HEFT NR. 1/21 10. JAHRGANG
MUSIK STIMMKÜNSTLER JOHANNES JÄCK GEWINNT LANDESPREIS
Kultur
Literatur
Kunst
FRAKTIONEN KRITISIEREN RATHAUS
DAS LITERATURHAUS STARTET HYBRID INS JAHR
SEXTOYS ALS TABUBRECHER
KULTUR
„Desaster“, „verheerend“, „schwach“ oder „in Ordnung“ SO BEWERTEN DIE GEMEINDERATS-FRAKTIONEN DEN FREIBURGER HAUSHALTSENTWURF KULTURPOLITISCH
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von Lars Bargmann & Philip Thomas
ie Fraktionen und Gruppierungen im Freiburger Rathaus kritisieren den von Oberbürgermeister Martin Horn und Finanzbürgermeister Stefan Breiter vorgestellten Entwurf für den Doppelhaushalt (DHH) aus kulturpolitischer Sicht mal moderat, mal schonungslos hart. Eine Umfrage. „Aus kulturpolitischer Sicht ist der Entwurf ein echtes Desaster für die Kulturszene in Freiburg. Die lang geforderte Dynamisierung der Zuschüsse war hart erkämpft und wurde im letzten Doppelhaushalt 2019/20 erstmalig umgesetzt. Sie soll einen Beitrag leisten, die oft prekären Arbeitsbedingungen im Kulturbereich zu verbessern. Diese nun als eine der ersten Maßnahmen in der Pandemie zu streichen, wird die Situation der Künstlerinnen, Künstler und Kultureinrichtungen geradezu verschärfen. Das ist für uns nicht hinnehmbar! Wir werden 26 Anträge stellen, etwa einen mit 350.000 Euro gefüllten Fördertopf für von Corona besonders betroffene Einrichtungen, für Clubs und Musikspielplätze, zudem Geld für eine Biennale, eine Auflage von ‚Ins Weite‘ des KoKi, ein Chorfestival, das Lichtkunstfestival der Fabrik, für Multicore und auch erstmalige institutionelle Zuschüsse, etwa für die Alemannischen Bühnen oder das Klassenzimmer-Theater.“
Irene Vogel und Emriye Gül für die Fraktionsgemeinschaft EINE STADT FÜR ALLE (7 Sitze) 42 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2020
„Die finanzielle Lage der Stadt ist nicht gut und Kultur ist sicherlich auch kein Schwerpunkt der Stadtspitze. Insofern hat man sich entschieden, alles beim Alten zu lassen. Wir sind enttäuscht, dass von der Verwaltung nicht wenigstens ein Corona-Rettungstopf für die Kultur eingeplant wurde. Wir haben lange Jahre dafür gekämpft, dass der Kulturbereich endlich den anderen Politikfeldern gleichgestellt wird, wo immer die Kosten für Tariferhöhungen in den städtischen Zuschüssen berücksichtigt wurden. Es ist schlecht, dass wir hier wieder eine Rolle rückwärts machen, aber die Kultur wird hier nicht schlechter behandelt als andere Bereiche. Wir müssen Einrichtungen unterstützen, die besonders durch die CoronaKrise betroffen sind – vom Freiburger Barockorchester bis hin zu den Schönen der Nacht. Wir müssen Räume sichern und erhalten, denn Räume für die Kultur sind Mangelware. Und wir müssen Projekte fördern, die man nicht schieben kann, etwa den Tanzpakt. Da muss Freiburg jetzt Mittel bereitstellen, um am Geldsegen durch Bundes- und Landesprogramme im Bereich Tanz zu partizipieren. Gerade weil unsere Kassen knapp sind. Zur Gegenfinanzierung unserer Anträge wollen wir beim Augustinermuseum und dem Stadtjubiläum sparen.“
Anke Wiedemann für die GRÜNENFraktion (13 Sitze)
„Die Kultur wird nicht im Stich gelassen. Die Pandemie hat natürlich die Kultur wie andere Branchen hart getroffen. Die Dynamisierung musste ausgesetzt werden, dieser Schritt ist schmerzlich, aber angesichts der Haushaltslage unausweichlich. Dass die Ansätze in der Kultur gleich geblieben sind, ist angesichts der Haushaltslage keine Selbstverständlichkeit. Es gab auch schon Beratungen, in denen alle Zuschüsse pauschal gekürzt wurden. Für mich ist der Entwurf ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber der Kultur. Grundsätzlich dürfen Zuschüsse aus Steuergeldern keine Selbstläufer sein, und sie sind auch nicht selbstverständlich. Ich würde ein Verfallsdatum bei allen Zuschüssen sehr begrüßen. Grundsätzlich legen wir den Fokus auf Projekte, die mit ihrer Arbeit einen tatsächlichen Mehrwert für die Stadtgesellschaft leisten, wirtschaftlich haushalten und Eigeninitiative ergreifen.“
Christoph Glück für die Fraktionsgemeinschaft FDP und Bürger für Freiburg (4 Sitze) „Die nächsten zwei Jahre sind kulturpolitisch kaum planbar. Wann es wieder losgeht, weiß derzeit niemand. Für viele bedeutet der DHH eine Kürzung. Das ist eine Schwierigkeit, aber in der Gesamtsituation des Haushaltes war das leider nicht anders möglich. Wir wollen das abgekoppelt betrachten von der Pandemie. Es ist wichtig, dass wir flexibel reagieren können. Dass die Dynamisierung der Zuschüsse ausgesetzt wird, ist keine Überraschung. Die Projektförderung bei der Tanzplattform ist zwar ausgelaufen, aber natürlich wollen wir die Tanzszene weiter unterstützen. Wir beantragen einen 200.000-Euro-Nothilfe-Fonds. Und haben außerdem zwei winzige Anträge für den Jazzchor und die Community-Oper. Wichtig ist eine inhaltliche Prüfung, es soll nicht mit der Gießkanne, sondern nach Bedarf vom Kulturamt ausgeschüttet
Plakative Kampagne: Kulturgesichter 0761
werden. Unter dem Strich ist der jetzige Haushalt für uns so in Ordnung.“
Carolin Jenkner für die CDU-Fraktion (6 Sitze)
„Uns liegt die Kultur in Freiburg sehr am Herzen, insbesondere eine bunte Kulturlandschaft, in der Musik, Literatur, Tanz, Film berücksichtigt sind, ebenso wie alles von der Moderne über das Bodenständige bis hin zur Klassik. Der Schwerpunkt muss darauf liegen, diese Vielfalt in schwierigen Zeiten zu erhalten, nicht aber jedwedes Kulturschaffen zu fördern. Der vorgelegte Entwurf ist recht einfallslos. Der Ansatz darf nicht sein, Förderung einzufrieren, sondern man hätte in
die Tiefe gehen müssen und die Bereiche filtern, die überhaupt eine Chance haben zu überleben, wichtig für die Kulturlandschaft sind und alle Bereiche in allen Facetten abbilden. Die Stadt geht hier den Weg des geringsten Widerstandes ohne jede Vision. Wir haben 41 Änderungsanträge gestellt und beantragen auch, die KTS nicht mehr zu fördern. Solange dort die Antifa und vom Verfassungsschutz beobachtete Gruppierungen Unterschlupf finden, verbietet sich eine Förderung. Diese 180.000 Euro wären in einer Tanzplattform besser angelegt, an der Alemannischen Bühne oder auch beim ZMF, um eine überregionale Leuchtturmveranstaltung zu erhalten.“
Detlef Huber für die AFD (2 Sitze) FEBRUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 43
Foto: © Britt Schilling
KULTUR
Besonders schwer getroffen: Das renommierte Freiburger Barockorchester hatte im vergangenen Jahr 150.000 Euro aus der Stadtschatulle bekommen und zählt auch 2021 wieder zu den Kandidaten einer höheren Förderung.
