chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 18 6. Jahrgang

Für Feierbiester

Für Weltretter

Für Einzelgänger

Der ultimative Sommer-Festivalguide

„Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“

„Nach allem, was ich beinahe für Dich getan hätte“


Special Festivalguide

Große Musiker & unentdeckte Talente Der Festival-Sommer in Freiburg und Region

A

llein in der südlichsten Großstadt Deutschlands werden den Festival-Liebhabern vier Monate lang 27 Sommer-Events geboten. Was in den letzten Jahren der Freiburger Münstersommer war, ist heute der Sommer in Freiburg. Von Juni bis September verwandelt sich die Stadt in eine große Bühne. Der Sommer bietet eine ganze Bandbreite an musikalischen, kulinarischen und künstlerischen Highlights. Klassische Musik im imposanten Freiburger Münster, Open-Airs auf

Festival des Artefacts

Foto: © Matthias Rhomberg

Wann? 24. & 25. Juni ith Straßburg Wo? La Laiterie & Le Zén

Das Artefact Festival in Straßburg steht ganz im Zeichen der Punk- und Rockmusik. Die rauen Klänge von Bands wie The Hives (25. Juni) oder Volbeat (25. Juni) entführen Musikfreunde der ganzen Region in die dunkle Welt des Metal. Mit neuem Sänger Franky Perez im Gepäck legt die finnische Band Apocalyptica jede Menge Emotion in die kraftvollen und schweren Metallsongs.

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zahlreichen Plätzen, rauschende Feste im Park und wilde Partys am See. Aber damit nicht genug: Zu keiner Jahreszeit ist es schöner, im Dreiländereck zu leben, als zur Festival-Saison. Von Rammstein bis Deichkind, über Musikgrößen des Jazz und der Klassik, bis hin zu sanften Reggae-Klängen und afrikanischer Musik. In Frankreich und der Schweiz geht es ebenso zur Sache wie im südlichsten Zipfel Deutschlands. Der Sommer steht in den Startlöchern und die Festivals warten.

Kamehameha

Wann? 10. & 11. Juni Wo? Flugplatz Offenburg

Diesen Sommer geht das Kamehameha Festival in die dritte Runde und verwandelt das Festivalgelände am Rande des Schwarzwalds in eine elektronische Traumwelt. Wo sonst Segelflieger starten, liegt an diesem Juni-Wochenende ein besonderer Spirit in der Luft. Geprägt von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde holt das Kamehameha namhafte Künstler wie Alle Farben, Claptone und Felix Jaehn in die Ortenau.


Special Festivalguide

Int. Musikfestival Colmar

Southside

Wann? 24. – 26. Juni Wo? Neuhausen ob Eck

Stimmen Festival Wann? 12. – 31. Juli Wo? Lörrach & Umgebung

Unzählige Stimmen und wunderbare Klänge verwandeln Lörrach sowie umliegende Orte im Dreiländereck in eine singende Stadt. Bekannte Gesichter wie der britische Jazz-Künstler Jamie Cullum oder die deutsche Popband Revolverheld verleihen dem Stimmen-Festival einen besonderen Charme. Aber auch noch unbekannte Künstler, die in Lörrach ihr Debüt geben werden, machen dieses Musikereignis einzigartig – und sorgen für musikalische Überraschungen.

ZMF Zelt Musik Festival

Foto: © Klaus Polkowski

Wann? 13. – 31. Juli rg Wo? Mundenhof Freibu

Der südbadische Sommer steht vor der Tür, und auch dieses Jahr ist das älteste Zeltfestival Deutschlands wieder ein Kulturhighlight inmitten einer einzigartigen Zeltlandschaft im Naturerlebnispark Mundenhof. Das ZMF trumpft mit einem umfangreichen Programm voller Neuentdeckungen und namhaften Künstlern. Am Start sind diesmal unter anderem das Musikduo Boy, die mit ihrem Hit „Little Numbers“ für einen Ohrwurm ohnegleichen gesorgt haben. Auch der deutsche Newcomer Joris ist mit von der Partie beim Zelt Musik Festival.

Zeltival

Wann? 8. Juli – 7. August Wo? Tollhaus Karlsruhe

Wie auf dem ZMF in Freiburg erwartet die Besucher auf dem Zeltival in Karlsruhe eine bunte Mischung verschiedener Musikgenres. Darunter bekannte Größen des Jazz wie José James und Gregory Porter. Soul, Blues, Indie und sogar R’n’B stehen auf dem umfangreichen Programm des Sommerfestivals des Karlsruher Kulturzentrums Tollhaus. Ein echtes Highlight ist die kanadische Sängerin Alejandra Ribera. Sie entführt die Zuhörer mit ihrer unverwechselbaren Stimme in die Musikwelt des Folk, Pop und Jazz.

