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19 19 19 Ein Jahr ohne Heimat Ein Jahr ohne Heimat Ein Jahr ohne Heimat Ein Jahr ohne Heimat

Ein JahrohneHeimat

Das Virus,das angeblichmit dem Auto über dieGrenze kam; Migranten, dieCoronaausihren Herkunftsländern zurückbrachten und sich nicht an dieMaßnahmenhielten:DieseGeschichtenhörte man oft, vor allem von der Politik. Wasist abermit den vielen Menschen, die in der Pandemieauf die jährlichen Besuchebeiihren Familien verzichteten, von Angehörigennicht Abschied nehmenoderneue Familienmitgliedernichtwillkommenheißenkonnten? Elf von ihnen erzählen. EineMedizinstudentin,ein Taxifahrer,eineSchwimmtrainerin,eineJournalistin und weitereMenschenmit Migrationsbiografie überihr Jahr voller Angst,Sehnsucht nach den Verwandten unddas Imageals„Virus-Heimschlepper“. VON NAZ KÜÇÜKTEKIN

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Sultan Genç, 45,

aufArbeitssuche

Ichlebe seit2001in Wien. Ursprünglichkomme ich aus Kulu,einerkleinen Stadt 110 Kilometer von Ankara entfernt. Normalerweise fliege ich einmalim Jahr zu meiner Familie. Mein letzter Besuch warim Sommer 2019. Auch abgesehen von Corona ist esfür mich als Alleinerziehende finanziell sehrschwierig:Anfang 2020 begann ich einen neuen Job als Reinigungskraft, im April wurde ichgekündigt. Ich bereueessehr,dassichim Sommernichttrotzdem in die Türkei geflogen bin. Am 10. Oktober ist meineMutter an Corona gestorben. Es tutweh,dass ichsie nicht mehrgesehenhabe,dassich beiihrer Beerdigungnicht dabei war. Esist kaum zu ertragen. Von der Politik werden wirim Stichgelassen. Bundeskanzler Sebastian Kurz öffnetund schließt allesimmer wieder. Er behandelt dieMenschen wieKinder. Ich bin unter den Umständennicht sehroptimistisch. Aberichkann esmirnicht leisten, zusammenzubrechen. Meine Söhne brauchen ihre Mutter.

VERBLASSTE ERINNERUNG AlteUrlaubsfotos aus der Zeitvor der Pandemiegeben Kraft.

AndreaBurič, 29,

LehramtsstudentinundMitarbeiterinin einer Fitnesskette

Ich wurde in Wiengeboren. MeineFamilie kommt aus dem Süden BosnienHerzegowinas, nahe der kroatischen Grenze. Eine Oma und einige Onkel und Tanten leben dort. Wir besuchen sie jeden Sommer undein Mal währenddes Jahres. Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Dieses Jahr, mit Corona, dachte ich mir: Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). Ichfahre nicht im Sommer,es wird im Herbst sicher besser. Ich wollteauchniemanden anstecken, vor allemmeineOma nicht. Ich weiß von einigen,dasssie trotzdemgefahrensind. Ich war auch auf einigen Hochzeiten unten eingeladen. Dasfand ichnicht gut, denn bei unssindHochzeitenrichtigeGroßveranstaltungen. Ichhalte mit meiner Familie über Skype und WhatsApp Kontakt. MeineOma hat ein Tablet,das funktioniert ganz gut. Aber esist natürlichnicht dasselbe. Ich werde sie spätestensim April besuchen, meinletzter Besuch warim Sommer 2019. Ichkann nicht mehrlänger warten. Wer weiß, wannsich alles wieder beruhigt. Meine Oma ist 86, ich möchte nicht riskieren, sie nicht mehr zu sehen.

Lars Grap, 29,

Kundendienstmitarbeiter

Ichkonnte letztes JahrmeineFamilie in Deutschland wegen Corona nicht besuchen. DasletzteMal warenmeineElternim Sommer 2019in Wien, meinen Bruder und meineSchwesterhabe ichseit Anfang 2019 nicht mehr gesehen. Sie wohnen in Norddeutschland, in der Region Hannover. Wirsindalle angestellt, niemand kannsich14 TageHeimquarantäne leisten. Und es ist ein Risiko, wennman über Ländergrenzenreist und sich dieEinreisebestimmungen ändernoder Flüge gestrichen werden. Grundsätzlich habe ich mich daran gewöhnt, sie nicht sooftwie früher zu sehen. Aber WeihnachtenohneFamilie zu feiern oder den 60. Geburtstag meiner Mutter zu verpassen, ist nicht schön. Mein Vater wird im Mai 60. Ob daein Besuchmöglichist? Ichhoffe sehr.

