Eine Veranstaltungsreihe der CDU-Fraktion des S채chsischen Landtages
Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zur체ckkehren Schriftenreihe zu Grundlagen, Zielen und Ergebnissen der parlamentarischen Arbeit der CDU-Fraktion des S채chsischen Landtages
29. Mai 2013
Inhaltsverzeichnis
Einführung
2–6
Steffen Flath MdL Vorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages
„Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehren“
7 – 22
Prof. Dr. Kurt Biedenkopf Ministerpräsident des Freistaates Sachsen 1990 – 2002
Moderation
23 – 24
Dr. Fritz Hähle Ehrenpräsident des Johann-Amos-Comenius-Clubs Sachsen Steffen Flath MdL Vorsitzender der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages
Schlusswort
25 – 30
Stanislaw Tillich MdL Ministerpräsident des Freistaates Sachsen
1
Einführung Steffen Flath MdL Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde des Johann-Amos-ComeniusClubs, ich darf Sie namens der CDU-Landtagsfraktion ganz herzlich begrüßen. Heute im Internationalen Kongresszentrum hier in Dresden, direkt neben dem Parlament, neben dem Sächsischen Landtag. Und deshalb will ich auch bei der Begrüßung beginnen mit dem Parlamentspräsidenten, herzlich willkommen Dr. Matthias Rößler und 20 Mitglieder der CDU-Landtagsfraktion sowie ein Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Auf beiden Seiten der Elbe zu Hause ist unser Regierungschef, herzlich willkommen Herr Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Und ich freue mich, dass ich noch ein Regierungsmitglied begrüßen darf, unsere Sozialministerin, herzlich willkommen Frau Staatsministerin Clauß. Und, meine Damen und Herren, ein ganz herzliches Willkommen unserem Altministerpräsidenten Prof. Kurt Biedenkopf. Ich freue mich und ich glaube, Professor Kurt Biedenkopf freut sich auch, dass viele ehemalige Staatsminister, ehemalige Staatssekretäre, die in Sachsen ihren Dienst versehen haben, heute unter uns sind. Stellvertretend für alle möchte ich Prof. Karl Mansfeld begrüßen. Er war einige Jahre stellvertretender Ministerpräsident in Sachsen.
2
Herzlich willkommen auch unserem Ehrenpräsidenten des Johann-Amos-Comenius-Clubs, mein Vorgänger als Fraktionsvorsitzender, ein herzliches Willkommen Dr. Fritz Hähle und 17 ehemaligen Mitgliedern des Landtags und des Bundestags. Und jetzt würde ich Ihnen vorschlagen, meine Damen und Herren, machen wir dann einen Sammelapplaus, ich freue mich, dass vier Oberbürgermeister unter uns sind, 19 Bürgermeister habe ich gezählt. Wir sind auch hier im ComeniusClub eine richtige kommunale Familie und ich darf internationale Gäste begrüßen, ein ganz herzliches Willkommen Frau Generalkonsulin der Tschechischen Republik, Frau Dr. Krejčíková. Und vom Generalkonsulat der Vereinigten Staaten Herrn Dr. Fürst. Ich begrüße viele Anwesende aus der sächsischen Wirtschaft. Die 58 Mitglieder der Fraktion, die alle einen Wahlkreis in Sachsen vertreten, haben aus ihren Wahlkreisen wichtige Leute, das heißt, Handwerker, Mittelständler, Geschäftsführer, wenn die Firmen größer sind auch Vorstandsvorsitzende eingeladen, das ist heute das Besondere, eine Premiere. Wir haben den Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Textilen Bekleidungsindustrie unter uns, oder den Präsidenten
© Oliver Hoffmann / shutterstock.com
des Steuerberaterverbandes, viele Vertreter der IHK, der Handwerkskammer und schließlich auch Gewerkschafter, die ebenso zur sächsischen Wirtschaft aus meiner Sicht gehören. Wir haben – was wäre unser Land ohne die Kirchen, ohne Religion – traditionell viele Vertreter der evangelischen, der katholischen, auch der jüdischen Gemeinden in Sachsen unter uns. Stellvertretend möchte ich den Präsidenten vom Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamt Sachsen, Dr. Johannes Kimme, nennen. Ich möchte schließlich einen persönlichen Freund von Kurt Biedenkopf begrüßen. Er ist auch mein Freund, ich begrüße den Landesgeschäftsführer a. D. der CDU Sachsen, Herrn Rolf Wollziefer. Er hat in
den 90er-Jahren, als damals Kurt Biedenkopf hier Ministerpräsident aber auch Landesvorsitzender war, seinen Dienst in Sachsen geleistet und ist heute mit der Familie aus Kerpen hierhergekommen. Seien Sie alle herzlich willkommen. Wir könnten heute noch als Nachwirkung des gestrigen Abends über Fußball reden. Ich freue mich als Erzgebirger und als Anhänger von Erzgebirge Aue, dass Dresden den Klassenerhalt geschafft hat – herzlichen Glückwunsch. Aber wir wollen heute über Europa sprechen. Europa, viele Jahre haben wir in der Politik uns überlegt, wie könnten wir Europa stärker thematisieren, stärker besetzen in politischen Veranstaltungen. Heute sind wir mit dem Thema hochaktuell.
3
Es wird viel diskutiert in unserem Land und so wollen wir das natürlich auch im Comenius-Club tun. Wie in einer Familie, so teilen wir in Europa Freud und Leid. Freude sollten wir nicht vergessen, Frieden ist alles andere als selbstverständlich. Wir waren als CDU-Landtagsfraktion Ende der letzten Woche in Estland zur Fraktionsreise. Ja, ohne Visum. Ohne Reisepass. Geld mussten wir auch nicht tauschen. Wir könnten auch anführen saubere Luft, jetzt am Abend besonders gut zu sehen. Sauberes Wasser. Vieles, was uns in Europa freuen kann und uns von anderen Ländern dieser Welt unterscheidet. Auch die Böden sind sauberer geworden, die Lebensmittel sind heute viel gesünder. Das sind europäische Vorschriften, die durchaus zum Ziel geführt haben. Aber was Leid betrifft, zumindest mich persönlich, das Glühlampenverbot wäre vielleicht nicht nötig gewesen. Oder die versuchten Salzvorgaben für sächsische Bäcker. Ich mag einfach nicht, wenn ich so immer wieder erzogen werde, vielleicht andere auch, oder die jüngsten Ausschankvorschriften für Olivenöl für Gaststätten. Das sind Dinge, die ich eher zum Leid rechnen würde. Und wenn wir mit dem Thema heute zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht
4
und Gesetz zurückkehren, da klingt schon an, es ist allerhand Misstrauen unterwegs, allerhand Sorge. Können wir die Europäische Union noch halten, können wir den Euro erhalten, stabilisieren? Können die Bürger dem Staat, den Parteien und den Parlamenten vertrauen? Wir wissen, es ist schwere Arbeit, sich Vertrauen zu erwerben und Vertrauen wird manchmal über Nacht zerstört. Wir wollen uns darum bemühen, das Thema im Lande zu diskutieren, weil das für die Menschen wichtig ist. Wir haben – der Rechnungshof hält uns immer an, dass wir im Comenius-Club auch über unsere Arbeit berichten – einen der kürzesten Beschlüsse der CDU-Fraktion letztes Jahr in Bad Düben gefasst: Die CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages lehnt die Einführung von Deutschland- und Eurobonds ab. Wir wollen nicht die Vergemeinschaftung von Schulden. Und, als wir jetzt in Estland waren, da ist uns das Thema auch wieder vor Augen geführt worden. Besonders beeindruckend war für mich die Begegnung mit der dortigen Parlamentspräsidentin. Sie hat uns berichtet, wie Estland im Jahr 2008, als die Finanz- und Wirtschaftskrise ausbrach, fast die Zahlungsunfähigkeit drohte. Sie hat uns gesagt, mit welcher Kraftanstrengung in Estland im Jahr 2008 Beschlüsse gefasst wurden innerhalb kürzester Zeit, teilweise über Nacht.
Man hat dort im öffentlichen Dienst die Gehälter um 20 Prozent und die Pensionen gekürzt. Viele Dinge im Lande, an die sich auch schon die Esten gewöhnt hatten, wurden gekürzt und man hat diese Krise überstanden. Estland wächst wieder in der Wirtschaft. Aber eine Frage spielt bei den Esten eine Rolle, wahrscheinlich auch in Sachsen, weil die Esten sagen: Wir haben eins daraus gelernt, es bringt nichts, über die Verhältnisse zu leben. Die Esten, wie auch die Sachsen, stellen ihre Haushalte prinzipiell ohne Schulden, ohne Kredite auf. Und die Esten fragen jetzt, Solidarität in Europa ist wohl wichtig und auch richtig. Aber funktioniert nicht Solidarität immer so, dass der Stärkere dem Schwächeren hilft? Wer ist denn stärker, wer ist denn wohlhabender? Sind das die Esten oder sind das die Griechen?
europäischen Ländern viel mehr Verbündete als wir glauben, auf einem Weg, der auf Solidität der Finanzen begründet ist. Und so haben wir heute das Thema sehr aktuell und einen ausgezeichneten Referenten: Das freut mich ganz besonders. Ich weiß, dass Kurt Biedenkopf nach wie vor gerne in Sachsen ist, dass er viel gefragt ist, als Gesprächspartner, als Redner und so auch für uns in der sächsischen Politik als Ratgeber.