Bang Your Head Festival Wann? 14. – 16. Juli Wo? Messe Balingen

Das Bang Your Head lebt eine besondere Devise: Ein Festival von Fans für Fans mit Großevent-Flair und trotzdem in entspannter Atmosphäre. Geschätzt für seinen familiären Charakter, zieht es jedes Jahr Tausende von Hard Rock- und Heavy Metal-Fans aus ganz Europa an. Die beschaulichen grünen Auen der Schwäbischen Alb verwandeln sich dann in eine Hochburg der rauen Gitarrenklänge. Renommierte Szene-Stars wie die Metal-Legende Slayer oder Twisted Sister, die ihre letzte große Show spielen werden, geben dem Rockereignis eine besondere Note. Iced Earth werden sogar ihr einziges Festival-Konzert in Europa dieses Jahr auf dem Bang Your Head spielen. Aber auch handverlesene Kultbands für echte Szene-Kenner gehören zum Repertoire und locken viele Banger nach Balingen. Mai 2016 CHILLI 57

Foto: Kulturzentrum TOLLHAUS

Laut der „New York Times“ ist es eines der besten Festivals in Europa. In Colmar treten jedes Jahr hochbegabte Musiker der Klassik auf und verleihen der kleinen französischen Stadt einen ganz besonderen Zauber. In diesem Jahr wird einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts geehrt. Der russische Geiger Jascha Heifetz prägte die klassische Musikszene. Symphoniekonzerte, Kammermusik und Solovorstellungen bieten eine tolle Gelegenheit, die besten Solisten der Gegenwart kennenzulernen. Darunter bekannte Namen wie Renaud Capuçon und Vadim Gluzman sowie begabte Nachwuchshoffnungen. Ein Highlight wird eine ganz neue Formation sein: das russische Philharmonische Orchester unter Leitung von Wladimir Spiwakow und das Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Tugan Suchijew.

Einmal im Jahr teilt sich die Festival-Meute in Nord und Süd. Auf einem ehemaligen Militär- und Flugplatzgelände steigt diesen Sommer wieder das legendäre Southside Festival parallel zu seinem Zwillingsfestival, dem Hurricane. Das imposante Line-up, an dessen Spitze sich Rammstein, Mumford & Sons sowie Tom Odell tummeln, lockt wieder tausende Festival-Liebhaber in den Süden. Und auch für die Newcomer lohnt es sich, über das Festival-Gelände zu schlendern.

Foto: © Sasse Werbeagentur

Foto: © Aline Fournier

Wann? 5. – 14. Juli Wo? Colmar


Special Festivalguide

Open-Air im Park

Sea You Festival Wann? 16. & 17. Juli Wo? Tunisee Freiburg

Einmal im Jahr öffnet der idyllische Kurpark in Bad Krozingen seine Pforten, um Fans der Schlager- und Volksmusikszene zu begeistern. Los geht’s am 16. Juli mit dem traditionellen Lichterfest und seinen 15.000 Kerzen und 1000 japanischen Bambuslaternen. Die Besucher erwarten liebevoll ausgeschmückte Lauben und am Sonntag ein umfangreiches Familienprogramm mit der Europa-Park Kinderparty im Kurhaus. Den musikalischen Auftakt macht der glanzvolle Galaabend am Donnerstag, dem 21. Juli, mit Reiner Kirsten, Verena Rose Ruder und Andy Borg. Am Freitag kombiniert Umberto Tozzi gekonnt Pop- und Rockmusik. Sein Repertoire reicht von gefühlvollen Balladen bis zu lauten Rocksongs. Zum Abschluss sorgt das bekannte Glenn Miller Orchestra für Unterhaltung vom Feinsten und spielt Hits wie „Moonlight Serenade“. 5

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Sonne, Strand, elektronische Beats und ein Dancefloor auf dem Wasser. Das Sea You Festival Beach Republic 2016 steht ganz im Zeichen des Sommers. Die Electro-Liebhaber erwarten nicht nur namhafte Live-Acts wie Robin Schulz, Monika Kruse oder Sven Väth, sondern auch eine eindrucksvolle Wasserwelt, eine komplette Food-Stadt sowie eine Chillout-Meile zum Entspannen nach dem Rave.

Staufener Musikwoche

ust Wann? 29. Juli – 6. Aug Staufen dtpfarrkirche St. Martin Sta & lle nha che Bel ? Wo

Zum Auftakt der traditionellen Staufener Musikwoche konnte das Festival herausragende Musiker wie Werner Güra und Fabrizio Chiovetta gewinnen. Der erste Abend steht mit Gedichtvertonugen von Franz Schubert und Robert Schumann ganz im Zeichen der Romantik. Eine Reise durch die Musikgeschichte beginnt: Mit Francesca Boncompagni und der Gruppe Echo du Danube holt die Staufener Musikwoche das quirlige Leben Neapels im 17. Jahrhundert auf die Bühne.

Foto: © Friedrun Reinhold

Foto: © Mathias Osti

Wann? 16. & 17. Juli gen Wo? Kurpark Bad Krozin


Special Festivalguide

African Music Festival

In diesem Jahr findet ein großer Abschied auf dem Schlossplatz in Emmendingen statt. Auf dem I Em Music Festival wird die Band Unheilig eines ihrer letzten Konzerte spielen. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung ihres letzten Longplayers „Gipfelstürmer“ gaben sie auch ihren Abschied vom Musikgeschäft bekannt. Bevor jedoch der unheilige Vorhang fällt, können sich die Fans auf einer ausgedehnten Konzertreihe gebührend verabschieden. Mark Forster hingegen sagt in seinen Songs zwar „Au Revoir“, startet aber gerade erst mal so richtig durch. Mit seiner „Bauch und Kopf“-Platte verdreht er nicht nur den Charts gehörig den Kopf, sondern begeistert eine ganze Generation. In besonderem Ambiente wird er beim Schlossplatz sein Publikum mitreißen. Auch auf den 13. I Em Music Festival können sich die Festival-Fans auf unvergessliche Konzerterlebnisse freuen. 5

Wann? 5. – 7. August ndingen Wo? Schlossplatz Emme

Unter dem Motto „Farbe bekennen“ feiert das African Music Festival zum 16. Mal in Emmendingen und geht weit über die Stadtgrenzen hinaus. Alles dreht sich um die Bereitschaft und vor allem den Mut, anders zu sein und Andersartigkeit zuzulassen. Dabei spielt Musik eine wichtige Rolle, denn die afrikanischen Klänge von Bands wie Tokame oder Julian Marley stehen für das Motto des ganzen Festivals.

