Zusammenfassung Reflexive Anthropologie
Abstract
In „Reflexive Anthropologie“ erläutert Bourdieu im Gespräch mit Loic Wacquant wichtige Bausteine seiner Theorie. Im zweiten Kapitel („Die Logik der Felder“) geht es um den Feldbegriff, im dritten („Habitus, illusio und Rationalität“) um den Habitusbegriff. Dabei beschreibt Bourdieu die Herkunft und Genese der Begriffe und kontextualisiert sie im Rahmen einer umfassenden Theorie der Praxis. Hier wird auch – so wie ich das in anderen Texten von Bourdieu nicht in dieser Form gefunden habe – wie Feld und Habitus zusammenhängen (S. 160 ff.).
Die Logik der Felder Zunächst begründet Bourdieu den Feldbegriff als offenen Begriff, der erst im empirischen Zusammenhang umfassenden Sinn erhält. Diese offene Arbeit mit verschiedenen Konzepten ist eine Absage an den (starren) Positivismus. „Begriff wie Habitus, Feld und Kapital lassen sich durchaus definieren, aber eben nur innerhalb des theoretischen Systems, das sie bilden, und niemals für sich allein.“ Die relationale Sichtweise, die die Begriffe erst im Zusammenhang (im System) zu ihrem Wert kommen lässt, äussert sich z. B. in Bourdieus Forschungsmethoden (die Korrespondenzanalyse statt der OLS-Regression). „In Feldbegriffen denken heisst relational denken.“ Solches Denken findet sich in vielen Theorietraditionen und Disziplinen: In Kurt Lewins Sozialpsychologie genauso wie bei den russischen Formalisten (Tynjanow), dem Strukturalismus (Lévi-Strauss, Jakobson), bei Dumézil oder auch im Werk von Norbert Elias. Bourdieu interessieren die objektiven Relationen, die unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen bestehen. Folgende Definition liefert Bourdieu für das Feld: „Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren.“ Die Positionen sind durch die Verteilung der Macht (oder der relevanten Kapitalsorten) aktuell und potentiell bestimmt. Die Felder bilden „relativ autonome Mikrokosmen“ und gehorchen Gesetzen, die sich nicht einfach auf andere Felder übertragen lassen. Diese Gesetze umschreibt Bourdieu mit dem Begriff der „Logik der Felder“. Die Metapher des Spiels eignet sich gut, um zu begreifen, wie Bourdieu den Feldbegriff fasst. „Wieso?“ fragt Loic Wacquant (eine sicherlich berechtigte, aber durchaus nicht unschulmeisterliche Frage). Antwort von Bourdieu: Es gibt hier wie da Einsätze, die illusio, eine Investition ins Spiel/Feld, Glauben („Die Spieler sind im Spiel gefangen, weil sie alle den Glauben (doxa) an das Spiel und den
entsprechenden Einsatz teilen“ -> heimliches Einverständnis), Trümpfe. Kapitalsorten fungieren als solche Trümpfe. Es gibt solche, die in verschiedenen Kontexten stechen: das sind die KapitalGrundsorten, es gibt aber auch solche, die in einzelnen Feldern spezifisch sind (Feldspezifik). Damit das Kapital irgendwie wirkt, muss zwingend ein Feld vorhanden sein. „Die Struktur des Feldes wird in jedem Augenblick vom Stand der Machtverhältnisse zwischen den Spielern bestimmt.“ Hinzu kommen Strategien im Feld, die den Spielzügen im Spiel entsprechen. Zudem muss die Zeit als Faktor berücksichtigt werden: Die Strategien der Spieler (oder Akteure im Feld) hängt nicht nur von der aktuellen Verteilung und Struktur des Kapitals ab, sondern auch von der Entwicklung des Feldes und den antizipierten Gefahren und Chancen (Stichwort Lebenslauf und Habitus). Die Spieler können die Spielregeln entweder akzeptieren und die Kapitalsorten billigen oder sie in Frage stellen und auf ihre Umstürzung hin arbeiten. Die „Wechselkurse“ sind also Spielball sozialer Kräfte- und Machtverhältnisse und