„Der Entwurf ist sehr konservativ. Natürlich haben wir andere Pläne und werden kulturpolitische Schwerpunkte legen. Die Kulturschaffenden sind von der Krise besonders hart getroffen, das Ausbleiben von automatischen Erhöhungen ist schade, wurde aber so in allen Bereichen eingeplant. Dadurch gesparte Gelder wollen wir in Notfalltöpfe reinvestieren, um denen zu helfen, die es dringend nötig haben. Wir werden vor allem Anträge stellen, um das Nachtleben zu retten. Es soll ein Innovationsfonds eingerichtet werden, um neue Projekte und Veranstaltungsreihen zu unterstützen, die trotz oder nach Corona stattfinden können. Das soll die Szene dazu animieren, kreativ zu werden und sich finanziell wieder zu sichern. Die Akteur*innen der Nachtkultur, Spielstätten und Gastronom*innen, Vereine und Gruppierungen zu vernetzen und zu unterstützen, ist eine riesige Aufgabe. Die bisherige halbe Stelle ist dem nicht gewachsen, deshalb fordern wir eine zusätzliche Stelle im Popsupport. Darüber hinaus unterstützen wir etwa das Festival ‚Ins Weite‘ und erhöhen den Zuschuss von Multicore Freiburg, um den Betrieb von Proberäumen in der Karlsruher Straße zu ermöglichen.“
Sergio Pax für die Fraktionsgemeinschaft JUPI Freiburg (5 Sitze)
„Dass die beschlossene dynamische Anpassung der Zuschüsse, entsprechend den Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst, wieder aufgehoben werden soll, ist ein klarer 44 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2021
Wortbruch und verheerend. Unsere Fraktion wird geschlossen dagegen stimmen. Durch die pauschale Dynamisierung kommt bei den Kulturschaffenden zumindest etwas mehr Geld an. Auch haben wir die Tariferhöhungen aufgenommen. Diese Erhöhungen stehen den Bediensteten und Angestellten zu. Natürlich ist uns aber bewusst, dass gerade die Kulturschaffenden es sind, die durch die Corona-Pandemie teilweise enorme finanzielle Einbußen zu verzeichnen haben. Allerdings hat Corona auch auf den städtischen Haushalt negativ Einfluss genommen. Dies im Blick behaltend, können keine großen Mehrausgaben veranschlagt werden. Deswegen stellen wir auch keine weiteren Anträge. Wir tragen mit diesem DHH auch für die nachfolgenden Haushalte Verantwortung.“
Johannes Gröger für die Fraktion Freie Wähler (3 Sitze)
„Dass die Lohnerhöhungen auch im Kulturbereich ausfallen, ist verständlich, auch wenn es für die Kulturschaffenden unbefriedigend ist. Wie ‚Freiburg Lebenswert‘ schon sagt, unterstützen wir alles, was die Stadt lebenswerter macht, und dazu gehört selbstverständlich ein breites kulturelles Angebot, das entsprechend finanziell auszustatten ist. Dasselbe gilt für soziale Initiativen, aber eben auch für Breitensport oder Freizeitangebote, weswegen wir ein Eisstadion mit zwei Eisflächen oder ein Außenbecken am Westbad
für dringend erforderlich halten. Für zweitrangig halten wir dagegen die Erfüllung des Wunsches von NichtFreiburgern nach einer Wohnung in Freiburg. Für eine Mehrheit der Bürger und eine sehr große Mehrheit des Gemeinderates aber hat das Erfüllen dieses Wunsches oberste Priorität. Deswegen werden Unsummen in neue riesige Baugebiete wie Dietenbach gesteckt und es bleiben Westbad, Eisstadion und auch die Kultur auf der Strecke. Um es auf einen Nenner zu bringen: Die Lebensqualität der Freiburger Bürger muss zurückstehen vor dem Wunsch nach massivem Bevölkerungswachstum.“
Wolf-Dieter Winkler für Freiburg Lebenswert (1 Sitz)
„Der Entwurf weist keinerlei kulturpolitische Schwerpunkte auf. Dabei hätte es die Kultur gerade besonders verdient. Im Gegenteil: Eine Verschiebung des NS-Doku-Zentrums um ein Jahr, ein fatales Zeichen, die Streckung des Ausbaus des Kleinen Hauses um viele Jahre, ein Aussetzen der Dynamisierung der Zuschüsse, nach 20 Jahren mühsam erstritten, war ein Zeichen der Wertschätzung. Das trifft die Kultur ungleich härter als alle anderen Einrichtungen im sozialen und im Jugendbereich. Der Tanzpakt Freiburg hängt an der städtischen Teilfinanzierung. Dafür muss unbedingt ein Antrag für eine Verlängerung um weitere drei Jahre gestellt werden. Zudem Anträge für die Reihe ‚Ins Weite‘ vom Koki, Kunstbiennale, Tanzpakt, Chornacht, Theater im Marienbad, Theater Panoptikum, Multicore, Alemannische Bühne, Ensemble Aventure, Freiburger Barockorchester, Jazzchor, Kubus, T66-Kulturwerk, Opera Factory und ensemble recherche. In der Verwaltung findet ein bürokratischer Umgang mit der Kultur statt, nicht mal ein Corona-Hilfefonds für in Not geratene Kultureinrichtungen wurde angegangen, das ist schon ein schwaches Bild. Den Hilfefonds mit 300.000 Euro werden wir nun beantragen.“
Atai Keller für die Fraktionsgemeinschaft SPD/Kulturliste (7 Sitze)
KULTUR
Schluss nach 33 Jahren FREIBURGS LETZTER CD-LADEN ÜBERSTEHT KRISE NICHT von Till Neumann
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as Compact Disc Center (CDC) bei der Schwarzwald City ist Geschichte. Nach 33 Jahren hat Gerhard Gehre am 13. Februar Freiburgs einziges e chtes CD-Geschäft aufgegeben. Die Gründe: Streaming und der Corona-Lockdown. „Die Branche ist bescheuert“, wettert der 60-Jährige. Für Musikliebhaber war das CDC eine Schatzkammer: In Holzregalen standen CDs so weit das Auge reicht. Von Juliette Gréco über Pink Floyd bis zu den Black Eyed Peas. Ein Eldorado der Silberlinge. Gerhard Gehre macht aus seinem Groll keinen Hehl. Er ist sauer über den Wandel der Branche. Labels lieferten bevorzugt an Amazon, er ging mehrfach leer aus. Streaminganbieter wie Spotify eroberten den Markt, obwohl sie Verluste einfahren.
„Lockdown hat uns den Rest gegeben” „Leider ist die wirtschaftliche Lage immer schlechter geworden. Der zweite Lockdown hat uns endgültig den Rest gegeben“, erzählt Gehre. Allein im Dezember fehlten rund 45.000 Euro Umsatz. Das Weihnachtsgeschäft sei überlebensnotwendig für ihn. „Das lässt sich nicht mehr aufholen.“ 75 bis 80 Stunden arbeitete er zuletzt – ohne Gehalt. Die CD wurde 1981 erfunden. Sechs Jahre später hat Gehre den Laden in der Schiffstraße 8 eröffnet. Die „Schnapsidee“ kam dem gelernten Koch und Versicherungskaufmann bei einem Sonntagsfrühstück.
