Zusammenfassung sozialer Sinn

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Zusammenfassung Sozialer Sinn

Abstract

In einem dialektischen Verfahren wird die eigene Position herausgearbeitet. Dabei spielt besonders die Konzeption des Habitus eine herausragende Rolle. Im ersten Kapitel grenzt sich Bourdieu gegenüber dem Strukturalismus und Levi-Strauss ab, im zweiten gegenüber Sartre und dem Subjektivismus. Dabei lässt sich dieses antithetische Vorgehen auch als Kritik an den von Bourdieu ja selbst praktizierten Strömungen der Philosophie und Ethnologie lesen. Besonders die Kritik an Sartre ist heftig und sehr pointiert. In einem dritten Kapitel stellt Bourdieu diesen beiden Theorien seinen eigenen Ansatz gegenüber, der sich gerade jeglichen Subjektivismus’ und Objektivismus’ enthalten will und eine Verbindung zwischen Struktur und Praxis erreichen möchte. Dabei erläutert er den Habitus als Wahrnehmungs-, Denk- und Deutungsschemata. Wichtig ist ferner das fünfte Kapitel zur Logik der Praxis und das siebte Kapitel zum symbolischen Kapital (erläutert am Gabentausch in der Kabylei).

Aufteilung des Buches Das Buch ist zwei Teile mit neun und drei Kapiteln gegliedert und etwas mehr als 450 Seiten lang. Hinzu kommen ein relativ ausführliches Vorwort und der Anhang. Der erste theoretisch gehaltene Teil erläutert wichtige Kernbegriffe des Bourdieu’schen Denkapparats: zuerst einmal der Habitus, dann die Praxis, das symbolische Kapitel, Objektivismus und Subjektivismus. Er ist folgendermassen aufgeteilt: 1) Die Objektivierung objektivieren 2) Die imaginäre Anthropologie des Subjektivismus 3) Strukturen, Habitusformen, Praktiken (Absetzung von 1) und 2) und Vorbringung des Habituskonzepts) 4) Glaube und Leib 5) Die Logik der Praxis 6) Die Wirkung der Zeit 7) Das symbolische Kapital 8) Die Herrschaftsweisen 9) Die Objektivität des Subjektiven


Der zweite empirisch gehaltene Teil behandelt die Heiratsstrategien im ländlichen Béarn und die traditionelle kabylische Gesellschaft in Algerien. Er ist also eher ethnologisch gehalten und der Frühphase von Bourdieus Werk zu entnehmen. Folgendermassen heissen die Kapitel:

1) Boden und Heiratsstrategien 2) Sozialer Nutzen und Verwandschaft 3) Der Dämon der Analogie

Die Objektivierung objektivieren Hier geht es v. a. um den Strukturalismus und Lévi-Strauss. Das strukturalistische Paradigma wird ausgehend von de Saussure kritisiert. Was sowohl den Objektivismus als auch den Subjektivismus auszeichnet, ist ihre Gegensätzlichkeit zur praktischen Erkenntnisweise, „der Grundlage der normalen Erfahrung der Sozialwelt“. Die phänomenologische Sichtweise blendet die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der subjektiven Erfahrung aus bzw. kann sie nicht beantworten. Die einverleibte Struktur sozialer Wirklichkeit, welche für das praktische Erfahren so zentral ist, wird von der Phänomenologie nicht behandelt. In der Figur der Epoché wird das offensichtlich. Der Objektivismus dagegen verwirft die vorwissenschaftlich-praktische Welt, indem er sie als „Rationalisierungen“, „vorwissenschaftliche Begriffe“ oder „Ideologien“ abtut. Damit vergisst er den Spielsinn, der der Praktik immanent ist (siehe Kapitel 5: Die Logik der Praxis). Wie in „Homo Academicus“ finden wir auch in „Sozialer Sinn“ eine gründliche Reflexion der eigenen Position und eine Betonung der Wichtigkeit der Standpunkthaftigkeit der Aussagen. „Fern jeder Rehabilitierungsabsicht, wie sie die meisten Diskurse über die Praxis irregeleitet hat, zielt diese kritische Reflexion lediglich darauf ab, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis implizit angewandte Theorie der Praxis ans Licht zu ziehen und auf diese Weise eine wahrhaft wissenschaftliche Erkenntnis der Praxis und der praktischen Erkenntnis möglich zu machen.“ Gefährlich wird es, wenn die Wissenschaftler (was sie häufig tun) ihr Wissen dem Alltagsverstand überlegen halten. Es gibt in diesem Sinne keinen überlegenen, perspektivlosen wissenschaftlichen Standpunkt. Das eigentliche Kapitel geht mit dem Bezug zu de Saussure los. In der Unterscheidung zwischen langue und parole legt de Saussure seinen Interessensschwerpunkt klar auf das System der Sprache, also auf die langue. Die parole stelle lediglich eine Realisierung der objektiven Struktur der langue dar. Der Grammatiker trachtet, „die Sprache stillschweigend als selbständiges und selbstgenügsames Objekt zu behandeln, d. h. als Zweckmässigkeit ohne Zweck, jedenfalls ohne anderen Zweck, als den wie ein Kunstwerk interpretiert zu werden.“ Exemplifiziert wird dies durch die Schulsituation. Damit einher geht ein Intellektualismus, der Sprache mehr in geschriebener als in gesprochener Form, mehr vom Standpunkt des Hörers als vom Sprecher aus betrachtet.


