegangen, während den Hintergründen zu Objekten aus den anderen Präsentationsgebieten des Museums genaue Beachtung geschenkt wird.8 Im Haus selbst
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ist von einem kolonialen Erbe der Sammlung nicht die Rede, eher betont man fortwährend ihre enorme Fülle. So liest der Besucher im Eingangsbereich zur Dauerausstellung: „Containing almost three hundred thousand works and artefacts, it has taken five centuries to assemble the museum’s collections, fruit of France’s contact with non-Western cultures designed to take visitors to a voyage of discovery”. Beispielhaft für die Vermittlung der Objektkontexte ist etwa die Audioguide-Beschreibung eines ausgestellten Aloalo-Grabpfahles der Sakalava aus Madagaskar. Man erfährt über die Herkunft des Objektes lediglich, dass dieses Stück 1898 für die Weltausstellung von Paris im Jahr 1900 „gesammelt“ worden sei. Im gleichen Atemzug wird jedoch darüber informiert, dass es sich bei dem Pfahl um ein äußerst wichtiges und außergewöhnliches Kultobjekt für die Sakalava handle. Schließlich stehe es für die dauerhafte Verbindung zwischen den Lebenden und Toten als Zeichen der Anwesenheit ihrer Ahnen, um deren Zuspruch willen man ihnen regelmäßig opfere. Bei einem Kultobjekt von so zentraler Bedeutung für das Volk, dem es zugeschrieben wird, ist es ohnedies nur äußerst schwer vorstellbar, dass es freiwillig den Besitzer gewechselt hat. Ist die Präsentation der Sammlung des Musée du Quai Branly somit der Fehlschlag einer breit angekündigten Wiedergutmachungskampagne? Zu oft hört und liest man auch im Pavillon des Sessions des Louvre von „wahren Meisterwerken“ unserer Kultur fremder Kunst, deren Beschreibung sich jedoch meist sehr stark an westliche Sehgewohnheiten anlehnt. Darauf verwies bereits Lorenzo Brutti, Verantwortlicher für die Einrichtung der Multimediathek im dortigen Ausstellungsbereich der art premier: „Überinterpretationen oder psychoanalytisch begründete Projektionen gehören zu den klassischen Herangehensweisen bei den Interpretationsversuchen von ‚Kennern’ der art premier. Häufig kommt es zu unzulässigen Interpretationen [...]. Man unterscheidet eine Maske der Fang von einer Maske der Bamoum, wirft aber beide als art premier in einen Topf zusammen, indem man sie mit unterschiedlichen stilistischen Details ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Unterschiede zwischen diesen Gesellschaften würzt. [...] Es wird ignoriert, dass eine Malanggan-Maske für die Mehrheit der heute lebenden Neuirländer so viel oder so wenig Bedeutung haben wird, wie ein gallischer Helm für den zeitgenössischen Franzosen“ (Brutti 2006: 238-245). Im Musée du Quai Branly werden teilweise Objekte, deren Altersunterschied oft auf Jahrhunderte bemessen ist, wie selbstverständlich nebeneinander präsentiert und dem Besucher somit eine Existenz der Werke als universelle Objekte in stilistischer Zeitlosigkeit suggeriert. Diese Tatsache steht wiederum in enger Beziehung mit einer Differenz zwischen Kunstwerk und Artefakt, die auch eine zentrale Rolle in der frühen Selbstdefinition des Ethnologen als Wissenschaftler spielte. Der Ethnologe studierte die Natur, unter der die „Wilden“ als zunächst geschichtslose Wesen zweifellos subsummiert wurden.9 Wären diese jedoch als ‚Naturmenschen’ zu
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definieren gewesen, hätten sie keine Kunstwerke hervorbringen können, welche kulturelle Prozesse voraussetzen, die dem Status der Natur enthoben sind.10
Ausblick Ein ethnologisches Museum des 21. Jahrhunderts kann nur ein postkoloniales Museum sein. Leider vermisst man im Musée du Quai Branly ein großes Stück Ehrlichkeit, es bleibt ein Flunkern über die Geschichte der Institution selbst und die Herkunft seiner Exponate. Vor allem aber hält sich der Eindruck einer Inkonsequenz in der Sammlungspräsentation hartnäckig. Bekamen im Louvre die „Meisterwerke“ der art premier ihren pointiert schlichten und sondiert ausgeleuchteten Ausstellungsbereich - ein Stockwerk unter den spanischen und italienischen Gemälden des 17. und 18. Jahrhunderts - so verbleiben die Werke im vorwiegend abgedunkelten Musée du Quai Branly in Design-Vitrinen vor Pflanzenfolien. Und hat man die 180 Meter lange, geschwungene Rampe vom Eingang zum Ausstellungsbereich hinter sich gebracht, passiert man einen kurzen, dunklen Tunnel zum Hauptausstellungsbereich. Wenn dann Kinder in der Nähe sind, hört man gelegentlich wie sie Geistergeräusche nachahmen... . „The Quai Branly is turning into a real social forum“, sagte sein Präsident Stéphane Martin in der Museumsrundschrift Le Monde 2 und braucht sich dabei wohl noch keine Sorgen um die von Michel Colardelle beschriebenen Nöte der so genannten Musées de Société (Gesellschaftsmuseen) zu machen, um deren Zukunft aufgrund sinkender Besucherzahlen und einem scheinbar „ausdrücklichen Desinteresse“ der akademischen Forschung an der „materiellen Kultur“ es nicht allzu gut bestellt sei. (vgl. Colardelle 2006: 161). Ob das von Colardelle geleitete und im stetig unsicheren Entstehen begriffene Musée des civilisations de l‘Europe et de la Méditerranée in Marseille, das dort voraussichtlich 2011 eröffnet werden soll, nach einem Jahr auch über 1,6 Millionen Besucher verzeichnen kann, so wie sie dem Musée du Quai Branly beschert wurden, bleibt abzuwarten. Mit den Zusatzprogrammen des Museums, wie den zahlreichen internationalen Konferenzen, vermag das Musée du Quai Branly einen wichtigen Beitrag zu einer lebendigen kulturellen Szene in der französischen Hauptstadt und einem ertragreichen wissenschaftlichen Dialog in der Welt zu leisten. Hatte sich beispielsweise eine Inauguraldebatte einen Tag nach Martin Hartung (24) ist in Magdeburg geboren und seit 2002 Student an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale. Dort studiert er im Magisterstudiengang Kunstgeschichte im Hauptfach, Evangelische Theologie und Ethnologie im Nebenfach. Er ist Mitbegründer der Studentengalerie stuArt.07 in Halle/Saale und war seit 2005 Ausstellungsassistent an der Kunsthalle Bremen, dem Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig und dem Museum der Moderne in Salzburg.
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der Eröffnung des Hauses bereits mit museologischen Fragen auseinandergesetzt, so fand genau ein Jahr später eine dreitägige Konferenz statt, welche sich mit der Beziehung zwischen den beiden Disziplinen Kunstgeschichte und Anthropologie an drei verschiedenen Orten in Paris auseinander setzte.11 Jedoch gewinnt man fortwährend den Eindruck, als wären die Ausstellungsplaner im Musée du Quai Branly bei einer Gratwanderung zwischen naturkundlicher und kunstmusealer Sammlungspräsentation vom Wege abgekommen.12 Es bleibt zu hoffen, dass den Koordinatoren der geplanten ethnographischen Schau im Berliner Stadtschloss, das um 2015 als Humboldt-Forum seine Tore öffnen soll, diese Inkonsequenz in Paris eine Lehre ist, hat man doch bereits beide Projekte, wenn auch nicht explizit, miteinander in Verbindung gebracht.13 Es wurde längst erkannt, dass Kunst eine Form kultureller Selbstreflexion ist. Das Musée du Quai Branly mit seinem Anspruch, ein Ausstellungsort nichtabendländischer Kunst zu sein, die zugleich keine Gegenwartskunst darstellt, muss einen Raum für die Ideen vieler wissenschaftlicher Disziplinen darstellen. Mit einer konsequenteren kuratorischen Transparenz und Didaktik sollte endlich realisiert werden können, was Sally Price schon vor über 18 Jahren anregte: „Nachdem wir akzeptiert haben, daß [sic] Werke ‚primitiver Kunst’ es wert sind, zusammen mit den Werken der angesehensten Künstler unserer eigenen Gesellschaften ausgestellt zu werden [...], besteht unsere nächste Aufgabe darin, die Existenz und Berechtigung der ästhetischen Systeme, innerhalb derer sie entstanden sind, anzuerkennen. Kontextualisierung bestünde dann nicht länger in der erdrückenden Erörterung esoterischer, unsere Psyche von der Schönheit der Gegenstände ablenkender Glaubensvorstellungen und Rituale, sondern käme einer neuen Brille gleich, die uns die Dinge in einem anderen Licht erscheinen lässt“ (Price 1992: 140).
premier geht auf Jacques Kerchache zurück, der sie 1990 publik machte. 4 vgl. einen Kommentar Gorgus’ auf: http://joernborchert.twoday. net/stories/2302261/, 20.08.2007, 11:48 Uhr. 5 So stellte Maurice Godelier, bis zum Jahr 2000 wissenschaftlicher Direktor des Musée du Quai Branly, als eine wesentliche Eigenschaft von Kunstobjekten deren Nichtgebrauchscharakter heraus: vgl. Godelier, Maurice: „Die Vision: Die Einheit von Kunst und Wissenschaft im Musée du Quai Branly“, in: Grewe 2006. (vgl. hierzu Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003 und Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006) 6 Vgl. etwa die Tagebücher von Michel Leiris, der 1934 in seinem „L’Afirique fantôme“ die verbrecherischen und dreisten Taktiken bei der Beschaffung von Stammeskunst durch ihn selbst und seine Kollegen geschildert hat. 7 Grundlegende Elemente der Eröffnungsrede Chiracs, jedoch zum Teil stark vereinfacht, finden sich im präsidialen Grußwort des Museumsführers. Siehe hierzu: Viatte, Germain (u.a.): Le guide du musée du quai Branly (museum guide book), Musée du Quai Branly, Paris 2006. 8 Viatte, Augustin: „Quai Branly. L’Autre Musée“, 2006, DVD. 9 Vgl. Zimmermann, Andrew: From natural Science to Primitive Art: German New Guinea in Emil Nolde, In: Grewe 2006, S. 279300. 10 Cordula Grewe folgerte schließlich, dass die „primitive“ Kunst, von diesem Standpunkt aus gesehen, einem Oxymoron gleiche. (vgl. Grewe 2006: 30) 11 Die Inauguraldebatte fand am 21.06.2006 im Musée du Quai Branly unter der Leitung Bruno Latours statt. Ein vollständiges Protokoll der eintägigen Debatte ist erschienen bei Babel: Le dialogue des cultures. Actes des rencontrés inaugurales du Musée du Quai Branly (21. Juin 2006), Paris 2007. 12 (vgl. Errington 1999: 24-28) 13 Vgl. Interview mit Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee unter http://www.berliner-schloss.de/start.php?ctrl=showZR&navID=1 77&zr=82, 20.08.2007, 13:50 Uhr.