Jazzfestival Freiburg Wann? 17. September Wo? E-Werk Freiburg

Das Jazzfestival ist in Freiburg ein bedeutender Treffpunkt der internationalen Jazzszene, und Neuentdeckungen der europäischen Musikszene sind ebenso Programm wie Auftritte gefeierter Jazzgrößen. Auch dieses Jahr steht wieder die Begegnung zwischen junger und etablierter Jazzszene im Fokus des Festivals – an unterschiedlichen Orten im Stühlinger und Sedanviertel – darunter die deutschiranische Musikerin Jasmin Tabatabai.

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Foto: E-Werk Freiburg e.V.

Wann? 22. – 24. Juli ndingen Wo? Schlossplatz Emme

Foto: KAROevents GmbH & Co. KG

I Em Music Festival


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Konstanzer Seenachtsfest

Shorts Filmfestival Wann? 8. – 11. November urg Wo? Forum Kino Offenb

Foto: © Mathias Osti

Foto: © Fabian Linder

Wann? 13. August stanz Wo? Bodenseeufer Kon

Das traditionelle Konstanzer Seenachtsfest darf sich diesen Sommer über elektronischen Zuwachs freuen. Am Abend vor dem großen Spektakel am Bodenseeufer geht erstmalig das Seesucht Festival an den Start. Mit Headlinern wie Lost Frequencies, Sigma und Sigala hat das Festival absolute Senkrechtstarter der DJ-Szene am Start. Am Folgetag bespielt dann das Seenachtsfest das ganze Seeufer von der Seestraße mit ihren hübschen Villen und herrschaftlichen Gärten, über den Stadtgarten und den Hafen bis zur Schweizer Grenze. Absolutes Highlight der beiden Veranstaltungen ist das halbstündige Seefeuerwerk, das zu den größten in Europa gehört. Hier arbeiten Schweizer und Deutsche Pyrotechniker Hand in Hand und sorgen für eine unvergessliche Show auf dem Bodensee.

Vor einer fachkundigen Jury um Schauspieler Matthias Scheuring, dem Regisseurinnen-Duo Böller und Brot sowie Gabriele Röthemeyer und Dieter Krauss von der Medienund Filmgesellschaft Baden-Württemberg, konnten sich junge Filmemacher 2015 beweisen. Seit 1999 werden auf dem Studentenfestival der Hochschule Offenburg spannende Kurzfilme gezeigt. In den Kategorien Kurzspielfilm, Mittellanger Film, Dokumentarfilm, Animationsfilm und Experimenteller Film zeigen nicht nur die eigenen Studierenden ihre Werke vor großem Publikum. Die jungen Regisseure kommen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz, um ihre Meisterwerke auf der großen Leinwand zu präsentieren. Dann verwandelt sich das Forum Kino in Offenburg vier Tage lang in eine trinationale Festival-Spielstätte. Der Call zur Einreichung endet dieses Jahr am 24. Juli.

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Bands mit Kultstatus Ein Tag Rock am Bodensee

Foto: © Hans-Peter van Velthoven

Special Festivalguide

Rock am See

Wann? 20. August – Wo? Bodenseestadion Konstanz

Das eintägige Kult Open-Air gehört zu den größten Rockevents in Baden-Württemberg und feiert dieses Jahr 30-jähriges Bestehen. Um dieses Highlight gebührend zu ehren, holt das Festival eine der kreativsten und erfolgreichsten Rockgruppen dieser Zeit ins Bodenseestadion. Der britische Rockgigant Muse steht für spektakuläre Live-Shows, ausverkaufte Arenen und euphorische Begeisterungsstürme weltweit. „Mit MUSE ist es uns gelungen, für die Jubiläums-Ausgabe einen internationalen Headliner nach Maß zu verpflichten“, freut sich Festivalchef Dieter Bös. Und es ist nicht ihr erstes Mal am Bodensee: Schon vor rund 16 Jahren leg-

ten Sänger und Gitarrist Matt Bellamy, Drummer Dominic Howard und Bassist Chris Wolstenholme eine einschlägige Performance bei Rock am See hin. Neben den Songs ihrer neuen Platte „Drones“ wird die Band auch viele Klassiker wie „Survival“, „Supermassive Black Hole“ und „Starlight“ spielen. Damit aber noch nicht genug: Neben Muse werden auch namhafte Bands wie The Libertines am Start sein. Die Gruppe genießt seit zwei Jahrzehnten Kultstatus. Am 20. August werden die beiden Frontmänner Pete Doherty und Carl Barât im Bodenseestadion rocken und mit lässigen Indie-Klängen den Sommer nach Konstanz holen.