Nach der Saussure’schen Sprachwissenschaft wechselt Bourdieu zur Ethnologie und Lévi-Strauss über. Am Beispiel der Stammbäume verdeutlicht er, dass das strikte System des Juridismus mit seinen starren Regeln der sozialen Praxis nicht gerecht werden kann. Auch in der Kunstegeschichte findet sich dieses übersteigerte Verständnis mit der übertriebenen Hinwendung zum Werk (opus operatum) statt zur Produktions- und Wirkungsweise (Modus operandi). „Damit klammert er unwissentlich den unterschiedlichen Gebrauch aus, den man in der Praxis von soziologisch identischen Verwandschaftsbeziehungen machen kann.“ Ganz schön bringt ein Zitat Wittgensteins die Kritik Bourdieus am Strukturalismus auf den Punkt (S. 74): „Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der er spielt? Er weiss sie selbst nicht – oder richtiger: Was soll der Ausdruck ‚Regel, nach welcher er vorgeht‘, hier noch besagen?“

Die imaginäre Anthropologie des Subjektivismus Der zentrale Vorwurf an Sartre und den Existentialismus – Bourdieu spricht allgemeiner von Subjektivismus – besteht darin, dass er aus „jeder Handlung eine Art vorgeschichtslose Konfrontation zwischen Subjekt und Welt“ macht. Weitere Angaben zu diesem – ingesamt eher bedeutungslosen – Kapitel finden sich in meinen Notizen.

Strukturen, Habitusformen, Praktiken Dieses Kapitel ist wirklich zentral für das Verständnis des Habituskonzepts. Es bringt die Kritik am Subjektivismus und am Objektivismus zusammen und stellt den beiden Richtungen die Vorstellungen des Habitus als strukturierter und gleichzeitig strukturierender Struktur gegenüber. Um die Sozialwelt erklären zu können, muss man begreifen, „dass die Praxis der Ort der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen ist“. Die Kritik am Objektivismus lautet, dass er die Sozialwelt wie ein Schauspiel konstruiert und „so tut, als sei die Sozialwelt nur zum Zwecke der Erkenntnis bestimmt“. Praktiken sind nach dieser Vorstellung die Einlösung von Skripten, von Plänen oder Partituren. Bourdieus Praxistheorie findet einen Mittelweg zwischen „positivistischem Materialismus“ und „intellektuellem Idealismus“, indem sie einerseits die Konstruiertheit (und nicht bloss passive Registrierung) der Objekterkenntnis herausstreicht, andererseits aber auch deren Strukturiertheit in Form von strukturierenden Dispositionen (-> Habituskonzept). Erzeugt wird der Habitus über die Erziehung und die Existenzbedingungen, die diese bedingen. Im Gegensatz zur Wissenschaft gewichtet der Habitus (in Form praktischer Hypothesen beruhend auf Vorerfahrung) die Ersterfahrungen viel zu hoch. Durch


Inkorporierung sind frühere Erfahrungen dauerhaft präsent und äussern sich in Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. „Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner Hervorbringung liegen.“ Der Habitus schliesst ohne Gewalt alle Dummheiten aus, die gemassregelt werden müssen, weil sie mit den objektiven Bedingungen unvereinbar sind („Das tut man nicht“). Die einverleibte – und damit vergessene – Geschichte, wie sie im Habitus zum Ausdruck kommt, kann auf zwei Arten objektiviert werden: durch Institutionalisierung und durch Einverleibung/Inkorporierung. Aufgrund der Homogenisierung der Habitusformen können die Praktiken ohne direkte Bezugnahme aufeinander abgestimmt und angepasst werden. -> „Konzertierung ohne Dirigent“