Fußnoten
Referenzen
1 Das Zitat ist einem Interview mit Stéphane Martin entnommen, das Jacques Buob und Emmanuel de Roux für die im Museum ausliegende Rundschrift Le Monde 2 führten. 2 Im Fall des Musée du Quai Branly begegnet uns eine Modifizierung jener, von der kunstwissenschaftlichen Forschung ausgeführten, These zu einer ‚Weltkunst‘, die der ‚Westkunst‘ nachfolgte. (vgl. hierzu u.a.: Volkenandt, Claus (Hrg.): Kunstgeschichte und Weltgegenwartskunst. Konzepte – Methoden – Perspektiven, Basel: Reimer 2004) Eine Modifizierung liegt hier insofern vor, als dass wir es bei den Beständen des Quai Branly nicht mit Gegenwartskunst zu tun haben, sondern mit tradierten Objekten von zumeist kolonialer Herkunft. 3 Das Begriffspaar „Primitive Kunst“ bezeichnete die Kunst der Naturvölker Afrikas, Ozeaniens und der Ureinwohner Amerikas, wobei der Begriff „primitiv“ dabei im etymologischen Sinn „uranfänglich“ meint. Mit der jüngeren Bezeichnung art premier wird das vormalige art primitif (primitive art) ersetzt, wobei diese Zuschreibung, vor allem aufgrund ihrer hierarchischen Konnotation, nicht unkritisch aufgenommen wurde. Die Bezeichnung art
Brutti, Lorenzo 2006. Die Kritik: Ethnographische Betrachtungen des Musée du Quai Branly aus der Perspektive eines Teilnehmenden Beobachters. In: Grewe 2006, S. 231-251 Colardelle, Michel 2006. Musées de Société im 21. Jahrhundert – Was soll mit ihnen geschehen?. In: Grewe 2006, S. 161-167 Errington, Shelly 1999. The death of authentic primitive art and other tales of progress. California Grewe, Cordula (Hg.) 2006. Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische historische Studien 26). Stuttgart Kreide-Damani, Ingrid 1992. KunstEthnologie: Zum Verständnis fremder Kunst. Köln Price, Sally 1992 [1989]. Primitive Kunst in zivilisierter Gesellschaft. Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt am Main Renner, Sascha 2006. Eine Design-Savanne mitten in Paris. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 23.06.2006, S. 53; Nr. 9693 Viatte, Germain 2006. Das Konzept: Ein Essay zum Musée du Quai Branly als „Projet Muséologique“. In: Grewe. S. 207-214
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Das Erbe des Ousmane Sembène Eine Reminiszenz an einen bedeutenden Künstler Senegals von Alice Jahn
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ls Ousmane Sembène, am Samstag, den 9. Juni 2007 im Alter von 84 Jahren in Dakar stirbt, wurde nicht nur in Senegal um ihn getrauert. Dem humanistischen Wegbereiter des afrikanischen Kinos wurde, im Namen des in Frankreich tagenden Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor, vom Premierminister Macky Sall und Kulturminister Mame Birame Diouf, eine große offizielle Ehrenzeremonie organisiert. Gemäß dessen fanden sich unter den Trauernden seine Freunde, Familienangehörige, die nahezu gesamte senegalesische Regierung, sowie administrative und religiöse Autoritäten, Künstler aus der Literatur-, Kino-, Theater- und Musikszene, und zahlreiche andere nationale und internationale Persönlichkeiten ein, um sich von dem „Baobab des afrikanischen Kinofilms“ zu verabschieden. Die Familie des Kinokünstlers Ousmane Sembène äußerte damals den Wunsch der Vollendung seines letzten Spielfilms „Almany Samoury Touré“. Der Film sollte dem Widerstandskämpfer der kolonialen Penetration huldigen. Er selbst gab noch zu seinen Lebzeiten dazu bekannt „si je ne fais pas „Samory“, d’autres le feront“. Demnach forderte der Direktor der vereinigten senegalesischen Kinokünstler (CINESEAS – cinéastes sénégalais associés), Cheikh Ngaïdo Bâ die senegalesischen Autoritäten auf, den Film Sembène zu Ehren, zu realisieren. Der Staatspräsident Abdoulaye Wade bedauerte den Tod von Ousmane Sembène als großen Verlust für Senegal und Afrika. Aufgrund seiner Abwesenheit ließ der Premierminister Macky Sall in seinem Namen verlauten, dass er der Nation wünscht, den für die Freiheit und die Würde des schwarzen Mannes kämpfenden Künstler in Ehren zu halten, der ein außergewöhnliches Erbe hinterlassen hat. Gemäß der Instruktion des Staatschefs wurde er von der gesamten Regierung begleitet und hat der trauernden Familie gegenüber sein aufrichtiges und herzlichstes Beileid ausgesprochen. Der Kulturminister von Mali, Cheikh Oumar Sissoko, selbst Kinokünstler, ist davon überzeugt, dass Ousmane Sembène nie etwas anderes getan habe als in und für Afrika zu wirken, einem Kontinent dem er mit Hilfe von Bildern das Bewusst-
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sein geweckt hat. „Er hat Afrika verholfen seine Identität zu verstehen und sich eine kulturelle Perspektive zu schaffen.“ Die französische Kulturministerin Christine Albanel und der französische Minister für Immigration, Brice Hortefeux bedauerten ebenso den Verlust des Kinokünstlers für die Frankophonie. Der Generalsekretär von Fespaco (Festival panafricain du cinéma et de la télévision de Ouagadougou), Baba Hama, erklärte mit dem Tod von Sembène den „Baobab für gefallen“. Weiter meint er, dass alle Werke, die er realisierte, Werke von sehr großem Rang seien, und heutzutage zu den klassischen Werken des afrikanischen Kinos zählten. Der Präsident der senegalesischen Schriftsteller, Alioune Badara Bèye, meinte, die Literatur von Ousmane Sembène habe keinerlei Segment der senegalesischen Gesellschaft ausgelassen. Seine Schriftwerke hätten stets provoziert und Hoffnungen geweckt. Tageszeitungen wie Le Populaire beschrieben den verstorbenen Artisten als den Wegbereiter des Kinos, der das widerständige Afrika symbolisierte und zugleich eine Absage an die kulturelle Vernichtung erteilte. Die Tageszeitung Le Soleil schreibt über seinen Tod „der Bilderzauberer ist entschlummert“ Andere Stimmen aus der Senegalesischen Bevölkerung, die sich in diversen Internetforen1, anlässlich des Todes von Ousmane Sembène äußern, lassen verlauten, dass es traurig sei, dass die breite senegalesische Öffentlichkeit sich der Präsenz und Bedeutung wichtiger Persönlichkeiten, wie Ousmane Sembène, Cheikh Anta Diop und vieler anderer vor ihnen erst nach ihrem Tod bewusst werde. Hätte man Ousmane Sembène tatsächlich zu seinen Lebzeiten bedacht, hätte er seinen letzten Film „Samory“ noch vor seinem Tod gedreht. Denn Sembène wurde oft, besonders zu Zeiten des Präsidenten Léopold Sédar Senghor, die Veröffentlichung seiner Filme erschwert. Es wird daher appelliert das afrikanische und besonders das senegalesische Kino mehr zu unterstützen ohne dabei die Literatur zu vergessen. Kritischere Stimmen aus der Bevölkerung fragen sich ebenso, was man für das Erbe von Sembène Ousmane tatsächlich tun werde, denn es scheint, dass die senegalesische Jugend die Schriftstücke, Gedanken und wertvollen Filmwerke kaum oder nur vage kennt. Hingegen wisse sie bestens Bescheid über fade und ge-
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schmacklose mexikanische und brasilianische Seifenopern wie z.B. Rubi, die täglich im Fernsehen ausgestrahlt werden.2 Nach der Eroberung durch die Araber und Europäer wendeten sie sich nun dem mentalen Stumpfsinn ausländischer Produktion zu, anstatt von ihrem sozialpolitisch und historisch wertvollen eigenen Kulturerbe, das Künstler wie Ousmane Sembène hinterlassen haben, zu profitieren. Aus diesem Grund fordern senegalesische Bürger in einschlägigen Blogs wie denen der Website unter www.rewmi.com unter anderem die Ausstrahlung von mehr senegalesischen Filmen im Fernsehen von Sendern wie RTS und die intensivere Behandlung seiner Filme in Schulen im Zusammenhang mit interaktiven Themen. Nur wenn man die Botschaft von Ousmane Sembène kennt könne man ihn auch tatsächlich würdigen.
Biographie Als Sohn einer Fischerfamilie 1923 in der Casamance im Süden von Senegal geboren wird er bereits in den dreißiger Jahren von seiner Familie nach Dakar geschickt. Dort geht er einfachen Tätigkeiten als Mechaniker und Maurer nach und wird schließlich 1942 von der französischen Kolonialarmee eingezogen. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges lebt er arbeitslos für eine kurze Zeit in Senegal, bevor er 1948 im Alter von 25 Jahren beschließt, illegal an Bord eines Schiffes nach Frankreich auszuwandern. Er lebt von 1946 bis 1960 in Marseille, wo er verschiedene Tätigkeiten als Mechaniker, Docker, Maurer und Hilfsarbeiter ausführt. Seine Tätigkeit als Docker inspiriert ihn zu seinem ersten Roman „Le Docker noir“, der 1956 erscheint. Als Anhänger der CGT und Mitglied der französischen kommunistischen Partei setzt er sich gegen die Kriege in Indochina und für die Unabhängigkeit Algeriens ein. 1960 publiziert der Autodidakt „Les Bouts de bois de Dieu“, das den Streik der Eisenbahner von 1947 bis 1948 beim Bau der Eisenbahnstrecke zwischen Dakar und Bamako thematisiert. Es behandelt den Kampf der afrikanischen Eisenbahner, „Bouts de bois de Dieu“ genannt, um die Gleichberechtigung und Gleichstellung mit französischen Eisenbahnern. Der historische Wert
dieses klassischen Romans führt dazu, dass sein Inhalt in den Schulen von Senegal und anderen westafrikanischen Ländern behandelt wird. Im Jahr der Unabhängigkeit des französischen Sudans (u.a. Senegal) kehrt Ousmane Sembène nach Afrika zurück und bereist zunächst verschiedene Länder wie Mali, Guinea, und den Kongo. Zu jener Zeit erkennt er, dass er über Bilder mehr Menschen erreichen kann als mit Büchern, und bemüht sich deshalb um ein Studium der Filmtechnik. Aufgrund seines kommunistischen Hintergrundes wird ihm 1962 ein Studienplatz am Institut für Filmtechnik VGIK in Moskau angeboten. Unter der Leitung von Marc Donskoï und Serguei Guerassimov lernt er im Filmstudio Gorki innerhalb eines Jahres mit der Kamera umzugehen und Filme zu drehen. Am Ende seiner Ausbildung kehrt er mit einer alten russischen Kamera im Gepäck in den Senegal zurück, um damit sein neu erworbenes Wissen zur Realisierung seiner Bücher zu nutzen. So publiziert er 1963 seinen ersten Kurzfilm „Borom Saret“ (der Karrenbesitzer), der einen Preis beim „Festival de Tours“ erhält. 1966 realisiert er seinen ersten Spielfilm „La Noire de …“, der als erster afrikanischer Spielfilm überhaupt gilt und der mit den Preisen „Jean Vigo“ in Frankreich und „Tanit d’or“ während der Filmtage in Karthago 1966 ausgezeichnet wird. Außerdem erhält er im selben Jahr auf dem „Festival mondial des Arts nègres“ in Dakar den Preis für den besten afrikanischen Regisseur. 1968 erhält der Film „Le Mandat“ (Wolof: „Manda bi“), eines seiner Meisterwerke den Preis der internationalen Kritik bei dem Filmfest von Venedig in Italien. Der Film wurde nicht nur in Französisch sondern auch in Wolof3 gedreht. Damit gilt Ousmane Sembène als der erste afrikanische Filmregisseur, der in seinen Filmen eine afrikanische Sprache benutzt. 1988 realisiert er seinen ersten historischen Film „Camp de Thiaroye“. Der Film wird zunächst in Cannes nicht erlaubt, da Sembène darin den Aufstand der senegalesischen Schützen schildert, die von der französischen Armee ihren Sold verlangen. Er zeigt, wie die Schützen, nachdem sie Frankreich von der nazistischen Belagerung befreit haben, demobilisiert, ohne jegliche Auszeichnung oder gar Anerkennung zurückgelassen werden. Dennoch wird der Film mit dem Spezialpreis der Jury auf dem Filmfest von Venedig ausgezeichnet.
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In einem seiner letzten Filme „Moolaadé“ (2004) spricht er eines der humanitär heikelsten Themen und absoluten Tabus in der afrikanischen Gesellschaft an, die Beschneidung von Mädchen. Dafür wurde er international mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Mitarbeit eines französischen Technikerteams, einem Bühnenbildner aus Benin, Produktionsleitern aus Burkina Faso und einigen senegalesischen Kameramännern, sowie Schauspielern aus Burkina Faso, Mali, und der Elfenbeinküste und die Verwendung afrikanischer Sprachen wie Wolof, Diola und Bambara bei der Verfilmung, spiegeln Sembènes panafrikanischen Traum eines vereinigten und solidarischen Afrikas wieder. Der Film ist Teil der Trilogie „L’Héroïsme au quotidien“, deren erster Teil „Faat Kiné“ (2000) ist und deren letzter Teil „Samory“ durch den Tod von Sembène bislang unvervollständigt bleibt.
Thematiken seiner Werke Ousmane Sembène hat neben Romanen und Spielfilmen auch mehrere Novellen, Kurzfilme, und Dokumentarfilme veröffentlicht. Aber er agiert nicht nur als Schriftsteller und Regisseur, sondern auch als Drehbuchautor, Schauspieler und hartnäckiger Aktivist, der in seinen Büchern und Filmen immer wieder mit sozialkritischen und politischen Themen provoziert. Er zentralisiert Themen, die von der Regierung meist unbehandelt bleiben. Er rückt Werte, Ängste, Bedürfnisse, Hoffnungen, Problematiken, Streitfragen und Lebensbedingungen eines Großteils der mehrheitlich analphabetischen afrikanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt und wird somit zu deren Sprachrohr ihrer eigenen Kultur. „On peut faire autre chose que de regarder vers l‘Arabie Saoudite ou vers l‘Occident. On peut regarder vers l‘intérieur de l‘Afrique, sa culture, sa spiritualité“ (Ousmane Sembène). In Romanen wie „O pays, mon bon peuple“ (1957) und dem wohl bekanntesten seiner Romane „Les Bouts de Bois de Dieu“ (1960) schildert Ousmane Sembène das Bild von einem leidenden und aufständischen Afrika, das in seiner ablehnenden Haltung zu einer entfremdeten Tradition versucht, sich neu aufzubauen. In seinen Filmen hingegen geht er unter anderem auf die administrativen, finanziellen und traditionellen Probleme ein, denen das einfache Volk kurz nach der Unabhängigkeit gegenüber gestellt wird (Borom Saret 1963). Auch die europäische Haltung gegenüber ihren afrikanischen Angestellten in der postkolonialen Periode (La Noire de… 1966) spielt dabei eine Rolle. Zudem behandelt er die Ausbeutung und Zwangsrekrutierung des senegalesischen Volkes durch die französische Armee im Zweiten Weltkrieg (Camp de Thiaroye 1988, Emitaï 1971). Weiterhin thematisiert er intrasoziale Folgen in der indigenen Bevölkerung durch Invasionen christlicher und islamischer Religionen, und ihre Rolle in der Zerstörung von traditionellen sozialen Strukturen im Einverständnis mit der lokalen Aristokratie (Ceddo 1977, Guelwaar 1993) und setzt sich kritisch mit Polygamie in der neu aufkommenden senegalesischen
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Bourgeoisie nach der Unabhängigkeit (Le Mandat 1968, Xala 1974), der Stellung der Frau in der senegalesischen Gesellschaft (Faat Kiné 2000) und der Beschneidung von Frauen in Afrika (Moolaadé 2004) auseinander.
