Zusammenfassung Junggesellenball
Abstract Dieses Buch besteht aus mehreren Artikeln, die Bourdieu während der Frühphase – hauptsächlich in den 1960er Jahren – verfasst hat. Der erste Teil ist „Ehelosigkeit in der bäuerlichen Gesellschaft“ betitelt und stellt den wichtigsten Abschnitt dar. 1962 in der Fachzeitschrift „Etudes Rurales“ erschienen, lässt er eine Vorahnung von Bourdieus später ausgearbeiteter Theorie symbolischer Güter erahnen. Ebenso (unterschwellig) präsent ist der Habitusbegriff. Der zweite Teil „Heiratsstrategien im System der Reproduktionsstrategien“ versucht eine Abgrenzung vom Strukturalismus, indem er mit dem Juridismus bricht und strenge, gleichsam mechanische Gesetzmässigkeiten des Sozialen verwirft. Der dritte Teil „Reproduktion verboten – Zur symbolischen Dimension ökonomischer Herrschaft“ versucht eine Theorie des symbolischen Tausches zu entwickeln und resümiert den ersten Artikel aus der Gegenwart, versucht also eine Bilanz.
1) Ehelosigkeit in der bäuerlichen Gesellschaft Zunächst gilt es die ungewöhnliche Schilderung des Weihnachtsballs auf den Seiten 7 und 8 zu erwähnen. Eindrücklich schildert Bourdieu eine Tanzveranstaltung, bei der sich die symbolische Ordnung und die später angesprochenen Heiratsprobleme der Bauern beispielhaft ausdrücken. Die Junggesellen stehen am Rande des Tanzball, bleiben mehrheitlich unter sich und trauen sich nicht, mit den Frauen zu tanzen. „Dann brechen sie langsam auf und kehren in kleinen Gruppen zu ihren abgelegenen Höfen zurück.“
Das System der Heiratsbeziehungen in früherer Zeit Das erste Kapitel „Das System der Heiratsbeziehungen in früherer Zeit“ schildert die traditionellen Regeln beim Heiraten im Béarn, der Region im Südwesten Frankreichs aus der auch Bourdieu stammt. Das Jahr 1914 stellt offenbar eine wichtige zeitliche Grenze dar, nach der sich die Regeln zunehmend lockern. „Es war die Familie, die heiratete und man vermählte sich mit der Familie.“ Für die ehelichen Verbindungen waren nicht so sehr die Gefühle ausschlaggebend, sondern die Weitergabe des Erbes und damit die Erhaltung des (Familien)Namens. Es bestehen relativ genaue Vorschriften, wie die Heirat arrangiert wird und wer wen ehelichen darf. Die Mitgift wird dabei von der Familie der Gattin gestellt und je nach Art der Ehe unterschiedlich bestimmt und vertraglich festgelegt (zur genauen Bestimmung siehe S. 24 f.). Sie erfüllt verschiedene Funktionen: einerseits bietet sie Sicherheit, andererseits Mitbestimmungsrecht für die Geberfamilie, schliesslich stärkt sie die sozialen Banden zwischen den Familien. „Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass der Älteste sich weder zu hoch verheiraten darf noch zu niedrig.“ Da der Familienälteste in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als Haupterbe (d. h. als Weiterführer des Hofes) vorgesehen war, erhielt er die grösste Mitgift. Die jüngeren Brüder bekamen z. B. den Hausrat. Noch stärker benachteiligt wurden die Töchter, denn das System ist männlich ausgerichtet: „In der Realität ist der Erbe nicht der Erstgeborene, Junge oder Mädchen, sondern der erstgeborene Sohn, auch wenn er an siebter Stelle