Sind das die Esten oder jetzt mach ich mal gleich einen Sprung zu den Franzosen. Die Frage muss doch wohl erlaubt sein und diskutiert werden. Weil, das wird nur gut gehen, wenn nicht die Länder, die größte politische Anstrengungen unternommen haben, dann womöglich für andere zur Kasse gebeten werden. Und deshalb wurde uns in Estland zunächst einmal ein Verbündeter bewusst.
Wenn man sein Leben anschaut, seine Rolle in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Politik, im Westen, im Osten, eigentlich überall ist Kurt Biedenkopf unterwegs gewesen und ist es immer noch. Wir haben viel von ihm lernen können in der Landespolitik und eins ganz besonders: Dass es nicht darum geht, wie wir den heutigen Tag überstehen oder die nächste Woche, oder wie wir die Zeit bis zur Bundestagswahl hinbekommen. Nein, er hat uns etwas gelehrt und das haben viele inzwischen in Sachsen zum Leitmotiv gemacht. Je älter man wird, dann sollte man einfach im Leben der Kinder denken, im Leben der Enkel, im Leben der Urenkel. Deshalb ist das ein Glücksfall, lieber Kurt Biedenkopf, dass du bei uns in Sachsen gewirkt und auch gelehrt hast.
Ich glaube, es gibt auch in der Tschechischen Republik, in Polen, in vielen ost-
Dies führt schließlich, wenn man in Generationen denkt, zur Nachhaltigkeit in
5
der Politik. Ich glaube, Nachhaltigkeit in der Europapolitik, das ist etwas sehr, sehr Wichtiges und wir freuen uns jetzt auf dein Referat, auf deinen Vortrag, auf deine Vorlesung und ich bin mir sicher, wir werden viele Anregungen f체r die Diskussion heute Abend, aber auch der n채chsten Wochen und Monate mitnehmen. Herzlichen Dank lieber Kurt Biedenkopf, du hast das Wort.
6
„Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehren“ Prof. Dr. Kurt Biedenkopf Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stanislaw Tillich, Herr Landtagspräsident, lieber Fraktionsvorsitzender Steffen Flath, herzlichen Dank für die Einführung. Ich habe mich über diese Einladung gefreut und ich freue mich, dass so viele von Ihnen der Einladung gefolgt sind. Der Comenius-Club, den Fritz Hähle vor vielen Jahren aus der Taufe gehoben hat, ist eine Seltenheit. Ich kenne kein anderes Bundesland, in dem eine Landtagsfraktion eine vergleichbare Plattform geschaffen hat, die getragen wird von Abgeordneten, deren Wirkung aber weit darüber hinaus reicht als ein Forum, auf dem eigentlich alle wesentlichen Fragen, nicht nur ökonomische, erörtert werden können. Dieser Club trägt den Namen einer bedeutenden Persönlichkeit: Johann Amos Comenius. Er war einer der bedeutendsten und frühesten nicht nur Philosophen, sondern Pädagogen. Einer der ersten, der erkannte, dass die Pädagogik die Kinder einbeziehen muss, dass der Zugang zu Wissen über Schule und Pädagogik allen offen stehen muss. Auch den Frauen – für damalige Zeiten eine ganz ungewöhnli-
che Haltung – und den Armen ebenso wie den Reichen. Ein Mann, der in vielerlei Hinsicht über Jahrhunderte voraus dachte und richtig dachte. In dessen Geist zu diskutieren anspruchsvoll ist, aber auch sehr fruchtbar. So wollen wir das heute Abend versuchen, im Zusammenhang mit dem, was Steffen Flath schon vorgegeben hat, über die europäische Entwicklung sprechen und dabei im Auge behalten, dass wir die europäische Entwicklung nicht von ihren Ursprüngen und ihrem eigentlichen Anliegen trennen dürfen. Als Erstes: kein europäischer Staat kann Europa verlassen. Das geht schon rein physikalisch nicht. Denn sie alle leben auf dem gleichen Kontinent. Kein Staat kann deshalb „ausziehen“. Er kann allenfalls erklären, dass er mit der restlichen Gemeinschaft nichts zu tun habe oder haben wolle, in der sich die Europäer zusammengefunden haben. In Zeiten der großen Beanspruchung – ob das in Griechenland ist, in Irland oder in anderen Staaten – ist es durchaus verständlich, dass man sich aus den Zwängen einer Gemeinschaft lösen und gewis-
7
sermaßen emanzipieren will. Nur wird jeder, der längerfristig darüber nachdenkt, was das für ihn bedeutet, wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen, dass der Preis für diese Emanzipation viel zu hoch wäre. Nicht nur der wirtschaftliche Preis, sondern auch der politische, geistige und der kulturelle. Gehen wir also davon aus, dass bei allem Streit, bei allen Widerständen und Besitzständen die Europäer letztlich zusammenbleiben wollen. Im Übrigen gibt es einen überragenden Grund für die Europäer, zusammenzubleiben. Der wird allerdings und erstaunlicherweise in Europa kaum diskutiert. Anscheinend stellt sich niemand in Europa die Frage, welche Rolle den Europäern in einer Welt zukommen werde, besser, zukommen sollte, in der bald 8 Milliarden Menschen leben werden. Über 7 Milliarden sind es schon. Als ich geboren wurde, waren es knapp 2 Milliarden. In meiner Lebensspanne ist die Bevölkerung der Erde praktisch explodiert. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es etwas Vergleichbares. Historisch gesehen haben wir es also mit einem ebenso einmaligen wie unglaublichen Prozess der Veränderung zu tun. Müssen wir uns dann nicht fragen, was diese Veränderung für uns bedeuten wird, die wir bald nur noch rund 6 Prozent der Weltbevölkerung ausma-
8
chen werden? Sind wir dann – vielleicht auch schon heute – eine Minderheit, die man ohne Schaden ignorieren kann? Sind wir eine Minderheit, die noch Einfluss hat, von der zumindest Wirkungen ausstrahlen, kulturelle, geistig-philosophische, politische und naturwissenschaftlich-technische Wirkungen, die von der großen Mehrheit der Weltbevölkerung als notwendig, als wertvoll begriffen werden? So dass sich aus diesem Wert die Bereitschaft der großen Mehrheit ergeben wird, Europa nicht nur nicht zu ignorieren, sondern zu beachten und aus seinen Erfahrungen zu lernen, wenn es darum geht, die Probleme der Welt zu lösen. Soweit das überhaupt möglich ist. Eigentlich müssten wir uns, um auch in dreißig Jahren noch gebraucht zu werden, schon jetzt mit Fragen befassen, die nicht auf der deutschen oder europäischen Agenda stehen. Zum Beispiel mit der Frage: wie kann man 7 Milliarden Menschen ausreichend mit Eiweiß versorgen, damit sie leben können, oder mit ausreichend Nahrung oder mit ausreichend Trinkwasser? Und was könnte geschehen, wenn es nicht gelingt? Werden sich Millionen von Menschen auf den Weg machen, um dorthin zu gelangen, wo es Nahrung und Wasser gibt? Oder werden sie lieber bleiben, wenn wir in der Lage und bereit sind, ihnen wirksam zu helfen, weil sie uns brauchen und wir in unserem Bereich der Welt ihre Prob-
leme aufnehmen und mitgestalten. Also auch von ihnen lernen. Aber nicht als Besserwisser oder mit dem Anspruch, man müsse nur unsere Ordnung übernehmen, denn wir machten alles richtig.
ren, um – zusammen mit den französischen und belgischen Kohlebergwerken und Stahlwerken – eine europäische Einheit zu bilden. Es war die Geburtsstunde der europäischen Integration.
Wie wir wissen, ist es nicht leicht, die notwendige Zurückhaltung und Bescheidenheit zu üben. Schon im Ost-West-Verhältnis in Deutschland ist es nicht überall gelungen. Worum es geht, ist, im dienenden Sinne das eigene Wissen, das die Europäer in Jahrtausenden erworben haben, für die Welt nutzbar zu machen. Und dabei für eine friedlichere Welt zu wirken. Auf der Basis dessen, was wir aus der europäischen Geschichte, von der griechischen Urdemokratie über das Römische Reich bis hin zu Jahrhunderten der Kriege und Auseinandersetzungen, den europäischen Bürgerkriegen von 1914 bis 1945 erfahren und mit der Europäischen Union überwunden haben. Diese Ordnung des europäischen Friedens ist nicht nur eine historische Leistung Europas und der europäischen Staatsmänner. Sie kann auch eine Hoffnung für die Welt werden.
Diese Geburtsstunde hat sich als fruchtbar erwiesen. Mit den Römischen Verträgen 1958, mit der weiter fortschreitenden Integration Europas entstand eine neue europäische Ordnung des Friedens. Erst nach der Wiedervereinigung verlor man ein wenig den Blick für die Wirklichkeit und für das, was in kurzer Zeit möglich ist. Man glaubte, man könne die Währungen und die Finanzmärkte genauso schnell integrieren wie die Wirtschaft. Mit der Überwindung dieses Irrtums sind wir derzeit beschäftigt.