Die Bedeutung des Films für Ousmane Sembène Schon seit 1956 richtet Ousmane Sembène sein Interesse auf das Leben der einfachen Leute. Seine Werke transportieren die ungehörten Stimmen der vom politischen und öffentlichen Leben ausgeschlossenen und im Hinterland lebenden Afrikaner an die Öffentlichkeit. Obwohl Sembène zunächst die französische Literatur bevorzugt um seine Gedanken, Erfahrungen, Weltanschauung und Gefühle zu veräußern, erkennt er schon 1938, dass das Kino eine magische Macht besitzt, über das er seinem illiteraten Zielpublikum endlich den Zugang zu den Inhalten seiner Schriftwerke gewähren kann. Der Film bietet ihm ein universelles transportables Kommunikationsmedium: die Sprache der Bilder. „Je peux aller au village et présenter le film. Car tout peut être filmé et transporté dans le plus profond village de l‘Afrique“ (Ousmane Sembène).4 Die Mehrheit der Afrikaner lebt auf dem Land und nimmt nur eine marginalisierte Rolle in der Öffentlichkeit ein, in der sie kaum oder gar nicht ihre Meinung zum Ausdruck bringen kann. Dies ist hauptsächlich auf den unzureichenden Spracherwerb der ehemaligen nun offiziellen Kolonialsprache französisch zurückführbar, und deren dominante Rolle im politischen, administrativen und öffentlichen Bereich, unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass nur ein geringer prozentualer elitärer Anteil der Bevölkerung französisch in Wort und Schrift beherrscht. „Mon audience se trouve en Afrique, quant à l’Occident et au reste du monde, je ne les considère que comme des marchés“ (Ousmane Sembène).5 In seinen Filmen, die in erster Linie nicht nur der allgemeinen Zerstreuung und dem Vergnügen dienen, möchte Ousmane Sembène u.a. die afrikanische Kultur an die breite Masse bringen und die Gemüter auf dem Land wecken. Mit der Veröffentlichung seiner Filme in afrikanischen Sprachen nimmt der Cineast daher die letzte Hürde, um das afrikanische Publikum in größtmöglichen Massen zu erreichen. Schon 1968 veröffentlichte er einen seiner wichtigsten Filme „le Mandat“ in Wolof („Manda bi“). Auch von dem Film „Xala“ gibt es eine Fassung in der Sprache. Desweiteren wurde der preisgekrönte Film „Moolaadé“ in den senegalesischen Sprachen Wolof und Diola, sowie in Bambara, das auch in Mauretanien, Mali, Burkina Faso und in der Elfenbeinküste verstanden wird, veröffentlicht. Sembène suchte aber auch den Dialog zwischen den Kulturen, was durch die internationale Zusammenar-
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Sembènes Markenzeichen: Dunkle Sonnenbrille, die Pfeife im Mundwinkel, so zeigte sich der Filmkünstler gerne in der Öffentlichkeit. beit bei vielen seiner Filmproduktionen (Camp de Thiaroye, Faat Kiné, Moolaadé) zum Ausdruck kommt. Die Übersetzung ins Englische von sieben seiner literarischen Werke und die Existenz von englischen, französischen, deutschen, japanischen und chinesischen Untertiteln zu all seinen Filmen spiegeln ebenfalls sein internationales Interesse wider. Benutzt er den Film einerseits als Sprachrohr der marginalisierten Bevölkerung um deren Interessen zu repräsentieren, so benutzt er ihn andererseits als eine Art „Abendschule“, in der er seinem Publikum etwas von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit beibringen und den Stolz und die Würde der afrikanischen Völker wiederherstellen möchte. Kommerzielle Interessen rücken dabei in den Hintergrund. Da seine Ansichten und behandelten Thematiken oft im Uneinverständnis mit der lokalen Elite standen, wurde eine Vielzahl seiner Filme vor allem unter der Amtszeit von Léopold Sédar Senghor verboten oder zensiert. Zu diesen Filmen gehörten unter anderem die historischen Spielfilme „Ceddo“ (1977) und „Camp de Thiaroye“ (1988). Seine Freimütigkeit, dass zu sagen was er denkt, sieht er dennoch nicht als Makel sondern als seine persönliche Freiheit. Selbst mit dem Auftreten einer neuen Generation von senegalesischen Kinokünstlern und Schriftstellern wie Djibril Diop Membétz und Boubacar Boris Diop in den siebziger Jahren, ist und bleibt Ousmane Sembène eine bemerkenswerte Persönlichkeit in der afrikanischen Moderne der Künste.
4 Gadjigo, Samba. 10. Juni 2007. Hommage à Ousmane Sembène: Le père du cinema africain et le plus prolifique des écrivains francophones. http://www.walf.sn/culture/suite.php?rub=5&id_ art=38416 02.03.2008 5 Gadjigo: 10.Juni.2007
Referenzen Barlet Olivier. 11. Juni 2007. Sembène le mécréant. http://www. africultures.com/index.asp?menu=affiche_ article&no=5967 02.03.2008 Cissokho, Aboubacar Demba. 04 Juli 2007. Sembene Ousmane: la retraite definitive d’un home libre. http://www.continentpremier. info/modules.php?name=News&file=print&sid=1265 02.03.2008 Gadjigo, Samba. 10. Juni 2007. Hommag à Ousmane Sembene: Le père du cinema africain et le plus prolifique des écrivains francophones. http://www.walf.sn/culture/suite.php?rub=5&id_ art=38416 02.03.2008 Kasse, El Hadj. 12. Juni 2007. Sénégal: Le maître Sembène est mort, un militant de l’art est parti. http://fr.allafrica.com/stories/200706120346.html 02.03.2008 Sane, Idrissa. 12.Juni 2007. Obsèques de Ousmane Sembène: L’Afrique reconnaissante à un géant du cinema. http://www.rewmi. com/index.php?action=article&id_article=473545 . . 02.03.2008 Sene, Fatou K. (Wal Fadjri). 12 Juni 2007. Sénégal: Levée du corps de Sembene, le monde des arts pleure l’aîné des anciens. http:// fr.allafrica.com/stories/200706120162.html 02.03.2008 Cinema > Ousmane Sembene: Filmographie: http://www.senegalaisement.com/senegal/ousmane_sembene.html 02.03.2008
Fußnoten 1 beispielsweise http://www.rewmi.com/indexphp?action=article&i d_article=473545 2 Sane, Idrissa. 12.Juni 2007. Obsèques de Ousmane Sembène: L’Afrique reconnaissante à un géant du cinema. http://www.rewmi.com/index.php?action=article&id_article=473545 posté par ‘un_citoyen’ 02.03.2008 3 Wolof ist die Sprache, die von 80% der Bevölkerung verstanden wird.
Alice Jahn (23) studiert an der Universität Leipzig Afrikanistik und Arabistik auf Magister. Sie absolvierte in Nord-Nigeria einen Hausa-Sprachkurs und studierte von 2006 bis 2007 an der Université Cheikh Anta Diop de Dakar in Senegal.
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Ethmundo.de – die Welt im Web Eine Netzvorstellung von Rüdiger Burg
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aszinierende Feststellungen verschiedener Wissenschaftler sollen auch für ein nicht-akademisches Publikum zugänglich sein. Deshalb wuchs bei einigen münsterischen EthnoFachschaftlern das Bedürfnis, völkerkundliche Themen der Allgemeinheit näher zu bringen. Dafür wollten die Fachschaftsvertreter damit beginnen, journalistisch zu arbeiten. Ansprechende und klare Formulierungen erschienen geeigneter, Leser zu locken, als hochwissenschaftliche Monologe. Doch viele Wege führen in die Köpfe der Menschen. Wir entschieden uns für das Medium Internet. Die AG Online-Journalismus entstand. Obwohl sie eine Gründung des Fachschaftsrats war, stand sie allen Ethno-Studenten offen. So lud der Fachschaftler Yaw Awuku seine Kommilitonen zu ersten Treffen ein. Die Fachschafts-AG beschloss, ein virtuelles Magazin ins Leben zu rufen. Ein Weg an die Öffentlichkeit war gefunden. Journalistisches Wissen eigneten sie sich über unterschiedliche
Die Ethmundo-Redaktion: Birger Krause, Rüdiger Burg, Yaw Awuku (oben), Annika Franke, Caro Kim, Freya Morigerowsky und Annika Strauss. Foto: Annika Strauss Quellen an. Das Ethmundo-Gründungsmitglied Annika Strauss unterrichtete Interessierte im journalistischen Schreiben. Als freie Mitarbeiterin einer Tageszeitung gab sie ihre praktischen Erfahrungen innerhalb eines Workshops weiter. Die studentischen Teilnehmer mussten sich vielfach von ihrem wissenschaftlichen Schreibstil ver-
Ethmundo.de ist ein ethnologisches Online-Magazin aus Münster. Die Zeitschrift ist ein Kind der dortigen Fachschaft Ethnologie. Das Ethno-Magazin ist ein offenes: Mitmachen erwünscht! Wer einen Text, einen Audio- oder einen Video-Beitrag zu einer soziokulturellen Thematik beisteuern möchte: Einfach an die Mail-Adresse redaktion@ethmundo.de schicken. Alle drei Monate er-
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abschieden. Diese erste Hürde genommen, standen die angehenden Online-Redakteure vor der nächsten. Wie stelle ich mein Machwerk ins Netz? Ein HTML-Workshop unter der Leitung von Yaw Awuku beantwortete diese Frage. Für die Wissensvermittlung sorgten jedoch nicht allein Redaktionsmitglieder. Der Kommunikati-
scheint eine neue Ausgabe. Die nächste am 17. März. Ihr Hauptaugenmerk wird der menschlichen Psyche gelten. Darüber hinaus ist für die Zukunft die Akquise von Werbekunden geplant. Die Redaktion möchte dadurch unabhängig von Fachschaftsgeldern existieren können. Denn obwohl Ethmundo keine zwei Jahre alt ist, ist es an der Zeit auf eigenen Füßen zu stehen.