begründen unterschiedliche Strategien der Spieler. Dann fragt Loic Wacquant, wie man die Grenzen eines Feldes bestimmen kann. Hierzu gibt es keine apriori-Antwort, da die Frage immer im Feld selbst gestellt wird. Ein wichtiger Aspekt sind Eintrittsschranken über Eintrittsgebühren. Die Grenzen einzelner Felder lassen sich nur in der empirischen Untersuchung bestimmen. „Die Grenzen des Feldes liegen dort, wo die Feldkräfte aufhören [...] Erst wenn man diese Universen im einzelnen untersucht, kann man ermitteln, wie sie konkret beschaffen sind, wo sie aufhören, wer zu ihnen gehört und wer nicht, und ob sie wirklich ein Feld bilden.“ Als Feld von aktuellen und potentiellen Kräften ist das Feld ein Austragungsort von Kämpfen um den Erhalt und die Konfiguration dieser Kräfte. In Abgrenzung vom Systembegriff (Luhmann) und vom Apparatbegriff (Althusser) gibt es im Feld Kämpfe, also Geschichte. „Bildungssystem, Kirche... sind keine Apparate, sondern Felder.“ Unter bestimmten (historischen) Umständen kann ein Feld jedoch wie ein Apparat funktionieren. Sie sind ein Grenzfall, eine Pathologie von Feldern. Gewisse Ähnlichkeiten sieht Bourdieu tatsächlich zur Systemtheorie. Im Begriff der Selbstreferenz erkennt er Bezüge zur Autonomie der Felder. Die Struktur des Feldes wird nicht durch Selbstbezüglichkeit und Anschlussfähigkeit garantiert, sondern durch innere Konflikte und Machtkämpfe. „Der zweite grosse Unterschied ist, dass das Feld keine Teile oder Bestandteile hat. Jedes Unterfeld hat seine eigene Logik [...]“ Eine Analyse der Felder erfordert drei Analyseschritte: 1) Position des Feldes im Verhältnis zum Feld der Macht analysieren 2) Objektive Struktur der Relationen zwischen den Positionen der in diesem Feld miteinander konkurrierenden Akteuren oder Institutionen ermitteln 3) Habitus der Akteure ermitteln Des weiteren müssen die Stellungnahmen der Akteure beachtet werden. Beide Räume (Raum der Positionen – Raum der Stellungnahmen) müssen zusammen analysiert werden. Zwischen den Feldern lassen sich Struktur- und Funktionshomologien feststellen. „Ein drittes allgemeines Merkmal von Feldern ist die Tatsache, dass sie Relationssysteme sind, und zwar unabhängig von den für diese Relationen charakteristischen Populationen... dass das Individuum, wie das Elektron, eine Ausgeburt eines Feldes ist [...] Das Feld muss im Mittelpunkt der Forschungsoperationen stehen.“
Wie bestimmt sich der Zugang zu den Feldern? Wie funktioniert das Eintrittsgeld? Es ist v. a. in Form von spezifischem Kapital vorhanden. Da das Feld und die spezifische Kapitalsorte sich gegenseitig bedingen, ist die Erforschung ein ständiges Hin und Her. Die Frage, wie die einzelnen Felder zusammenhängen, ist laut Bourdieu nur sehr schwer zu beantworten. „Ich bin in der Tat der Meinung, dass es kein transhistorisches Gesetz der Verhältnisse zwischen den Feldern gibt.“ Die Ökonomie ist zwar ein wichtiges Feld, sie determiniert die anderen jedoch nicht grundlegend/automatisch/in vollem Ausmass. Als Beispiel lässt sich das künstlerische Feld sehen, wo es verschiedene Pole gibt (-> Beispiel Guggenheim Museum). Ein weiteres Beispiel findet sich in der „Einzige und sein Eigenheim“. Dort versucht Bourdieu das Phänomen „Eigenheim“ aus verschiedenen Perspektiven mit Bezug auf unterschiedliche Felder zu beleuchten. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Staat zu. Ist er so eine Art Meta-Feld? Bourdieu findet den Staatsbegriff problematisch, weil fahrig und komplex: „Worauf man in Wirklichkeit stösst, ist konkret ein Ensemble von bürokratischen oder administrativen Feldern [...], kurz alles was unter den Begriff Politik fällt.“