Summernight Festival Sigmaringen Dieses Line-up kann sich sehen lassen: Am 5. August rocken Wanda, Bosse sowie die Sportfreunde Stiller auf den Wiesen des Donauparks in Sigmaringen. Letztere begeistern schon seit 10 Jahren ihre Fans und bringen mit ihren Stadionhymnen wie „Ein Kompliment“ oder „Applaus, Applaus“ ganze Arenen zum Beben. Sigmaringen erwartet eine Mischung aus bayerischem Charme, legendären

Hits und einer guten Portion energiegeladener Live-Performance. Ein großartiger Musiker der deutschen Pop-Szene sorgt nicht nur auf dem Summernight für ein feierwütiges Publikum. Mit seinem sechsten Album „Engtanz“ schafft Bosse es endlich auf Platz Eins der Charts. Seine Musik strotzt nur so vor Energie mit der Botschaft, alles in vollen Zügen zu zelebrieren und vor allem zu genießen. Mai 2016 CHILLI 61

Foto: © Paul Bossenmaier

Wann? 5. August – Wo? Donaupark Sigmaringen


Musik

Foto: © Redensart

Der Traum von Dublin Indie-Folk-Pop-Band Redensart tourt durch Deutschland Auf Tour: Laurin Rutgers (von links), Gabriel Bechler, Danny Mc Clelland und Markus Brückner

von Till Neumann

V

ier Jungs, ein Ziel: von der Musik leben. Die Freiburger Indie-Folk-Pop-Band Redensart hat sich 2015 als Supportact von Tonbandgerät einen Namen gemacht. Einst spielten sie vor drei Fans in Kehl. Jetzt touren sie von Stadt zu Stadt. Sie waren in Paris und zockten vor 1800 Leuten in Hamburg. Der Traum ist aber noch größer. Draußen prasselt der Regen aufs Gras, drinnen sitzen Redensart. Im Café der Studentensiedlung wird bei Bier und heißem Tee geplaudert. Gleich ist Bandprobe im Untergeschoss. Eine der letzten vor dem Start der Deutschlandtournee. Die Stimmung ist gelöst, Bassist Gabriel „Gabbo“ Bechler präsentiert stolz die erste Vinylpressung ihrer EP „Am Ende war nicht alles schlecht“. Es gibt sogar ein handsigniertes Exemplar. Gitarrist Laurin Rutgers war am Vormittag als Fahrradkurier unterwegs. Wenn nicht gerade eine Tour ansteht, jobben alle vier. Im Kindergarten, im Jazzhaus, in einem Café. Wäre es finanziell möglich, würden sie nur Musik machen. 150 Konzerte haben sie seit der Bandgründung vor vier Jahren gespielt und zwei CDs veröf62 chilli Cultur.zeit Mai 2016

fentlicht. „Alles, was wir einnehmen, geht bisher wieder weg“, sagt Schlagzeuger Markus Brückner. Trotz der mittlerweile vierten Tournee. In Kehl spielten die Mittzwanziger vor zwei Jahren noch vor drei Zuschauern. Bei der Deutschlandtournee der vergangenen Wochen füllten sie nun Säle mit 80 bis 200 Plätzen. Tübingen, Berlin, Hamburg, Marburg, München, Köln, Bremen und das Freiburger Jazzhaus. Tourneefotos auf Facebook zeigen dahinschmelzende Frauen in den ersten Reihen. „Im Vergleich zu vor zwei, drei Jahren haben wir einen ganz, ganz großen Schritt gemacht“, schwärmt Sänger Danny Mc Clelland. Die Nachfrage steigt: „In Städten, in denen wir größere Supportkonzerte gespielt haben, läuft es ziemlich gut“, berichtet Brückner, der für die Bandkasse verantwortlich ist. Das Booking macht Rutgers. „Gabbo“ Bechler kümmert sich um die Grafik. Mc Clelland schreibt die Texte, die Songs arbeiten sie gemeinsam aus. Die vier sind Freunde, auch neben der Bühne. „Das ganze Touren funktioniert nur, weil wir uns so gut verstehen“, sagen sie. Die eingängigen Songs machen Laune: „Wenn alles klappt, ist alles gut, und wenn nicht, ist was wir haben

längst genug“, singen die vier in „Längst genug“. Sie wirken bodenständig, sympathisch, nahbar – das kommt an. Vor kurzem gab’s die erste Fanpost. Ein Mädchen hat der Band einen Brief geschrieben und Bilder geschickt. Die Jungs fühlen sich geehrt. Ein Karrieresprungbrett war die Supporttour vor einem Jahr mit der Hamburger Band Tonbandgerät. So kam’s zum bisher größten Gig: „In Hamburg haben wir vor 1800 Leuten gespielt, das war richtig krass“, schwärmt Rutgers. Auch in Paris waren sie schon, spielen aber am liebsten an vertrauten Orten. „Es ist einfach immer wichtig, dass wir dahin zurückkommen, wo wir schon waren“, sagt Sänger Danny Mc Clelland. Neuerdings singen die Fans sogar Texte mit. „Wow, krass, was ist da los?“, beschreibt Brückner solche Momente. Die Sommertour mit 15 Konzerten ist gebucht. Nach Großbritannien führt sie nicht. Da würden sie aber zu gerne mal hin. Mc Clellands Vater ist schließlich aus Irland. „In Dublin gibt’s eine arschgeile Halle (das Olympia Theatre). Da zu spielen, ist das Ziel, auch wenn’s absolut utopisch ist“, schwärmt Rutgers. Einer ihrer Songs heißt „Wie das wohl wär“. Vielleicht hilft’s ja, ihn noch ein paar Mal zu spielen.