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onswissenschaftler Prof. Dr. Neuberger referierte im ethnologischen Institut über „Publizieren im Internet“. Derart Der Name Ethm ausgerüstet, war das undo steht für ei ne ethnologische (Eth) Betrachtun Ethmundo-Team beg der Welt (mun do). reit loszulegen. Anfang Juli 2006 war es dann anstaltung zeigen die Vielsoweit: An Heim-PCs entwickelt, fältigkeit der Ethnologie. In ihrer Mit Mythen drehte ging Ethmundo in die weite Web- Machart ist die Nummer zwei ein- sich in der fünften Magazin-AusWelt hinaus. Als Autoren betätigten malig. Sie fungierte als Forum für gabe alles um einen typisch ethnosich Yaw Awuku, Rüdiger Burg, Re- die Symposiumsteilnehmer. Die logischen Themenbereich. Wie die becca Müller und Annika Strauss, Ethmundo-Mitarbeiter verfassten dritte wartete diese, bislang letzte eine kleine Gruppe von Studenten keine Magazin-Artikel, sondern Ausgabe mit einem Experten-Inund Absolventen der Ethnologie. redigierten die Symposiums-Beiträ- terview auf. Nach Prof. Dr. PlatenIn der ersten Ausgabe kam mit To- ge. kamp ließ mit Prof. Dr. Sprenger bias Kroll aber auch ein Gastautor „Wohnwelten“ hieß der dritte ein weiterer Münsteraner Ethnozu Wort. Er sollte nicht der letzte Streich der Ethmundo-Redaktion. loge die Ethmundo-Leserschaft an Externe bleiben, dessen Werk das Wie dem Titel unschwer zu entneh- seinem Fachwissen teilhaben. Mitmach-Magazin bereicherte. men ist, ging es ums Wohnen. Der Trotz Themenschwerpunkten Vor allem die Ethnologie-Studen- Leser erfährt, wie die Menschen in erscheinen in den Ausgaben außertin Sarah Wessel berichtete für das Ländern wie Ägypten, Indonesien dem noch schwerpunkt-unabhänmünsterische Magazin von ihren oder Südkorea bauen und leben. gige Beiträge. In diesem Kontext Reisen. Erfahrungen aus dem Feld Der Großteil der Aufsätze stammte tut sich die Ethnologie-Magistranlassen die Ethmundo-Macher auch wieder aus der Feder von Ethmun- din Freya Morigerowsky hervor. Sie selbst in das Ethno-Magazin ein- do-Redakteuren. Gegenüber der brachte sich mit Interviews, Melfließen. Annika Franke ist ein gutes Erstausgabe verdoppelte sich die dungen und Rezensionen in die ReBeispiel. Nach einem Mexiko-Auf- Zahl der Beiträge. Kein Wunder: daktionsarbeit ein. enthalt beschrieb sie in einem Be- Die Redaktion zählte inzwischen richt ein Übergangsritual. zehn Mitglieder. Die Ethno-StuEine Ethmundo-Ausgabe be- dentinnen Melanie Biggeleben, AnRüdiger Burg M.A. (1978) handelt immer auch ein Schwer- nika Franke, Caro Kim und Simone studierte Soziologie, Ethnopunktthema. Den Anfang machte Schubert debütierten. logie und Politikwissenschaft. das Thema Kannibalismus. Die Feste im In- und Ausland beIn seinem Ethnologie-Studium Autoren analysierten ethnologische herrschten Ethmundo Nr. 4. Zu an der Universität Münster Quellen zur „Menschenfresserei“. den Ethmundo-Autoren gesellte widmete er sich primär der Das Ergebnis: Es gab sie. Dabei sich nun Birger Krause. Der schwäReligionsethnologie. In diewaren die Verfasser um den Abbau bische Student der Ethnologie ist sem Zusammenhang lag ein von Vorurteilen bemüht. eigentlich ein „Redaktions-UrgeSchwerpunkt auf westafrikaIm Fokus der zweiten Ausgabe stein“: Er verbessert die Optik der nischen Besessenheitskulten. stand das Ethno-Symposium 2006. Website seit es sie gibt. Er steht Er ist Chefredakteur der Photos und Vorträge der Teilneh- vielfach hinter den Grafiken auf Ethmundo. mer der studentischen Großver- Ethmundo.de.
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Die MASKE – Anthropologie in die Öffentlichkeit! Eine Printvorstellung der MASKE Redaktion
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ie MASKE ist eine studentische Zeitschrift, die derzeit von vier StudentInnen der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien herausgegeben wird und einmal pro Semester erscheint. Das Projekt begann im Herbst 2006 unter der Leitung von Norma Deseke, Gründerin des Kulturvereins Pangea. Die erste Ausgabe erschien im Juni 2007 mit einer Auflage von 300 Stück und war schnell vergriffen. Sie wurde primär im universitären Rahmen verkauft und rezipiert. Mit der zweiten Ausgabe, die im Jänner 2008 mit einer Auflage von 700 Stück erschien, versuchen wir auch außeruniversitäre Leserschaft zu gewinnen. Die Schwerpunkte der zweiten Ausgabe sind Globalisierung und Medienanthropologie. Regional stehen der Nahe Osten und Indien im Mittelpunkt. Die MASKE wendet sich an eine Leserschaft, die sich für die bunte Vielfalt menschlicher Organisationsformen interessiert und darüber hinaus deren Gemeinsamkeiten kennen lernen möchte. Wir versuchen damit den Brückenschlag zwischen Forschung und Öffentlichkeit - den Sprung aus dem Elfenbeinturm. Die Kultur- und Sozialanthropologie hat im Kontext der Globalisierung ihre traditionellen Forschungsfelder verlassen bzw. ausgedehnt. Sie ist im Begriff, sich neu zu definieren – auch diese Wandlungs-Prozesse wollen wir sichtbar machen. Unsere Artikel werden hauptsächlich von AnthropologInnen
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aber auch von WissenschaftlerInnen und ExpertInnen anderer Forschungsrichtungen in verständlicher Sprache verfasst. Unsere Beiträge sollen insbesondere kulturelle Prozesse transparent machen, Interesse an kulturbezogenen Themen wecken und zum Nachdenken über aktuelle gesellschaftliche Probleme anregen. Daneben möchten wir auch zeigen, wie spannend das Studium der Kultur- und Sozialanthropologie sein kann und wie vielseitig diese Forschung heute ist. Die MASKE unterteilt sich in fünf Rubriken, wobei sich die Schwerpunktsetzung auf drei Bereiche konzentriert: Der Salon bietet nicht nur Platz für theoretische Überlegungen zum jeweiligen Thema, sondern wir sind hier bemüht, verschiedene Facetten eines Phänomens herauszugreifen, um so ein vielseitiges Bild entstehen zu lassen. Die Rubrik Fachgebiete stellt ein bestimmtes Arbeits- und Themenfeld der Disziplin vor. Hier finden sich zum Beispiel Artikel, die ein neues Forschungsfeld öffnen oder die ihre Themen in den aktuellen Forschungsstand einbetten. Auch Analysen empirischer Beispiele passen gut in diese Rubrik. Die dritte Rubrik Region ist, neben dem von uns vorgegebenen geographischen Bezug, inhaltlich sehr frei gehalten und soll Raum für empirische Forschungen, Überlegungen und Erfahrungen ermöglichen. Des Weiteren gibt es noch die Rubriken Wiener Institut und Vernetzung. Hier stellen wir unter anderem Diplomarbeiten, Projekte, Initiativen, sowie wissenschaftliche Literatur vor. Daneben runden wir wissen-
schaftliche Beiträge auch gerne mit journalistischen Kolumnen beziehungsweise Essays ab. Als AnthropologInnen ist uns das Thema Gender ein immanentes Anliegen. Wir versuchen unsere Beiträge sowohl möglichst ausgewogen und in gender-korrekter Schreibweise zu gestalten, als auch die inhaltlichen Dimensionen dieser Ordnungskategorie in der Heftkonzeption zu beachten. Diskriminierungen und Rassismen lehnen wir ab. Unser Lektorat versucht auch versteckten Ethnozentrismus in Beiträgen zu entlarven. Des Weiteren sind wir um einen gepflegten und diskursiven Kontakt mit unseren AutorInnen bemüht. Diskurse um die theoretische Positionierung der Redaktion werden in unseren Lektoratsrunden bewusst geführt. Gegenwärtig verstehen wir Die MASKE als Diskussionsplattform, in der wir gerne kontroverse Artikel gegenüberstellen. Die vermittelten Inhalte spiegeln dabei keineswegs automatisch die Meinung der Redaktion wieder. Wir freuen uns sehr über konstruktive Kritik, Ideen, Tipps, Zusammenarbeit und Vernetzung, sowie über Artikel und Bildmaterial. Auf unserer Homepage (www.diemaske. at) ist Die MASKE Nr.2 (Format: A4, 92 Seiten) jetzt auch online bestellbar. Die dritte Ausgabe ist bereits in Arbeit und wird im Juni 2008 mit einer Auflage von 1000 Exemplaren und den Themenschwerpunkten Rassismus, Queer Studies und Europa erscheinen. Bis dahin und liebe Grüße aus Wien. Die MASKE Redaktion.
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Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde e.V. Als Fachverband der deutschen Ethnologie hat sich die in den 1920er Jahren gegründete Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde e.V. (DGV) insbesondere der Förderung der ethnologischen Forschung und Lehre sowie der Verbreitung ethnologischen Wissens verpflichtet. Einen Pfeiler der Arbeit der DGV bilden die Aktivitäten der derzeit rund 20 Arbeits- und Regionalgruppen, welche die verschiedenen thematischen und regionalen Schwerpunkte des Faches vertreten. Neben der Ausrichtung von Workshops zu den DGV-Tagungen widmen sie sich zahlreichen eigenen Projekten wie der Veranstaltung von Tagungen oder der Publikation von Arbeitsergebnissen. Die Arbeitsgruppen werden durch Zuschüsse aus Mitteln der DGV finanziert. Als weiteren wichtigen Pfeiler gibt die DGV gemeinsam mit der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte die Zeitschrift für Ethnologie (ZfE) heraus. Seit 1869 reflektiert dieses älteste deutsche Fachorgan nicht nur das Auf und Ab der deutschsprachigen, sondern auch der internationalen Ethnologie. Neben dem kostenfreien Bezug der in zwei Heften pro Jahr erscheinenden ZfE erhalten Mitglieder zudem jährlich die Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde mit Berichten der Arbeitsgruppen und Informationen über die ethnologischen Institute und Museen in Deutschland, Österreich und der Schweiz . Die alle zwei Jahre stattfindende Fachtagung der DGV bildet den dritten Pfeiler. Mit durchschnittlich rund 350 Teilnehmern stellt die Konferenz das wichtigste regelmäßige Treffen der deutschsprachigen Ethnologie dar. 2007 tagte die DGV unter dem Titel „Streitfragen – Zum Verhältnis von empirischer Forschung und ethnologischer Theoriebildung am Anfang des 21. Jahrhunderts“ in Halle/Saale. Neben drei Plenarveranstaltungen fanden knapp 30 von DGV-Mitgliedern initiierte Workshops mit insgesamt über 160 Vorträgen zur gesamten Bandbreite ethnologischer Forschung statt. Der Vorstand der DGV (aktuell Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl, Prof. Dr. Hans Peter Hahn & Prof. Dr. Marin Trenk) hat seinen Sitz z. Z. in Frankfurt/Main. Er arbeitet - unterstützt vom Beirat der DGV - an weiteren Projekten. Zur Zeit bereitet er eine Stellungnahme zur forschungsethischen Positionierung des Faches vor. Des Weiteren laufen die Planungen zu einer Konferenz, die in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Koblenz stattfinden wird sowie zu einer Tagungsreihe zum Thema „Ethnologie und Öffentlichkeit“. Für Studierende ab dem vierten Fachsemester bietet die DGV eine ermäßigte Mitgliedschaft zum Beitrag von jährlich € 30,90 an. Ordentliche Mitglieder zahlen € 52,95 jährlich. Neben dem kostenfreien Bezug der Zeitschrift für Ethnologie und der Mitteilungen Deutsche Gesellschaft für der DGV ermöglicht eine Mitgliedschaft, an den Zweijahres-Tagungen der Völkerkunde e.V. DGV zu einem ermäßigten Beitrag teilzunehmen und in deren Rahmen c/o Frobenius Institut Workshops auszurichten bzw. vorzuschlagen. Des Weiteren können sich Grüneburgplatz 1 Mitglieder in den bestehenden Arbeits- und Regionalgruppen organisieren 60323 Frankfurt (Main) Telefon: 069 - 798 330 58 oder neue ins Leben rufen. Aktuelle und weitergehende Informationen sind der Webseite der DGV (www.dgv-net.de) zu entnehmen. Bei Fragen erteilt die Geschäftsstelle der DGV (kontakt@dgv-net.de) gerne Auskunft.