Die Franzosen waren nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten, die das erkannten. Sie verzichteten darauf, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, das Ruhrgebiet wieder zu besetzen und schlugen stattdessen vor, die ehemalige „Waffenschmiede“ Deutschlands zu europäisie-
Die Integration der Wirtschaft in Europa ist ein Friedenswerk deshalb, weil die Arbeitsteilung, die durch die Integration entsteht, es allen europäischen Staaten unmöglich macht, in Zukunft gegeneinander aufzurüsten. Viele haben vergessen, dass die Integration der Wirtschaft vor allem der Friedenssicherung dienen sollte. Das ist gelungen. Wollte Deutschland tatsächlich wieder aufrüsten, wäre es dank der europäischen Arbeitsteilung auf zahlreiche andere Länder und deren Zulieferer angewiesen. Schon Adenauer sah in dieser gegenseitigen Abhängigkeit die Garantie für einen dauerhaften Frieden.
9
Was ursprünglich der Friedensicherung diente, die europäische Arbeitsteilung, ist heute zur Quelle unseres Wohlstandes geworden. Betrachten wir die Automobilindustrie. Sie ist inzwischen nicht nur auf europäischer Ebene sondern weltweit integriert. Kein Unternehmen eines Landes kann ohne die Zulieferungen von Unternehmen aus anderen Ländern erfolgreich produzieren. Diese Integration macht es praktisch unmöglich, dass Europa wirtschaftlich auseinanderfällt. Denn jeder, der versuchte, sich aus dieser Integration zu lösen, müsste dafür große Wohlstandsverluste in Kauf nehmen. Und das ist selbst dann, wenn die politischen Auseinandersetzungen in Europa aufgeregt und gereizt geführt werden, ein Grund zum Optimismus. Was ist nun mit dem Euro passiert? Lassen Sie uns den Euro mit einem Schiff vergleichen, das die Europäer zu Wasser ließen und trotz einer Reihe schwerer Defizite auf die Reise schickten. Das Schiff hatte keine Rettungsboote. Sein Kapitän hatte keine ausreichende Befehlsgewalt. Der Kompass fehlte, die Motoren waren noch nicht wirklich getestet und auch sonst gab es beachtliche Mängel. Und das Schiff hatte keinen klaren Kurs. Warum hat man sich trotzdem auf die Reise eingelassen? Weil man glaubte, man könne die Defizite des Schiffes während der Reise aufarbeiten. Das hat sich als Fehler erwiesen.
10
Heute wissen wir um die „schweren Konstruktionsfehler“ der gemeinsamen Währung. Es zeigt sich, dass die Verträge von Maastricht, auf denen der Euro basiert, vor allem jedoch ihre Durchführung, den Voraussetzungen einer Währungsunion nicht entsprechen und die entstandenen Realitäten nicht widerspiegeln. Darin liegt das eigentliche Problem. Heute sind wir gezwungen, das Euro-Gebäude zu Ende zu bauen, ohne einen klaren Fahrplan zu haben, ohne eine klare Architektur zu sehen und unter den erschwerten Bedingungen der Einstimmigkeit. Das ist die Situation, in der wir uns befinden und die nicht nur zu großen Ärgernissen führt sondern auch zu Unsicherheiten und Sorgen. In den ersten Jahren schien das Euro-Schiff trotz aller Mängel erfolgreich. Die See war ruhig. Man konnte sich mit den Reparaturen Zeit lassen. Doch dann kam der Sturm der Finanzkrise. Sie hatte mit dem Euro als Währung unmittelbar nichts zu tun. Wohl aber mit der schnell gewachsenen Staatsverschuldung aller Euroländer und den wachsenden Problemen mehrerer unter ihnen, ihre Schulden zu finanzieren. Wie kam es dazu? Kein Mitgliedsstaat der Europäischen Währungsunion hatte sich an das grundlegende Gebot der Euro-Union gehalten, seine Staatsverschuldung in den vorgeschriebenen Grenzen zu halten, das heißt, sich zu begrenzen. Alle haben die vereinbarten Grenzen verletzt.
Nun war es für jeden nachdenklichen Menschen, nicht nur für die verantwortlichen Politiker, offensichtlich, dass es den Euro-Staaten schwer fallen würde, die vertraglichen Grenzen einzuhalten, auch wenn es keine Institution gab, die sie dazu hätte zwingen können. Die Institution also, die die Euro-Union eigentlich von Anfang an gebraucht hätte. Die das Recht hätte, die Verschuldung der EuroStaaten zu begrenzen und zu entscheiden, ab wann die Verschuldung nicht mehr garantiert werden könne. Das hätte den Staaten einen Teil der politischen Kosten einer Selbstbegrenzung abgenommen. Es hätte uns die heutigen Probleme erspart. Sie hätten sich in den Schuldengrenzen bewegt. Für diese Grenzen hätten sie eine externe Institution verantwortlich machen können. Das heißt, man hätte vor sein Volk treten und sagen können, es tut mir leid, wir können eure Wünsche nicht alle erfüllen, denn wir dürfen nicht so viele Schulden machen. Das ist jedoch nicht gelungen. So wurde die Versuchung unüberwindlich. Der Euro war sehr preiswert. Es war gutes Geld und die Zinsen waren niedrig. So begannen bald nach der Einführung des Euros alle, dieses gute Geld über Gebühr zu leihen, auszugeben und so Schulden zu machen. Dann brach die Finanzkrise aus. Die EuroStaaten, die dank ihrer hohen Staatsver-
schuldung auf die Finanzmärkte angewiesen waren, müssen nicht nur ihre Schulden bedienen, sondern zunehmend auch ihre Banken stützen und vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren. Auch dafür waren sie in erheblichem Umfang auf Kredite angewiesen. Bei den wirtschaftlich schwächeren Euro-Staaten blieb das nicht ohne Auswirkungen auf ihre Kreditwürdigkeit. So kam es, dass die Finanzmärkte, genauer die Gläubiger dieser Staaten, auf sie aufmerksam wurden und sich fragten, ob die Anleihen dieser Staaten noch sicher seien trotz der Last, die sie als Folge der Finanzkrise übernehmen mussten. Praktisch gesprochen ging es um die finanzielle Leistungsfähigkeit der Schuldnerstaaten. Wenn die Staaten Papiere an die Finanzmärkte verkaufen, sind die Finanzmärkte die Gläubiger und die Staaten Schuldner. Nun setzen wir uns jetzt einmal in die Lage der Gläubiger, die feststellen müssen, dass ihre Schuldner, denen sie mit dem Kauf ihrer Staatspapiere Kredit gewährten, plötzlich riesige zusätzliche finanzielle Lasten stemmen müssen. Würden wir uns dann nicht auch fragen, wie gut die Chancen sind, unser Geld zurückzuerhalten? Und wie hoch der Risikozuschlag sein müsste, den der Schuldner uns zusätzlich zu den Zinsen für den Kredit zahlen muss, damit wir ihm einen weiteren Kredit geben können?