Exil46

Samy Deluxe

Eigenvertrieb

Vertigo Berlin (Universal Music)

On the way

Berühmte Letzte Worte

Der Sounddreck ... Headline ... zu Europa Titel: Petri-Heil Urheber: Nils Heinrich Jahr: Aktuell

Klassik im Rock-Exil

Lässig, rotzig, vielschichtig

(tln). Klassik-Rock könnte man das nennen, was Exil46 machen. Zumindest rocken da Klassiker. Die vier Musiker des Philharmonischen Orchesters Freiburg lassen in kleiner Exil-Formation Grenzen verschwimmen. Mischen Geige und Cello mit satten Drums, lassen treibende Melodien auf versierte Breaks treffen. Die Philharmoniker im musikalischen Exil sind Friederike Hess-Gagnon (E-Geige), Dina Fortuna (E-Cello), Timo Stegmüller (Percussion) und Drummer Tilman Collmer. Ihr Album „on the way“ ist unlängst erschienen. Auf zehn Instrumental-Songs beweisen sie, dass Gegensätze zusammenpassen. Das wuchtige „Divine Seven“ wäre mit windig-schnellen Geigen ein idealer Soundtrack für rasantes Kino. Ein Feuerwerk zündet, wenn in „Nonstop“ nach zarten Geigen harte Schläge die Stille durchbrechen. Und zum „Abschied“ gibt’s acht Minuten schwermütige Streicher im Zeitlupentempo. Immer wieder brechen Breaks die Strukturen auf, um wenige Takte später mit geballter Energie zurückzukommen. Doch Drive ist nicht alles. Die großen Momente der CD liegen in der Melancholie düster-schillernder Dialoge zwischen Cello und Geige. Das ist hörens- und sehenswert. Die futuristischen Elektro-Streicher sind da nur ein Blickfang des erfrischend unphilharmonischen Exil-Quartetts.

(tln). Samy Deluxe meldet sich mit „Berühmte letzte Worte“ zurück. 16 Tracks in alter Deluxe-Manier: Doppelreim jagt Doppelreim, flowtechnisch kann ihm noch immer kaum einer das Wasser reichen. Doch Samuel Sorge belässt es nicht bei lässigen Wortspielereien. Die fein produzierte Platte bietet viel Tiefsinn. „Papa weint nicht“ widmet Samy seinem verstorbenen Vater. Das rotzig-rauhe „Mimimi“ steht für Mitbürger mit Migrationshintergrund. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines sudanesischen Vaters erzählt zu orientalisch-treibenden Sounds, wie in Deutschland Kulturen aufeinanderprallen – und dennoch am Ende miteinander klarkommen. „Haus am Mehr“ ist eine Anspielung auf „Haus am See“ von Peter Fox. Warum werden Menschen nie satt? Das Hamburger HipHop-Original kommt zu dem Ergebnis, dass weniger auch mal mehr ist. Das Album ist größtenteils von Bazzazian produziert. Der hat mit soulig-stampfenden Beats den richtigen Ton getroffen. Hin und wieder wird mit Effektgeräten an den Vocals gedreht. Neu erfunden hat Samy das Rad damit nicht. Aber das Album spielt locker 1. Liga. Auch wenn er mittlerweile in Hamburg einen Burgerladen mit „Drive-Bei-Lagen“ betreibt, Samy hat das Rappen nicht verlernt. Seine letzten Worte waren das wohl nicht.

Viele glauben mittlerweile, Petri-Heil ist die neue Pflichtgrußformel für die AfD-Vorsitzende. Aber das stimmt nicht. Nicht nur, dass es Petry-Heil heißen müsste, nein, Petri-Heil ist der AnglerGruß, die genitivierte Form des frühzeitlichen Angler-Stars und Jesus-Intimus Petrus. Berufsangler. Übersetzt: „Dem Petrus sein Heil“. Wir sind im Milieu der Angler angekommen. Ein harmloses Völkchen, möchte man denken, kann man aber nicht. Denn oft wird hier im Trüben gefischt und das Verbrechen hält sich ja gern im Trüben auf. Den gravierendsten Fischzug haben wir hier mit dem RAP (!) „Angeln Berlin“ gemacht. „YO - Fischers Fritz fischt frische Fische! / Angeln Berlin! / Fischers Fritz fischt frische Fische. / Frische Fische fischt Fischers Fritz. Er fischt frische Fische O-YEA“ – Okay, das ist auch noch geklaut. Dafür sind wir aber nicht zuständig. „Ich passe nicht so in das Weltbild meiner Freundesmeute, denn ihr gebt euch ja nicht ab mit solchen Leuten, so wie ich einer bin mit Gummistiefeln an den Tretern, ich fang meinen Fisch mit Angel, das kann nicht jeder.“ Nein, das kann wirklich nicht jeder: „Der Blinker schwimmt im Wasser, unten lauert der Haken, an ihm zappelt eine Made aus dem Madenautomaten. Ich hab mich immer schon gefragt, wieso Fische Maden fressen, ich hab’s selber mal probiert und ich musste brechen. Ganz egal wie oft ich mir die jungen Hände wasche, Schokolade schmeckt nach Fisch wenn ich sie nasche, alle Katzen meiner Straße sind voll scharf auf mich, denn kein anderer Hengst stinkt so nach Fisch wie ich, ich kann jede Muschi haben hier und unten am See, das Problem ist nur das ich auf Hunde steh!“ Sorry Leute, trotz der Schwere der Tat: Wir ham kurz weggeguckt. Dann war er zum Glück weg. Was sollen wir auch mit dem machen. Angeln für Deutschland! Für Eure Geschmackspolizei Benno Burgey


kino

Beeren am Straßenrand Die Formel zur Rettung der Welt besteht aus vielen Puzzleteilen von Erika Weisser

Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen Frankreich 2015 Regie: Cyril Dion & Mélanie Laurent Dokumentation Verleih: Pandora Laufzeit: 118 Minuten Start: 2.6.2016