Habitus, illusio und Rationalität In diesem Abschnitt stellt Wacquant Fragen zum Habitus, die Bourdieus Positionen aus „Sozialer Sinn“ und „Die feinen Unterschiede“ pointiert hervorlocken und darstellen. Zunächst geht es aber um den Begriff des Interesses. Dieser stellt (ähnlich wie derjenige der Strategie) einen Bruch mit dem strukturalistischen Paradigma dar. Bevor sich die bei den Strukturalisten so zentrale Frage der Regeln stellt, muss zuerst mal bestimmt werden, was die Relgen wirksam macht. Hier kommt das Interesse ins Spiel, ein Begriff den Bourdieu von Weber entlehnt. Statt dem Interesse findet Bourdieu nun das Konzept der illusio angebrachter. Der Begriff des Interesses hatte Bourdieu den Vorwurf des Ökonomismus eingebracht. Er wehrt sich dagegen, indem er sagt, dass er diesen Begriff ursprünglich ins Feld der Kunst eingebracht habe, um die ökonomische Dimension und das materialistsische Denken zu betonen, das dort systematisch verbannt war. Das Gegenteil des Interesses äussert sich in Interessensfreiheit oder Indifferenz: „Indifferent sein heisst, sich nicht vom Spiel motivieren lassen.“ Ein weiterer ähnlicher Begriff ist derjenige der Unerschütterlichkeit (ataraxia), wie er von den Stoikern angestrebt wird. Die illusio ist das Gegenteil der ataraxia. Sie bedeutet Gefangenheit und Involiertheit im Spiel. Im Gegensatz zum utilitaristischen invarianten geschichtslosen Interesse ist dasjenige von Bourdieu (im Verständnis von illusio) stark zeit- und kontextgebunden: eben vom Spiel oder Feld, indem es sich entfaltet abhängig. „Jedes Feld setzt eine spezifische Form von Interesse voraus und aktiviert sie, eine spezifische illusio als stillschweigende Anerkennung des Wertes der Interessensobjekte Dezidiert grenzt sich Bourdieu von Gary S. Becker und der „ökonomischen Orthodoxie“ ab. Das einzige was die beiden verbinde seien ein paar Begriffe. Bourdieus Ziel ist es vielmehr eine „allgemeine Wissenschaft von der Ökonomie der Praxisformen“ zu formulieren. „Die Praktiken haben
eine Ökonomie, eine immanente Vernunft, die nicht auf die ökonomische Vernunft zu reduzieren ist, weil sich die Ökonomie der Praktiken von sehr viel verschiedenen Funktionen und Zwecken her definieren lässt.“ Der Habitusbegriff ist ein Versuch von der rational-choice Theorie und dem Idealbild des homo oeconomicus Abstand zu gewinnen. Um die Logik der Praxis zu erklären, hat Bourdieu die Theorie der Praxis an den Spiel-Sinn oder Anlagesinn gebunden. „Habitus als sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben ist und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.“ Gleichzeitig sind gewisse Ähnlichkeiten mit dem Pragmatismus Dewey’scher Prägung nicht zu verkennen. „Wenn man vom Habitus redet, geht man davon aus, dass das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives. Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.“ Mit Rückgriff auf Pascal, der gesagt hat: „Le monde me comprends, mais je le comprends“ entwickelt Bourdieu das Verhältnis von Habitus und Feld: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und ausserhalb der Akteure. Und wenn der Habitus ein Verhältnis zu einer sozialen Welt eingeht, deren Produkt er ist, dann bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser und die Welt erscheint ihm selbstverständlich.“ Der Habitus stellt eine Dialektik zwischen subjektiven Erwartungen und objektiven Chancen dar. „Zu drei Vierteln ist unser Handeln empirisch, wie Leibniz gesagt hat, und er meinte damit praktisch.“