Glaube und Leib In diesem Kapitel geht es zunächst einmal um den Spielsinn als Metapher für den praktischen Sinn. Damit werden Habitus und Feld verknüpft. Ein wichtiges Element bei diesem Vorgang ist der Glaube (deshalb auch der Titel des Kapitels). Der praktische Glaube – an das Spiel und dessen Sinn im jeweiligen Feld – fungiert als Eintrittsgeld, das alle Felder stillschweigend fordern. Indem man dieses Eintrittsgeld akzeptiert, „investiert man gleichzeitig in das kollektive Unternehmen der Bildung symbolischen Kapitals“. Das Eintreten in die verschiedenen Spielfelder ist ein langwieriger Prozess und kann nicht spontan im Sinne einer bewussten Willensentscheidung geschehen. Vielmehr wird man hineingeboren oder durch einen „langwierigen Prozess von Kooptation und Initiation, der einer zweiten Geburt gleichkommt“ integriert. => „Da muss man hineingeboren sein.“ Der Glaube ist kein Gemütszustand oder Geisteszustand, sondern eine verkörperlichter Zustand, ein „Zustand des Leibes“. Im weiteren Verlauf wird der praktische Sinn erläutert. Er sorgt dafür, dass Praktiken „sinnvoll“, d. h. mit Alltagsverstand ausgestattet sind. In Massenzeremonien werden die Körper konzertiert, die Gedanken geordnet und Gefühle suggeriert. Die symbolische Wirkung, die dadurch erzielt wird, fusst auf Macht und kollektive Anerkennung. Einfache körperliche Schemata (Haltung, Besteck beim Essen...) drücken oft verborgene Imperative aus und stehen für die erwähnte Inkorporierung der Existenzbedingungen. „Die körperliche Hexis ist die realisierte, einverleibte, zur dauerhaften Disposition, zur stabilen Art und Weise der Körperhaltung, des Redens, Gehens und damit des Fühlens und Denkens gewordene politische Mythologie.“ Solche Beschreibungen können sich z. B. an der Geschlechtkategorie festmachen (-> „herrlich“ vs. „dämlich“). Am Beispiel der Kabylei werden solche körperlichen „Vergesellschaftungen“ deutlich. Der Mann von Ehre schreitet aufrecht, sicher, er weiss wohin er geht etc. „Kurzum die eigentlich weibliche Tugend [...] richtet den ganzen Frauenleib nach unten zur Erde, nach innen auf das Haus aus, während die Vorbildlichkeit des männlichen nif in der Bewegung nach oben, nach aussen, hin zu den anderen Männern zur Geltung kommt.“ Bourdieu erläutert weitere Dichotomien, die die männlich – weiblich Unterscheidung in der kabylischen Gesellschaft betreffen. An der Olivenernte wird das exemplarisch veranschaulicht. In der


Musik werden Transformationen im Verhältnis zum Körper deutlich. Mit dem Übergang von der rein mündlichen Überlieferung zur schriftlichen Tradierung verlierern körperliche Praktiken an Bedeutung. Die Übertragung körperlicher Praktiken („Praxis auf Praxis“) geschieht nicht etwa mechanisch durch Versuch und Irrtum, sondern zumindest teilweise strukturiert. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer „Dialektik von Objektivierung und Einverleibung“. So genannte „Strukturübungen“ sorgen in der Mitte zwischen „Lernen durch schlichte Gewöhnung“ und „expliziter und ausdrücklicher Übertragung“ für die Weitergabe der Praktiken. Ein Begriff, den Bourdieu auf Seite 142 bringt, ist die „Objektwelt“: „Die Objektwelt, dieses Buch, in welchem jedes Ding metaphorische Aussagen über alle anderen macht und in dem die Kinder die Welt lesen lernen, wird mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegungen und Ortsveränderungen gelesen, die den Objektraum sowohl gestalten als auch von ihm gestaltet werden [...] Der Habitus ist eine Metapher der Objektwelt, die selber nur ein unendlicher Kreis aufeinander reagierenden Metaphern ist.“ Im letzten Teil behandelt Bourdieu erneut den männlich – weiblich Gegensatz, diesmal mehr aus sozialisationstheoretischer Perspektive. „Man kann sich vorstellen welches Gewicht der Gegensatz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit für den Aufbau des Selbstbilds und des Weltbilds hat, wenn dieser Gegensatz zur Grundlage der tiefen Teilung der Sozial- und Symbolwelt wird.“