11
Dass beide Entwicklungen zusammentrafen: die Folgen der Konstruktionsfehler des Euro und die Überlastung der verschuldeten Staaten durch die Finanzkrise, ist die Ursache dafür, was wir jetzt als Eurokrise empfinden. Denn hätten wir beim Bau der Währungsunion keine Konstruktionsfehler gemacht und hätten die Euro-Länder sich an die Begrenzungen ihrer Schulden gehalten, hätten wir die Finanzkrise ohne die dramatischen Folgen beherrschen können, mit denen wir es jetzt zu tun haben. So muss die europäische Gemeinschaft jetzt feststellen, dass die Leistungsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Staaten sehr unterschiedlich sind. Dass die größere Zahl der Euro-Staaten deutsche Waren zwar importiert, aber mit eigenen Ausfuhren nicht genug verdient, um sie bezahlen zu können. Dass sie als Folge bei ihren Banken Kredite aufnehmen müssen, die diese Kredite wiederum an die Europäische Zentralbank weiterreichen, was darauf hinausläuft, dass die Zentralbank den Staaten das Geld zur Bezahlung ihrer Importrechnungen in der Erwartung vorschießt, dass diese Kredite später ausgeglichen werden. All das zeigt, wie vertrackt die Situation geworden ist, in die wir durch Finanzkrise und überschuldete Euro-Staaten geraten sind. Dafür die Finanzmärkte zu
12
beschimpfen, ist eher Ausdruck unserer Ratlosigkeit. Die Euro-Staaten haben die Regeln der Währungsunion nicht eingehalten. Die Aufsicht über die Banken war unzureichend. Die Versuchungen, Kredite aufzunehmen, zu verführerisch. Dass der Euro trotz der Konstruktionsfehler eingeführt wurde, hat nicht zuletzt Deutschland und hier vor allem der Bundestag zu vertreten. Seine Mitglieder hatten 1992 übereinstimmend beschlossen, die Bevölkerung vor genau der Entwicklung zu schützen, vor der wir heute stehen. Im April 1998 hat er sie dann doch, wiederum mit überwältigender Mehrheit, zugelassen. Warum, wurde nie eindeutig begründet. Hätte der Bundestag sein Versprechen gegenüber der deutschen Bevölkerung gehalten, hätte man damals entweder die Einführung der gemeinsamen Währung vertagt oder man hätte nur die EU-Staaten in die Währungsunion aufgenommen, die den vom Bundestag beschlossenen Voraussetzungen entsprochen hätten. Die Mittelmeerländer wären überwiegend nicht dabei gewesen. Die Anstrengungen, die bisher gemacht worden sind, um die Krise zu überwinden, sind im Großen und Ganzen sinnvoll. Das Problem ist: sie werden durch den Maastrichter Vertrag nicht gedeckt oder sind nicht vorgesehen. Aber die Konstruktionsfehler im ursprünglichen Kon-
zept einer Währungsunion waren auch nicht vorgesehen. Wie soll sich deshalb jetzt eine Regierung verhalten, wenn die Zentralbank, aber auch die eigenen Banken Staaten direkt oder indirekt unter die Arme greifen müssen, obwohl das im Vertrag verboten ist? Wie sollen sie sich verhalten, wenn die Verschuldensgrenzen ständig überschritten werden, obwohl der Stabilitätspakt das verbietet, aber keine Sanktionen ergriffen werden können, weil sich alle so verhalten? Mit anderen Worten: wir haben eine Situation geschaffen, die mit bestehenden Verträgen nicht bewältigt werden kann. Gleichzeitig sind wir aber nicht in der Lage, die Verträge so schnell zu verändern, immer nach dem Einstimmigkeitsprinzip oder durch Referenten in einigen Ländern, um mit der Geschwindigkeit der Entwicklung mitzuhalten. Das ist ein sehr schwieriges Problem. Und es wird nach meiner Überzeugung auch eine Lösung finden. Die entscheidende Frage lautet jedoch: Wie kann ich der Bevölkerung erklären, dass sie dieses Verhalten trotzdem in ihr Vertrauen einbeziehen soll, wenn zu Recht gesagt wird, dass das, was hier geschieht, mit den Verträgen nicht vereinbar und deshalb nach normaler rechtlicher Beurteilung rechtswidrig ist. Es ist ein Konflikt, der auch im eigenen Land auftreten kann, aber nicht mit dieser Dra-
matik, wenngleich auch in Deutschland Gesetze gemacht werden, die anderen Gesetzen widersprechen. Nur das sind Probleme, die in jeder Rechtsstaatlichkeit auftreten. Wie kann man nun eine derartige Situation überwinden? Indem man Europa Ziele setzt, die über die Währungsfragen und die ökonomischen Fragen hinausgreifen. Die deutlich machen, dass beide dienende und nicht Europa beherrschende Strukturen sein dürfen. Damit kommen wir wieder zurück zur Rolle Europas in der Welt. Die Aufgaben, die sich aus unserer Minderheitenstellung ergeben, sind gewaltig. Wir diskutieren sie bisher jedenfalls nicht ernsthaft. Wir zahlen 0,3 bis 0,5 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts für Entwicklungshilfe. Das entspricht der bisherigen Vorstellung, man müsse etwa Afrika etwas Geld schicken, um sein Gewissen zu beruhigen. Aber wir können mit 0,3 bis 0,5 Prozent unser Gewissen nicht beruhigen, wenn wir gleichzeitig überlegen, dass wir für andere Etatpositionen, die nicht die gleiche existenzielle Bedeutung haben wie die Bewältigung der nächsten 30 Jahre, ein Vielfaches aufwenden und noch mehr verlangen. Wie können wir also in Europa das Verständnis für eine gemeinsame Aufgabe
13
gewinnen, die eine existenzielle Bedeutung hat? Das geht nur, wenn wir uns aus der engen Debatte über den Euro lösen und die weit größeren Probleme in den Blick nehmen und daraus die gemeinsame Anstrengung ableiten, die Europrobleme und andere Integrationsprobleme zu lösen versuchen. Und dafür müssen wir vor allen Dingen die Europäischen Institutionen selbst verändern. Herr Oettinger hat kürzlich harte Kritik an den Institutionen der Europäischen Union geübt. Er hat Recht. Stellen Sie sich mal vor, Stanislaw Tillich hätte ein Kabinett mit 28 Ministerinnen und Ministern. Und dieses Kabinett verfügt, wie auch in der Bundespolitik üblich, nur über die begrenzte Zuständigkeit des Landes. Er müsste dann diese begrenzten Zuständigkeiten unter 28 Ministern aufteilen, die wiederum alle den Wunsch haben, durch die Bewältigung ihrer Aufgaben öffentliche Aufmerksamkeit hervorzurufen. Offenbar geht das nicht. Genauso verfahren wir jedoch in Europa. Wir haben in Europa Strukturentscheidungen getroffen, die das, was eigentlich geleistet werden soll, nachhaltig erschweren. Darüber hinaus hat die Eurokrise zu Gewichtsverlagerungen in Europa geführt, denen wir ebenfalls nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet haben.
14
Es gibt den Europäischen Rat. In ihm versammeln sich die Regierungschefs der EU-Länder. Im Zusammenhang mit der Krise ist diesem Rat, der Not gehorchend, eine ganze Menge zusätzliche Zuständigkeit zugewachsen. Im Grunde ist der Rat zurzeit die Europäische Regierung. Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass er sich so sieht. Er betrachtet den Präsidenten der Kommission als eine Art ausführendes Organ des europäischen Machtzentrums. Die Kommission soll ihm zuarbeiten. Das führt zu Konflikten mit Herrn Barroso und dem Europäischen Parlament, das ja gegenüber dem Rat keinerlei Befugnis hat. Die Mitglieder des Rates berufen sich auf ihre nationale Legitimation; eine europäische Legitimation haben sie nicht. Aber der Rat ist als Führungsorgan unverzichtbar. So entwickelt sich aus einer Krisensituation eine Veränderung der realen Verfassungslage. Für den Rat bedeutet es eine große Versuchung, die Krise so zu definieren, dass er seine zentrale Rolle so lange aufrecht erhalten kann, bis sie sich eines Tages zu einer neuen Struktur entwickelt hat und aus ihr in der Tat eine Art Regierung erwächst. Das ist nicht erwünscht. Deshalb müssen wir uns damit befassen. Herr Oettinger hat Recht, dass die neuen Institutionen nicht so aussehen können wie die gegenwärtigen. Steffen Flath hat
vorhin eine Reihe obskurer Entscheidungen der Kommission erwähnt; das Olivenöl war, glaube ich, das letzte. Gastwirte wissen um den Unsinn, Olivenöl in Plastikflaschen abzufüllen. Das Öl würde den Plastikflaschengeruch annehmen und wäre damit verdorben, was ihm in Glasflaschen nicht passieren kann. Hinter derartigen Vorgängen verbirgt sich eine gefährliche Entwicklung. Man kann sie beschreiben als die Expansion staatlicher Vormundschaft. Herrscht in einem Land die Auffassung, alle wesentlichen Fragen, die das Land betreffen, sollten an der Spitze entschieden werden, dann verarmt das Land – aus drei Gründen. Wir wissen aus der Erfahrung mit planwirtschaftlichen Systemen, dass es außerstande ist, die Vielfalt einer modernen Gesellschaft in seinen Entscheidungsprozessen abzubilden. Das heißt, der Plan muss diese Vielfalt gewissermaßen reduzieren. Er muss alles gleich behandeln. Denn er kann nur einheitliche Verhältnisse regeln. Dieses Problem ist auch in unserem Sozialsystem angelegt. Hartz IV ist ein typisches Beispiel. Das Gesetz sieht einen einheitlichen Satz vor für diejenigen, die auf die Grundsicherung angewiesen sind, gleichgültig, ob sie in München oder in Mecklenburg-Vorpommern leben. In der Realität genießt derjenige, der in Mecklenburg-Vorpommern lebt, einen sehr viel höheren Lebensstandard als der, der in München