Mladen Perak, 26,

Lieferant bei einem Online-Supermarkt

Ich wurde in Wien geboren,aber der Großteilmeiner Familie wohnt in Banja Luka in Bosnien. Normalerweise fahre ich alle vier bis sechs Wochen runter. Jetztwarich dasletzteMalim Dezember 2019 dort. Die Fahrt wäre ein zu großes Risikogewesen, zudem warenim Sommer PCR-Tests teuer:EineReise hin und zurückhätte meineFamilie fast einen Tausendergekostet. Auch dieQuarantäne wäre mit der Arbeit schwierig gewesen. Ich habe im Sommer Urlaub in Griechenland undSpaniengemacht,da gab

EINEANDEREART TODESANGST DieSorge,Familienmitgliederkein letztes Malsehen zukönnen, ist groß.

eskeine verpflichtenden Testungenoder Quarantäne. Aberichkenneeinige,die trotzdemnach Bosnien gefahrensind, manche musstennachihrem Haus sehen, manche wolltennicht riskieren, ihreAngehörigennicht mehr zu erleben. Es wurden auch Tipps gegeben, welcheGrenzenmannehmensoll, weil weniger kontrolliert wird. Ich plane, im März mit meiner Freundinrunterzufahren. Ich vermisse meineFamilie unddasguteEssensehr.

DanielaN., 25,

Schwimmtrainerin,Physiotherapeutin

SPUTNIKIMBLUT Verwandte von AnnaWirth(im Bild mit Baby)wurdenin

IRusslandbereits gech war dasletzteMalim Februar 2020 in Serbien. impft. Sie hofft,bald Ich binösterreichischeStaatsbürgerin, viele mei- vonihnen besucht ner Onkel,Tanten undbeideOmaslebenjedochin werdenzukönnen.

Serbien. Davor war ich sie mehrmals pro Jahr besuchen. Seit Corona ist esschwierig, man braucht Testungen, mussin Quarantäne. Von einigen weißich, dass sie trotzdem gefahren sind, auch ohne Test. Das finde ichfahrlässig. Relativ am Anfang der Pandemie ist mein OnkelohneVorerkrankung an Corona gestorben. Er war erst 51. Mein Vaterhat sehr darunter gelitten. Das war der erste Moment, wo ich dachte:

Okay,dasist nichtzuunterschätzen. Trotzdemfand ich es unfair,als es zu Weihnachtenhieß,dieGrenzen sind zu, wir können unsere Familien nicht sehen. Das war schon rassistisch. Wir sollten uns lieber ein Beispiel an Serbiens Impffortschritt nehmen, statt Reiserückkehrermit negativem PCR-Test als Grundder andauernden Pandemie zu betrachten. Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). Pressespiegel Seite 20 von 86

Erdil Hinçal, 26,

Taxiunternehmer

Ich wohne seit drei Jahrenin Wien. Ich bin aus Istanbulhergezogen, um mit meiner damaligen Freundin zusammenleben zu können und zu studieren. Mittlerweile habe ichmein eigenes Taxiunternehmen. Meine Familie und vieleFreunde lebenin Istanbul. Mein letzter Besuch war im September 2019. Wennjemandem ausmeiner Familieetwaspassieren würde, weißichnicht, wasich tun würde. Bei einer Ausreise könnte ich derzeitwahrscheinlichnicht so einfachnach Österreich zurück. Manchmalfühle ichmich ein bisschen eingesperrt hier. Aberichhabe tolleFreunde,die mirniedas Gefühlgeben,allein zu sein. Ich weiß,dass es bei anderennicht soist. Ichfindeessehrschade,dass Menschen wie wir von der Politikso diskriminiertwerden. Wirleistengenauso viel und zahlen unsereSteuern. DieRegierung undder Kurz sagen viel Richtiges,aber wie sieessagen, ist manchmal echt nicht okay.

AnnaWirth, 37,

TV-Journalistin

Ich bin vor15 Jahren von Moskau nach Österreich gezogen. Mit meinem Mann und unserem Sohn leben wir in Amstetten. Ich war das letzte Mal im September 2018 in Russlandbeimeinen Eltern. Ich musste viel arbeiten, unddannkam Corona undes gingnicht mehr. Ichkomme ganz gut mit der Situation klar, weil ich mit der Arbeit beschäftigt bin und eingutessoziales Umfeld habe. MeineEltern und ich rufen unsregelmäßig an und schicken uns Pakete, mit Essen und kleinen Aufmerksamkeiten. Meine Eltern wurden vor Kurzem mit Sputnik V geimpft. Daher hoffe ich jetzt, dass sie uns bald besuchen können. Ich würde sie sogern wiederin den Armnehmen.