Die Logik der Praxis Dieses Kapitel ist sehr wichtig für Bourdieus ganze Theoriearchitektur. Darin wird der Begriff der Praxis ausgearbeitet und mit der Logik (der Logik, d. h. der Wissenschaft und Systematik) kontrastiert. Am Anfang stellt Bourdieu die Position des Wissenschaftlers in den Raum (-> Homo Academicus und Soziologische Fragen). „Die Inhaber des Monopols auf den Diskurs über die Sozialwelt denken jeweils anders, je nachdem, ob sie sich selbst oder andere (d. h. andere Klassen) denken.“ Besonders in der Ökonomie wird dies deutlich. Immanent ist der Praxis ein Spielsinn und ein Aufgehen im Spiel, der dem rationalen Kalkül widerspricht. „Es genügt, sich solcherart der eigenen Spiele, der eigenen Praxis des gesellschaftlichen Spiels zu entsinnen, um zu entdecken, dass der Spielsinn zugleich die Realisierung der Spieltheorie und ihre Negation als Theorie bedeuetet.“ Ein besonderer Widerspruch besteht zwischen der Zeit der Praxis und derjenigen der Wissenschaft. Letztere ist stark entzeitlicht und möchte deshalb ihrerseits die Praxis entzeitlichen. Dagegen ist die Praxis von konkreten Dringlichkeiten, von Asymmetrien und Alinearitäten geprägt. „Der Sinn für das Spiel ist der Sinn für die Zukunft des Spiels, der Sinn für den Sinn der Geschichte des Spiels, die dem Spiel seinen Sinn verleiht.“ Schnell passiert es, dass der Analytiker „den Standpunkt des Schauspielers mit dem des Zuschauers verwechselt.“ Auch in der Schriftstellerei sind solche Tendenzen gegenwärtig, wenn völlig von der Arbeit gepackten Menschen der Standpunkt eines im Sessel Sitzenden zugeschrieben wird (-> Ramuz). Schon in der Befragungssituation wird das „Privileg, totalisieren zu dürfen“ bewirkt (siehe dazu auch die „Feinen Unterschiede“, wo Bourdieu erwähnt, dass Angehörige der herrschenden


Klasse besser mit dieser quasi-theoretischen Befragungssituation umgehen können als diejenigen des Kleinbürgertums oder der unteren Klasse). Klassische Beispiele für den Unterschied zwischen der Logik der Praxis und der analytischen Logik der Wissenschaft sind der Kalender und der Stammbaum. Der Kalender „setzt eine lineare, homogene und kontinuierliche Zeit an die Stelle der diskreten praktischen Zeit, die aus Inselchen von inkommensurabler Dauer besteht, die einen bestimmten Rhythmus haben, nämlich den Rhythmus der Zeit, die, je nachdem, was man aus ihr macht, d. h. je nach den Funktionen, die sie von der in ihr vollzogenen Handlung übertragen bekommt, rasend schnell oder schleppend vergeht.“ Solch eine Analyse der Zeit lässt sich auch auf die Sozialdimension übertragen. Viele Terminologien zur Bezeichnung sozialer Einheiten bleiben in ihrer Makellosigkeit Artefakte, weil sie Ungewissheiten und Zweideutigkeiten nicht genügend beachten. „Man muss der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat.“ Symbolsysteme erhalten ihre praktische Schlüssigkeit (beruhend auf Einheitlichkeit und Gesetzmässigkeit einerseits, Verschwommenheit und Unregelmässigkeit andererseits) durch die Tatsache, dass sie Produkte der Praxis sind. Die Ökonomie der Logik sorgt dafür, dass nicht mehr Logik aufgewendet wird als für die Praxis erforderlich ist. „Je nachdem, um was es geht, also nach dem Prinzip der stillschweigenden und praktischen Relevanz, „wählt“ der praktische Sinn bestimmte Objekte oder Handlungen und folglich bestimmte ihrer Aspekte aus, indem er diejenigen betont, die ihn etwas angehen oder bestimmen, was er in der jeweiligen Situation zu leisten hat, oder indem er verschiedene Situationen oder Objekte als äquivalent behandelt, und unterscheidet so zwischen relevanten Eigenschaften und irrelevanten.“ Die wissenschaftliche Konstruktion der Praxis führt oft zur (analytischen) Veränderung ihres Charakters. „Alles weist darauf hin, dass der Handelnde, sobald er über seine Praxis nachdenkt und sich damit sozusagen theoretisch in Positur wirft, keine Chance mehr hat, die Wahrheit seiner Praxis und vor allem die Wahrheit des praktischen Verhältnisses zur Praxis zu formulieren.“ Die Praxis lässt die Fragen, ihre Hinterfragung für gewöhnlich gar nicht zu: das macht ihre Eigentümlichkeit ganz wesentlich aus (-> Grundwahrheit der Primärerfahrung). Die Wahrheit der Praxis besteht „in ihrer Blindheit gegenüber der eigenen Wahrheit.“ Als Beispiel für die Praxis nennt Bourdieu die Riten. Sie kommen ohne Begriffe (oder zumindest ohne Begriffe der Logik) aus und werden einfach vollführt, weil sie einverleibt sind. „Die praktischen Taxonomien als Werkzeuge von Erkenntnis und Kommunikation, ohne die Sinn und Konsens über den Sinn nicht gebildet werden können, wirken nur insoweit strukturierend, als sie selber strukturiert sind.“ Wie in „Homo Academicus“ streicht Bourdieu heraus, dass sowohl zu grosse Nähe als auch zu grosse Distanz zum Gegenstand die wissenschaftliche Erkenntnis erschweren. Wieder einmal werden sowohl der übertriebene Subjektivismus als auch der übersteigerte Objektivismus gebasht. „Riten gibt es, und zwar weil sie ihren Daseinsgrund in den Existenzbedingungen und in den Dispositionen der Handelnden finden, die sich den Luxus der logischen Spekulation, der mystischen Schwärmerei oder der metaphysischen Umtriebe nicht leisten können.“