Telefax: 069 - 798 331 01 Email: kontakt@dgv-net.de Internet: www.dgv-net.de
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Thomas Hylland Eriksen: „What is Anthropology?” Ein zweiter Versuch, den Pudding an die Wand zu nageln Eine Buchrezension von Alexander Blechschmidt
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nknüpfend an die Rezension zweier deutscher Einführungswerke in der letzten Ausgabe der CARGO, bei der nach einer Antwort auf die grundlegende Frage „Was ist Ethnologie?“ gesucht wurde, soll im Folgenden nun die Jagd nach dem „heiligen Gral“ fortgesetzt werden. Zu diesem Zwecke wird im Folgenden ermittelt, ob vielleicht das Konsultieren englischsprachiger Literatur von mehr Erfolg gekrönt ist. Das Werk, welches die uns interessierende Frage schon viel versprechend, wenn auch auf Anthropologie umgemünzt, im Titel trägt, stammt jedoch nicht von einem native speaker, sondern von einem norwegischen Ethnologen, der als Professor der Social Anthropology an der University of Oslo tätig ist: Thomas Hylland Eriksen. Feldforschungen hat der Autor zahlreicher Bücher und Betreiber einer eigenen Homepage (http:// folk.uio.no/geirthe/) vor allem in Mauritius und Trinidad unternommen, wobei zu seinen Forschungsschwerpunkten unter anderem Ethnizität, Nationalismus und Globalisierung zählen. Sein hauptsächlich an Studenten und interessierte Nicht-Ethnologen gerichtetes Buch „What is Anthropology?“ ist in zwei Oberkapitel eingeteilt. Das erste Kapitel „Entrances“ spaltet sich wiederum in vier Unterkapitel, welches der Frage nach dem Sinn ethnologischer Forschung, der Schlüsselkonzepte der Ethnologie, deren Gründungsväter, der Geschichte, Hauptforschungsmethoden
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und theoretischen Strömungen nachgehte. Das nachfolgende „Fields“ beschäftigt sich in fünf Kapiteln mit klassischen ethnologischen Themenbereichen: Reciprocity, Kinship, Nature, Thought und Identification. Zunächst erläutert Eriksen, warum ethnologisches Wissen immer noch – oder gerade in heutiger Zeit – nützlich ist, beziehungsweise sein kann. Als Gründe nennt er unter anderem den steigenden interkulturellen Kontakt (z.B. durch Tourismus), die so oft genannten Globalisierungsprozesse mit entsprechend globalen Phänomenen und Problemen (z.B. Internet, AIDS) und dem sich schnell vollziehenden kulturellen Wandel (z.B. starke Migrationsbewegungen) mit dem damit zusammenhängenden Bedarf an kultureller Identität (z.B. Retraditionalisierungsbestrebungen). Nur wenige Seiten weiter finden wir gleich ein wichtiges Indiz bezüglich unserer Spurensuche: „This book consists in its entirety of a long answer to the question ‚What is Anthropology?’, but for now, we might say that it is the comparative study of culture and society, with a focus on local life. Put differently, anthropology distinguishes itself from other lines of enquiry by insisting that social reality is first and foremost created through relationships between persons and the groups they belong to.“ (Eriksen 2004: 9; Hervorhebung im Original) Ethnologie liefert uns, so der Autor, sowohl das empirische Wissen über die kulturelle Vielfalt auf „unserem“ Planeten, als auch die zum Verständnis und Vergleich der gewonnenen Daten benötigten
Methoden und theoretischen Modelle. Sogleich wird der Leser mit vier der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Ethnologie und den zugehörigen Konzepten und Begriffen, welche mit ihren Namen assoziiert werden, vertraut gemacht: Franz Boas (Kulturrelativismus und Historischer Partikularismus), Bronislaw Malinowski (Teilnehmende Beobachtung), A.R. RadcliffeBrown (Strukturfunktionalismus) und Marcel Mauss (Reziprozität). Das erste Kapitel schließt mit der Feststellung – und hier sollten wir wieder unsere Ohren spitzen – dass trotz der zahlreichen, sich seit dem letzten Jahrhundert entwickelten Theorien und Meinungen, stattgefundenen Debatten und der zunehmenden Spezialisierung, ein gemeinsamer Kern der Ethnologie herausgeschält werden kann, der unter anderem vom vergleichenden Ansatz der zentralen Bedeutung des Malinowskischen Terms des natives point of view, der Konzentration auf lokales Leben vor Ort und dem Herausarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten menschlicher Gesellschaften, gebildet wird. Im Folgenden umschifft der norwegische Professor wesentliche, mit der Ethnologie fest verbundene, aber trotzdem heftig umstrittene Konzepte und verdeutlicht durch anschauliche Beispiele die im Fach – milde formuliert – herrschende Meinungspluralität. Person, Society, Culture, Translation, Comparison und Holism and context sind die immer wieder anzutreffenden Begriffe, die Ethnologen auf der ganzen Welt schon das eine oder andere Mal Kopfschmerzen verursacht haben dürften.
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„Anthropology is philosophy with the people in.“ (Erikson 2004) Doch blicken wir nun wieder zurück auf unsere Ausgangsfrage: Was ist Ethnologie? Eriksen nimmt sich die Worte von John Monaghan und Peter Just - „As has often been said, if you want to understand what anthropology is, look at what anthropologists do. Above all else, what anthropologists do is ethnography.“ (2000: 3; Hervorhebungen im Original) - wahrlich zu Herzen und widmet dem Thema Feldforschung ein ganzes Kapitel. Haben wir hier vielleicht ein weiteres Puzzleteil bei der für die Ethnologie so charakteristischen Methode der teilnehmenden Beobachtung, dem Auszug ins Feld gefunden? Besonderheiten, Vorteile und Nachteile der ethnologischen Datengewinnung werden erläutert, klassische und moderne Formen der Feldforschung einander gegenübergestellt und auf wichtige Begriffe (z.B. emisch <> etisch) und die bei einem Feldaufenthalt drohenden Schwierigkeiten (z.B. Ethnozentrismus und Sprachprobleme) verwiesen. Doch die Ethnologie lässt sich nicht allein mit ihrer Methode bestimmen oder besser gesagt, sich nicht darauf reduzieren. Und so werden wir im weiteren Verlauf unserer Lektüre in kurzen Abschnitten durch die Geschichte bedeutender ethnologischer Theorien und deren Hauptvertreter geführt, bis wir wieder die Gegenwart erreichen und uns der Autor eine weitere Tür des Geheimnisses öffnet: „It can be a kind of empirical philosophy; anthropologists raise some of the same questions as philosophers, but discuss them – after having learned theoretical
thinking from philosophers – by making them engage with social and cultural facts.“ (Eriksen 2004: 79) Aha! Haben wir hier vielleicht – zumindest ansatzweise – eine Antwort auf die drückende Frage gefunden, was Ethnologie eigentlich ist? Eine Art empirische Philosophie mit induktivem Vorgehen? Doch geben wir uns vorerst nicht damit zufrieden und widmen uns dem zweiten Teil des Buches, nicht ohne jedoch die soeben gewonnenen Erkenntnisse im Hinterkopf zu behalten. Reziprozität. Dieses jedem Besucher einer WirtschaftsethnologieVorlesung noch im Ohr hallende Wort bildet den Anfang der fünf Bereiche, die sich Eriksen vorgenommen hat, dem geneigten Leser näherzubringen. Marcel Mauss’ „The Gift“, Kula, Potlatch, Karl Polanyis „The Great Transformation“, Marshall Sahlins „Stone Age Economics“ oder die Tauschsphären der Tiv sind die Namen und Stichworte, die uns in den entsprechenden Ausführungen begegnen. Dabei wird das Thema der Reziprozität sowohl an „Klassikern“ als auch an neueren Werken und Beispielen veranschaulicht. Auch ein Schielen auf andere Disziplinen wird nicht vermieden, denn mittlerweile sind auch viele Soziobiologen und Evolutionäre Psychologen auf den Zug aufgesprungen und arbeiten mit dem Konzept der wechselseitig erzeugten, sozialen Verpflichtungen und der daraus resultierenden Kooperation zwischen Individuen unter evolutionstheoretischen Prämissen (vgl. z.B. Waal 1996).
Die beiden nächsten, vom Autor angeschnittenen Bereiche haben hingegen reichlich „Zündstoff“ für langjährige Debatten zwischen soziobiologischen und ethnologischen Perspektiven geliefert: Verwandtschaft und Natur. Doch auch hier bemüht sich Eriksen, das Potential fruchtbarer Zusammenarbeit der Disziplinen herauszuarbeiten, ist sich jedoch der Grenzen einer Annäherung bewusst: „The sociobiologists are interested in understanding similarities, while social and cultural anthropologists are, with a few exceptions, still obsessed with difference.“ (Eriksen 2004: 139) Das vorletzte Kapitel untersucht unter der Überschrift „Thought“ die Problematik von Begriffen wie Rationalität (am Beispiel von Evans-Pritchard`s Studie „Witchcraft, Magic and Oracles Among the Azande“), Debatten über theoretische Perspektiven (angefangen bei Lévy-Bruhl, über Mary Douglas, bis hin zu Claude Lévi-Strauss’ Diskurse über Totemismus) und endet schließlich bei Überlegungen über den Einfluss der Einführung der Schrift auf kulturell geprägte Phänomene wie Musik und Nationalismus. Last but not least widmet sich der norwegische Ethnologe dem Thema Identification. Man merkt, dass der Autor hier einen persönlichen Interessenschwerpunkt behandelt (vgl. Eriksen 2002). Aus den eigenen Feldforschungserfahrungen schöpfend, erhält man viele zum Denken anregende Perspektiven und Argumentationen zu Eth-
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nizität, kulturellen Abgrenzungen und Identifizierungsprozessen. Auf der letzten Seite macht uns Eriksen noch einmal deutlich, was er denn nun eigentlich unter Anthropology versteht: „anthropology is a way of thinking. As such it is concerned with how humans make sense of their world, emphasising the power of symbols and narratives; and how social life can be regular, predictable and a source of security, emphasising the importance of trust and reciprocity.“ (Eriksen 2004: 169)
Referenzen Eriksen, Thomas Hylland 2001. Tyranny of the Moment: Fast and Slow Time in the Information Age. London: Pluto Press. 2002. Ethnicity and Nationalism: Anthropological Perspectives. London: Pluto Press. 2003. Globalisation: Studies in Anthropology. London: Pluto Press. 2004. What is Anthropology?. London: Pluto Press. 2006. Engaging Anthropology: The Case for a Public Presence. Oxford: Berg.
Alexander Blechschmidt (23) ist Student der Ethnologie, Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.
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Mögen wir vielleicht nicht am Ende unserer Odyssee angelangt sein, so haben wir meines Erachtens nach der Lektüre des schmalen Bändchens doch eine wichtige Etappe auf der Suche nach der Antwort auf unsere Frage erreicht. Das Zitat von Tim Ingold, dass Eriksen dem Einführungskapitel seines ebenso empfehlenswerten Kurzlehrbuchs „Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology“ (2001, Pluto Press) voranstellt, ruft somit die Erkenntnisse, die wir am Ende des ersten Teils des hier vorgestellten Bandes gesammelt haben, ins Gedächtnis zurück: „Anthropology is philosophy with the people in.“
Moolaadé Bann Der Hoffnung
Eine Filmrezension von Alice Jahn. Die Beschneiderinnen des Dorfes wollen sich beim Dorfchef über Collés Verhalten beschweren
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pätestens mit einem seiner letzten Filme „Moolaadé“ gewann der senegalesische Regisseur, Drehbuchautor, Schriftsteller und humanitäre Aktivist Ousmane Sembène alle Aufmerksamkeit der internationalen Filmszene. Die Auszeichnungen sprechen für sich: National Society of Film Critics Award in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ von amerikanischen Kritikern, Un Certain Regard Award des Cannes Film Festivals, Special Jury Award beim internationalen Filmfestival von Marrakech, um nur einige zu nennen. Und das nicht ohne Grund. Mooladé ist ein Film über ein höchst explosives und in der afrikanischen Gesellschaft tabuisiertes Thema, der Genitalbeschneidung von Mädchen. Der Wegbereiter des postkolonialen afrikanischen Independent Kinos widmete den Film den afrikanischen
Frauen, die gegen die Beschneidung kämpfen Es ist ein Ritus, der seit Jahrhunderten und selbst heute noch in fast der Hälfte aller afrikanischen Länder praktiziert wird. Collé Ardo, die zweite Ehefrau von Bathily, eine angesehene Persönlichkeit des Dorfes, hat sieben Jahre zuvor die Beschneidung ihrer Tochter abgelehnt. Eines Morgens werfen sich vier Mädchen vor ihre Füße. Sie sind den Beschneiderinnen entflohen und bitten sie um ihren Schutz. Sie nimmt sich den Mädchen an und gewährt ihnen Moolaadé, ein Asylrecht, das über denjenigen, der es verletzt einen Fluch bringen kann. Zu seiner Ausrufung spannt sie eine farbige Schnur vor den Eingang ihres Hofes. Der Rat der Männer in dem Dorf ist aufgebracht. Collé stellt ihre Position als Frau und eine Menge von alten Traditionen in Frage. Zwei andere Kinder, die der Beschneidung entkommen sind, bevorzugten aus dem Dorf zu fliehen, anstatt bei Col-
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Die Hauptfrau von Collés Mann bietet Collé Beistand bei der Verteidigung des Bannes lé Zuflucht zu suchen. Doch schon bald erfährt man, dass sie sich lieber in den Brunnen warfen, als geschnappt zu werden. Der Dorfchef ordnet sogleich an, den Brunnen zuzuschütten. Collé, unnachgiebig in ihrer Haltung, gedenkt alles zu tun damit die Barbarei der Beschneidung abgeschafft wird. Um die Frauen wieder in ihre Rolle der Dienerschaft zurückzuweisen, ziehen die Männer des Dorfes ihre Radioapparate ein,
über die sie erfuhren, dass der große Imam der Moschee Al Ahzar die Beschneidung missbilligte. Mit dem Widerstand von Colleé werden Vorherrschende soziale Strukturen und die Gesellschaftsordnung hinterfragt und vor neue Herausforderungen gestellt, die nur schwer zu bewältigen scheinen. Sembène stellt durch Symbole, klare Bilder und einfache Dialoge tagtägliche dramatische Szenarien, die sich in
Moolaadé - Bann Der Hoffnung (Frankreich 2004/Deutschland 2005) Genre: Drama Regie: Ousmane Sembène Herausgeber: Les Films Du Paradoxe Darsteller: Fatoumata Coulibaly, Maimouna Hélène Diarra, Salimata Traoré, Dominique Zeida, Mah Compaoré, Aminata Dao (in Kooperation von Burkina Faso, Senegal, Kamerun, Tunesien und Frankreich, unterstützt von den Vereinten Nationen) Thema: Plädoyer zur Abschaffung des Rituals der Genitalbeschneidung bei Mädchen
einem von der Außenwelt relativ abgeschnittenen muslimischen Dorf abspielen, sehr prägnant und greifbar dar. Obwohl an manchen Stellen recht unterhaltsam, bleibt die Handlung durchweg sehr ernst. Die Konflikte, die aus dem Umbruch alter Traditionen und dem Eingang moderner Einflüsse von außerhalb resultieren, bestehen nicht nur unterhalb der Frauen oder zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen jung und alt, traditionell und modern, Gesellschaft und Individuum. Während sich die jungen Mädchen vor den traditionellen Ritualen fürchten, sehen sich die älteren Dorfbewohner mit der Angst vor gesellschaftlichem Wandel und dem Verlust ihrer Traditionen konfrontiert. Hierarchische Strukturen, sozialer Druck und gesellschaftlicher Verhaltenkodex im Dorf führen schließlich zu verheerenden Ausmaßen in Form von Gewalt. Der Film ist sehr lehrreich und kann daher nur weiterempfohlen werden!