MarinaKojič, 25,

Medizinstudentin

Ich wurde hier geboren. Meine Mutter kommt aus Serbien und mein Vater aus Bosnien. Väterlicherseits sind alle hier. Meine Großeltern sind als klassischeGastarbeiter nach Österreich gekommen. DieFamilie vonmeiner Mutterlebt noch unten. Sonstwarich siebestimmt fünfmalim Jahr besuchen. Meine letzteSerbien-Reise ist eineinhalbJahre her. Ich arbeite an der Immunologieder Kinderklinik am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Fürmich wäreein Besuch deshalb nur infrage gekommen, wenn ich genug Urlaub für dieanschließendeQuarantäne gehabt hätte. Das Schlimmstean der Zeitwar der Tod meiner Oma im Dezember. Ichkonnte nicht mal beiihrer Beerdigung dabeisein. NurmeineMutterist nach Serbiengeflogen– aber das auch auf eigeneGefahr. Sie ließsich testen und hielt sich an alleMaßnahmen. Aber wenn etwaspassiertwäre –ichhätte ihrnicht helfenkönnen.

Fedayi Yeşildağ, 64,

Taxifahrer

Ichlebe seit 1981in Wien und bin allein hergekommen. Jetzt sind wir eine fünfköpfige Familie. MeineMutter und meine Geschwister leben noch in der Türkei, in demkleinen Dorf Ulubey in Uşak,einer Grenzregion zwischen Anatolien undder Ägäis. Ein bis zwei Malim Jahr habe ichsie sonst besucht undUrlaub in der Heimat gemacht. DasletzteMal warich Anfang März2020 dort. Ich wollte 15 Tage bleiben,dochnach einpaar Tagenriefmichmeine Tochter an und sagte, ichsollgleich zurück, weil die Grenzen dichtgemachtwerden. IchhabedieHoffnung, dass Reisen im Sommer möglich wird, wenn sie mit den Impfungengutvorankommen. Ich vermisse essehr, meineFamilie zu sehen,einenguten„Cay “ zu trinkenoder einfach bei uns über dieFelder zu spazieren unddie warmeErde unter den Füßen zu spüren.

Gülhan Demirkıran, 43,

auf Arbeitssuche

NAZ KÜÇÜKTEKIN Die Autorin dieser Geschichte ist seit Jänner Praktikantin beiprofil. Ihre türkischstämmigen Eltern stammen aus Sakarya am

Normalerweisebinichjeden Sommerin dieTür- Schwarzen Meer, wo fast 20 kei geflogen. Ich bin gebürtige Tirolerin, lebe seit Jahren in Wien. Teile meiner Familie leben noch in die gesamte Verwandtschaft noch lebt. Vor Corona verging kein Sommer P R I V A T ( 7 ) Tirol, meineElternseitzwölf Jahrenin Isparta in der Mittelmeerregion. Sie waren Gastarbeiter, haben in ohne eine Türkei. Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). n Besuch in der Pressespiegel Seite 21 von 86 HEIMWEH DieBesuchebeim Vaterwaren Gülhan Demirkırans großeStütze. Dannkam diePandemie.

verschiedenen Fabriken gearbeitet. In der Pension wollten sie zurückin dieTürkei. Ich habe siedasletzteMal im August 2019 gesehen. Abgesehen von Corona hatte ich auchgesundheitlich zu kämpfen:Ich hatte im Juni einen Schlaganfall und im Oktober eineHerzoperation. Es ist schrecklich, meine Elternnicht sehen zu können. Manmacht sichschon Sorgen– wobei eshier auchnicht leicht ist. Mein Mannist Koch und in Kurzarbeit. Ich wollte nachmeiner Ausbildung zur Interkulturellen Kommunikationstrainerinrichtigloslegen. Dannkam Corona. Besondersstört esmich,dass Migranten zum Spielball der Politikgemachtwerden. Esist leicht gesagt:DieAusländersind schuld, sie schleppen das Virus ein. Bei Touristen wirddasnicht gesagt. Ich binselbst Tirolerin,aber was war bitte mit Ischgl?

DianaCarolinaEl Masri, 25,

Publizistikstudentin

MeineMutterkommt aus Kolumbien. Ihre ganze Familie lebt noch dort. Zusammen warenmeineMutter und ichimmer unsereVerwandtenim Sommerfür einen Monat besuchen. Den Flugfür September 2020 hatten wirschon– wir buchen denimmerschonim Frühjahr. Dannkam Corona. Im Juni wurde ein Anschlussflug gestrichen, und es war somit nicht mehrmöglich. Das war echttraurig. Ich vermisseessehr,dortzu sein,dieMenschen zu sehen. Meine Cousine etwa, die für mich wie eine Schwester ist, hatte geradeein Kindbekommen. Wirhatten Babykleidunggekauft. Das wird ihm allesnicht mehr passen, wenn wir es zum ersten Malsehenkönnen. æ

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