Die Wirkung der Zeit Praxis wird erst in der Zeit konstruiert. Sie verdankt ihre Form einer spezifischen Aufeinanderfolge. Indem der Wissenschaftler die (in Wahrheit polythetischen, enttotalisierten und durch unumkehrbare Aufeinanderfolgen geprägten) Praktiken in ein objektives Modell zwängt, „reduziert er die Handelnden auf den Status von Automaten oder trägen Körpern, die von obskuren Mechanismen auf Ziele hinbewegt werden, von denen sie selbst nichts wissen.“ Der Praxis liegt, selbst wenn sie von aussen mechanisch erscheint, ständige Improvisation und permanente Ungewissheit zugrunde. Der Übergang vom stochastischen zum deterministischen Verständnis ist eine Schwelle bzw. ein Sprung, „der in keinem Verhältnis zum zahlenmässigen Unterschied steht.“ Deshalb gelte es die verloren gegangene Ungewissheit wieder einzuführen. Ein einfaches Erzeugunsmodell, mit dem die Logik der Praxis erklärt werden kann, läuft über die beobachtbaren Formen des Ehrverhaltens. Das Grundprinzip bzw. Axiom dazu ist die Gleichheit der Ehre. Dieses Modell ist auf Seite 184 grafisch dargestellt. „Es sind die in der Praxis fast nie als solche formulierten Schemata, die z. B. bei der Bewertung, wie schwer ein Diebstahl ist, dazu führen, dass nach der Logik des haram alle näheren Umstände (Ort und Zeit) seiner Ausführung berücksichtigt werden.“ Ein Beispiel für die Ungewissheit und Verschwommenheit der praktischen Anwendung der Schemata sind die unterschiedlich harten Strafen in verschiedenen Dörfern (unterschiedliche Handhabung des Gewohnheitsrechts). „Daher zeigt sich die Logik der Praxis in einer Art Einheitlichkeit des Stils, die zwar unmittelbar wahrnehmbar ist, aber nichts von der strikten und überraschungslosen Schlüssigkeit aufeinander abgestimmter Erzeugnisse eines Plans hat.“ Das Haupthindernis beim Verständnis der Logik der Praxis ist das zwanghafte Suchen nach Regeln. Das von Bourdieu auf Seite 184 präsentierte Modell wird nicht durch Regeln (oder durch eine „komplexe Axiomatik“, wie Bourdieu sich ausdrückt) angetrieben, sondern durch eine gewissen Sinn für die Praxis, der durch die Erziehung inkorporiert und im Gruppenhandlungen ständig abgerufen wird. Die illusio, das Gefangensein im Spiel oder der Selbstbetrug ist Voraussetzung dafür, dass der Gabentausch überhaupt funktioniert. „Alles spielt sich so ab, also ob die Ritualisierung der Interaktion den paradoxen Effekt hätte, der Zeit ihre ganze gesellschaftliche Wirkung zu verschaffen, die nie stärker ist als dann, wenn nichts abläuft ausser der Zeit.“ Der Ansatz die Rituale durch Normen und Regeln zu beschreiben, kann selbst in seiner ausgereiftesten Form die „Kunst der notwendigen Improvisation“ nicht erklären, die die wahre Meisterschaft kennzeichnet. „Die zeitliche Struktur der Praxis fungiert hier wie ein Filter, der eine Totalisierung verhindert.“ Der Objektivismus verdrängt die Verdängungen (Nichthinterfragen) der objektiven Wahrheit. „Das Einprägen funktioniert nie besser, als wenn man sich jede Erläuterung sparen kann.“ Die Vorstellungen der Gruppe von sich selbst erschweren die Erläuterung der Logik der Praxis noch weiter. Solche Werte (die von Sprechern propagiert werden -> Nationalhymne) hinterfragt der Objektivismus – und das auch zurecht. Offizialisierung ist das Bemühen selbstsüchtige, private und partikuläre Interessen in kollektive, öffentlich vertretbare und damit letztlich legitime Interessen zu verwandeln.“ Ein schönes Zitat zum Schluss, das einen wichtigen Punkte des Objektivismus-Bashing beinhaltet: „So verfehlt der Objektivismus die Objektivität, indem er versäumt, in seine Zusammenfassung des Wirklichen die Vorstellung des Wirklichen einzubeziehen, gegen das er seine objektive Vorstellung konstruieren musste, die aber, wenn sie die Einstimmigkeit der Gruppe für sich hat, zur unbestreitbarsten Form der Objektivität wird.“