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TINYA Musikkulturen der Welt Mach´ deine eigene Radiosendung! Radioreportagen von und für Ethnologiestudenten Eine Radiovorstellung der Tinya-Redaktion
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it wachen Augen und gespitzten Ohren machen wir uns auf die Reise, um die Traditionen, Lebensweisen, die Kunst und Kultur anderer Länder und Völker kennen zu lernen. Als Studierenden der Ethnologie wird uns ein breites Spektrum an Möglichkeiten geboten, die Heimat für einen Auslandsaufenthalt zu verlassen. Jedes Jahr verstreuen wir uns über den ganzen Erdball, auf der Suche nach eigenen Erfahrungen und neuem Wissen. Was einem auf den Reisen widerfährt, bleibt oft unvergessen, so wie diese Nacht beim Neujahrsfest nyepi auf der indonesischen Insel Bali: „Die Versammlungshäuser, Tempelmauern und Trafohäuschen sind gestürmt! Die Menschen scheinen sich übereinander zu türmen. An den überquellenden Straßenkreuzungen vollführen überlebensgroße Dämonen-Figuren mit ihren Trägern wilde Tänze. In der Neujahrsnacht werden sie zum metallischen Orkan der Gamelan-Orchester lebendig. Ihre Zungen zappeln, ihre elektri-schen Augen blitzen und ihre messerscharfen Fingernägel reißen Lücken in die Menschenreihen. Die Erde bebt von den Schwingungen der großen Gongs. Die Luft ist getränkt von den ohrenbetäubenden, schnellen Rhythmen der Beckenpaare Ceng-Ceng. Dann bricht das Stromnetz zusam-men. Die Dämonen verschmelzen einen Augenblick lang mit der Dunkelheit...“.1 Der Abschied von dem fernen Land kommt dann meistens viel zu plötzlich. Es bleibt kaum Zeit, um die richtigen Worte für alle Ereig-
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Was wir machen TINYA berichtet seit September 2005 einmal im Monat über die Musiktraditionen verschiedener Länder der Erde. Studenten und Doktoranden der Musikethnologie, Musikwissenschaft, Ethnologie, Politik- und Medienwissenschaft sowie andere Studiengänge erzählen in Reportagen, Interviews, Features, Klangcollagen und Dokumentationen über ihre Begegnung mit einer anderen Musikkultur. Wie wir arbeiten Das Material für die Sendungen wird während Auslandsaufenthalten, Feldforschungen oder durch umfassende Recherche gesammelt. Es sollte möglichst ein persönlicher Kontakt zu den Menschen entstehen, über deren Musik berichtet werden soll. Die Sendungen basieren deshalb vor allem auf Interviews, Feldaufnahmen und persönlichen Erfahrungen. Wen wir suchen TINYA sucht motivierte Studierende, die Interesse fürs „Radio machen“ haben und in einer halb- oder einstündigen Sendung über eine Musikkultur ihrer Wahl berichten. Dabei werden Euch weder bei der Auswahl des Formats (Reportage, Klangcollage, Feature etc.) noch in der gestalterischen Umsetzung (Schreiben, Sprechen, Schneiden) Grenzen gesetzt. Eine Dokumentation über eine Begegnung mit Musik im Ausland ist ebenso denkbar wie die akustische Umsetzung einer schriftlichen Arbeit. Für Neueinsteiger werden regelmäßig Radioworkshops bei Corax in Halle angeboten. Mehr Informationen findet ihr auf unserer Homepage oder aber ihr schreibt uns einfach.
nisse, Gedanken und Erinnerungen zu finden. Die sicherlich jedem »Heimkehrer« gestellte Frage »Und, wie war’s?« lässt sich nur schwer beantworten, und so bleibt vieles unausgesprochen. Es lohnt sich aber, und das nicht nur für einen selbst, mehr von der Reise zu erzählen und seine Eindrücke fest zu halten. Die ausgewählten Informationen und persönlichen Berichte bieten für alle Kulturinteressierten einen zur Reiseliteratur alternativen Blickwinkel auf das Leben in anderen Ländern. Im Radioprogramm »TINYA Musikkulturen der Welt« berichten Studierende verschiedener Fachrichtungen von ihren Begegnungen mit »anderen« Kulturen. Die Musik öffnet ihnen dabei die Türen
zu einem tieferen Verständnis der kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt der Völker. Komm‘ dazu und mach‘ deine eigene Radiosendung!
Fußnoten 1 Auszug aus der Radiosendung »TINYA auf Bali«, Mai 2006, Text: Eckehard Pistrick.
Kontakt: www.tinya.org info@tinya.org Corax e.V. Redaktion TINYA Unterberg 11 06108 Halle (Saale) www.radiocorax.de
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Für drei KnobelkönigInnen gibt‘s das nächste Heft gratis! Einfach Lösungswort und Adresse an: redaktion@cargozeitschrift.de mailen. Die Gewinner werden am 30.August.2008 per Losverfahren gezogen. Viel Spaß beim rätseln! 1
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1 engl. Wort für Volk oder Stamm 2 nicht alles der gleiche Einheitsbrei (Adj.) 3 dt. Soziologe, der weder strickt noch näht, obwohl sein Name darauf schließen lässt 4 Beauftragter der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 5 ein Mann, der „Hokus Pokus“ kann 6 beinhaltet nicht nur Geheimnisse eines kleinen Mädchens, sondern gehört auch zur Grundausstattung eines Ethnologen 7 einer der loszog, um sich nicht mit dem „armchairDasein“ abzufinden (waagerecht) 8 … wenn der Ivan mit dem Günther und der Aisha zusammen im Sandkasten spielt (Subst.) (senkrecht) 9 Bundesaußenminister von Deutschland 10 Hauptstadt des größten Landes der Welt 11 Ereignis, wie zum Beispiel die Jugendweihe 12 ein einfaches Abendbrot ist es nicht, aber das Versammeln um den Weihnachtsbraten schon 13 ein Ideal, eine Geschichte, eine Entwicklung 14 etwas Übersinnliches, das auch ohne Zauberstab funktionieren kann
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15 auch mal mitmachen und dabei sein, anstatt nur zu17 zugucken (Adj.) 16 Glauben oder Nichtglauben, das ist hier die Frage 16 17 „Ätsch, ich geb’ dir viel mehr als du mir!“ 5(WirtEth1 no) 18 klingt wie eine 19Schlange, ist aber ein Ethnologe 19 „Ringlein, Ringlein du musst wandern, von der einen Hand zur ander’n“ (WirtEthno) 20 soziokulturelles Er, Sie, Es 21 religiöse Figur, die einerseits für Schöpfung und Neubeginn und andererseits7 für Zerstörung steht 22 hat nichts mit der Untersuchung von Landwirtschaft zu tun, auch wenn es so klingt 20 23 Ethnologe, der die Welt in Symbolen sah 24 Synonym für „chief“ 25 Held einer gallischen Kult-Ethnie
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Ethnologie, die Wissenschaft von den Menschenfressern Kannibalismus: Wie Vorurteile zu Wissenschaft werden Ein wissenschaftlicher Kommentar zur Kannibalismusdebatte von Gereon Janzing
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chon lange vor meinem Ethnologiestudium war mir klar, dass es in Neuguinea und anderen Gegenden der Erde zumindest in früheren Zeiten Menschen gab, die andere Menschen aufaßen. Klar, das weiß jedes Kind. Auch im Studium hörte ich gelegentlich vom Kannibalismus, sogar unterteilt in Endo- und Exokannibalismus. Doch wurde ich erstmals auch mit Quellenkritik konfrontiert, die die Kannibalismusvorwürfe in Frage stellte. Und so wollte ich es genauer wissen. Klar war, ich konnte nicht zu den Tupinambá des 16. Jahrhunderts reisen, um zu erforschen, ob sie tatsächlich, wie es uns Hans Staden ausführlich berichtete, Christen fingen, mästeten und aufaßen. Aber ich kann die Literatur auf ihre Plausibilität hin untersuchen. Genau das habe ich daraufhin getan und dabei einiges Spannende entdeckt.
hier mit realen Menschen zu tun oder mit Ungeheuern aus Märchen? Generationen von Ethnologen beriefen sich auf Stadens sensationslüsternen Bericht und hielten den Kannibalismus der Tupinambá für eine nicht zu hinterfragende Tatsache. Die meisten vermutlich, ohne jemals Staden im Original gelesen zu haben. Wozu auch? Man weiß ja, dass die Fremden oft Kannibalen sind. Und im Umkehrschluss sind uns Kannibalen besonders fremd. Und je fremder eine Kultur ist, umso mehr ist sie Gegenstand der Ethnologie. Zur Demonstration, wie exotisch fremde Völker sind, liefert uns Ewald Volhard eine umfangreiche Sammlung über Kannibalismus: Manche Völker essen ihre Ehebrecherinnen zur Strafe auf. Andere essen verfaulte Leichen. Na, guten Appetit! Oder sie bieten, wie ein Missionar beobachtete, getrocknetes Menschenfleisch in Körben zum Verkauf an.3 Sollen wir Derartiges einfach glauben? Oder ist es doch eher die
Kannibalismus wie er angeblich aufgrund einer Hungersnot durch die Kreuzritter während der Belagerung von Maarat an-Numan an der muslimischen Bevölkerung verübt wurde. Quelle: Les Croisades, Origines et consequences, von Claude Lebedel. Hans Staden berichtete im 16. Jahrhundert, wie die Tupinambá in Brasilien ihre Feinde überfielen, die Frauen und Kinder töteten (und wohl einfach liegen ließen?) und die Männer gefangen nahmen. Dann ließen sie die fremden Männer mit heimischen Frauen verkehren und Kinder zeugen. Diese Kinder (wohlgemerkt von Frauen aus den eigenen Reihen) zogen sie auf, und wenn sie Lust darauf hatten, schlachteten und verspeisten sie sie.2 Frage: Ist solch ein Bericht glaubhaft? Haben wir es
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Aufgabe der Ethnologie als einer Wissenschaft, es zu hinterfragen und zu prüfen? Im Laufe des Studiums sah ich einen Film, in dem ein Papua anderen Menschen androhte, sie aufzuessen. Ich dachte damals ganz unbefangen: „Ha, ein klares Bekenntnis zum Kannibalismus! Also gibt es ihn doch! Mögen die Zweifler für immer verstummen!“ Aber halt! Im Deutschen sagen wir, wir haben jemanden „zum Fressen gern“. Ist das ein klares Bekenntnis zum
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„Kannibalismus (Anthropophagie): Verzehren von Teilen des menschlichen Körpers und Trinken von menschlichem Blut durch Menschen. Kannibalismus war früher in weiten Teilen der Erde gewohnheitsmäßig oder zu besonderen Anlässen verbreitet, wobei teils der Fleischgenuß, teils religiös-rituelle Motive im Vordergrund standen.“ (Diercke-Wörterbuch Allgemeine Geographie1)
Kannibalismus? Im irischen Gälisch gibt es eine Redewendung „die Nachbarn aufessen“, die so viel heißt wie „über die Nachbarn herziehen“. Eine ähnlich metaphorische Bedeutung kann das Wort „essen“ im kanadischen Französisch annehmen. (Genaueres zu diesen und weiteren Redewendungen ist in meine Anthologie eingestreut: Janzing 2007a.) Warum trauen wir den Papuas nicht eine ebenso bildliche Sprache zu? In der Tat ist „aufessen“ bei einigen Papuas eine Metapher für „verhexen“. Heutzutage sind viele Papuas bekennende Christen, und zum Christentum gehört bekanntlich der Verzehr des Leibes Christi. Natürlich nicht in Form von echtem Menschenfleisch, weil die Christen ja zum Symbolisieren fähig sind. Und wollen wir nun im Ernst voll kultureller Überheblichkeit behaupten, die Fähigkeit zum Symbolisieren sei erst durch die christlichen Missionare in Neuguinea bekannt geworden? Notkannibalismus, ja, den gibt es natürlich, wohl immer mit Abscheu praktiziert. Kannibalismus einzelner, außerhalb der Gesellschaft stehender Individuen tritt auch gelegentlich auf, wie wir ihn vom berühmten Kannibalen von Rotenburg kennen, der bezeichnenderweise in großen Teilen der Gesellschaft als Psychopath angesehen wird. Aber ethnologisch relevant ist doch am ehesten der gesellschaftlich akzeptierte Kannibalismus. Sei es profaner Kannibalismus, also bloßer Verzehr von Menschenfleisch zu Nahrungszwecken, wie ihn Alfred Métraux für die Osterinsulaner postulierte4 und wie er laut einer These des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt früher weit verbreitet gewesen sein soll.5 Sei es ritueller oder kultischer Kannibalismus, mit dem man die Kräfte des Toten in sich aufnehmen will. Zu Letzterem gehört übrigens auch der genannte Verzehr des Leibes Christi. Wie ein Blick in die Große Sowjetische Enzyklopädie zeigt, wird die Eucharistie (symbolisches Essen des Leibes Jesu Christi) bisweilen tatsächlich als Überrest von früherem Menschenfleischkonsum gedeutet.6 Auf dieselbe Weise wird auch bei vielen Fremdvölkern ehemaliger Kannibalismus herbeigedeutet: Der Kannibalismus spielt in Mythen, Märchen und Kulten dieser oder jener Ethnie eine Rolle. Als logische Folgerung müssten die Menschen dieser Ethnie bis vor etwa 200 Jahren Kannibalen gewesen sein. Reicht uns so ein Beweis?