kommt.“ Üblich sind Überkreuzheiraten: Der Älteste ehelicht eine Jüngere, die Älteste ehelicht einen Jüngeren. Ausgesprochen selten und unter allen Umständen zu vermeiden sind Heiraten zweier Familienältester. Dadurch geht das Erbe und der Name verloren. Während die Familienältesten früher ohne Mühe eine Frau fanden, führten die gesellschaftlichen Veränderungen dazu, dass dies heute (beim Datum der Verfassung des Artikels) nicht mehr der Falls ist. Die Jüngeren hatten dagegen traditionell mehr Mühe bei der Partnersuche und –findung und wanderten deshalb häufig (nach Amerika) aus oder verdingten sich als Hilfsarbeiter, in der Stadt oder ausserhalb der Landwirtschaft. Das Erstgeburtsrecht wird vom Autor dagegen auch als Pflicht aufgefasst: „Das Erstgeburtsrecht ist weniger ein Besitzrecht als vielmehr das Recht, oder besser die Pflicht, als Eigentümer zu handeln.“ Im Zentrum steht dabei der Schutz des Erbes: „So wird die Logik der Eheschliessungen von dem grundlegenden Zweck, dem Schutz des Erbes, bestimmt.“ Es existieren zwei grundlegende Prinzipien, die es hervorzuheben gilt: Gegensatz zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten, Gegensatz zwischen dem Nach-oben-Heiraten und dem Nach-unten-Heiraten. Dabei gilt es grosse und kleine Häuser zu unterscheiden. Sie unterscheiden sich nach Besitz und Tradition. „Daraus ergibt sich, dass Heiraten eher zwischen vom ökonomischen Standpunkt aus gleichwertigen Familien stattfanden. Zweifellos machte ein grosses Besitztum noch keine grosse Familie.“ Die Wahl des Heiratspartner des Ältesten ist äusserst wichtig, denn dadurch wird die Mitgift für die Jüngeren bestimmt. „Als Gegenleistung lastet die Zahl der jüngeren Schwestern und vor allem jüngeren Brüdern schwer auf diese Wahl.“ Die Mutter und Herrin des Hauses (daune) hat einen entscheinden Einfluss auf diese Wahl. „Die ökonomischen Unterschiede verhängen faktische Unmöglichkeiten, die kulturellen Imperative Unvereinbarkeiten des Rechts... Trotz der Rigidität und Strenge, mit denen dieses System seine Logik besonders den jungen Männern aufzwingt, die den ökonomischen Notwendigkeiten und den Imperativen der Ehre unterworfen waren, funktionierte es niemals mechanisch.“ Alsdann geht Bourdieu auf die Unterscheidung von grossen und kleinen Häusern ein, was sie ausmacht etc. Im nächsten Abschnitt wird die Frage „Wer waren innerhalb einer solchen Logik1 die Junggesellen?“ Antwort: Vor allem die jüngeren Geschwister, hauptsächlich in kinderreichen und armen Familien. Ebenfalls – wie wir später sehen – eher Männer als Frauen. Mit der zeitlichen Veränderung und seit einigen Jahrzehnten kommen aber auch die Ältesten bisweilen hinzu. Was sind Gründe dafür, dass die Ältesten keine Frau abkriegen (eigentlich diejenigen, die es auf jeden Fall schaffen sollten). Hier stösst das Buch in den Kern vor, indem es verschiedene gesellschaftlich plausible Erklärungen bringt. Gründe: -
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Übertriebene Autorität der Eltern Aber die Ehelosigkeit von einigen ist tief in die Kohärenz des gesellschaftlichen Systems integriert und hat deshalb eine herausragende gesellschaftliche Funktion Scharfe Trennung zwischen den Geschlechtern (Wertesystem, Trennung, Distanz von Männern und Frauen) Geographische Aufteilung und Besitz Mitgift ist ins Wanken geraten (z. B. aufgrund Inflation nach dem 1. Weltkrieg) -> „Aus diesem Grund wurde die Abhängigkeit der ehelichen Tauschbeziehungen im Hinblick auf die Ökonomie schwächer, oder genauer gesagt, sie änderte ihre Form: Anstelle der Position in der gesellschaftlichen Hierarchie, die durch das Erbe an Grund und Boden festgelegt wurde,