Das symbolische Kapital In diesem Kapitel geht es am Beispiel des Gabentauschs um das Verhältnis und die Transformation des ökonomischen Kapitals ins symbolische. In welchem Wechselverhältnis stehen die beiden Kapitalformen? Und was genau bedeutet symbolisches Kapital? Wie manifestiert es sich in der Kabylengesellschaft im alltäglichen Leben? Zunächst betont Bourdieu die Wichtigkeit der Verschleierung, die beim „Handel“ mit symbolischem Kapital (Tauschoperationen) stets vorkommt. „Der Ökonomismus ist eine Form des Ethnozentrismus... So kann der Ökonomismus, weil er keine andere Art von Interessen kennt als die, welche der Kapitalismus hervorgebracht hat, keinerlei nicht-ökonomische Formen des Interesses in seine Berechnungen einbeziehen.“ Begriffe wie Käufer und Verkäufer lösen sich in den vorkapitalistischen Tauschökonomien in einem Netz von Vermittlern und Bürgen auf. Gleiches geschieht bei der Hochzeit. Das symbolische Kapital ist in den äusserst komplexen Verhandlungen um die Mitgift etc. eine wichtige Verhandlungswaffe. „Hier klingt durch, dass die Natur, den Gesetzen des Gabentauschs gehorchend, ihre Wohltaten nur denen erweist, die ihr mit Mühsal Tribut zollen.“ In einer solchen Ökonomie ist die „Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver, zwischen einträglicher und uneinträglicher Arbeit“ noch unbekannt. Es folgt eine Definition des symbolischen Kapitals: „das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital, das gewiss zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzig mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird.“ Grosse Familien führen ihr symbolisches Kapital – in Form eines guten Rufes – wann immer möglich vor. In diesem Zusammenhang wird symbolisches Kapital als Kredit aufgefasst, der vom Glauben der Gruppe lebt. „Das Ehrverhalten beruht also auf einem Interesse, das der Ökonomismus nicht benennen kann und das somit als symbolisch bezeichnet werden muss, auch wenn es seinem Charakter nach bestimmend für sehr handfeste materielle Handlungen ist.“ So kann es auch passieren, dass die Verteidigung des symbolischen Kapitals zu ökonomischem Ruin führt.