Die symbolische Gewalt Dieses Kapitel geht zunächst auf die Sprache ein („Was heisst sprechen?“). Es kritisiert die strukturalistische Linguistik von Saussure, die die Sprache vorwiegend als Grammatik und System von Regeln begreift. Diese Position vergisst die praktische Anwendung, das Sprechen in actu, die Performanz. Die scholastische Auffassung ist ein Produkt der scholastischen Sichtweise. Hier in der frühen Unterscheidung von langue und parole liegt die Unzulänglichkeit des Strukturalismus begründet. Beide Positionen (der Strukturalismus und der Subjektivismus) vergessen, dass Sprechen mit symbolischer Gewalt einhergeht, dass die Sprach an sich nicht neutral sein kann. „Infolgedessen ist es gar nicht möglich, einen Kommunikationsakt in den Grenzen einer rein sprachlichen Analyse zu interpretieren.“ Selbst im simpelsten Austausch wirken Machtverhältnisse. Vieles bleibt unverständlich, wenn man diese Verhältnisse nicht kennt. Jeder sprachliche Akt ist somit ein Machtakt. Allerdings ist diese Formulierung von Wacquant etwas zu stark, denn jeder sprachliche Akt ist „nur“ ein virtueller oder reeller Machtakt. Bourdieu beschreibt Sprechakte oder Diskurse als Zusammenkommen vom sprachlichem Habitus und sprachlichem Markt. Damit lehnt er die Vorstellung eines Sprachkommunismus ab oder auch die Vorstellung der Sprache als Schatz, aus dem man schöpfen könne (eine Metapher von Saussure). Sie vergessen, dass die sprachliche Kompetenz sehr ungleich verteilt ist. Besonders gut sieht man das in der Politik, wo den Sprechern die Rolle zukommt, die Landschaft zu gestalten. „Man muss den
Sprachphilosophen und vor allem Austin sehr dankbar sein dafür, dass sie gefragt haben, wie es kommt, dass wir mit Wörtern etwas tun können.“ Entgegen dem strukturalistischen Paradigma kommt die Macht der Sprache von aussen – durch den Kontext – zustande. Bourdieus Beschäftigung mit der Sprache ist nicht mal eben so beiläufig, sondern stellt eine Anwendung seiner Methode auf ein ganz bestimmtes Gebiet dar. Die Sprache könne man nur verstehen, wenn man sie in die anderen alltäglichen Praxen einbinde (Essen, Trinken, Kleider, Möbel, Geschmack...). Erst in der Totalität des Klassenhabitus wird sie transparent. Dazu kommen muss allerdings die Berücksichtigung des Feldes, in dem die Äusserung stattfindet. Dies wird an Martin Heideggers politischer Ontologie verdeutlicht. „Ontologie ist Politik und Politik wird Ontologie.“ Die Berücksichtigung des Feldes erlaubt es zwei häufig gemachte Fehler und Lesarten (pitfalls) zu umgehen: die interne / immanente und die externe Interpretation (siehe dazu genauer: „Die Regeln der Kunst“). Erstere ist durch Selbstgenügsamkeit geprägt, letztere durch Mechanismus und Determinismus. Im Beispiel Heideggers muss man das philosophische Feld jener Zeit verstehen, seine Ausdifferenzierung, Autonomie, Stellung im Vergleich zu den anderen Feldern und auch Heideggers Position innerhalb des Feldes. Heidegger konnte sich auf sein aussergewöhnliches philosophisches Kapital, „einen ganz unglaublichen Sinn für das philosophische Spiel“ verlassen. „Ich sehe keine ontologische Differenz zwischen einem Begriff von Kant oder Platon und einer Faktorenanalyse.“ Bourdieus Theorieverständnis ist ein anderes als z. B. Parsons. Er gewinnt seinen Begriffsapparat nicht durch Sezierung anderer Theorien (AGIL), sondern durch die Konfrontation mit empirischen Gege(be)nständen (Theorie als modus operandi). „Ich könnte Kant paraphrasieren und sagen, dass Forschung ohne Theorie blind und Theorie ohne Forschung leer ist.“