Die Logik ist das, was zuvor ausgeführt wurde (d. h. bis Seite 41)
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ist es viel mehr der gesellschaftliche Status – und genauer: der Lebensstil – mit dem die Heirat verbunden zu sein scheint.“ Wertewandel aufgrund ökonomischer Grunde und Erziehung (mehr Frauenrechte etc.) Lockerung der sozialen Bindungen, Mobilität. „Weil sie zugleich selten sind und weil alles Lernen darauf gerichtet ist, die männliche und weibliche Gesellschaft zu trennen..., mangelt es den Geschlechterbeziehungen an Ungezwungenheit und Freiheit.“ Gilt für Frauen stärker als für Männer
Innere Widersprüche und Anomie „Heute wird die Ehelosigkeit als absurdes und sinnloses Schicksal erfahren.“ Der Prozentsatz der Junggesellen ist stark vom sozialen Status abhängig: Bei den Pächtern und Teilpächtern liegt er bei knapp einem Drittel, bei den Landarbeitern bei 82% und bei den Bediensteten bei 100%. Bei den Frauen stellt der Gegensatz von Dorf und Weiler kein Differenzierungskriterium dar. Hier wie da beträgt der Anteil der Unverheirateten über 21 13%. Im Gegensatz zu früher ist die Partnersuche mehr und mehr dem einzelnen überlassen. „Mehr denn je werden „Vermittler“ unentbehrlich. „Aber der wesentliche Punkt ist zweifellos der, dass diese Gesellschaft, die früher relativ geschlossen war, sich entschieden nach aussen geöffnet hat.“ Frauen wandern dabei häufiger aus den Dörfern aus als Männer, oft in die Städte. Trotz alldem bleibt das wesentliche Merkmal der Heiratsbeziehungen erhalten: das Nach-oben- und Nach-unten-Heiraten. „Und das deshalb, weil dieses Prinzip sehr eng mit den fundamentalen Werten der gesamten Kultur zusammenhängt.“ Ebenfalls verändert hat sich das Verhältnis im Bezug auf Erst- und Nachgeborene: Viel öfter als früher heiraten Nachgeborene untereinander. Diese Ehen sind fast immer mit einer Beschäftigung ausserhalb der Landwirtschaft verbunden. Zudem hat sich das Gebiet der Heiratsbeziehungen erweitert. Früher fanden neun von zehn Heiraten innerhalb von 15km statt, heute nur noch acht von zehn. Der Prozentsatz der Heiraten im Umkreis von mehr als 30km hat dagegen deutlich zugenommen. Gleichzeitig findet eine Segregation statt, denn Heiraten zwischen Dorf und Weiler sind sehr selten geworden. Frauen aus den Weilern verheiraten sich öfter mit Männern aus dem Dorf als Männer aus den Weilern mit Frauen aus dem Dorf. „Folglich hat ein junger Mann aus dem Weiler so gut wie keine Chance, eine Dorfbewohnerin zu heiraten, weil diese eine solche Heirat für unvorstellbar hält, sollte sie auch eine alter Jungfer bleiben.“ Innerhalb des Dorfes und der Weiler steigt die Heiratszahl, genauso wie gegen aussen (Anwachsen des Anteils der auswärtigen Heiratsbeziehungen). „Die geographischen Gebiete fallen nicht mit den sozialen Gebieten zusammen.“ „Daraus ergibt sich, dasss, während der Städter theoretisch eine Frau aus der Stadt, aus den Dörfern oder den Weilern heiraten kann, der Bauer aus den Weilern sich auf seinen Bereich muss.“