Foto: © tln
Gibt nach drei Dekaden auf: Compact-Disc-Center-Chef Gerhard Gehre in seinem Laden
Mit Geschäftspartner Christian Sumser bekam er von der Sparkasse den Zuschlag für die Räumlichkeiten. „Es gab 50 Bewerber, ich weiß bis heute nicht, warum wir es geworden sind“, erzählt Gehre und lacht. Die ersten vier Jahre habe er ohne Einkommen gearbeitet. Dann wurden CDs ein Riesengeschäft. „Der Boom kam Mitte der 90er bis Mitte der 2000er“, erinnert sich Gehre. An einem einzigen Dezembertag habe er mal 28.000 D-Mark umgesetzt. Er kann es kaum mehr glauben: „Da kriege ich richtig Gänsehaut.“ Zu Hochzeiten hatte er 50.000 Tonträger im Laden. Im Januar waren es noch 20.000. Zu gerne hätte er sie bei geöffnetem Laden verkauft. Doch der Lockdown kam dazwischen. Jetzt muss er den Rest wohl „bei ebay verkloppen“. Die Gepflogenheiten der Branche ärgern ihn. Ein Album von Dave Brubeck sei 45 Mal bei ihm vorbestellt worden. Doch die Plattenfirma Universal habe alles an Amazon geliefert. Auch in anderen Fällen sei er leer ausgegangen. Zudem echauffiert er sich über Streamingdienste, die Jahr für Jahr Verlust machen und Geschäfte wie seins kaltstellen. Von den
rund 45 verbliebenen CD-Geschäften in Deutschland seien auch andere kürzlich den Bach runtergegangen. Sein Geschäft sei seit 2012 zunehmend schlechter gelaufen. „Das Konto ist immer mehr ins Minus gerutscht.“ Aufs Onlinegeschäft hat Gehre im Rückblick wohl zu wenig gesetzt. Der digitale Shop des Ladens ist 14 Jahre alt. „Und der sieht auch so aus“, scherzt der CDC-Chef. CDs sind für ihn vom Aussterben bedroht. Zwei, drei Jahre gibt er ihnen noch. Der Musikmarkt setze schon jetzt 75 Prozent mit Streaming um. Dabei verkaufte er einst Platten tausenderweise. Eric Clapton, die Dire Straits oder Brothers in Arms seien Verkaufsschlager gewesen. Auch für lokale Bands bot er immer wieder prominente Plätze im Regal. Wie es weitergeht, weiß er noch nicht. „Ich muss mich erst mal erholen.“ Von der Musikbranche will er nix mehr wissen. Dafür stehen mögliche Nachfolger schon in den Startlöchern. Zwei ehemalige Mitarbeiter von Gehre möchten in den Räumlichkeiten einen Nachfolger eröffnen mit dem Fokus auf Vinyl. Ihr Name: Der Plattenladen Freiburg. FEBRUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 45
KULTUR
Süßer Pinguin DIE AUSSERGEWÖHNLICHE BACHELORARBEIT DER ADA NEGUER
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rauen, die ihren Dildo als Lockenstab benutzen, mit einem Vibrator schreiben oder ihre Sextoys wie selbstverständlich beim Frühstück neben sich liegen haben. Das sind Bilder, die den Betrachter stutzen lassen. Genau das ist das Ziel der Fotografin Ada Neguer. Sie will zeigen, dass Sexspielzeug ein normaler Bestandteil des Alltags ist – und damit ein Tabu brechen.
von Tanja Senn
Witzig, provokant, ästhetisch: Ada Neguer setzt Sexspielzeug in Szene, um damit aufzurütteln.
Sich mit den Eltern beim Abendessen über Sexspielzeug unterhalten? Das kann sich Ada Neguer – wie wohl die meisten Menschen – nicht vorstellen. „Das Thema Sex ist überall, aber Selbstbefriedigung ist immer noch ein Tabu“, wundert sich die Dreißigjährige. Ihre Bachelorarbeit an der Freiburger Hochschule Macromedia wollte sie daher nutzen, um diesem Widerspruch nachzugehen. Dass sie dabei auch die Unterschiede zwischen den Kulturen mit einbezieht, ist für die in Bulgarien geborene und in
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Israel aufgewachsene Fotografin schnell klar. So führt sie Interviews mit Menschen in Deutschland, Israel und den USA – teils mit Freunden und Bekannten, teils mit vollkommen Fremden. „Natürlich ist das ein sehr intimes Thema, selbst wenn man mit seinen Freunden darüber spricht. Deswegen habe ich mir Mühe gegeben, dass sich alle dabei wohlfühlen“, berichtet Neguer. Bevor es zur Sache geht, führt sie daher mit jedem ein Vorstellungsgespräch: Über was ist der andere bereit zu reden und über was nicht? Welche Fotos sind okay? Dabei stellt sie schnell fest: Zwar sind junge Menschen in allen drei Ländern eher offen gegenüber dem Thema, dennoch gibt es Unterschiede. In ihrem Heimatland Israel, wo die Religion präsenter ist und Sex bei streng Gläubigen nicht dem Vergnügen, sondern dem Kinderkriegen dient, wird über Selbstbefriedigung weniger offen gesprochen.
Fotos: © Ada Neguer
KULTUR
Auch bei anderen Tabus in der künstlerischen Fotografie sind die Unterschiede zwischen den Kulturen groß, weiß Neguer, die seit fünf Jahren in Freiburg wohnt. Um das zu verdeutlichen, zeigt sie Bilder der belgischen Fotografin Frieke Janssens, die Kinder beim Rauchen fotografiert. Was in der westlichen Welt ein No-Go ist, ist in Ländern wie Indien oder Thailand weit weniger anstößig. Mit Tabus spielt ebenfalls der chinesische Fotograf Ren Hang, der seine Landsleute nackt und in teils sehr provokanten Posen ablichtet. Das ist nicht nur in seiner autoritären Heimat verpönt. Auch für Europäer ist es ungewöhnlich, mit der Sexualität von Chinesen konfrontiert zu werden – werden diese doch eher als asexuelle Roboter gesehen. Auch Neguer will mit ihren Fotos, die sie unter dem Titel „Hide and Seek“ zusammengefasst hat, ein Tabu
brechen: „Ich will zeigen, dass Sexspielzeug ein ganz normaler Teil unseres Lebens ist.“ Ihre Interviewpartner bittet sie daher, ihre Toys in Bezug zu Alltagssituationen zu setzen – wie Schachspielen oder Yoga. Im zweiten Teil ihrer Bachelorarbeit setzt sie dann ihr persönliches Spielzeug in Szene. „Ich wollte zeigen, wie ästhetisch die Sachen sind und ihnen die harte Konnotation nehmen“, erklärt die in Karlsruhe arbeitende Fotografin. „Mein Vibrator ist ein Pinguin. Es ist süß, es ist Spielzeug – und nichts, für das man sich schämen muss.“ Daher hat sie auch ihren Eltern in Israel ihre Arbeit gezeigt. „Na ja, die waren jetzt nicht begeistert“, sagt Neguer und lacht, „aber sie unterstützen mich trotzdem.“ Und vielleicht werden ihre Fotografien d adurch irgendwann zum normalen Gesprächs thema beim Abendbrot.
Ein Alltagsgegenstand wie jeder andere: Das veranschaulicht Neguer (oben) durch die witzigen Posen ihrer Interviewpartnerinnen.
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KULTUR
Faust drauf FREIBURGER ALLTAGSFORSCHERIN SARAH MAY ÜBER DIE FOLGEN DER PANDEMIE
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von Philip Thomas
orona hat unseren Alltag durcheinandergewirbelt. Umarmungen und ein fester Händedruck sind auf einmal tabu, Arbeiten von zu Hause ist plötzlich gewünscht. Laut der Kulturanthropologin Sarah May von der Freiburger Uni findet schon jetzt eine kulturelle Neuorientierung statt, welche Gewohnheiten nach der Pandemie erhalten bleiben. Auch der Händedruck stehe auf dem Prüfstand. Es juckt in den Fingern, der Gruß ohne Hand fällt nach wie vor schwer. „Der Handschlag ist kulturhistorisch nicht nur eine Begrüßung, sondern auch ein Symbol für Freundschaft und Friede, eine politische Geste mit großer Wirkmacht“, erklärt May. Menschen suchen nach Bestätigung: „Wir ahnen, was andere von uns erwarten, und zielen auf wechselseitige Anerkennung. Daher begrüßen wir uns per Handschlag oder Umarmung. Und aus dem gleichen Grund unterlassen wir diese Gesten derzeit. Wir wollen dazugehören“, sagt sie. Statt Shake Hands nun also Fist Bump. Die Umstellung war nicht einfach. Es sei auffällig, wie groß, ja übertrieben die Gesten mit Füßen und Ellenbogen zu Beginn der Pandemie ausfielen. „Solche Entwicklungen brauchen Zeit“, sagt die 38-Jährige. Knapp ein Jahr nachdem die chinesische Metropole Wuhan aufgrund des neuartigen Coronavirus im Januar 2020 abgeriegelt wurde, grüßen Spitzenpolitiker weltweit nun Faust an Faust: Auf dem CDU-Parteitag empfingen sich die Kandidaten Friedrich Merz und Armin Laschet per Fist Bump. Bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden gratulierte Trump-Vorgänger Barack Obama per Faustgruß.