lebt. Denn seine Kaufkraft ist – gemessen an der Höhe der Lebenshaltungskosten – real höher. Das ist eigentlich ungerecht. Aber der zentrale Staat kann das nicht ändern. Er kann nicht differenzieren, regional oder noch kleinräumiger. Er würde eine Flut von Gerichtsprozessen provozieren. Das ist nur ein Beispiel von vielen dafür, welche Grenzen der zentralen Bewältigung von Problemen gezogen sind. Der zweite Grund: je wohlhabender und leistungsfähiger eine Gesellschaft und ihre Wirtschaft werden, umso komplexer werden sie. Nun ist die Handhabung komplexer Situationen eine sehr schwierige und anspruchsvolle Sache. Der komplexeste Prozess, an dem Sie alle teilnehmen, ist der Markt. Der Markt ist eine geniale Erfindung der Menschen, eine Erfindung, die mit vier Bausteinen auskommt: nämlich Eigentum, Haftung, Wettbewerb und Vertrag. Diese vier Elemente sind in millionenfacher Weise unterschiedlich kombinierbar, vergleichbar den vier Basiselementen einer DNA, die praktisch in unendlichen Kombinationen denkbar sind. Niemand könnte selbst eine weit geringere Anzahl von Kombinationen planwirtschaftlich organisieren. Das können wir mit Hilfe des Marktes, der aber Bedingungen erfüllen muss. Wer in ihm
15
Macht besitzt, muss begrenzt werden. Diejenigen, die versuchen, Macht zu bilden, müssen daran gehindert werden. Die Verträge, die geschlossen werden, sind nur dann vernünftig und gerecht, wenn kein Machtgefälle sie bestimmt, wenn also beide Parteien die Möglichkeit haben, den Vertrag auch zu verweigern, also frei sind. Diese Freiheit garantiert ein offener Wettbewerb den Konsumenten im großen Umfang. Wenn sie bei A nicht ordentlich bedient werden, gibt es B bis X, wo sie auch hingehen können. Gibt es nur A, dann hat A ein Monopol und es muss kontrolliert und begrenzt werden. Das ist die Grundidee einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Wie aber steht es mit dem Management der Komplexität eines Schulsystems, eines Gesundheitssystems, eines Sozialsystems, eines Arbeitsmarktsystems? Überall dort, wo der Staat versucht, es selbst zu steuern, stellen wir fest, dass die Ergebnisse unwirtschaftlicher erzielt werden. Anderes Beispiel: im Deutschlandfunk wurde von den Anstrengungen der Bundesregierung berichtet, möglichst viele der rund 300.000 jungen Leute, die in Deutschland keine ausreichende Ausbildung haben, für einen Beruf zu qualifizieren. Keine Bundesregierung kann
16
eine derartige Aufgabe bewältigen. Das ist offensichtlich. Schon die Erfassung der 300.000 und die Art und Weise, wie man die 300.000 motivieren kann, dass sie da überhaupt mitmachen, statt sich für Hartz IV als Beruf zu entscheiden, ist unendlich komplex. Bewältigen können eine derartige Aufgabe nur die Ebenen des staatlichen Aufbaus, auf der die Menschen einander begegnen. Dort, wo sie miteinander solche Probleme lösen können. Es sind die Ebenen der Bürgeroder der Zivilgesellschaft, die kommunalen Ebenen. Auf ihnen vollzieht sich eine Fülle von Lösungen, ohne großes Aufsehen, ohne große Publizität, gewissermaßen selbstverständlich. Ab und zu wird berichtet, was da inzwischen Erstaunliches geschieht und wie die einzelnen Initiativen voneinander lernen wollen. Dieses Voneinander-lernen ist ein entscheidender Punkt. Kommt jetzt der Staat und zieht die Aufgabe an sich, dann wird ihre Bewältigung nicht nur unwirtschaftlicher und bürokratischer. Der Staat legt damit zugleich nicht nur die Lernbereitschaft sondern auch die Innovationsfähigkeit der engagierten Bevölkerung praktisch lahm. Denn, so die Erfahrung: sagt der Staat, „ich erledige das“, dann sagen die Bürger, „ich brauche mich nicht mehr darum zu kümmern, denn Vater Staat kümmert sich“. Denn immer dann, wenn wir die Grenzen staatlicher Möglichkeiten nicht respektieren,
wird die Balance zwischen der Ordnung des Ganzen und der Ordnung der Vielfalt auf verschiedenen Ebenen zerstört, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.
es eine Weile, bis die Folgen sichtbar wurden. Und dann half man sich mit einer Art Wechselreiterei, um die Lage zu beschönigen. Im Grunde kam das Ganze einer verschleppten Insolvenz gleich.
Und schließlich ist es immer gefährlich, einheitlich regeln zu wollen, was sich von Region zu Region und von Land zu Land kulturell, historisch oder traditionell unterscheidet. Die Griechen haben nie verstanden, warum wir eine ganze Reihe von Dingen regeln, die für sie vollkommen klar sind. Oder die sie ganz anders regeln würden. Zwingen wir sie jetzt, es so zu machen wie wir, dann verletzen wir sie, verlieren ihre Mitwirkung oder erwecken in ihnen Erinnerungen an die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg. Erfolgreich sind derartige Methoden selten – und dann nur unter Druck. Aber es ist anscheinend schwer, den Regierenden klarzumachen, dass sie etwas versuchen, was nicht geht.
Als Ergebnis können wir aus der Entwicklung planwirtschaftlicher Systeme lernen und feststellen: Sie sind nicht nur unfähig, die Vielfalt zu beherrschen, die notwendig ist, um die Innovationsfähigkeit der Bevölkerung zu aktivieren. Deshalb sind sie auch nicht bereit, diese Vielfalt als Ausdruck von Freiheit zu dulden. Denn beides gefährdet ihre Herrschaftsstruktur und damit ihre Macht.
In einer freien Gesellschaft können wir das den Regierenden sagen oder sie abwählen. In der DDR konnte man es nicht. Deshalb konnten die Menschen in der DDR nicht auf die katastrophalen Folgen aufmerksam machen, die mit der Verstaatlichung nicht nur der Großindustrie, sondern auch der Verstaatlichung des Mittelstandes in Kombinaten verbunden waren. Letztlich führte beides zum wirtschaftlichen Ende der DDR. Zwar dauerte
Gorbatschow ist letztlich daran gescheitert, dass er sowohl Glasnost wie Perestroika verwirklichen wollte. Er glaubte, wenn er der Wirtschaft Spielräume gewährte, würde sie diese Spielräume nutzen, ohne politische Freiheit zu verlangen. Aber Freiheit in der Wirtschaft ist mit politischer Freiheit untrennbar verbunden. Deshalb scheitern planwirtschaftliche Systeme früher oder später, je nachdem, wie lange es ihnen gelingt, die Forderung nach Freiheit zu unterdrücken. Es ist interessant und wichtig zugleich zu beobachten, wie man in China zunehmend erkennt, dass ein Einparteiensystem wahrscheinlich auf Dauer nicht funktionieren kann. Und dies, obwohl sich das chinesische Experiment vor einem völlig
17
anderen historischen Hintergrund vollzieht: einem 3.000 Jahre in sich geschlossenen Reich, das Reich der Mitte, das nach Wegen sucht, sich aus der gegenwärtigen Klemme zu befreien, ohne seine Regierbarkeit zu verlieren. Wir könnten auf dem Weg sein, uns ohne Not in eine ähnliche Klemme zu begeben, wenn wir das, was Herr Oettinger zu Recht angemahnt hat, nicht ernst nehmen. Und nun zum letzten Punkt. Es muss uns gelingen, die Grundelemente einer freiheitlichen Gesellschaft zu erneuern, sie wieder nutzen zu lernen. Und das in einer Ordnung, in der verwirklicht wird, was wir mit dem etwas schwerfälligen Wort Subsidiarität bezeichnen. Wir haben es dabei mit einem sehr interessanten Prozess zu tun. Subsidiarität heißt eigentlich: der Staat ist subsidiär, das heißt der Verantwortung und Initiative der Bürger nachgeordnet zuständig – und nicht die Bürger gegenüber dem vormundschaftlichen Anspruch des Staates. In der politischen Debatte haben wir das Verhältnis zwischen Bürger und Staat inzwischen auf den Kopf gestellt. Denn heute sind die Bürger aus der Sicht der Regierenden subsidiär. Sie sollen die Lücken füllen, die der Staat nicht angemessen füllen kann, und im Übrigen ihre Verantwortung an Vater Staat abtreten. Unter der Herrschaft einer derartigen Vorstellung muss der Staat ein Interesse
18
daran haben, möglichst viele der Bereiche zu besetzen, in denen die Bürger sonst vorführen könnten, dass man es auch besser machen kann. Wenn Sie darauf achten, werden Sie sehen, dass unsere Sozialsysteme eine starke Tendenz haben, genau das zu tun. So betrachten die großen Sozialverbände, die überwiegend aus Steuern finanziert werden, selbständige bürgergesellschaftliche Initiativen häufig eher mit Misstrauen. Denn sie müssten ihre eigene Legitimation hinterfragen, sollte es sich erweisen, dass ein wichtiger Teil der von ihnen beanspruchten sozialen Aufgaben auf der Ebene der Zivilgesellschaft durch die Bürger besser und lebensnäher gelöst und bewältigt werden kann – in Zusammenarbeit mit dem kommunalen Sachverstand und den bürgerlichen Initiativen, den Schulen und den Vereinen. Deutschland besitzt eine weit verzweigte Vereinsstruktur, in der sich ein großer Teil bürgerlichen Engagements verwirklicht. Diese Energie können wir nutzen und sie wird auch genutzt. Wird sie erfolgreich genutzt, könnte es dazu führen, dass die Sozialverbände einen Teil ihrer Legitimation gefährdet sehen. Sie müssten sich dann auf die Tätigkeitsfehler zurückziehen, für deren Regelung man auf die höhere subsidiäre Ebene nicht verzichten kann. Ob sie zu diesem Verzicht bereit sind, ist nicht nur für sie sondern für das ge-