Die Herrschaftsweisen Das Kapitel beginnt mit einer Kritik der Ökonomie und deren Fokussiertheit auf die ökonomischen Kapitalsorten und Logiken. „Ohne deswegen die Analogie zwischen Kapital und Energie zu entwerten, erinnert dennoch schon die blosse Tatsache, dass es symbolisches Kapital gibt, also materielles als anerkanntes und verkanntes, daran, dass die Sozialwissenschaft keine Sozialphysik ist.“ Es gelte also auch die subjektive Dimension (Wahrnehmungs- und Denkschemata) der sozialen Wirklichkeit zu berücksichtigen und die Dichotomie von Ökonomischem und Nichtökonomischem durch eine allgemeine „Theorie der Ökonomie der Praktiken“ zu ersetzen. Dementsprechend behandelt das Kapitel v. a. das Verhältnis von ökonomischem und symbolischem Kapital. Vorkapitalistische Ökonomien, die nicht auf der Logik des Arbeitsmarktes und dessen Sanktionen beruhten, sind vielmehr auf symbolisches Kapital angewiesen als kapitalistische. „Diese Analyse gilt um so mehr für die frühere Kabylei, in der ökonomische Instrumente nicht einmal ansatzweise institutionalisiert waren... Allgemein wurden Güter nie als Kapital behandelt.“ Auch kulturelles Kapital bedarf, wie das ökonomische, der Institiutionen um anerkannt zu sein. Die spezifische Logik symbolischer Gewalt sollte aber nicht ausschliesslich durch die Unterschiede zwischen vorkapitalistischen und


kapitalistischen Gesellschaften erklärt werden. „Um weiterzukommen, muss man die Vorstellung ernst nehmen, die die Handelnden dort über die Ökonomie ihrer eigenen Praxis äussern, wo sie im stärksten Gegensatz zu ihrer ökonomischen Wahrheit steht.“ Um Leute an sich zu binden gibt es in einer solchen Welt nur zwei Möglichkeiten: nackte Gewalt oder symbolische. In den vorkapitalistischen Ökonomien spielt die letzgenannte Form eine wichtige Rolle, da hier die Herrschaftsverhältnisse andauernd beschönigt werden müssen. „Dass die Gewalt hier zugleich gegenäwärtiger und verschleierter ist, darf nicht als Widerspruch gesehen werden.“ So treten gleichzeitig primitive, barbarische und sanfte, humane und rücksichtsvolle Formen auf. „Solange die nackte Gewalt des Wucherers oder unbarmherzigen Grundherrn auf kollektive Missbilligung stösst, ist symbolische Gewalt als die sparsamste, weil der Ökonomie des Systems angemessenste Herrschaftsweise zwingend geboten.“ Je schwieriger also die direkte Ausübung von Gewalt ist, desto besser können sich symbolische und sanfte Formen verbreiten. Somit wirkt das ökonomische Kapital vorwiegend (im Buch: „nur“) in der beschönigten Form des symbolischen Kapitals. Eine solche Transformation der Kapitalsorten erfordert neben anderen Investitionen auch Zeit. Die sanfte Herrschaft wird sehr teuer, für den, der sie ausübt (Geschenke, Spenden, Feste sponsoren etc.): „Da die persönliche Autorität nicht durch offiziell verkündete und institutionell gewährleistete Übertragung gesichtert ist, kann sie auf Dauer nur durch Handlungen bestehen, die sich nach den von der Gruppe anerkannten Werten richten und diese Autorität so immer wieder bestätigen.“ Die Umwandlung anderer Kapitalsorten in symbolisches erfordert immer eine Art Arbeit. Im Gegensatz zur Akkumulation anderer Kapitalsorten ist die Anhäufung symbolischen Kapitals in vorkapitalistischen Gesellschaften (wie derjenigen der Kabylei) am rationalsten. Die Felder fungieren als vemittelnde Instanzen der Herrschaftsausübung: Sie bewirken, dass die Akteure es sich „ersparen können, unmittelbar und ausdrücklich auf die Herrschaft über Menschen gerichtete Strategien anzuwenden.“ Da solche Strategien sehr aufwändig wären, handelt es sich um eine beträchtliche Einsparung. Deshalb ist das Ehrverhalten auch eine Art Politik und verleitet zur Anhäufung symbolisch wertvoller Güter – Instrumente der Machtdemonstration durch Vorzeigen (demonstrativer Konsum - > Veblen). Allerdings handelt es sich bei dieser Strategie der materiellen Akkumulation nur um eine Strategie unter anderen. Institutionalisierung sorgt schliesslich dafür, dass die Gegenstände nicht dauernd gezeigt werden müssen, sondern „intrinsischen“ Wert besitzen. An die Stelle der persönlichen Beziehungen setzt die Institutionalisierung Ränge, Titel und Positionen. Ein Beispiel dafür ist das Schulsystem, wo der Titel das inkorporierte Wissen bestätigt und ersetzt. Zum Schluss kommt Bourdieu auf die symbolische Gewalt zu sprechen. Es handelt sich dabei um sanfte und verschleierte Gewalt, die mit der zunehmenden Objektivierung und Institutionalisierung (Titel, Arbeitsstellen, Berufsbezeichnungen) je länger je mehr abnimmt .