Foto: © pixabay.com/Tumisu
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Foto: © Klaus Polkowski
Untersucht unseren Alltag: Kulturanthropologin Sarah May
Es ist nicht die einzige kulturelle Veränderung. Fitnessstudios bieten OnlineKurse, statt mit dem Schnellzug geht’s über die Datenautobahn ins nächste Meeting. „Ich bin mir sicher, dass uns einiges aus dieser sogenannten Krise erhalten bleibt. Auch in Online-Treffen liegen Vorzüge“, kommentiert May. Die Verschmelzung von Arbeits- und Freizeiträumen sieht die Kulturanthropologin kritisch: „Unser Alltag hat sich stark auf die eigenen vier Wände verschoben, dort finden nun Dinge statt, die räumlich immer getrennt waren.“ Wo früher nur geschlafen wurde, werde nun auch gearbeitet. May rechnet mit einem kulturellen NeuOrientieren. „Individuell und im Kollektiv findet bereits eine solche Reflexion statt: Was wollen wir aus dem neuen Alltag behalten? Was lernen? Was wollen wir aus dem Davor zurück?“, fragt sie. Auch das sei ein Prozess. Ob darin der Handschlag sein Comeback feiert? „Die Geste ist kulturell fest verankert, aber ich bin keine Wahrsagerin.“
KULTUR
Soundlabor im Keller MULTICORE-CHEF FÜHRT DURCH ROHBAU DES GEPLANTEN MUSIKZENTRUMS
von Till Neumann
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Der Franzose und sein Team wollen der Szene eine neue Heimat geben. Zum Arbeiten, Lernen und Netzwerken. 30 bis 40 Bands sollen Platz zum Proben bekommen. In sieben großen Räumen mit je 32 bis 34 und vier kleinen à 15 bis 23 Quadratmetern. Den
och ist es eine nackte Tiefgarage. Doch die Betonmauern unter der Karlsruher Straße 52 sollen zum Hot spot der Freiburger Musik szene werden. 1,1 Millionen Euro hat der Gemeinderat für den Umbau abgesegnet. Multicore-Chef Franck Mitaine hat dem chilli exklusive Einblicke ins Projekt geboten.
Eine „Black Box“ für das Bühnentraining
„Full House“ steht an der grauen Wand. Eine staubige Diskokugel liegt in der Ecke. Leere Limoflaschen stehen auf einem Tisch. Was noch ziemlich uneinladend daherkommt, soll ab Herbst pulsieren: An der Karlsruher Straße 52 entsteht in einer Tiefgarage ein Zentrum für Bands, Musikerinnen, Techniker und Aktivisten. Quasi die kleine Schwester der gescheiterten Musikzentrale am Güterbahnhof – nur ein paar hundert Meter entfernt. Zehn Proberäume soll es geben. Außerdem eine kleine Bühne, Sharing-Studios, einen Workshopraum, Büros und eine Küche. „DIY und Kreativität sind oberste Prämisse“, sagt Mitaine. Der 58-Jährige steht mit Maske und dicker Jacke im kalten Keller. An der Decke leuchten Neonröhren. In der Hand hält er den Plan zur Location, den er selbst in großen Teilen mitentwickelt hat.
ersehnten Konzertsaal wird’s nicht geben. Dafür eine „Black Box“, eine Probebühne, auf der Bands lernen sollen, sich auf der Bühne zu präsentieren. Schalldicht müssen die Räume werden – und nicht zu stickig. „Die Lüftung ist die größte Problematik hier unten“, betont Mitaine. Gerade in Corona-Zeiten. Das dürfte teuer werden. Die Kosten für Bands sollen trotzdem überschaubar bleiben: Für ein bis zwei Tage die Woche könnten 100 bis 150 Euro Warmmiete anfallen. Wer seine Songs fertig hat, soll sie in der KA52 (so der aktuelle Arbeitstitel) auch aufnehmen können. Ein Studio mit Gesangskabine ist im hinteren Teil des Ensembles geplant. Dort sollen auch Workshops steigen. In drei weiteren Räumen kann abgemischt werden. Außerdem gibt’s einen Raum zum Produzieren und für Schlagzeuger einen kleinen Übungsraum.
Für Mitaine ist das Konzept der KA52 einzigartig. In Deutschland kennt er nichts Vergleichbares. Neben den dringend benötigten Proberäumen sei Coaching zentrales Element: „Wir wollen Tools an die Hand geben, damit Bands selber arbeiten können.“ Auch kurzfristig: Für Jamsessions, Tourneevorbereitungen oder Straßenmusiker sind die Räume tageweise buchbar. Zudem seien die Türen auch für Film, Theater und Experimentelles offen. Mitaine trauert dem Großprojekt „Musikzentrale“ dennoch hinterher. Geplant waren drei Etagen jeweils so groß wie die gesamte Tiefgarage. Vor allem eins vermisst er: „Eine Livebühne fehlt.“ Ganz aufgegeben hat er die Hoffnung nicht. „Wenn sich eine Option ergibt“, sagt Mitaine, „können wir jederzeit reagieren.“
Fotos: © tln
Hat Großes vor: Multicore-Chef Franck Mitaine zeigt den Plan für das Musikzentrum „KA52“. FEBRUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 49
KULTUR
Kein Salz in der Schatzkammer WAS IM AUGUSTINERMUSEUM GERADE GEWERKELT WIRD
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von Erika Weisser
Pilzbefall: Auch im Gebälk des Dachstuhls des Kirchenschiffs saß der Porenschwamm. Der ist nun eingedämmt, die Luft entfeuchtet, die befallenen Holzteile ausgetauscht – und bald sieht die Gemäldegalerie wieder aus wie vor der Sanierung (Bild oben). Fotos: © Städtische Museen, Erika Weisser
uf der derzeit wohl größten Baustelle in gen Kirchenschiffs an der Salzstraße der Freiburgs Innenstadt, am Augustinermu- holzzersetzende Weiße Porenschwamm loseum, scheint Stillstand zu herrschen: Gro- kalisiert. Der wurde durch das über Mauerße weiße Planen, die entfernt an die Werke risse und schadhafte Stellen am Dach eindes Verhüllungskünstlers Christo erinnern, sickernde Wasser „gefüttert“ und breitete dichten die Gerüste an den zu sanierenden sich munter aus. Bald darauf löste sich auGebäuden hermetisch gegen unbefugte ßerdem ein Stück von dem Fassadengesims Blicke ab. Keine Bewegung ist dahinter auszumachen, kein Wasser befördert die Ausbreitung Laut dringt ins Freie. Der riesige, im abgesperrten Bereich von Haus- und Porenschwamm im Holz des angrenzenden Spielplatzes aufgebaute Kran ragt gelb und schweigend an der Salzstraße und fiel auf den Gehweg, in den strahlend blauen Winterhimmel. wo zum Glück niemand unterwegs war. Auch der 2016 abgeschlossene zweite Das Tor mit der Aufschrift „Vorsicht Baustellenzufahrt“ ist fest verschlossen, die Bauabschnitt wies nach der Fertigstellung schmale Tür zu dem von Bauzäunen abge- einen Pilzbefall auf, der Nachbesserungen nötig machte: Anfang 2019 wurde an der schirmten Gelände ebenso. Dachfläche des Gebäudeteils, in dem der Der Schein trügt: Hinter der Verhüllung, Museumsshop und das Haus der Grafierzählt Andrea Katzer-Hug, Leiterin des Ge- schen Sammlung untergebracht sind, der bäudemanagements Freiburg (GMF), schrei- Echte Hausschwamm entdeckt. Dieser tet die im Jahr 2006 begonnene Sanierung war schon zwei Jahre zuvor während der des aus dem 13. und 14 Jahrhundert stam- bereits angelaufenen Sanierungsarbeiten menden Gebäudekomplexes „in allen Be- im ehemaligen Konventgebäude, dem dritreichen voran“. Wenn auch langsam. Und ten Bauabschnitt, gefunden worden. Auch mit Rückschlägen: So wurde Ende 2018 im hier hatte Regenwasser von außen und tragenden Gebälk des bereits 2010 fertig Kondenswasser von innen die Ausbreitung sanierten und wiedereröffneten ehemali- des Pilzes befördert.