samte Sozialsystem, zu dem sie gehören, ist eine Machtfrage. Und so kommen wir, wenn wir es richtig bedenken, zu dem Ergebnis, es geht um eine politische Machtfrage. Wir müssen diese Machtfrage entscheiden: Wie gelingt es uns, die staatliche Zuständigkeit in dem Raum zu halten, in dem der Staat äußerst Nützliches tun kann, ohne dass er seine Fähigkeit, das Nützliche zu tun, durch eine ständige Ausweitung schwächt? Denn der Staat, der überall präsent ist, ist ein schwacher, für Sonderinteressen anfälliger Staat. Der Grund dafür ist wiederum einfach: Im Parlament sitzen viele, viele Abgeordnete, die sich auf das eine oder andere Gebiet spezialisiert haben. Eine ziemlich große Zahl der Abgeordnete betrachtet sich inzwischen als Experte. Darin liegt eine Versuchung für das Parlament als Ganzes: die Neigung, dem jeweiligen Experten gewissermaßen die Entscheidung zu überlassen. Das beeinträchtigt nicht nur den Gesamtzusammenhalt des Parlaments, das ja eigentlich die Exekutive kontrollieren soll. Es öffnet auch die Türen für den Einfluss von Sonderinteressen. Diese wiederum drängen auf Sonderregelungen und Subventionen und damit zu einer Flut von Einzelentscheidungen. Man nennt sie auch Intervention. Praktisch heißt das: es gibt ein spezielles Pro-
blem, das nach einer speziellen Lösung drängt. Die Experten lösen das Problem, können jedoch nicht erkennen, welche Wirkungen ihre Lösung für andere politische Entscheidungen haben könnte. Denn im Unterschied zur Medizinwerbung im Fernsehen gibt es keinen Arzt oder Apotheker, den man nach den Risiken und Nebenwirkungen fragen kann, die mit politischen Interventionen verbunden sind. Treten die Nebenwirkungen jedoch ein – wie beim Erneuerbare-Energie Gesetz –, werden sie von anderen Experten als neues Problem gesehen. Das wiederum muss durch eine weitere Intervention gelöst werden und so fort. Wobei es innerhalb der Experten keine verlässliche Abstimmungsmöglichkeit darüber gibt, wie sich ihre Interventionen auf das Ganze auswirken. Was ergibt sich daraus? Die dringende Notwendigkeit, Veränderungen zu erkennen und den politischen Willen zu mobilisieren – und der wiederum wird nur von unten kommen – die besetzten Bereiche, in denen die Bürger Verantwortung übernehmen können und über Kompetenz und auch Leistungswillen verfügen, zu entstaatlichen, das heißt: den Bürgern zurückgeben. Das ist sehr schwierig. Denn welche Räume auch immer der Staat durch seine Institutionen erst einmal besetzt hält, gleich ob es sich um Be-
19
reiche der Sozialsysteme oder um andere Bereiche handelt; sie müssen dem Staat auch wieder abgetrotzt werden. Praktisches Beispiel: in einer Kommune tun sich Bürger zusammen, um „Schulabbrechern“, also denjenigen zu helfen, die keine abgeschlossene Schulausbildung haben und deshalb auch keine Lehrstelle bekommen können. Sie nehmen sie an die Hand und versuchen, ihnen doch noch – zusammen mit der Schule und mit Hilfe der kommunalen Unterstützung und Professionalität – zu einem Abschluss und zu einer Lehrstelle zu verhelfen und ihnen damit die Chance einer Qualifikation zu sichern, die ihnen ein eigenständiges und menschenwürdiges Leben ermöglicht. Was ist derzeit unsere Antwort? Wir beklagen den Fachkräftemangel und versuchen, uns die fehlenden qualifizierten jungen Leute aus dem Ausland zu holen. Die gleiche Arbeitsministerin, die in einer Sendung das erstere Problem definiert hatte, war anschließend stolz darauf, alle Voraussetzungen geschaffen zu haben, nicht nur junge Leute aus der Europäischen Union sondern auch aus Drittländern nach Deutschland zu holen. Was das in Wirklichkeit bedeutet? Dass wir die Ausbildungsleistungen anderer Länder ohne Gegenleistung für uns in Anspruch nehmen. Weil wir nicht in der
20
Lage sind, eine ausreichende Zahl von Fachkräften selbst auszubilden und damit die Facharbeiternot zu überwinden. Von den Ländern, aus denen diese jungen Leute abwandern – ob aus Spanien, Portugal oder anderen – kommt schon heute der Vorwurf der Ausbeutung ihrer durch den Geburtenrückgang ohnehin geschmälerten Generation und ihrer Ausbildung. Das ist angesichts der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands ebenso plausibel wie für den europäischen Zusammenhalt gefährlich. Wir müssen deshalb zu einer Struktur sowohl in Deutschland wie in Europa finden, die es ermöglicht, das enorme Innovationspotenzial der Bevölkerung zu aktivieren. Auch dafür brauchen wir die Mitwirkung der Bürgerschaft. Wiederum werden wir hören, die könne das nicht leisten. Das ist jedoch, wie sich bereits zeigt, ein großer Irrtum. Denn die Bereitschaft der Älteren, sich an der Mobilisierung unserer Potenziale zu beteiligen, nimmt ständig zu. Eine der dafür bedeutsamen Nebenwirkungen einer alternden Gesellschaft besteht im Interesse der Älteren, länger gesund und fit zu leben als früher. Als Folge ist der Gesundheitszustand der heranwachsenden älteren Bevölkerung besser als früher. Wer heute mit 65 in Rente geht – das effektive Verrentungsalter ist noch immer geringer – hat die Aussicht, rund 80 Jahre alt zu werden. Viele von ihnen werden
sich auch weiterhin engagieren wollen. Nicht nur beruflich sondern auch in der Bürgergesellschaft. Viele wissen, dass es lohnt, jungen Leuten zu helfen, noch eine Lehrstelle zu bekommen. Denn sie wissen: wenn sie eine Lehrstelle bekommen, dann können sie später auch zu einer sicheren Rente beitragen. Fehlt es jedoch an ausreichendem Nachwuchs von Fachkräften: wer soll dann das Wirtschaftswachstum erwirtschaften, von dem wir dauernd reden? Es sind die Menschen, ihr Fleiß, ihr Einsatz und ihr Erfindungsgeist, die unseren Wohlstand sichern, nicht die Finanzmärkte. Noch so viel Geld, das wir in die Wirtschaft pumpen, wird nichts bewirken, wenn es zu wenige gibt, die mit dem Geld Unternehmen gründen, sich einer Aufgabe stellen, Produkte entwickeln und die Menschen finden, die mit ihnen zusammen eine wirtschaftliche Leistung erbringen und damit zur Wertschöpfung beitragen. Das Fazit meiner und hoffentlich auch Ihrer Einsicht lautet demnach: Wir können das verlorene Vertrauen nur wiedergewinnen, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie nicht nur mitgenommen werden sollen, wie das in der Politiksprache so schön heißt, sondern dass es auf sie ankommt. Und wenn die politischen Institutionen sich als Einrichtungen begreifen, die unsere Fähigkeiten suchen und sie freisetzen wollen und uns
die Möglichkeiten bieten, durch Beispiel andere zu ermutigen, das auch tun. Sicherlich braucht man auch hier und da Hilfe, aber man braucht vor allen Dingen Freiräume. Diese Freiräume sind zum erheblichen Teil besetzt. Wenn sie besetzt bleiben, wird unser Misstrauen wachsen. Denn je größer der bürokratische Einfluss auf unser Leben einwirkt und je undurchsichtiger er wegen der unüberschaubaren Zahl der Regelungen und sich zum Teil widersprechenden Interventionen wird, umso weniger werden wir bereit sein, den politischen Institutionen mit Vertrauen zu begegnen. Das Vertrauen wird wiederkommen, wenn es zu einer Partnerschaft kommt zwischen einer lebendigen Zivilgesellschaft und einem politischen und staatlichen Raum, der sorgfältig darauf bedacht ist, dass die seinen Zuständigkeiten durch das Prinzip der Subsidiarität gezogenen Grenzen nicht ständig überschreiten und zu Lasten der Freiheitsräume der Bürgergesellschaft immer neue Zuständigkeiten begründet werden. Das sollte unser aller Wunsch sein. Sie alle können zu seiner Verwirklichung beitragen. Der Comenius-Club ist ein schöner Ort für eine weitere Befruchtung derartiger Vorhaben. Meine Frau und ich zum Beispiel arbeiten schon viele Jahre an der großen Aufgabe, die Schulmedi-
21
zin mit der Erfahrungsmedizin zu verbinden. Jetzt beginnen Wissenschaftler hier in Sachsen, große, interessante Projekte zu entwickeln: wie man Menschen helfen kann, auch unter veränderten Bedingungen, die uns ins Haus stehen, gesund zu leben. Und auf diese Weise ihre Neugier, ihre Einsatzfreude und ihre Fähigkeit zur Teilnahme zu erhalten; Fähigkeiten, die sie dann auch einbringen können
22
für sich selbst und in der Gemeinschaft, in der sie leben. Und nichts, lassen Sie mich das aus meiner persönlichen Erfahrung hinzufügen, ist befriedigender und beglückender als eine Teilhabe, die nicht nur das eigene Leben wertvoller sein lässt, sondern das Gefühl vermittelt, auch für andere wertvoll zu sein.