D

ie Schauspielerin Mélanie Laurent war schwanger, als sie in einer Ausgabe der Zeitschrift „Nature“ eine aufrüttelnde wissenschaftliche Studie las: Darin wurde bis Mitte des 21. Jahrhunderts der komplette Zusammenbruch der Ökosysteme der Erde prognostiziert – und damit das Ende stabiler Lebensbedingungen für die Menschen. Nach dem ersten Schock über diese wenig hoffnungsvollen Aussichten entschloss sie sich, vorübergehend Filmemacherin zu werden und mit dem NGO-Aktivisten Cyril Dion ein Filmprojekt über nötige Alternativen zur bestehenden Wirtschaftsordnung umzusetzen. Das Ergebnis: Ein optimistischer Film, der zum Handeln anregt. Bei ihrer Recherche setzten Laurent und Dion voraus, dass heute eigentlich jedem Erdenbewohner klar sein müsste, dass unsere von grenzenlosem Wachstum und ungehemmter Globalisierung bestimmte Lebensweise in eine Sackgasse führt. Es ging ihnen nicht um das Benennen von Missständen, sondern um das Aufzeigen von Alternativen, die zeigen, dass jeder dazu beitragen kann, den nächsten Generationen eine Welt zu hinterlassen, die sie trägt, die ihnen das gibt, was sie

Fotos: © Mars Distribution

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zum Leben brauchen. Und dass es möglich ist, wirtschaftlich zu handeln und Natur und natürliche Ressourcen dennoch zu schonen und zu bewahren. Angefangen bei der kleinteiligen, sogar urbanen Landwirtschaft, über die Energiewende, den Ansatz eines stärker regional ausgerichteten Wirtschaftskreislaufs bis hin zu einem anderen Demokratieund Bildungsverständnis beleuchten sie die Möglichkeiten, die drohende Apokalypse abzuwenden. Sie besuchen eine städtische Food-Coop in Detroit, die inmitten von Industrieruinen für die Entstehung einer urbanen Landwirtschaft sorgt, an der alle Bewohner beteiligt sind. Sie essen Beeren von einem der vielen Sträucher am Straßenrand, die von allen bewirtschaftet werden und allen zur Verfügung stehen. Sie zeigen, wie sich Kopenhagen mittels alternativer Verkehrsplanung darauf vorbereitet, bis 2025 vollkommen unabhängig von fossiler Energie zu sein. Sie untersuchen, wie lokale Parallel-Währungen funktionieren und wie sie die örtliche Wirtschaft ankurbeln. Sie zeigen aber auch, dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass es keine einheitliche Formel zur Weltrettung gibt. Sondern dass diese aus vielen Puzzleteilen besteht, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. In Frankreich hat „Tomorrow“ mehr als 800.000 Zuschauer in die Kinos gelockt; der Film wurde mit dem César als „Bester Dokumentarfilm“ ausgezeichnet. Seine klare und einfache Botschaft: Der Wandel beginnt bei uns.


Kolumne

KINO FILMTIPPS

Capital C

Belmondo von Belmondo

voll von der Rolle

Foto: © Universal Pictures

Deutschland 2015 Regie: Timon Birkhofer, Jørg M. Kundinger Dokumentarfilm Verleih: Lighthouse Entertainment Laufzeit: 86 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Frankreich 2015 Regie: Régis Mardon Mit: Jean-Paul Belmondo, Paul Belmondo u.a. Verleih: Edel Motion Laufzeit: 102 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Kreatives Geld

Unterwegs mit Bébel

(ewei). Fast alle Ideen sind nur mit Geld umzusetzen. Und wenn man keines hat, muss man eben einen Sponsor finden. Doch was passiert, wenn die Idee so originell, so kreativ ist, dass ein einzelner großer Geldgeber sie vielleicht zu verrückt findet, um sie zu fördern? Dann ist Crowdfunding angesagt: der Versuch, viele Unterstützer für ein Projekt zu gewinnen. In jüngster Zeit ist diese Art der Finanzierung für unabhängige Kreative zu einem wichtigen Instrument für die Realisierung ihrer Ideen geworden. Unter anderem auch deshalb, weil sie damit die Abhängigkeit – und die damit verbundenen Einschränkungen – von einer gut betuchten Einzelperson oder Firma umgehen. Für ihre natürlich per Crowdfunding finanzierte Dokumentation haben Jørg M. Kundinger und Timon Birkhofer verschiedene Pioniere dieses Finanzierungsmodells begleitet. Sie zeigen die damit verbundenen Hoffnungen, Chancen und Träume, die es mit sich bringt. Aber auch die Ängste, Gefahren und Fallstricke.

(ewei). Jean-Paul Belmondo dürfte einer der bekanntesten Schauspieler Frankreichs sein. In den 1950er Jahren war der inzwischen 83-Jährige der wichtigste Darsteller der Nouvelle Vague, in den folgenden zwei Jahrzehnten avancierte der ehemalige Boxer mit dem nicht eben ebenmäßigen Gesicht in zahlreichen tempo- und actionbetonten Filmen zum Superstar. Viele Gefährten und vor allem: Gefährtinnen begleiteten seinen Weg, der gegen Ende seiner aktiven Karriere dort endete, wo er immer sein wollte: im Theater. Einige Etappen dieses Wegs hat der legendäre Mime nun mit seinem Sohn Paul besucht – und an früheren Drehorten und anderen markanten Locations trafen sie auf so manchen ehemaligen Wegbegleiter Bébels, wie Belmondo von seine Fangemeinde genannt wird. Man schwelgt in Erinnerungen, schaut sich Ausschnitte aus den alten Filmen an, man lacht viel – auch über sich selbst. Und die berühmten Stunts. Ein gelungenes Biopic-Roadmovie.