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„Aktuell“, sagt Katzer-Hug, stecke man „mitten in den Sanierungsarbeiten im Kirchenschiff, dem ursprünglichen ersten Bauabschnitt“. Die vom Pilz befallenen Original-Holzteile werden entfernt und gegen neues Holz ausgetauscht, das Fassadengesims werde im Lauf des Sommers durch ein neues ersetzt, erst im Herbst seien die Arbeiten fertig. Das gelte auch für die Dächer des zweiten Bauabschnitts, die komplett abgebaut werden mussten. Dort, oberhalb des Feierling-Biergartens, werden gerade die letzten Dächer aufgebaut, wobei die alten „leider nicht gerettet werden konnten“.
Neuer Putz für historisches Gemäuer Parallel dazu ist auch die wegen der konstatierten Mängel verzögerte Sanierung am Konventgebäude angelaufen. „Mit Hochdruck“, erläutert die GMF-Leiterin, arbeite man derzeit an der Fassade; der alte Putz werde gerade entfernt, damit im Frühjahr, „sobald es die Temperaturen zulassen“, ein neuer aufgebracht werden könne. Dieser werde nicht nur die inzwischen akribisch geschlossenen Risse und Spalten im historischen Mauerwerk abdecken, sondern verhindere durch seine besondere Beschaffenheit, dass wieder Wasser an die Konstruktion gelangt. Sie rechnet damit, dass Ende des Jahres, nach der Fertigstellung von Dächern und Fassaden, große Teile des Gerüsts entfernt werden können: „Dies wird ein wichtiger Schritt sein,
damit man wahrnehmen kann, dass es hier tatsächlich vorangeht.“ Vieles werde aber auch danach zunächst unsichtbar bleiben. Etwa die Sanierungsarbeiten im Innenraum, zu denen auch die ebenfalls ursprünglich nicht vorhersehbare Entsalzung der Wände der zukünftigen Schatzkammer gehört, in der ganz besondere und ganz besonders kostbare Exponate zu sehen sein werden. Diese Maßnahme habe „sogar besser geklappt, als wir erwartet hatten“, sodass der Ausbau dieser Räume demnächst „in Angriff genommen“ wird. Die vielen Überraschungen und Unwägbarkeiten, die eine komplexe und sensible Sanierung historischer Bausubstanz „immer mit sich bringt“, hat zu erheblich höheren Kosten geführt: Waren vor Beginn der Bauarbeiten vor 16 Jahren noch knapp 50 Millionen Euro angesetzt, so werden es nun, nach verschiedenen Nachbudgetierungen und den für die Pilzeindämmung errechneten Zusatzkosten, mehr als 85 Millionen Euro werden. Zu diesen höheren Kosten, sagt der für die Museen zuständige Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach, habe nicht zuletzt auch der Zeitverzug geführt. Dass dieser sich nicht auf das bevorstehende Jubiläum des Augustinermuseums auswirkt, hofft Tilmann von Stockhausen, der Leiter der Städtischen Museen: Im November 2023 wird es 100 Jahre alt. Nach Plan soll bis dahin alles fertig sein. Drei Jahre nach der erhofften Eröffnung im Jahr, in dem die Stadt Freiburg ihr 900-jähriges Bestehen feierte. Oder feiern wollte.
Hinter der Verhüllung und dem künstlerisch gestalteten Bauzaun wird gewerkelt: In der künftigen Schatzkammer für kostbare Exponate ist das Salz inzwischen aus den Wänden entfernt.
KULTURNOTIZEN Museen, allein zu Haus Die Freiburger Museen bilanzieren das CoronaJahr: Waren 2019 noch 276.800 Besucher in die fünf städtischen Häuser gekommen, kamen 2020 nur noch 105.438 – ein Rückgang um 62 Prozent. Insgesamt waren die Museen dreieinhalb Monate komplett zu – die erste derart lange Schließphase in der Geschichte, der auch die beliebte Museumsnacht anheimfiel. Digitale Angebote hingegen reüssierten: Allein im Januar nutzten mehr als 16.000 User die Online-Sammlung der Städtischen Museen. Auf dem sogenannten sozialen Netzwerk Facebook erreichte ein dreiminütiges Video des Archäologischen Museums Colombischlössle über die Kleidung einer Keltin unter dem Motto „How to dress?“ mehr als 30.000 Interessierte. bar
Theater, gestreamt Das Theater Freiburg hat am 10. Februar seine digitalen Tore geöffnet und sendet seither per Live stream Vorstellungen aus allen Sparten. Am 19. Februar wird Herbert Fritschs Musiktheater „Mr. Emmet Takes A Walk“ von P.M. Davies gestreamt, eine Lecture Performance über das Pflegesystem, Ibsens Klassiker „Hedda Gabler“, eine zweiteilige Tanzaufführung sowie das 3. Kammerkonzert machen den Februar zum Theatermonat. Nach den Premieren findet direkt im Anschluss an den jeweiligen Stream ein Nachgespräch per Zoom statt. Zuschauer erhalten mit ihren Zugangsdaten zum Streaming auch den entsprechenden Zoom-Link. Info: www.theater.freiburg.de/streaming bar
Chorszene, evaluiert Unter dem Motto „Zusammen singen wir stärker“ hat der vor drei Jahren gegründete Verein Chorstadt Freiburg ein Evaluationsprojekt gestartet, dessen Ziel es ist, festzustellen, wie viele Menschen in Freiburg organisiert singen. Dabei sollen Chöre aller Genres nach Mitgliederzahl, Proben und Auftritten, nach ihren finanziellen Mitteln und Aufwendungen für Proberäume und Chorleitung befragt werden, um die Rahmenbedingungen für den Chorgesang zu stärken. Diese Daten sollen nicht nur bei den bekannten Chören der hiesigen Musikszene erhoben werden, sondern auch bei kleinen Gruppen, „die oft im Unbemerkten singen, wie Nachbarschaftschöre, singende Kindergärten oder Singgruppen in Seniorenheimen“, sagt die Chorstadt-Vorsitzende Corinna Weingärtner. Info: evaluation@chorstadt-freiburg.de ewei
Foto: © Johannes-Jäck/Baden-Württemberg-Stiftung
MUSIK
Souveräner Selbermacher STIMMKÜNSTLER JOHANNES JÄCK GEWINNT LANDESPREIS
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von Till Neumann
Erfolgreich: Johannes Jäck von der A-cappella-Band Anders kann nicht nur singen und beatboxen.
it seiner A-cappella-Formation Anders ist Johannes Jäck seit vielen Jahren aktiv. Jetzt bastelt der 27-jährige Musiker nebenher an der Solokarriere. Gerade hat der Freiburger mit einem sehenswerten Video einen Preis abgestaubt. Die Band bleibt aber „Herzensprojekt“. Ihre Devise: So viel selbst machen wie möglich. Die Info verbreitete sich im Sommer wie ein Lauffeuer: Die BW Stiftung rief dazu auf, Musikvideos einzureichen. Die ersten 1000 Einsendungen bekamen beim „Klangspektrum BW“ jeweils 1500 Euro. Für Corona-geplagte Künstler eine Stange Geld. Auch Johannes Jäck erreichte die Nachricht. „Wow, cool, da sollte ich sofort mitmachen“, dachte er sich. Schnell war die Idee geboren, den Song „By Night“ einzureichen, den er für seinen Bachelor-Abschluss geschrieben hatte. Nur das Video fehlte noch.