Der Gegensatz zwischen dem Dorf und den Weilern Dieses Kapitel geht auf die Differenz zwischen den Dörfern und Weilern ein. Zunächst beschreibt Bourdieu die Gegend, in der die empirische Untersuchung stattfindet. Das Dorf Lesquire befindet sich in einer Talsenke, die Weiler verteilen sich auf die Hügel rund um das Dorf. Sie liegen oft an steilen Abhängen und recht abgelegen. Es besteht eine Vielfalt von Anbaukulturen, aber ein grosser Teil des früher kultivierten Landes liegt heute brach. „Und so hat, auch wenn das Dorf allein auf Grund seiner Lage immer die Rolle eines Verwaltungs-, Handwerks- und Handelszentrums spielte, der Gegensatz, der heute das gesamte dörfliche Leben beherrscht, seine gegenwärtige Form nur allmählich und insbesondere seit 1918 angenommen.“ Im Dorf üben nur rund 10% landwirtschaftliche Tätigkeiten aus (trotz traditionell bäuerlicher Prägung der Gemeinschaft). In den Weilern dagegen beträgt dieser Anteil fast 90%. Eingegangen sind auch die Gasthöfe mit Kegelbahnen und entsprechenden Tanzveranstaltungen. „In der damaligen Gesellschaft wurde die räumliche Vereinzelung der Höfe aufgrund der starken sozialen Dichte, der Intensität des kollektiven gemeinsamen Lebens, nicht als solche empfunden. Heute spüren die bäuerlichen Familien konkret ihre Isolation, die gemeinsamen Arbeiten und Feste des Viertels sind verschwunden.“ Im Weiler sind die Familien grösser als im Dorf: Mehr Leute leben unter einem Dach. „Diese Auseinanderentwicklung zwischen Dorf und Weiler geschah in den letzten fünfzig Jahren.“ Das Dorf hat mehr und mehr die Demogaphie der Stadt angenommen (Anstieg der Alleinlebenden, v. a. bei Rentnern und Nicht-Erwerbstätigen). Die Grossfamilien in den Weilern sind v. a. für die Jungen eine Belastung. „So findet man im Dorf eine viel stärker durchmischte Bevölkerung, das auch aus diesem Grund eher zum Einfallstor für die Aussenwelt wird.“ $prache: Vor 1914 wurde das Béarnais im Dorf (ausser in der Schule) fast ausschliesslich verwendet. Nach dem ersten Weltkrieg breitet sich das Französisch mehr und mehr aus und 1939 ist es fast üblich, dass die Eltern mit den Kindern so sprechen – und manchmal auch untereinander. „Dagegen bleibt für den Bauern das Béarnais die Ausdrucksweise, die eng mit den Sorgen des täglichen Lebens verbunden ist.“
Der Bauer und sein Körper Hier wählt Bourdieu einen etnhographischen Zugang, indem er Tanzveranstaltungen beobachtet und untersucht, wie die Bauern dabei den Körper einsetzen. Am Anfang dieses Kapitels findet sich auch die Schilderung des Weihnachtsballs von ganz zu Beginn des Buchs. „Nun sollte man sich vergegenwärtigen, dass Körpertechniken regelrechte Systeme bilden, dass sie als Ganzes mit einem kulturellen Kontext verbunden sind [...] 66% der Junggesellen können nicht tanzen (gegenüber 20% der verheirateten Männer). Ein Drittel von ihnen geht dennoch zu Tanzveranstaltungen.“ Der Dialog bzw. das Kennenlernen von Männern und Frauen gestaltet sich schwierig, was wesentlich mit den kulturellen Normen zu tun hat, die den Ausdruck von Gefühlen bestimmen. „Selbst wenn er Vergnügen daran findet, die freizügigsten Gespräche zu führen oder ihnen zuzuhören, ist der Bauer von äusserster Verschwiegenheit, wenn es sich um sein eigenes Geschlechtsleben, vor allem aber sein eigenes Gefühlsleben handelt.“ Früher galt der Junggeselle in den Augen der Gesellschaft noch nicht als Erwachsener, weil diese deutlich zwischen Verantwortlichkeiten unterschieden, die den jungen Leuten überlassen wurden und den Verantwortlichkeiten der Erwachsenen.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Status eines Bauernhofs (in seiner zeitlichen Verlaufskurve) und dem Junggesellendasein seines Besitzers: Höfe im Besitz von Junggesellen sind deutlich häufiger im Niedergang begriffen als ihre Gegenüber mit verheiratetem Besitzer.