Dr. Fritz Hähle So meine sehr geehrten Damen und Herren, jetzt kommen wir an den Punkt des Abends, an dem Sie ein wenig mitwirken können, denn wir sind heute in sehr großer Zahl versammelt. Ich glaube, wir haben heute ein Rekordergebnis. Es haben sich über 800 Teilnehmer angemeldet und wie ich sehe, sind es auch etwa so viele. Also so viele hatten wir noch nie. Zunächst ein herzlicher Dank an Kurt Biedenkopf. Wir durften eines seiner großen Talente nutzen, dass er nämlich die Fähigkeit hat, komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen.
Und, wie immer, zum Schluss noch ein Ausblick auf die nächste Veranstaltung des Johann Amos-Comenius-Clubs. Die findet am 07. September 2013, 10:00 Uhr in Schwarzenberg anlässlich des Tages der Sachsen statt. Es referiert dann Frau Staatsministerin Christine Clauß. Sie können sich drauf freuen und sich in den Kalender eintragen. Und jetzt noch mal Steffen Flath. Ich bin entlastet, ich muss heute keine Zusammenfassung oder das Schlusswort halten. Ich hab dazu einen Ministerpräsidenten.
23
Steffen Flath MdL Weil wir eben eine Terminankündigung gemacht haben und damit Sie auch sehen, dass wir das ernst nehmen als CDUFraktion, dass wir in diesem Jahr ganz besonders europäische Themen diskutieren wollen, werden wir bereits am 10. Juni in der Dreikönigskirche in Dresden eine Veranstaltung zur Europapolitik durchführen, zu der ich Sie einladen möchte. Am Ausgang finden Sie entsprechende Flyer. Dort wird 18:00 Uhr eine Veranstaltung stattfinden mit unserem Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich. Frau Generalkonsulin Dr. Krejčíková hat uns einen
24
Botschafter besorgt, den Tschechischen Botschafter und wir haben den ehemaligen Botschafter der Republik Polen. Außerdem werden wir mit den entsprechenden Experten der Fraktion, lieber Kurt Biedenkopf, europäische Themen diskutieren. Dazu seien Sie eingeladen. Und da wir heute einen ganz ungewöhnlichen Comenius-Club haben, übergebe ich jetzt für ein Schlusswort an Stanislaw Tillich das Wort. Bitteschön, Herr Ministerpräsident.
Schlusswort Ministerpräsident Stanislaw Tillich Lieber Steffen Flath, lieber Fritz Hähle und lieber Professor Kurt Biedenkopf, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube wir haben einen wunderbaren und uns auch sehr nachdenklich machenden Vortrag von Kurt Biedenkopf gehört. Wir haben eine sehr lebendige Diskussion gehabt und auch durchaus die eine oder andere Frage, die man heute zwar beantworten kann, aber sicherlich nicht abschließend. Da werden wir in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten die gegebene Antwort immer wieder überprüfen und auch neu bewerten müssen. Als Ministerpräsident habe ich einige Bemerkungen. Ich will jetzt nicht das co-kommentieren, was meine drei Vorredner, jeweils einzeln oder zusammen gesagt haben, sondern Ihnen noch mal zusammenfassend einige wenige Thesen vorstellen. Erstens bin ich stolz darauf, als Nachfolger von Kurt Biedenkopf bei Angela Merkel am Präsidiumstisch zu sitzen und mir immer mal wieder Eines vorhalten zu lassen: „Ihr Sachsen habt immer eine andere Meinung. Das hat schon mit Biedenkopf so angefangen, mit Milbradt hat sich das fortgesetzt und mit Tillich geht das weiter.“
Um es ganz kurz und deutlich zu sagen: Ich kann es nicht leiden, wenn Kritik, ob nun an der Energiepolitik oder auch an der europäischen Politik, gleich als feindlicher Akt ausgelegt wird. So wie früher in der DDR, als es hieß: „Wenn du nicht für den Frieden bist, dann bist du für den Krieg.“ Ich glaube vielmehr, sachliche Kritik kann sehr viel dazu beitragen, eine bessere Lösung zu finden. Kurt Biedenkopf hat über das heutige Thema etwas gestellt, dem ich vollständig zustimmen kann: Man muss sich, über den Euro hinaus und die heutige Verschuldungskrise hinweg, ein Ziel formulieren, das wir erreichen wollen. Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, Fritz Stern, einen der engsten Freunde Kurt Biedenkopfs in den USA, treffen zu können. Auf die Frage, wie er, Fritz Stern, die Situation beurteilt, ein Politologe, ein Humanist, ein ehemaliger Wissenschaftler, hat er mir gesagt: Er mache sich Gedanken über den Fortbestand der westlichen Gesellschaft. Ihm würde zu wenig über die westliche Werte-Gemeinschaft gesprochen. Und er hat das dann noch deutlich gemacht: Es gab mal den Ostblock. Und es gab den Westen. Im Westen waren Freiheit und Demokratie etwas Grundsätzliches. Das hat auch die
25
Sehnsucht der Menschen im Osten nach eben dieser Freiheit und Demokratie bestimmt. Nicht zuletzt hat dies auch zur friedlichen Revolution hier in diesem Land geführt. Und darüber wird heute viel zu wenig geredet. Und ich glaube, dass Freiheit und Demokratie ein anderes Begriffspaar sofort mit einbeziehen, nämlich Freiheit und Verantwortung. Kurt Biedenkopf hat ja so schön gefragt, was eigentlich Europa mit den Olivenölkännchen zu schaffen hat? Und was macht denn die Bundesrepublik Deutschland mit Hartz IV? Was machen wir, wenn wir glauben, als Staat etwas regeln zu müssen? Wir schränken die Freiheit ein und wir nehmen den Menschen die Verantwortung, die sie an und für sich selber würden wahrnehmen wollen, wenn wir ihnen die Freiheit ließen. Und das ist, glaube ich, die entscheidende Frage, die sich Europa, die sich die Bundesrepublik Deutschland und die wir uns alle stellen müssen. Nämlich, dass wir in der Tat mehr und mehr in der Situation sind, dass der Staat immer mehr Zuständigkeiten an sich zieht. Da kann man über die Bürokratie und die Beamtenschaft schimpfen wie man will. Selbstverständlich gibt es auch da Vertreter, die gerne ihren Fortbestand dadurch sichern, dass sie eine Regelung erfinden. Aber das ist meistens politisch
26
gedeckt. Es ist nicht die Beamtenschaft, die unkontrolliert so etwas tut, sondern dafür gibt es Gemeinderäte, dafür gibt es Kreistage, dafür gibt es Landtage, Bundestage und europäische Parlamente, die ihre Verantwortung entweder wahrnehmen oder eben nicht. Und wenn man von Freiheit und Verantwortung spricht, dann fällt mir ein, was wir vor zwei Wochen unweit von hier gemeinsam mit den Freunden der Christdemokratischen Fraktion aus dem Europäischen Parlament diskutiert haben. Die haben mich gefragt, was wir hier eigentlich anders gemacht haben als zum Beispiel die Spanier. Spanien hat ja auch seit Anfang der 90er-Jahre die Strukturfondsmittel. Und jetzt haben sie 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit und wir eben nicht. Bei uns hat sich die Wirtschaft erfolgreich entwickelt, bei ihnen liegt sie vielleicht noch nicht am Boden, aber sie strauchelt. Und ich hab damals deutlich gesagt: Wir haben uns die Freiheit genommen, einen eigenen, eben einen originär sächsischen Weg zu gehen. Wir haben nicht das nachgemacht, was jeder macht. Und ich glaube, das ist der große Unterschied. Wir sind bereit, andere nicht zu belehren, sondern bei uns ins „Heft gucken“ zu lassen. Was in der Schule verboten ist, ist in der Politik erlaubt. Man muss schließlich die Fehler der anderen nicht noch mal
wiederholen, sondern man kann aus den Erfahrungen der anderen lernen. Was ich da auch gesagt habe, ist, dass die Europäische Union jetzt über neue Programme nachdenkt. Wir sind ja glücklich und dankbar für die Hilfe der vergangenen Jahre. Es sind immerhin 14 Milliarden Euro aus Europa nach Sachsen geflossen. Das hat uns die Möglichkeit eröffnet, nicht nur Schulen zu bauen, nicht nur Straßen zu bauen. Sondern wir konnten auch in eines der wichtigsten Kapitale, das dieses Land hat, nämlich in die Köpfe investieren – beginnend vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule. Das macht Sachsen zurzeit erfolgreich und wird es auch zukünftig erfolgreich machen. Und ich habe den Kollegen aus Europa auch gesagt: Lasst uns doch die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, wofür wir das Geld verwenden. Ihr könnt kontrollieren, wofür wir es verwendet haben. Ihr könnt uns das auch wegnehmen, wenn wir es nicht richtig verwendet haben, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, wenn wir vom Niedergang betroffen sind. Aber lasst uns doch die Freiheit, wenn wir erfolgreich sind, auch dieses Geld nach eigenem Ermessen, nach eigenen Vorstellungen zukunftsorientiert und nachhaltig zu investieren. Und nicht dafür auszugeben, dass wir – von Finnland bis Sizilien – alles einheitlich machen müssen.