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Eile war geboten, die 1000 Plätze könnten schnell vergeben sein. Also bereitete er den Track vor und setzte sich zu Hause in Szene. „Meine Freundin hatte Stoffwände genäht“, erinnert sich Jäck. Eine eigene Kamera und das nötige RecordingEquipment waren eh griffbereit. Einen halben Tag habe er für das Video gebraucht, berichtet Jäck beim Zoom-Interview. Aufnehmen, den richtigen Take auswählen, abschicken. Ein S chnellschuss. Do it yourself in Reinform, DIY wie man neudeutsch sagt. Anzusehen ist dem Ergebnis die Eile nicht: Im roten Hemd steht der Freiburger Lockenkopf vor blauem Hintergrund und performt „By Night“. One Take und komplett live ist das Video entstanden. Soll heißen: Es hat keinen einzigen Schnitt, Bild und Ton sind zeitgleich entstanden. Was mit einem einfachen melodischen Summen startet, entwickelt sich in vier
MUSIK Minuten zu einer akustischen Meisterleistung: Jäck kombiniert Beatbox und Gesang, lässt die Elemente verschmelzen, als wären mehrere Personen am Werk. Wie viele Instrumente er dabei imitiert? Da muss er selbst nachzählen. „Drums, Bass, Synthies, Gesang, ein paar Effekte …“ Den Song vorab aufzunehmen und danach das Video zu drehen, sei nicht möglich gewesen, berichtet Jäck und lacht. Gerade im jazzigen Mittelteil habe er viel improvisiert. Das geht nur live. Die Jury der BW Stiftung war von Jäck begeistert: „Er hat uns in der Kategorie ‚Populäre Musikstile’ ganz besonders überzeugt!“, schreibt sie. Der Freiburger Sänger und Trompeter bekommt überschwängliches Lob: „Absolut bewundernswert“ sei das Werk. „Johannes Jäck braucht als Instrument nur seine Stimme. Herauskommt nicht nur tightes und technisch perfektes Beatboxing, sondern ein echter Popsong.“
Die 4500 Euro steckt er in Equipment fürs Studio Für Jäck bedeutete die Auszeichnung Ende 2020: Zusätzlich zu den 1500 Euro gab es 3000 Siegprämie obendrauf. Ob das Geld schon verprasst sei? „Teilweise ja“, sagt Jäck. Er habe sich ein Hallgerät fürs Homestudio gekauft und möchte zudem in Mikrofone investieren. Da wird schnell klar, wohin die Reise gehen soll: tiefer rein ins Musiker- und Produzentenuniversum. Schon jetzt ist der Mann breit aufgestellt. Noch in Schulzeiten gründete er mit zwei Kollegen seine A -cappellaGruppe Anders. An der Musikhochschule Freiburg hat er Trompete und Gesang studiert. Seit dem Sommer macht er in Basel einen Master in Musikproduktion. Außerdem singt er im Jazzchor, produziert auch für andere Acts, arrangiert Songs und wandelt neuerdings auf Beatbox-Solopfaden. Dass er dort gleich einen Preis abgestaubt hat, macht den Bandkollegen keine Sorgen: „Anders ist von keinem von uns das einzige musikalische Projekt“, erklärt Johannes Berning. „Wenn wir uns da bei jedem Mitsänger Sorgen machen müssten, hätten wir keine ruhigen Nächte mehr.“ Zumal das gekaufte Equipment fürs Studio eh auch der ganzen Band zugutekomme. „Anders ist mein Herzensprojekt“, betont Jäck. Mit der Gruppe hat er seit 2019 mehrere Preise gewonnen. 35 Konzerte spielte die Formation 2019. Dann kam die Krise. Ihr Ziel ist, auf 50 Konzerte im Jahr zu kommen. Das reiche, um zur Hälfte davon zu leben, sagt Jäck. Die Band ist in der Krise am Ball geblieben. Im November haben sie ein Video zu ihrem Hozier-Cover „Movement“ herausgebracht. Fein arrangiert, sauber gesungen, sphärisch inszeniert. Den Clip haben sie in Eigenregie in Köln gedreht, berichtet Jäck. Nur ein paar hundert Euro habe das Ganze gekostet. Auch da zeigt sich der DIY-Ansatz. „Musikvideos sind sonst scheißteuer“, sagt Jäck. „Wenn man es gescheit machen will, kosten sie gerne mal 2000 bis 5000 Euro.“
Schon vor der Krise hat sich die Band für mehrere tausend Euro eine Kamera geholt. Mit der hat Jäck auch „By Night“ gefilmt. Autark arbeiten zu können, zahlt sich aus. In Pandemie-Zeiten erst recht. Den Anspruch, „anders“ als andere Bands zu sein, haben die Musiker nicht. Ihr Name steht für Vielfalt, erklärt Berning. „Er spielt mit den unterschiedlichen Charakteren der Band. Jeder ist auf seine Weise anders.“ Dabei war es doch ungewöhnlich, als sie in der achten Klasse angefangen haben. „Zugegeben, es war für pubertierende Jungs in unserem Alter eher abwegig, auf der Bühne zu stehen, zu singen und dazu auch noch zu tanzen“, erzählt Berning. Zu ernst wollen sie sich auch heute nicht nehmen. Dennoch haben sie ernstzunehmende Ambitionen. Erst recht mit einem Beatboxer, der mehr kann als nur begleiten. Auch Freiburgs Beatbox-Aushängeschild Julian Knörzer von Unduzo gibt sich beeindruckt: „Es ist fast ein bisschen unheimlich, was Johannes alles kann und macht.“ Knörzer ist sicher: „Man wird noch viel von ihm hören.“ Da dürfte er recht haben. Aktuell arbeitet Jäck an einem Song mit dem „German Beatbox Champion“ Madox.
Foto: © Felix Groteloh
Eingespielt: Anders aus Freiburg verkaufen keine Waschmaschinen, sondern machen A-cappella-Pop. Sie haben mehrere Preise gewonnen. FEBRUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 53
MUSIK
Groove-Hörspiel
PASSENGER SONGS FOR THE DRUNK AND BROKEN HEARTED Indie/Folk/Pop
MANFRED GROOVE
HINTER DER TAPETE Deutschrap
Foto: © privat
3 FRAGEN AN Beatboxer Julian Knörzer Ein Beatbox-Hörspiel für junge Menschen. Das bietet Julian Knörzer, Beatboxer der Freiburger A-cappella-Gruppe Unduzo, mit „Die Geschichte der kleinen Bassdrum Kick“. Im Interview mit Till Neumann erzählt der 35-Jährige, warum er schon an die Fortsetzung denkt. Herr Knörzer, wie kam es zum Hörspiel? Auf Tournee hat mein Bandkollege Richard von seinem siebenjährigen Sohn erzählt und wie genervt er von schlechten Kinderhörbüchern ist. Für das Crowdfunding zum neuen Unduzo-Album haben wir dann „Dankeschöns“ gesucht. Da kam die Idee auf, selbst ein Hörspiel zu machen. Ich fand’s geil und habe mich dahintergeklemmt. Wie ist die Geschichte entstanden? Ich habe sie geschrieben und alles eingesprochen, eingesungen und eingebeatboxt. Dabei habe ich regelmäßig Rücksprache mit Richard und seinem Sohn gehalten und sie auch anderen Kindern gezeigt. Ich habe gemerkt: Die Story ist zu verschachtelt und sie vereinfacht. Hat die Geschichte der groovigen Beatbox-Familie etwas Autobiografisches? Nein. Aber ich habe schon immer Geräusche gemacht und meine Familie damit ziemlich genervt. Meine Freunde schreien schon nach einer Fortsetzung. Sie schicken Videos von ihren Kindern, die selbst dazu beatboxen. Das war auch eine der Ideen dazu. Jetzt habe ich Blut geleckt und überlege schon, ein Buch daraus zu machen und eine Fortsetzung zu schreiben. Ein Hörprobe gibt’s auf facebook.com/unduzo 54 CHILLI CULTUR.ZEIT FEBRUAR 2021
Dunkle Zeiten
Verschrobelte Stilbrüche
(herz). Sanft, simpel, säuselnd: Der „Let her go“-Interpret Passenger bleibt sich auch auf seinem 12. Studioalbum „Songs for the Drunk and Broken Hearted“ treu. Die Indie-Folk-PopPlatte trägt ihren schwerfälligen Namen dabei nicht ohne Grund: Die zehn Lieder stammen aus der Feder des von Liebeskummer geplagten Mike Rosenberg, wie Passenger mit bürgerlichem Namen heißt. So singt er etwa im neunten Stück „Nothing aches like a broken heart, lying awake in the lonely dark“. Treffend vermittelt das Bild des traurigen, trinkenden Clowns auf dem Cover die Message der Indie-Platte: Das Gefühl, die Abfahrt verpasst zu haben, vom Leben überfordert, von der Liebe enttäuscht zu sein. Der Ernüchterte säuft zu viel, ist freudlos. „I know it numbs the way you feel, blurs what is right and what is real, and (there’s) no love left you can steal“ heißt es etwa im Titeltrack „A Song for the Drunk and Broken Hearted“. Die Platte ist trotz der ruhigen Töne – oder gerade deshalb? – hörenswert. Corona, Winter, trübe Stimmung … da kann melancholische Musik hin und wieder Wunder wirken – nicht nur bei Herzschmerz-Patienten. Wer also mit dem neuen Passenger-Album versteckten und mitunter traurigen Gefühlen ein Ventil geben will, kommt klar auf seine Kosten.