Schluss Im Schlussteil reflektiert Bourdieu die Stellung des Soziologen. Einerseits muss er die objektiven Gegebenheiten und Strukturen erfassen und verstehen, andererseits darf er aber auch die subjektive Sicht und die Gewissheiten, mit denen sie gelebt werden, nicht aussen vor lassen: „Deshalb muss er die Wahrheit der objektiven Gegebenheiten, die ihm seine Analyse offenbart, mit der subjektiven Gewissheit derer, die sie tatsächlich leben, in Einklang bringen.“ Hier sehen wir den frühen Versuch prägende Gegensätze der Soziologie – quantitativ vs. qualitativ, Mikro vs. Makro, verstehen vs. Erklären – zu überbrücken, der in den folgenden Jahrzehnten seiner akedemischen Tätigkeit so hearusragend und bestimmend sein wird.
2) Heiratsstrategien im System der Reproduktionsstrategien Dieser Teil versucht mit dem Strukturalismus und dem juridischen Paradigma zu brechen, bleibt dabei aber auf theoretisch-reflexiver Ebene, bringt also keine empirischen Ergebnisse vor. Entscheidend ist der Übergang von der „Regel“, wie sie in der ethnologischen Tradition (RadcliffeBrown, Lévi-Strauss) dominant war/ist, zur „Strategie“. Der Schluss von Regelmässigkeiten auf Regeln ist nicht direkt möglich. „In Wirklichkeit ist das durch die materiellen Existenzbedingungen und die familiäre Erziehung (d. h. den Habitus) vermittelte System von Dispositionen, welches das generative und vereinhetilichende Prinzip der Praktiken bildet, Produkt der Strukturen, die diese Praktiken zu reproduzieren bestrebt sind, in der Weise, dass die Ausführenden sie nur reproduzieren können, sie unbewusst neu erfinden oder bewusst nachahmen, weil es schlicht selbstverständlich ist, angemessener oder einfach bequemer, bewährte Strategien, die, weil sie Praktiken aller Zeiten (oder, wie die Alten sagten, des ‚verlorenen Gedächtnisses‘) bestimmt haben, in der Natur der Dinge eingeschrieben scheinen.“ Die Strategien oder einzelnen Elemente der Strategien sind nicht unbedingt miteinander vereinbar. Der Habitus tritt als Erklärungsfaktor hinzu, der diese Widersprüchlichkeiten koordiniert, bzw. unsichtbar macht. Ethnologen, die z. B. die uneingeschränkte Gültigkeit des Erstgeburtsrechts im Béarn propagieren, übersehen dabei die Rolle der Maskulinität, d. h. dass der erste Sohn das Erbe bekommt – auch wenn er 3 ältere Schwestern hat. „Wenn man zugesteht, dass die Heirat eines jeden Kindes für eine Familie das Äquivalent zum Ausspielen einer Karte bei einem Kartenspiel darstellt, sieht man, dass der Wert dieser Karte von der Qualität des Spiels in einem doppelten Sinn abhängt, das heisst vom Geben aus der Gesamtheit der erhaltenen Karten, deren Wert durch die Spielregeln bestimmt wird, und die mehr oder weniger geschickte Art und Weise, diese Karten zu handhaben.“
Das System der Heiratsregelungen führt zu relativ strikter Homogamie: Man kann sich weder allzu hoch noch allzu tief verheiraten. Ersteres führt zur Möglichkeit, die Mitgift nicht zurückzahlen zu können und zu Abhängigkeit von den Schwiegereltern, letzteres zum Verlust von Ehre und Ansehen. Wie Bourdieu schreibt, sollte dieses Kapitel den ersten Teil des ersten Kapitels („Das System der Heiratsbeziehungen in früherer Zeit“) ersetzen, da hier die Theorie besser ausgearbeitet ist, insbesondere mit dem Begriff der Strategie.