Kannibalen in Südamerika, Illustration zu einem Reisebericht von Hans Staden von 1557. Quelle: Os Filhos de Pindorama, von Hans Staden. Können wir aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“ und dem gleichnamigen Kinderlied folgern, dass unsere Vorfahren vor 200 Jahren Kinder mästeten und brieten? Man stelle sich vor, jemand würde sagen, die Juden äßen Menschenfleisch – was im Laufe der deutschen Geschichte tatsächlich mehrfach gesagt wurde. Würden wir nicht sofort dazu neigen, diesem Jemand ohne weitere Prüfung Antisemitismus vorzuwerfen? Aber über Papuas darf man dasselbe sagen? Warum messen wir Juden und Papuas mit zweierlei Maßstab? Weil wir bei Juden gegenüber übler Nachrede sensibilisiert sind, bei Papuas noch nicht? Weil die Juden mittlerweile zu richtigen Menschen avanciert sind, während die Papuas im allgemeinen Bewusstsein „unterentwickelte“ „Steinzeitleute“ sind? Juden gehören ja gemeinhin nicht zu den in der Ethnologie behandelten Völkern, Papuas sehr wohl. Mit derartigen Abgrenzungen werde ich manchmal von Fachkollegen konfrontiert, wenn ich Fremdvölker gleichrangig neben europäischen Völkern behandle. Auch wir Ethnologen haben offensichtlich noch nicht
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gelernt, die Grenze zwischen „uns“ und den „anderen“ fallen zu lassen. Ethnologie ist in ihrem ursprünglichen Selbstverständnis die Wissenschaft vom Fremden, damit auch von den Kannibalen. Sobald wir uns eingestehen, dass die anderen genauso Menschen sind wie wir, muss dieses Selbstverständnis unseres Faches ins Wanken geraten. Wenn wir uns selber nicht als Kannibalen sehen, warum sehen wir dann andere so? Weil die anderen uns ebenso sehen? Jawohl, auch wir Europäer galten anderswo seit undenklichen Zeiten als Menschenfresser. So war in Westafrika zu Zeiten der Sklavenjagden klar, dass die Europäer die Schwarzen deshalb fingen und auf ihre Schiffe schleppten, um sie zu verzehren. Ist diese Beweisführung weniger bestechend als diejenigen, die wir für Papuas, Karaiben und Juden, vielleicht auch für Neandertaler anführen? Die Kannibalismusmythen dienten von jeher zur Abgrenzung gegen Fremdvölker. Viele Völker erzählten von Nachbarvölkern, sie äßen Menschenfleisch, was die Forschungsreisenden oft unbesehen glaubten: Ausgerechnet das vom Forscher besuchte Volk betreibt (außer vielleicht in Notzeiten) keinen Kannibalismus, seine Nachbarn sehr wohl. Das stellte beispielsweise Malinowski bei den Trobriandern fest.7 Kannibalen sind oft die verfeindeten Völker, aber auch diejenigen Menschen, für deren Versklavung oder Missionierung man Argumente braucht. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot beschrieb ein Volk namens Androphagen, das als Abschreckbild für Gesetzlose diente und – wie kann es anders sein – auch Menschenfleisch verzehrte.8 Der indianische Chronist Garcilaso de la Vega berichtet, wie die Inkas ein fremdes Volk der Gesetzlosigkeit, der Nacktheit und des Kannibalismus bezichtigen und damit Gründe zum Unterwerfen und „Zivilisieren“ haben.9 Neulich wurde mir vorgeworfen, ich hätte keine Beweise, dass es keinen Kannibalismus gegeben hat. Das stimmt. Ich behaupte auch gar nicht, es habe keinen Kannibalismus gegeben, das wäre anmaßend. So etwas ist prinzipiell nicht beweisbar. Die bloße Tatsache, dass die Tupinambá nie beim Verzehr von Menschenfleisch beobachtet worden sind, ist natürlich kein Beweis ihrer Unschuld. Auch mich hat noch niemand beim Verzehr von Menschenfleisch gesehen (außer in Form einer Hostie). Und doch kann ich einem Indianer oder AfrikaGereon Janzing hat in Freiburg im Breisgau Ethnologie, Biologie und Geografie studiert und einige Bücher und Artikel zu ethnologischen Themen veröffentlicht. Er ist freischaffender Lebenskünstler und arbeitet unter anderem als Nachhilfelehrer, Naturführer, Gemüsegärtner, Cowboy und Dichter. Er pflanzt Akazien, milkt Ziegen, erntet Oliven und reist auf Frachtschiffen. Als Ethnologe nennt er das alles „teilnehmende Beobachtung“.
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ner, der mir den Verzehr von Menschenfleisch unterstellt, nicht das Gegenteil beweisen. Kannibalismusgläubige nennen manchmal Theorien, warum es wahrscheinlich sei, dass Menschenfleisch gewohnheitsmäßig gegessen worden sei, etwa mit Blick auf Kannibalismus bei Schimpansen. Ja, die Theorien lassen es zu – so wie die Theorien Leben auf dem Mars zulassen. Aber um zu erfahren, ob ein Volk tatsächlich Menschenfleisch isst oder aß, reichen keine noch so guten Theorien, da brauchen wir ethnologische Fakten, die den gewohnheitsmäßigen Menschenfleischkonsum belegen oder zumindest als sehr wahrscheinlich nahe legen. Und die fehlen bislang. Von Kannibalismus bei Schimpansen auf Kannibalismus bei den Tupinambá zu schließen, muss genauso unbefriedigend bleiben, wie von Leben auf der Erde auf Leben auf dem Mars zu schließen, ohne den Mars zu untersuchen. Einmal sensibilisiert gegenüber Kannibalismusvorwürfen, war ich natürlich auch gegenüber Behauptungen skeptisch, in Südamerika würde die Knochenasche Verstorbener in Bier oder Bananenbrei konsumiert. Doch zeigte sich bei genauerer Prüfung, dass es hierzu glaubhafte Berichte gibt. Das Trinken eines verstorbenen Verwandten in Form von Knochenasche ist für einige südamerikanische Völker offenbar ebenso selbstverständlich wie für die Christen das Essen ihres Heilandes in Form einer Hostie oder eines Stücks Brot. Der Verzehr von Artgenossen im Tierreich ist unstrittig belegt, wenn auch seine tatsächliche Bedeutung umstritten ist. Verspeisen die Gottesanbeterinnen ihre Männchen in freier Wildbahn genauso selbstverständlich, wie wir das auf Grund von Beobachtungen von Gottesanbeterinnen in Gefangenschaft annehmen? Auch in der Astronomie gibt es Kannibalismus, wenn ein Himmelskörper (beispielsweise ein Pulsar) nach und nach seinen Begleiter verschlingt. In der Ethnologie ist der Kannibalismus nur als symbolische Handlung nachgewiesen – oder eben als üble Nachrede zu verstehen, bisweilen auch als Prahlerei gegenüber leichtgläubigen Forschern und Reisenden, bei denen man sich mit solchen Erzählungen Respekt verschaffen kann.
Fußnoten 1 Leser, Hartmut, Hans-Dieter Haas, Thomas Mosimann & Reinhard Paesler 1992. Wörterbuch der Allgemeinen Geographie. München und Braunschweig. Band 1: A-M, S. 293 2 Staden, Hans 1557.Warhaftige Historia und Beschreibung eyner Landschafft der wilden nacketen grimmigen Menschfresser Leuthen in der Newenwelt America gelegen. Marpurg. Caput xxix. 3 Volhard, Ewald 1939. Kannibalismus. Stuttgart: Passim. 4 Métraux, Alfred 1966. L’Île de Pâques. Saint-Amand. S. 84 5 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 1990 [1975]. Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung. München. S. 216f 6 Peršic, A. I. 1973. Kannibalizm. In: Prohorov, A. M. (Red.): Bol’šaja
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sovetskaja ėnciklopedija. Moskva. Band 11: Italija - Kravkuš, S. 330 7 Malinowski, Bronislaw 1965. Soil-Tilling and Agricultural Rites in the Trobriand Islands. Bloomington, Indiana. S. 162 8 Herodot 1927. Buch IV, Kap. 106, wiedergegeben in: Herodot: Herodoti Historiae. Editio tertia, tomus prior. Aylesbury. 9 Garcilaso de la Vega 1963. 7. Buch, Original um 1600, wiedergegeben (in moderner Schreibweise) in: Sáenz de Santa María, Carmelo (Hrsg.) Obras completas del Inca Garcilaso de la Vega. Madrid. S. 271
Referenzen Arens, William 1979. The Man-eating Myth. Anthropology and Anthropophagy. Oxford u.a. Arens, William 1996. cannibalism. In: Barnard, Alan & Jonathan Spencer (Hrsg.): Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology. London & New York. S. 82f Bahn, Paul 1991. Is cannibalism too much to swallow? In: New Scientist. 27 .04.1991. S. 38-40 Frank, Erwin 1987. »Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches
Terminologie Der Kannibalismus bezeichnet gemeinhin das Verzehren von Artgenossen oder Teilen derselben. Der Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen wird auch Anthropophagie genannt. In modernen Gesellschaften ist Kannibalismus mit einem strikten Tabu belegt. Grundsätzlich wird in der Ethnologie zwischen Endo-Kannibalismus, dem Verzehr von Angehörigen, meist aus religiösen Gründen und dem Exo-Kanibalismus, dem Essen von (besiegten) Feinden oder Verstoßenen der eigenen Gruppe unterschieden. Christian Spiel unterscheidet in seinem Buch „Menschen essen Menschen – Die Welt der Kannibalen“ zwischen acht verschiedenen Arten des Kannibalismus: 1. dem mythisch begründeten K., wie er sich in Mythen wiederfindet, die eine Weltschöpfung durch K. schildern; 2. dem religiösen K., der auftritt, wenn, wie beispielsweise bei den Azteken das Herz für den Sonnengott geopfert und gegessen wird, damit die Sonne jeden Tag neu ihren Lauf über den Himmel nehmen kann; 3. dem rituellen K. , der eine Form der Bestattung im Menschen beschreibt: indem der verstorbene Vorfahre in sich aufgenommen wird, wird
Aussehen beweist …«. Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei. In: Duerr, Hans-Peter (Hrsg.): Authentizität und Betrug in der Ethnologie. Frankfurt am Main. S. 199‑224. Gilsenbach, Hannelore 1996. „… und verzehren Menschenfleisch“. In: Bumerang. Naturvölker heute. Zeitschrift des Bundes für Naturvölker. 3/1996. S. 83 Janzing, Gereon 2007. Kannibalen und Schamanen. Verbreitete Irrtümer über fremde Völker. Löhrbach. Janzing, Gereon 2007a. Der unwiderstehliche Geschmack von Menschenfleisch – Eine Anthologie zu Menschenfressern und Kannibalismus. Löhrbach. Kuper, Michael 1993. Über die Wut im Bauch der Kannibalen. »Die meisten Vorstellungen sind falsch«. In: Lorbeer, Marie & Beate Wild (Hrsg.): Menschenfresser Negerküsse. Das Bild vom Fremden im deutschen Alltag. Berlin. S. 36‑45 Menninger, Annerose 1995. Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos, 1492‑1600. Stuttgart. Peter-Röcher, Heidi 1998. Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen. München.