(tln). Wer das neue Manfred-GrooveAlbum durchhört, braucht danach erst mal eine Pause. Zum Sackenlassen, Verarbeiten und Ausruhen. Eine geballte Ladung Reim-Weisheiten, wummernde Bässe und kreischende Synthies sind gerade durch die Boxen geflogen. Mit so viel Wucht, doppelbödiger Philosophie und Trash-Talk, dass das Gehörte sortiert werden will. Hinter der lautstark pumpenden Endlos-Philosophie-Kanone stecken zwei Künstler, die zwischen Freiburg und Berlin pendeln und mit „Hinter der Tapete“ ihr viertes Album vorlegen: Rapper Milf Anderson und Produzent YellowCookies. Das Duo „Manfred Groove“ liefert seit 2013 den etwas anderen Deutschrap. Ein Potpourri aus akademisch durchdacht, ironisch verschachtelt und voll auf die Zwölf. Beide verstehen ihr Handwerk – und die Palette ist breit: von Elektro brett über Latinobeat bis tiefgründiges Laidback. Nicht alle Tracks sind Kracher: So kommt „Die Andern“ überdreht daher und lässt auch textlich („bisschen deine Mum seine Scheidenwand“) hin und wieder stolpern. Dafür sind „Midtron 1 – In der continental“ mit dem US-Rapper Bottom Lip oder „Es geht uns gut“ mit Blumentopf-Rapper Roger äußert hörenswert. Wer sich an Stilbrüchen mit Ansage nicht stört, kann hier ordentlich mitbouncen.
LAMPS & WOLVES
NINOR
Indie-Folk
Hip-Hop / Instrumentals
NOT A PARTY AT ALL
MIND CITY MEDITATION
Vadder Abraham und die Slipeinlage Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Zum Tagträumen
Gekonntes Kopfkino
(lun). „Not a party at all“ – so heißt das fünfte Album des Freiburger Indie-Folk-Trios Lambs & Wolves. Der Name ist Programm, im positiven Sinn: Leicht melancholische Melodien sorgen stattdessen für einen friedlichen Sonntagnachmittags-Vibe. Die Platte wirkt dabei angenehm puristisch und überzeugt mit genretypisch klaren Gitarrenriffs und sanften Vocals, hier und da gewürzt mit Klavier, Drums und Mundharmonika. Geschrieben auf dem winterlich kalten Dachboden von Sänger und Pianist Julian Tröndle, strahlt das Album dennoch Wärme aus. Keiner der zehn Songs hat Ohrwurmcharakter, dafür ist die Platte auffallend kurzweilig und harmonisch. Ein Titel geht fast nahtlos in den nächsten über. „Wir wollten ein geduldiges, unprätentiöses Folk-Album schreiben, das sich nicht aufdrängt, sondern sich Schicht um Schicht enthüllt“, so Tröndle. Große Überraschungen enthüllt das Album zwar nicht, aber es ist bodenständig und authentisch. Es geht um Vergänglichkeit, Entfremdung und Beziehungen. Welche Botschaften sich genau hinter den Lyrics verbergen, wird dabei ganz bewusst der Fantasie der Zuhörenden überlassen. Wenn Corona es zulässt, sind Lambs & Wolves Anfang April auf Deutschlandtour und am 10. April im Swamp in Freiburg zu erleben.
(pt). Seit 15 Jahren macht Ninor alias Jorma Reuland Musik. Bisher überließ der Beats-Bauer das Rampenlicht aber anderen, etwa der Freiburger RapCombo Zweierpasch, für die er Instrumentals produzierte. Mit Mind City Meditation hat der umtriebige Reuland nun sein erstes Solo-Album aufgelegt. Darauf: 16 melancholisch-jazzige Hip-Hop-Instrumentals für ruhige Stunden. Bars und Gesang gibt’s nicht, dafür aber sauber abgemischte Klänge aus Drums, Gitarre, Saxophon und Klaviergeklimper. Die erprobte Formel geht auf. Mind City Meditation levitiert in den eingängigen Sphären von Ambient und Trip-Hop. Die Tracks sind unaufgeregt, reduziert, bisweilen kurzweilig – dabei aber nie langweilig. Der studierte Archäologe legt mit Takt und Tempo Klangwelten frei, schürft aber nie zu tief. Die Komfortzone Kopfkino wird nicht verlassen. Lernen, lesen, verweilen, verreisen: Mind City Meditation taugt zum Soundtrack für vielerlei Dinge. Tracks wie „Beyond“ und „Commuters Theme“ wabern auf hohem Niveau, der Rest der Scheibe liegt unaufgeregt darunter, schafft es aber auch, den Puls der Lauschenden um ein paar Schläge zu verlangsamen. Das Spiel mit dem Scheinwerferlicht ist geglückt, Ninors Debüt ist viel Licht und kaum Schatten.
Lassen Sie uns gemeinsam eine kleine Reise unternehmen, zurück in die Zeit, als noch die Hitparade mit Dieter Thomas Heck der schlimmste Schlagerdealer im Lande war und Vadder Abraham, ein vermutlich dauerbekiffter zottelbärtiger Holländer mit debilen Schlümpfen im Schlepptau, dort sein Unwesen trieb. So weit, so schlecht. Wiederum einige Jahre später, als etwas Gras (ha!) über die Sache gewachsen war und der Vadder sich vermeintlich zur Ruhe gesetzt hatte, holte er nochmals zu einem großen Schlag aus. Auf die Melodie von The rose, im Original eine rührselige Beerdingungshymne, ließ er folgende Zeilen auf die Menschheit los: Wenn die Slipeinlage nur gut sitzt, mußt Du nie mehr ängstlich sein, Wenn Deine Slipeinlage nur gut sitzt: Das gibt Sicherheit für groß und klein. Es geht dir gut, kannst Dich bewegen, Du fühlst immer Sauberkeit, Wenn die Slipeinlage nur gut sitzt, macht sie Dich unendlich frei. Mit viel Fantasie noch als Parodie durchgewinkt, bewegt er sich mit diesem Text und der Thematik aber letztlich auf schmuddeligstem Terrain, die B-Seite dieser Platte hieß übrigens: „Es lebe die Slipeinlage“. Fetisch? Marketing? Herrenwitz? Wir sind ratlos. Immerhin hat er die Schlümpfe da nicht mit reingezogen. Irritiert grüßt, Ralf Welteroth
LITERATUR
„Kulturhungrig, aber zoom-müde“ LITERATURHAUS STARTET IM HYBRID-FORMAT IN DIE FRÜHJAHRSSAISON
M
von Erika Weisser
Livestream aus dem Literaturhaus: Roman Ehrlich liest aus seinem Roman Malé und kommt darüber mit Frederik Skorzinski ins Gespräch. Für die Übertragung aus dem ansonsten leeren Saal in private Wohnzimmer sorgt die neue Literaturhaus-Mitarbeiterin Hanna Hovtvian (rechts). Foto: © Marc Doradzillo
artin Bruch lässt keinen Zweifel daran, dass das Literaturhaus Freiburg „ein leidenschaftlich analoger Ort“ ist. Und bleiben soll: Auch wenn derzeit noch nicht absehbar sei, wann wieder direkter Austausch, persönliche Begegnungen stattfinden können, setzt der Leiter dieser normalerweise gut besuchten und aus dem Kulturetat des Freiburger Rathauses geförderten Institution „mit vorsichtigem Optimismus“ auf die Möglichkeit eines Präsenz-Programms ab Mitte März. Doch nach der „bitteren Erfahrung“ des Literaturgesprächs 2020, das als Face-to-face-Festival konzipiert war und dann, zum ersten Mal in 34 Jahren, komplett abgesagt werden musste, gehen Bruch und seine neue Kollegin Hanna Hovtvian dieses Mal flexibel vor: Die Veranstaltungen werden nun sowohl digital als auch analog geplant. Das gilt auch für die Eröffnung mit Lutz Seiler, der schon 2020 eingeplant war. „Zur Not“, sagt Bruch, wird „halt gestreamt“, live, mit Gästen, aus dem Literaturhaus. Mit diesem hybriden Format seien in den vergangenen Wochen schon gute Erfahrungen gemacht worden: Als er und seine Kollegen feststellten, dass die Leute „zwar kulturhungrig, aber zoom-müde“ seien, hätten sie wieder Autoren zu Lesungen und Gesprächen eingeladen. Natürlich jeweils einzeln. Mit einem Moderator saßen sie auf der Bühne des publikumsfreien Saals und diskutierten, manchmal auch mit zugeschalteten Kollegen. Und diese literarischen Unterhaltungen wurden mit selbst produzierten Livestreams in die Wohnzimmer derer über-