3) Reproduktion verboten – Zur symbolischen Dimension ökonomischer Herschaft Dieser Artikel betrachtet den ersten Artikel aus der Post-hoc Perspektive. Mit 30 Jahren Abstand geht Bourdieu auf den ersten Artikel des Bandes über die „Ehelosigkeit in der bäuerlichen Gesellschaft“ von 1962 ein. Zunächst bringt er „Addenda und Corrigenda“ an, erläutert also, was er im Nachhinein anders gemacht hätte.
Addenda und corrigenda Statt des ersten Kapitels, des damaligen Artikels, der die Heiratsbeziehungen beschreibt und die Methoden und Strategien, die dabei zur Anwendung kommen, sollte der zweite Artikel („Heiratsstrategien im System der Reproduktionsstrategien“) an dessen Stelle treten. Darin ist der Begriff der Strategie ausgearbeitet, der dem ursprünglichen Beitrag fehlte. Anhand der Entwicklung dieses Begriffs lässt sich der Bruch mit dem strukturalistischen Paradigma gut nachvollziehen. Die bäuerlichen Gemeinschaften in den ländlichen Regionen Europas bieten eine hervorragende Gelegenheit für diese Aufgabe: „Die lange von der grossen ethnologischen Tradition übergangenen bäuerlichen Gemeinschaften im europäischen Raum waren nahe genug, um nach Überwindun anfänglicher sozialer Distanz ein Verhältnis theoretischer Nähe zur Praxis zu ermöglichen, das sich sowohl der populistischen Mystik einer blinden Teilhabe an der gelebten Erfahrung der Akteure widersetzt, wie auch der distanzierten Objektivierung, die eine ganze anthropologische Tradition aus der Not als methodologische Tugend ausgibt.“
Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum Der Titel bezieht sich auf einen Buchtitel von Alexandre Koyré. Damit sollen die Prozesse angedeutet werden, die die ökonomische und v. a. symbolische Öffnung der bäuerlichen Welt erlaubten und die alte Autonomie „zerstörten“ – diese Autonomie bezeichnet Bourdieu als geschlossene Welt. Sie ist durch Widerstand, kulturellen Partikularismus, eine lokale Basis und damit einhergehend durch Lokalpatriotismus geprägt. Es ist auch von einer „Privilegierung genügsamer Selbstversorgung“ die Rede. „Diese Vereinheitlichung des Marktes ökonomischer und symbolischer Güter hat als erst(es?)
zur Folge, dass die Voraussetzungen für die Existenz bäuerlicher Werte verschwinden, die sich gegenüber den herrschenden Werten, zumindest subjektiv, als antagonistisch verstehen und nicht nur als anders.“ Die landwirtschaftliche Produktion ist immer stärker von einem Markt industrieller Güter abhängig, funktioniert also nach den Prinzipien der freien Marktwirtschaft (Stichwort Nahrungsmittelindustrie). Die Zufälligkeiten der Preisentwicklung nehmen damit mehr und mehr den früheren Stellenwert des Wetters ein. Die Bauern sind zu „Quasi-Angestellten“ geworden. Ihre konservativen, manchmal auch rebellischen Ansichten sind auf diese Ambiguität der Lage zurückzuführen. Komplett verstehen kann man diese Transformationen aber nur, wenn man auch den Markt der symbolischen Güter berücksichtigt. Hier spricht Bourdieu den „Niedergang der ethischen Autonomie der Bauern“ an. Erst wenn sich die Bauern zu vergleichen beginnen (in Bezug auf den bäurischen Lebensentwurf), sowohl untereinander als auch gegen aussen, kommt die Entscheidung für die Alternative und die Ablehnung des Lebensentwurfes zum Tragen. „Wir haben es hier mit der kollektiven Konversion einer Weltsicht zu tun, die dem objektiv sich immer mehr vereinheitlichenden sozialen Feld eine symbolische Macht zuführt, welche auf der einmütig geteilten Anerkennung der herrschenden Werte beruht.“ Nach wie vor ist es die alte Ordnung, die bestimmt in welcher Reihenfolge sich die Leute von der alten Welt abwenden (zuerst Frauen, Jüngste, Ärmere...). Bourdieu spricht im Zusammenhang mit der symbolischen Dimension von einer „kollektiven Konversion“.