auch seine Wiederkehr verhindert; 4. dem Pietäts-K., der vollzogen wird um einen Verwandten, sei es ein Vorfahre oder ein eigenes Kind, aus Respekt, Liebe oder Trauer würdevoll zu ehren, aber auch um die Person sicher zu verwahren; 5. dem Angst-K., wobei der getötete Feind am denkbar sichersten Ort, nämlich im Körper des Siegers selbst, verwahrt, und so seine Wiederkehr verhindert wird; 6. dem magischen K., der auf der Vorstellung beruht, dass Eigenschaften wie Kraft und Mut des Opfers durch Verzehren auf denjenigen übergehen, der Körper(teile) des Opfers verspeistdem; 7. justiziellen bzw. GerichtsK., dem Verspeisen von Verurteilten oder das Trinken ihres Blutes als Sanktionierungsmittel; 8. dem K. zu reinen Ernährungszwecken Etymologie Das Wort Kannibalismus geht auf die Kariben, die Ureinwohner der Westindischen Inseln, zurück. Als Kolumbus auf seiner ersten Reise vor der Insel Hispaniola vor Anker ging, notierte er in sein Logbuch am 14. November 1492, dass die Einwohner von Hispaniola in permanenter Furcht vor den „Caniba“ oder „Canima“ lebten, den angeblich einäugigen, hundsgesichti-
gen und menschenfressenden Einwohnern der Nachbarinsel Bohío. Kurz darauf stellte Kolumbus dann selbst etymologische Betrachtungen über dieses berüchtigte Volk an und mutmaßte, dass es sich bei den Angehörigen dieser Gruppe wohl um die Untertanen des Gran Can handeln müsse, also des „Großen Khans“, des Herrschers über das fernöstliche Reich, welches er im Laufe seiner Expedition erreichen wollte. Was Kolumbus als Caniba oder Canima vernommen hatte, war die Eigenbezeichnung dieser Indigenen, die ursprünglich soviel wie „tapfer“ bedeutete (vgl. Tupi caryba, „Held“); da in ihrer Sprache die Laute l, n und r als Allophone variieren, ist es durchaus möglich, dass Kolumbus das Gehörte recht lautgetreu wiedergab. Während sich die Bedeutung der Variante caribe bzw. caribal im spanischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Bewohner der Küsten der Karibik herauskristallisierte, wurde dem Wort canibal die Bedeutung „Menschenfresser“ auferlegt, welches sich in viele europäische Sprachen verbreitete. Im Deutschen ist der Begriff das erste Mal für das Jahr 1508 bezeugt.
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Kalender Tagungen Konferenzen Symposien
Europäischen Ethnologie/Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft/Kulturanthropologie
Juni
Mai 30.04.-04.05.08 wo: Goettingen was: 9th Göttingen International Ethnographic Film Festival Infos unter: www.gieff.de 14.-17.05.08 wo: Freiburg i.B. und Basel was: Tagung der Vereinigung von Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) und der Schweizerischen Gesellschaft für Afrikastudien (SGAS) „Grenzen und Übergänge “ 22.-25.05.08 wo: Kiel was: dgv-Studierendentreffen 2008 „Zukunftsperspektiven - Von der Kunst kein „Taxifahrer“ zu werden“ 23.-25.05.08 wo: Institut für Ethnomedizin e.V. München was: Studentenfortbildung (Bewerbung erforderlich) alles rund um die Ethnomedizin 28.-30.05.08 wo: Großweil was: 18. Tagung der Arbeitsgruppe Sachkulturforschung und Museum „In die Jahre gekommen - Vom konstruktiven Umgang mit dem Erbe“ 30.05.08-01.06.08 wo: Würzburg was: 3. Doktorandentagung der
11.-14.6.08 wo: Humboldt-Universität zu Berlin was: Tagung „IVF as Global Form. Ethnographic Knowledge and the Globalization of Reproductive Technologies“ 12.-14.06.08 wo: Bielefeld was: Symposium „Franz Boas. Wissenschaft, Politik, Mobilität“ 12.-15.06.08 wo: Heidelberg was: 5. Ethnologisches Symposium der Studierenden „Ethnologie! grenzenlos?“ 27.-28.06.08 wo: Marburg was: Treffen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde Offene Diskussionsveranstaltung zu allen Fragen der gestuften Studiengänge
Juli 11. - 13.07.08 wo: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg was: Konferenz „Krise der Konflikte“: interdisziplinär, studentische Veranstaltung
September 26.-28.09.08 wo: Hamburg was: Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für
Volkskunde „Kultur – Forschung: Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft“ 29.09.08-02.10.08 wo: Heidelberg was: Internationale Konferenz „Ritual Dynamics and the Science of Ritual” Theorien und Methoden der Ethnologie auf dem Prüfstand: Sonderforschungsbereich 619 zeigt das Spannungsverhältnis von Ritualdynamik und Ritualwissenschaften auf und geht in der Forschung neue Wege
Impressum ISSN 0947-9783 April 2008/ Ausgabe 28 „Grenzgänger“ Webseite www.cargo-zeitschrift.de
GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig
aktuell: was: Dauerausstellung: „Rundgänge in einer Welt“ Asien, Orient, Europa und Afrika
Oktober
02.-04.10.08 (voraussichtlich) wo: Institut für Ethnologie Göttingen was: Tagung der RG Ozeanien der DGV 10.-12.10.08 wo: Institut für Ethnomedizin e.V. München was: Studentenfortbildung (Bewerbung erforderlich) alles rund um die Ethnomedizin 23.-28.10.08 wo: Halle/Saale was: Werkleitz Medienkunstfestival Thema: Amerika
Ausstellungen Museen Haus der Völker, St. Martin
noch bis 25.05.08 was: SCHÄTZE DES FRÜHEN ISLAM: Schwerpunkt isla-
Kontakt redaktion@cargo-zeitschrift.de Zeitschrift für Ethnologie
misches Blei Die Wiederentdeckung einer bisher verschollenen Kultur in der islamischen Kunst (Beispiele des frühislamischen Handwerks im mittelalterlichen Stil sowie Vergleichsstücke in Bronze und Glas aus der Bumiller Art Foundation)
Titelbild Jan Klette (erniestoothbrush .photography) URL: http://etb-photo.carbonmade.com V.i.S.d.P. Gemeinnütziger Verein zur Förderung der Cargo - Zeitschrift für Ethnologie e.V. VR 1213 c/o Institut für Ethnologie Reichardtstr. 11, 06114 Halle
15.05.08: 20.00 Uhr was: Indisches Konzert Sugato Bhaduri, Kolkata: Mandoline; Om Prakash Pandey, Leipzig: tabla Zimeliensaal; Eintritt: 8/6 Euro 01.06.08: 13-18 Uhr was: Afrika-Familienfest im GRASSI Innenhof mit Roots Manding (Leipzig), Senegambia (Leipzig), Zebola Odjadike & Ballet (Berlin), Jabulani Afrika-Chor Uni Leipzig Basar, Angebote für Kinder und afrikanisches Essen aus dem „Basamo“! Eintritt: 5/2,20 Euro, Familienkarte: 9 Euro
Herstellung Citydruck Gaensslen GmbH Heinrich-Hertz-Str. 8 88250 Weingarten CARGO erscheint zweimal jährlich. Einzelpreis: 3 Euro Für Fachschaften: 2 Euro Normalabo vier Hefte: 12 Euro (zzgl. Versand) Förderabo vier Hefte: 24 Euro (zzgl. Versand) Die nächste Cargo erscheint im Herbst 2008 Redaktionsschluss: 30. August 2008
Redaktion der Ausgabe 28 Für den Inhalt der Beiträge sind die AutorInnen Vi Vien Baldauf, Harika Dauth, Philipp Humpert, Hendrik Konzok, Anett Schädlich, selbst verantwortlich. Die Inhalte spiegeln nicht Wir danken der DGV, dem Frobenius Institut, dem Fachschaftsrat für Afrikanistik und Boris Wille, Magdalena Wolf, Martina Zellmer unbedingt die Meinung der Redaktion wider. Orientalistik der Universität Leipzig und dem Layout Anzeigen/ Aboservice Studierendenrat der MLU Halle-Wittenberg Boris Wille vertrieb@cargo-zeitschrift.de für die finanzielle Unterstützung.
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Kalender 08.-18.06.08 was: Sonderausstellung Memento Mori – Erinnerungen an das Leben und den Tod 12.-14.09.08: 10-18 Uhr was: Basar Verkaufsausstellung von Kunst und Kunsthandwerk aus aller Welt
Linden-Museum Stuttgart
aktuell: was: Dauerausstellung Südasien; umfasst die Bereiche Indien (dabei: Alt-Afghanistan), Sri Lanka, Südostasien-Festland und Java/Indonesien sowie Nepal und Tibet
14.09.08: 10-18 Uhr was: Familienfest Informations- und Verkaufsständen, Ausstellungsführungen, Musik, Tanz und Mitmachaktionen
Museum für Völkerkunde Dresden
aktuell: was: Dauerausstellung Das Dresdner Damaskus-Zimmer - Ein Kleinod osmanischer Innenarchitektur in Deutschland
noch bis 31.08.08: was: Sonderausstellung Schätze aus Afrika, Indonesien und der Südsee – Die Schenkung Baessler und Arnhold 01.04.08-01.06.08: was: Sonderausstellung DROBAG – Teppiche 01.07.-28.09.08: was: Fotoausstellung „Vergessene Inseln“ – Reisen und Forschen im Talaud-Archipel 14.10.08- 25.01.09: was: Sonderausstellung Schach und andere asiatische Brettspiele anlässlich der internationalen Schach-Olympiade (1.15.11.2008) in Dresden
Völkerkundemuseum Herrnhut
aktuell: was: Dauerausstellung Ethnographie und Herrnhuter Mission
07.05.08: was: Kurzvortrag mit Objektpräsentation Einblicke in die Sepik-Sammlung: „Männer spielen Frauen – Frauen spielen Männer. Das Naven-Ritual der Iatmul“ 11.05.08: was: Märchenerzählen Märchen aus aller Welt für Kinder und Erwachsene Schöpfungsmythen vom Sepik, Papua Neuguinea. Begleitend zur Ausstellung „Reisen und Entdecken. Vom Sepik an den Main“
18.05.08: was: Internationaler Museumstag Führung durch die Ausstellung „Reisen und Entdecken. Vom Sepik an den Main“: Vom Männerhaus ins Museum was noch? Familienprogramm Junge ForscherInnen am Sepik. 17.05.08-21.09.08: Mit dem Entdeckerhandbuch was: Sonderausstellung unterwegs durch die AusstelGrönland-Inuit: Leben am lung „Reisen und Entdecken. Rande der Welt; Fotografien von Markus Bühler-Rasom und Vom Sepik an den Main“. Objekte aus der Sammlung des was noch? Tuareg, Säge- und Punzierarbeit Linden-Museums Die international renommierte Künstlerin Ewa Doerenkamp demonstriert Techniken der Schmuckgestaltung an ethnografischen Beispielen noch bis 27.04.08: was: Sonderausstellung Von Kapstadt bis Windhuk: „Hottentotten“ oder Khoekhoen? Die Rehabilitierung einer Völkergruppe
08.06.08: 14:00 Uhr: was: Führung Wasser - Lebenselixir und heilige Gabe Mit Dr. Christiane Kaszubowski-Manych
Museum der Weltkulturen Frankfurt a.M.
noch bis 04.05.08: was: Dauerausstellung Das Ägypten des Nagib Machfus: Fotografien von Georg Kürzinger
Sepik an den Main: 124 Objekte der Südseesammlung
Völkerkundemuseum Heidelberg
24. Februar - 15. Juni 2008 was: Sonderausstellung Tsukioka Yoshitoshi (18391892): Hundert Ansichten des Mondes - Japanische Farbholzschnitte
30.05.08 was: Klassenreise in die Märchenwelt Europas Überseemuseum In Kooperation mit der Europäischen Zentralbank im Bremen Rahmen der Europa-Kulturtage noch bis 18.05.08: 2008, Märchenerzählungen nur was: Sonderausstellung für Schulklassen! All about Evil – Das Böse: Das Barometer des Bösen 31.05.08 was: Familienreise in die MärHistorisches undVölkerchenwelt Europas kundemuseum St.Gallen In Kooperation mit der noch bis zum 15.06.08: Europäischen Zentralbank im was: Dauerausstellung Rahmen der Europa-Kulturtage Wayang - Licht und Schatten: 2008, Märchenerzählungen für über das indonesische Schatdie ganze Familie! tenspiel was noch? Familienfreundlicher Samstag „Satourday“ Im Winter (Datum noch unbe„Der Buddha im Lotus“ stimmt): 29.08.08-31.08.08: was: Museumsuferfest 27.10.07-19.10.08: was: Sonderausstellung Reisen und Entdecken. Vom
was: Erweiterung der Amazonas-Ausstellung VerWandlung - Alltag, Kunst und Religion bei AmazonasIndianern
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© Victor López González. Gemälde 300 x 400 cm. Öl auf Leinwand..
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