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tragen, die sonst bei solchen Gelegenheiten ins Literaturhaus strömen. Mit Erfolg: Die Anzahl der verkauften Livestream-Tickets, erzählt Bruch, „entsprach in etwa der Anzahl der vorhandenen Stühle“. Das große Interesse und die vielen positiven Rückmeldungen stimmen das Team für die Zeit nach der Präsenz-Pause „leise zuversichtlich“. Und diese soll bald beginnen: Zwar geht Bruch davon aus, dass der nächste „Freiburger Andruck“ am 18. Februar zur Präsentation von Marie T. Martins neuem, von der FAZ als „womöglich epochaler Gedichtband“ eingestuftem Buch „Rückruf“ noch ohne Besucher stattfindet. Und auch das Gespräch der Freiburger Autoren Iris Wolff und Kai Weyand über „Das Leichte und das Schwere“ nicht nur in ihrer Literatur am 4. März werde noch hinter verschlossenen Türen stattfinden. Doch die Literaturhaus-Macher hoffen, dass es für die ab dem 9. März geplante Ausstellung über Schweizer Buchkunst schon anders aussehen könnte: Sie kann so organisiert werden, dass bei zeitlich und zahlen mäßig kontrolliertem Einlass gut Abstand gehalten werde kann, außerdem sei der Raum mit einer Luftaustauschanlage ausgestattet. Die von drei Schweizer Schriftstellern bestrittene Lesung „Dunkelkammern – Geschichten vom Entstehen und Verschwinden“ am 11. März sei in beiden Formaten machbar. Ebenso die Lesung mit Sharon Dodua Otoo: Sie stellt am 23. März ihren Roman „Adas Raum“ vor. Wenn es nach dem Literaturhaus-Team geht, gibt es bis dahin wieder „ein offenes Haus“.
FREZI
LANDSCHAFTEN, MENSCHEN UND 33 HÄUSER
BAD REGINA
von David Schalko Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2020 400 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro
von Jochen Ludwig Verlag: Rombach, 2020 216 Seiten, kartoniert Preis: 19,80 Euro
DER MATHELEHRER UND DER TOD
von Marc Hofmann Verlag: Knaur, 2021 270 Seiten, Taschenbuch Preis: 9,99 Euro
Groteskes aus den Alpen
Roadtrip durch Südbaden
Aus dem Leben gestürzt
(dob). Ruinen, Verfall und derangierte Menschen. Ganze 47 sind übrig geblieben in Bad Regina, jenem einst mondänen Kurort in den österreichischen Alpen. Othmar etwa, der AltPunk, dessen Lederjacke sich über dem veritablen Bierbauch nicht mehr schließen lässt und dessen Gedanken meist eine wilde Horde ohne Hirten sind. Vor allem dann, wenn er aus der Luziwuzi-Bar wankt, der einzig verbliebenen Spelunke des Dorfes. Der dubiose chinesische Geschäftsmann Chen kauft den Bewohnern nach und nach ihre Häuser für horrende Summen ab. Die Menschen verschwinden dann, ohne sich zu verabschieden. Doch was für ein Plan steckt dahinter? Die Antwort gibt der österreichische Erfolgsautor und Regisseur David Schalko („Schwere Knochen“) auf 400 launig geschriebenen Seiten. „Bad Regina“ ist sein fünfter Roman – eine Groteske über den alpinen Massentourismus, die europäische Migrationspolitik und die allgemeine Gefühlsverwahrlosung. Schalko bewegt sich dabei stilsicher, wenn auch viel krawalliger, in der Tradition eines Thomas Bernhard. Und dieser war bekanntlich der oberste literarische Nestbeschmutzer Österreichs. „Von Jahr zu Jahr leerte sich Bad Regina wie das Gebiss von Othmar“, schreibt er. Doch Othmar hat in seinen wenigen lichten Momenten einen Plan. Dass dieser nicht so richtig aufgeht, das liegt in der Natur der Sache.
(tas). Dass es in Freiburg und Umgebung eine Herausforderung sein kann, eine Bleibe zu finden, davon können viele Südbadener ein Lied singen. Auf der Suche nach einem Eigenheim – einem Haus mit Garten fürs Alter – haben Corinna und Jochen Ludwig 33 Häuser besichtigt. Das ist bei der aktuellen Wohnungsnot nichts Besonderes und sicherlich kein Stoff für ein ganzes Buch. Oder etwa doch? Jochen Ludwig, bis 2011 Direktor des Museums für Neue Kunst in Freiburg, war anderer Meinung und hat seine Erlebnisse bei der Haussuche niedergeschrieben. Herausgekommen ist ein erstaunlich kurzweiliges Roadmovie. Vom Kinzigtal bis ins Markgräflerland, vom Hotzenwald bis in die Ortenau führten ihn und seine Frau ihre Besichtigungen. Allein wegen der lebendigen Beschreibungen der Landschaften sind die kleinen Geschichten schon lesenswert: Die Fahrten führen in Orte, die auch manchem Einheimischen noch unbekannt sein dürften, wie Sehringen, Sulz, Tannenkirch, Muggardt oder Lütschenbach. Daneben erwarten den Leser viele unterhaltsame Begegnungen mit schrägen Maklern, herzlichen Verkäufern oder spannenden Zufallsbekanntschaften. Fans von Spannung und Action sind hier falsch – wer aber Lust auf eine literarische Reise durch die Regio hat, ist goldrichtig.
(ewei). Gregor Horvath, ein nicht nur äußerlich recht altmodischer Lehrer für Deutsch und Geschichte an einem Freiburger Gymnasium, befindet sich in der Frühphase seiner alljährlichen Herbstdepression: Die „Wiederholung des Immergleichen“ und der vergebliche Kampf gegen die genussvoll betriebene Sprachverhunzung durch die Schüler setzen ihm zu. Da tröstet ihn auch nicht mehr, dass er in einem historischen, von einem imposanten Turm überragten Schulgebäude arbeitet. Dass es ausgerechnet dieser Turm ist, der ihm die Depression „aus den Knochen schütteln“ wird, ahnt er nicht, als er eines Morgens in dem dort untergebrachten Fachschafts raum nach einer geeigneten Lektüre für die Krimi-Einheit seines Deutschabiturkurses sucht: Beim Blick aus dem offenstehenden Fenster entdeckt er eine Leiche, am Fuß des Turms liegt Mathelehrer Michael Menzel. Als die Polizei irgendwann nicht weiter ermittelt, ob der Kollege aus dem Leben stürzte oder gestürzt wurde, begibt sich Horvath selbst auf Spurensuche. Und fühlt sich bald „lebendig wie noch nie“. Neben der Krimihandlung zeichnet der Freiburger Lehrer Marc Hofmann ein zwar schräges, doch vermutlich authentisches Bild des Oberstufen-Schulalltags, in dem auch ehrgeizige Helikopter-Eltern eine Rolle spielen. FEBRUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 57