Die Vereinheitlichung des Heiratsmarkts Aufgrund der Relevanz und besonderen Stellung des Heiratsmarkts im Leben der Bauern erleben diese die Transformationen besonders eindringlich. „Sie müssen feststellen, dass der soziale Preis, mit dem sie ausgezeichnet werden, ins Bodenlose fällt.“ Dann kommt Bourdieu auf den eingangs beschriebenen Ball zu sprechen. „Tatsächlich ist der damals beschriebene Ball die sichtbare Form einer neuen Logik des Heiratsmarktes.“ Anstelle der lokalen Tauschbeziehungen treten eigengesetzliche Mechanismen des unendlichen Universums (der Welt ausserhalb der Region). Hier wird diese Transformation von einem lokalen Markt zur Marktwirtschaft sichtbar. „Die Herrschaft der Gruppe über die Tauschbeziehungen zeigte sich sehr deutlich an der Begrenzung der Grösse des Heiratsmarktes, gemessen in geographischen, besonders aber in sozialen Distanzen... Die Homogenität der materiellen Existenzbedingungen und folglich der Habitus ist in der Tat der beste Garant für den Fortbestand der Grundwerte der Gruppe.“ Allerdings öffnete sich diese geschlossene Welt zusehends. Wenn Städter auf den Heiratsbällen auftauchen, sind die Bauern einer ungleichen Konkurrenz ausgesetzt, denn sie sind – im Gegensatz zu den Städtern - auf ihr Gebiet beschränkt. Bourdieu spricht anschliessend über Hystereseeffekte (229). Auf einmal ist der Habitus nicht mehr perfekt angepasst und es kommt zu „Fehlverhalten“. Die Bauernfamilien sind innerlich zerrissen, denn sie wollen für ihre Töchter andere Partien (eher Städter) als für ihre Söhne (eher Bauerntöchter). „Es ist, als würde sich die symbolisch beherrschte Gruppe gegen sich selbst verschwören.“ Auch die Einstellung der Bauern gegenüber dem Bildungssystem hat sich gewandelt. Der alte Widerstand verflüchtigt sich mehr und mehr. „Auf diese Weise erfüllt die Schule ihre Funktion als Instrument symbolischer Herrschaft und trägt zur Eroberung eines neuen Marktes für die symbolischen Produkte der Stadt bei.“ Vergleichsbasis für die Bauren sind die niedrigen Beamten und Arbeiter. „Der Vergleich ist nun nicht mehr abstrakt und imaginär, wie das früher der Fall war.“ Schliesslich tragen auch die Massenmedien zu den benannten Transformationen bei.
Der gesunde Menschenverstand Zuletzt sagt Bourdieu, „dass die Verzweiflung und Empörung der unmittelbar Betroffenen oft auf Probleme hinweist, die von der Forschung gerne übersehen oder gemieden werden.“ Genau das gilt für die Ehelosigkeit der Erben. Der Autor betont die Rolle der symbolischen Dimension, deren Berücksichtigung für ein Verständnis von Herrschaftsphänomenen unabdingbar ist.