Und das ist der wesentliche Unterschied bei der Subsidiarität, den Kurt Biedenkopf eben beschrieben hat: Wir wollen größere Freiheiten. Und wir nehmen dann sehr gerne die gesteigerte Verantwortung in Kauf, dass wir auch dafür Rechenschaft ablegen müssen, was wir mit dem Geld getan haben. Damit komme ich zum nächsten Punkt. Bei diesem Treffen kam ein Kollege aus Frankreich und sagte: „Na ja, aber wir können doch gar nichts gestalten, wenn wir kein Geld haben.“ Sie kennen die Diskussion über die Austeritätspolitik. Das ist so ein Wort, das merkt man sich, weil das was mit Auster zu tun hat. Aber nein, Austeritätspolitik heißt Sparsamkeit. Und ich kenne die Diskussion auch bei uns hier in Sachsen. Manche sagen „Wir müssen immer so sparen.“ Meine Antwort ist: Nein, wir müssen nicht. Aber wir tun das, damit wir zukünftig noch Geld ausgeben können. Und nicht das Geld in Form von Zinsen zur Bank tragen müssen. Wenn wir heute Schulden machen würden, dann müssten nachfolgende Generationen das bezahlen. Die Banken lassen sich das vergüten. Die lassen uns das nicht durchgehen. Das führt nicht nur zu einem Verlust an Geld, sondern auch an Gestaltungsfreiheit. Und das sieht man jetzt in Griechenland, das sieht man jetzt in Spanien. Dort ist kein Geld da, um Politik
27
zu gestalten. Die müssen das Geld als Zinsen zu den Banken schaffen. Wenn man sich aber die richtigen Prioritäten setzt und von Anfang an mit dem auskommt, was man hat, dann, glaube ich, hat man nicht nur für die heutige Generation die Verantwortung übernommen, sondern erst recht auch die Verantwortung dafür getragen, dass die zukünftige Generation auch die eigenen Prioritäten setzen kann. Und deswegen ist für mich Verschuldung eine Machtfrage. Wer sich verschuldet hat, wer sich gerade jetzt verschuldet, der hat die Macht missbraucht. Nämlich die Macht einer zukünftigen Generation, selbst entscheiden zu können. Und ich glaube, das ist der wesentliche Punkt, wo wir in Sachsen eine Antwort gefunden haben. Wir halten uns an das Grundprinzip, dass wir nur das ausgeben, was wir auch eingenommen haben. Und jetzt komme ich zu dem, was Kurt Biedenkopf auch sagte. Wir waren letzte Woche zusammen als Fraktion in Estland. Der Wirtschaftsminister von Estland hat mir in einem Gespräch unter vier Augen gesagt: Sie haben ein Problem. Ein amerikanischer Investor hat sich aus Estland zurückgezogen. Estland hat 1,6 Millionen Einwohner, es ist nicht so groß wie Sachsen, aber sie hätten arbeitslose Softwareingenieure und Hardwareingenieure. Und er fragte, ob denn
28
nicht sächsische Unternehmen nach Estland kommen könnten. Ein Vorteil der Europäischen Union ist die Freizügigkeit. Ich bin dafür, dass Menschen zu uns kommen und hier arbeiten. Ich bin genauso dafür, dass unsere Unternehmen nach Estland gehen, wenn es da Arbeit gibt und dort auch die Fachleute sind. Wir haben heute tschechische, polnische, ungarische Ärzte an unseren Kliniken. Wir freuen uns darüber, dass wir die ärztliche Versorgung sicherstellen. Und jeder von uns, dem es schlecht geht und der in ein Krankenhaus muss, fühlt sich besser, wenn er ärztlich ordentlich behandelt worden ist. Aber haben wir uns einmal die Frage gestellt, was eigentlich in Ungarn und in Tschechien und in Polen passiert, wenn die Ärzte nicht mehr da sind? Ich glaube, dass wir diese Frage ehrlich auch miteinander diskutieren müssen. Die jungen Leute sollen die Möglichkeit haben, dahin zu gehen, wo sie wollen. Aber wir sollten das nicht als die Ideallösung betrachten, wenn wir selbst nicht in der Lage sind, die Leute zielgerichtet auszubilden. Und da habe ich das schönste Beispiel aus meinem Wahlkreis: Seit 1990 war der Kfz-Mechaniker bei den Jungs die Num-
mer 1 auf der Auszubildenden-Hitliste. Bis zum Jahr 2011. Seit dem Jahr 2012 gibt es eine neue Nummer 1. Die neue Nummer 1 ist der Koch. Wahrscheinlich hat das etwas mit dem Nachmittagsfernsehen in Deutschland zu tun, meine Damen und Herren. Aber die Frage ist doch: Brauchen wir in meinem Wahlkreis so viele neu ausgebildete Köche? Mit Sicherheit nicht. Aber wir müssen uns die Frage stellen, was die denn dann werden sollen. Wie reden wir mit den jungen Menschen, dass die letztendlich auch andere Ausbildungsberufe attraktiv finden? Damit uns das gelingt, und das hast du, Kurt, so schön gesagt, müssen wir uns als Erstes um die Menschen kümmern. Und das können wir viel besser auf der gemeindlichen Ebene. Das können viel besser die Unternehmerinnen und Unternehmer, wenn sie mit den jungen Menschen sprechen. Viel besser, als ein Programm der Europäischen Union, das von Finnland bis nach Sizilien alles gleich macht. Noch eine Bemerkung: Wenn ich durch unser Land fahre, macht mich eines stolz. Immer wieder zu sehen, was die Menschen aus diesem Land gemacht haben. Und gleichzeitig sehe ich, dass es aber auch große Unterschiede gibt in diesem Land. Diese Unterschiede sind von Menschenhand gemacht. Kommt man in eine Gemeinde, die über die glei-
chen finanziellen Voraussetzungen verfügt wie andere, dann kann man sehr wohl erkennen, ob dort Kommunalpolitik gemacht wird, die auf Zukunft orientiert ist. Ist da das Rathaus das Erste, was saniert worden ist, oder war‘s der Kindergarten, die Schule, vielleicht auch die Gemeinschaftseinrichtung? Man sieht also ob was getan wird, damit die Bürger sich in dieser Gemeinde wohlfühlen, damit es Kinder gibt, und damit die Gemeinschaft auch weiter lebt. Das sind die feinen und kleinen Unterschiede, die auch Subsidiarität ausmachen, indem man die Spielräume nutzt. Sachsen hat gemeinsam mit den anderen Bundesländern – und das wollte ich hier nur noch mal als Einschub sagen – ein neues Recht nach dem Lissabonner Vertrag, nämlich die Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge. Das heißt, wir können als Bundesrat beschließen, dass wir die Richtlinien der Europäischen Union nicht akzeptieren und die Bundesregierung auffordern, noch einmal nachzuverhandeln. Aber man muss sich auch dessen gewiss sein, dass es Länder gibt, die darauf hoffen, dass ihnen Europa hilft. Und die deswegen alles akzeptieren, was Europa tut, wenn es nur Geld verspricht. Das heißt also, unsere Auffassung über Subsidiarität liegt den Franzosen sehr fern. Den Italienern oder den Spaniern liegt diese schon eher. Aber unter den Umständen, unter denen diese Länder
29
heute wirtschaften, ist natürlich auch die Situation eine andere, als eben in Gemeinden oder Ländern in Deutschland, die sich selbst helfen können. Anders als viele italienische und spanische Kommunen oder Regionen. Und deswegen, glaube ich, kann ich Kurt Biedenkopfs Vortrag mit einem Satz zusammenfassen, den ich von einem Hundertjährigen gehört habe. Als alle zu seinem Jubiläum gratuliert hatten und fragten, was er von seinem Leben hält und wie es so weiter geht, da hat er geantwortet – und so könnte man das auch über Europa sagen: Man muss das Leben
30
nehmen, wie es ist. Aber man muss es nicht so lassen. In diesem Sinne lassen Sie uns diskutieren. Ich glaube, dass Europa für uns große Chancen bietet, wenn wir es nicht so lassen, wie es ist. Wenn wir alle tatkräftig mit daran arbeiten, dass es sich so ändert, wie wir es uns vorstellen: Nahe bei den Menschen. Aber auch gleichzeitig wiederum fern genug von den Menschen, wenn es um Regelungen für Ölkännchen und Glühlampe geht. Herzlichen Dank.
31
Impressum Zum Vertrauen in die Einhaltung von Recht und Gesetz zurückkehren Veranstaltung am 29. Mai 2013 Herausgeber CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages Redaktion Jan Donhauser Satz, Gestaltung und Druck Z&Z Agentur Dresden Dresden, Januar 2014 Diese Broschüre wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern im Wahlkampf zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer Mitglieder zu verwenden.
32