2 DVDs zu gewinnen! Teilnahme über www.chilli-freiburg.de – Stichwort: „Capital C“

2 DVDs zu gewinnen! Teilnahme über www.chilli-freiburg.de – Stichwort: „Belmondo von Belmondo“

Trickfilme: Made in Freiburg (ewei). Bis Mitte Juni gibt es im Kommunalen Kino unter dem ein wenig rätselhaften Titel „Migrant, Mutant, Elefant“ eine Filmreihe, in der es um Superkräfte, Fantasiegestalten, Zwischenwelten geht: Ausgewählte Comic-, Trick-, Animations- und Science-Fiction-Filme entführen uns in neue, von seltsamen Wesen bevölkerte Erlebniswelten, wobei diese Fremdartigkeit eher positiv, als Bereicherung empfunden wird. Anders als Neuankömmlingen, bei denen seitens Einheimischer oft das Trennende im Vordergrund steht. Zu den Klassikern, die bereits Filmgeschichte geschrieben haben, werden sich bald Freiburger Produktionen gesellen. Das Thema: Migrationsgeschichten – und die eigenen Bezüge dazu. Dieses ziemlich außergewöhnlichen Comic- und Filmprojekt, erstreckt sich über drei arbeitsintensive, jeweils dreitägige Workshop-Wochenenden; die dabei entstehenden Filme werden noch in diesem Sommer im Kommunalen Kino zu sehen sein. 12 experimentierfreudige Menschen im Alter von 18 bis 35 Jahren werden in den kommenden Wochen neue Geschichten zu Herkunft und Ankunft, zu Fremdsein und Heimat entwickeln – und dabei gehörig „in ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Gefühlen und Erfahrungen kramen“, wie Projektleiter Florian Fromm hofft. Begleitet werden die Experimentierenden dabei von Experten: Matthias Frischer, erfahrener Fachmann und Coach für interkulturelles Lernen, reiste aus Bremen an, um die Teilnehmer in Sachen Perspektivwechsel und Einfühlung zu schulen. Und Falk Schuster aus Halle, der die praktisch-didaktische Seite der Workshops übernimmt, hat ein ganzes Repertoire von Kurzfilmen vorzuweisen (http://www.falkschuster.com/). Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein. Info: www.koki-freiburg.de/filmreihen/1101/migrantmutant-elefant

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Literatur

Gestrandet in der Bahnhofshalle Ein beeindruckendes Roman-Debüt der Freiburgerin Marie Malcovati

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von Erika Weisser

Nach allem was ich beinahe für dich getan hätte von Marie Malcovati Nautilus Verlag, 2016 128 Seiten, gebunden Preis: 16 Euro

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n Freiburgs Literaturhimmel glänzt ein neuer Name: Marie Malcovati. „Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte“ heißt der erste Roman der 34-jährigen gebürtigen Freiburgerin, die nach Studienjahren in Manchester, Ludwigsburg und Berlin hierhin zurückkehrte. Sie erzählt die Geschichte „von Zufällen an einem Ort der Ortlosigkeit“: Drei einander völlig unbekannte Menschen begegnen sich in der Wartehalle des Schweizer Bahnhofs in Basel. Hinterher hat ihr Leben eine andere Richtung als vorher.

Marie Malcovati: Erkundet mit filmischem Blick Foto: © Christian Trieloff menschliche Beziehungen.

Eigentlich begegnen sich in der Halle nur zwei Personen: Lucy und Simon. Sie ahnen nichts von der dritten Person, die in der Romanhandlung aber eine wesentliche Rolle spielt: Kommissar Beat Marotti von der Basler Kantonspolizei. Er wird nur für die Leser sichtbar; den beiden anderen Protagonisten bleibt er verborgen. Er sitzt in einem Raum, in dem er die Aufzeichnungen der Überwachungskameras auf dem Bahnhofsgelände kontrolliert. Mehr als nur routinemäßig: Eine Spaß-Guerilla-Gruppe hat an diesem Tag eine Aktion in der Stadt angekündigt, und Marotti obliegt die Aufgabe, bei der Feststellung verdächtiger Handlungen am Bahnhof die unsichtbar bereitstehende Bereitschaftspolizei zu alarmieren. Doch der verborgene Beobachter sieht sich bald an Lucy und Simon fest, die zwar nicht verdächtig, aber doch merkwürdig wirken. Lucy, die Marotti wegen ihrer Frisur bald „Kerze“ nennt, sitzt stundenlang bewegungslos inmitten des üblichen Bahnhofsgewimmels und starrt auf eine Wand. Und Simon, der irgendwann neben ihr sitzt und mit einem römischen Legionärskostüm bekleidet ist, wird zu Mark Anton.

Beide wirken auf den Kommissar orientierungslos, gestrandet: Einzelgänger, die ihr Leben gerade nicht so recht im Griff haben. So wie er selbst. Weshalb er sich ihnen auch persönlich zuwendet und öffnet – und darüber seine eigentliche Aufgabe völlig vergisst. Dennoch erfährt er nichts von den beiden, kann nur interpretieren, welche Geschichten sie mit sich herumtragen, was sich auf der Bildfläche und in den nicht erfassten toten Winkeln zwischen ihnen abspielt. Nur die Leser erfahren es – und es ist die Wucht. Marie Malcovati hat für ihren Roman, so erzählt sie der cultur.zeit, „viele erinnerte Momentaufnahmen zusammengetragen“ und zu einer beeindruckenden Geschichte verdichtet, deren lose Enden voneinander unabhängig scheinen, sich dann aber doch zusammenfügen. Leicht kommt das Ganze daher, fast schwebend, manchmal auch komisch. Der Roman wirkt wie ein Episodenfilm, was kein Zufall ist: Malcovati hat Regie und Drehbuch studiert. Ihr erstes Buch hat sie unlängst beim Freiburger Andruck präsentiert, das nächste habe sie „bereits im Kopf“.