Die Objektivität des Subjektiven Auch in diesem Kapitel spricht Bourdieu die symbolische Dimension der gesellschaftlichen Verhältnisse an. Nicht nur, wie die Bedingungen objektiv sind, sondern auch, wie sie von den Leuten wahrgenommen und gedacht werden (Wahrnehmungs- und Denkschemata), müsse von den Sozialwissenschaften erforscht werden. „Eine derartige, in sich doppelte Realität erfordert, die Alternative zwischen Sozialphysik und Sozialphänomenologie zu überwinden, in der die Sozialwissenschaft gemeinhin gefangen ist.“ Anschliessend beschreibt Bourdieu diese beiden


Richtungen (Sozialphysik, Sozialphänomenologie). Die einleitenden Bemerkungen zum Gegensatz und zur Verbindung von sein und Bewusstsein wendet er auf das Problem der (sozialen) Klassen an1: auf der einen Seite Marx mit seiner objektivistischen Definition, auf der anderen Seite die Webersche Theorie der Statusgruppen mit ihrer Betonung des symbolischen Aspekts. Zwar deckt sich die subjektive Wahrnehmung häufig mit den objektiven Bedingungen, doch muss dies nicht zwansläufig der Fall sein. „Die objektiv geringste Distanz im sozialen Raum kann mit der subjektiv grössten Distanz zusammenfallen: dies unter anderem deshalb, wiel der Nächststehende genau der ist, der die soziale Identität, d. h. den Unterschied, am stärksten bedroht.“ Der Symbolismus sorgt dafür, dass kleinste Unterschiede riesige Differenzen stiften können (in einer Prüfung entscheidet 1 Punkt über bestehen oder nicht bestehen und ähnlich sieht es bei juristischen Fragen oder Erbstreitigkeiten aus). Deshalb finden besonders heftige symbolische Kämpfe auch oft zwischen Nachbarn im sozialen Raum statt. „Es gibt keine Sozialwelt, in der nicht jeder Handelnde zu jedem Zeitpunkt auf die Geltung bauen müsste, die ihm zusteht, und festlegt, wieviel er sich leisten kann, d. h. unter anderem, welche Güter er sich aneignen kann, die ebenfalls eine Hierarchie bilden.“ Je nach Gesellschaft(sform), in der wir uns befinden, unterscheiden sich die symbolischen Strategien und deren Wirksamkeit. In straffen Formen, wo viel geregelt ist (z. B. welche Kleider man tragen muss) ist der Raum für symbolische Strategien und auch ihre Wirkmächtigkeit eng begrenzt. Nicht so in „offenen“ Feldern, wie der Amerikanischen Mittelschicht, wo z. B. Protzen und Bluffs erlaubt sind oder sogar gefördert werden. „Statusgruppen, die auf Lebensstil und Stilisierung des Lebens beruhen, sind nicht, wie Max Weber meinte, etwas anderes als Klassen, sondern herrschende Klassen, die verneint oder, wenn man so will, sublimiert und damit legitimiert werden.“ Die Vorstellung, die sich die Handelnden von der sozialen Welt und von sich selbst machen, ist durch inkorporierte Geschichte und Dispositionen geprägt, also durch den Habitus. Darin sieht denn Bourdieu auch das Heilmittel gegen die Krankheiten und Schwächen des Objektivismus und Subjektivismus. „Der Gegensatz zwischen der materiellen Logik der Seltenheit und der symbolischen Logik der Hervorhebung ist zugleich die Grundlage des Gegensatzes zwischen einer Sozialdynamik, die nur Kräfteverhältnisse kennt, und einer Sozialkybernetik, die nur auf Sinnverhältnisse achtet, sowie Grundlage für seine eigene Überwindung.“ Symbolische Kämpfe finden zwischen jenen statt, die die Verteilungsstruktur untergraben wollen und jenen, die an ihrer Bewahrung interessiert sind. Das symbolische Kapital stellt eine allgemeinere Form des Charismas dar, das Weber besonders auf den Bereich der Religionssoziologie bezog. „Der Kampf, aus dem die Verteilungsstruktur selbst entsteht, ist untrennbar zugleich ein Kampf um Aneignung knapper Güter und ein Kampf darum, die legitime Wahrnehmung des in der Verteilungsstruktur zutage tretenden Kräfteverhältnisses durchzusetzen.“

1

Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich übrigens in „Das Paradox des Soziologen“ (Soziologische Fragen: 83-90)


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