FRezi

Der Zaun – Wo Europa an seine Grenzen stöSSt

von Dietmar Telser Verlag: Styria Premium, 2016 178 Seiten, gebunden Preis: 24,90 Euro

Provinzabgründe

Panikherz

von Benjamin von Stuckrad-Barre Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2016 568 Seiten, gebunden Preis: 22,90 Euro

von Tilman Schulze Verlag: AAVAA, 2016 180 Seiten, Taschenbuch Preis: 11,95 Euro

Kein sicherer Hafen

Vom Ruhm und vom Absturz

Ermittlung aus dem Grab

(Erika Weisser). Warum setzen sich Menschen in Gummiboote, in denen sie es nur mit viel Glück schaffen, ein Meer zu überqueren, um in einen nicht einmal sicheren Hafen zu gelangen? Weshalb begeben sie sich in die Hand von Kriminellen, denen nichts heilig ist außer dem Geld? Was bewegt sie, alles zurückzulassen – für eine Zukunft, die voller Zweifel ist und kaum Gewissheiten kennt? Diese Fragen standen am Anfang einer Reportage, für die der Journalist Dietmar Telser und der Fotograf Benjamin Stöß drei Monate lang an den Außengrenzen Europas unterwegs waren – in Bulgarien, der Türkei, in Griechenland, Italien und Nordafrika. Dabei stellten sie fest, dass dieses Europa auf die Schutzsuchenden wie eine Festung wirken muss: In zahlreichen Begegnungen, Gesprächen und Momentaufnahmen wird deutlich, was die Menschen empfinden, wenn sie spüren, dass sie unerwünscht sind. Dass man sie als Feinde betrachtet, gegen die man sich schützen und durch Zäune und die Schließung längst geöffneter Grenzen von ihrem Weg abbringen will. Das Buch vermittelt eindrücklich, wie sich das Leben dieser von Flucht, Gefahren, Not und aussichtslosem Warten zermürbten Menschen anfühlt – und wirft die Frage auf, wie es uns in einer solchen Situation wohl ginge.

(Dominik Bloedner). Immer wieder Udo. Der Panikgroßmeister aus dem Hamburger Hotel Atlantic, der in diesen Tagen stolze 70 Jahre wird, ist so etwas wie der rote Faden für den wiederauferstandenen, einst als Popliteraten hochgelobten und dann unschön abgestürzten Benjamin von Stuckrad-Barre. Udo nennt ihn Stuckiman und begleitet ihn durchs ganze Leben. Vom verpickelten Teenager, der sich im Plattenladen der norddeutschen Provinz herumdrückt, bis zu jener lustigen ersten Szene auf diesen 568 langen, manchmal auch langatmigen und selbstgefälligen Seiten. Die beiden Herren reisen in die USA, Udo kommt mit seinen Sprüchen und qualmender Zigarre gut am Zoll vorbei, in Los Angeles logieren sie im Hotel. Stuckrad-Barre erzählt in „Panikherz“ seine eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte des Ruhms, der Sucht, des Elends. Es ist auch eine Geschichte des Zurückkämpfens, die in jenem Hotel „Chateau Marmont“ in Hollywood beginnt. Der Autor trifft andere Promis wie Courtney Love, Thomas Gottschalk oder Bret Easton Ellis – und will so en passant zwanzig Jahre Popkultur mit seinem eigenen Leben verknüpfen. Manchmal gelingt es, manchmal langweilt es. Lesenswert ist es aber allemal, nicht nur wegen Udo. Dieser tröstet, seine Lieder werden immer wieder zitiert. Und auch Udo hat, wie wir wissen, einige Jahre am Boden einer Whiskyflasche verbracht. Keine Panik.

(Erika Weisser). Rest an der Piehs heißt der 3000-Seelen-Ort, in dem sich merkwürdige Todesfälle häufen. Todesfälle, die den Schluss nahe legen, dass in dem ansonsten beschaulichen Dorf ein Mörder umgeht. Ein rätselhafter Mörder, der nicht nur Gustav Meta, Musiklehrer am örtlichen Karl-Sarg-Gymnasium, ins Grübeln bringt. Unter den Dorfbewohnern ist Meta freilich derjenige, der die meiste Zeit zum Nachdenken hat: Er ist das letzte Opfer dieses phänomenalen Mörders, den bisher noch niemand zu Gesicht bekommen hat – zumindest nicht bewusst in dieser Eigenschaft. Er selbst auch nicht: Seine Begegnung mit dem meuchelnden Unbekannten trug sich so zu, dass er auf dem Heimweg von der Schule kurzerhand von hinten erschlagen wurde. Und da hatte er keine Zeit mehr, „sich mit Dingen zu beschäftigen, die auf der Straße passieren“. Nun aber, da er im Grab liegt, interessiert es ihn schon, wer ihn so vorzeitig auf den Friedhof befördert hat. Er sinniert über abgründige Verstrickungen, provinzielle Intrigen, geheimnisvolles Getuschel – und kommt bei seinen Ermittlungen zu einem überraschenden Schluss. Ein ziemlich heiteres, skurriles, freundlich bitterböses Debüt von Tilman Schulze, der in Freiburg geboren ist, studiert hat und immer noch wohnt und arbeitet. Mai 2016 chilli Cultur.zeit 67



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