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Ich habe mich mit österreichischen Bundeskanzlern in Massenschlägereien verwickelt

„Ich habe mich mit österreichischen Bundeskanzlern in Massenschlägereien verwickelt“ Jean-Claude Juncker, ehemaliger Präsident der EUKommission, über die Chancen der Krise, die neue Rolle Österreichs bei den „sparsamen Vier“ und das Scheitern der Mitgliedstaaten in der Flüchtlingspolitik.

Abstand halten, das fällt Jean-Claude Junc ker s ch w e r . A ls P r ä side n t d e r E ur o päischen Kommission herzte er Regierungschefs, küsste Glatzen und begrüßte den einen oder anderen mit einem Klaps auf den Hinterkopf. Im v e r g a ngenen N o v e m ber e n d et e s eine A m ts zei t , d och J u n cke r s itzt a u c h a n d i e se m g r a u e n M ittwochnachmittag im Berlaymont in Brüssel. Der Luxemburger empfängt in seinem Büro im achten S t o ck d e s H a u ptqu a rtie r s d er E U- K o m miss i on. rofil: Herr Juncker, in Ihrer Amtszeit als Präsident der EU-Kommission fielen Sie unter anderem durch Ihre herzlichen Begrüßungsgesten auf. Wann haben Sie, abgesehen von Ihrer Familie, das letzte Mal jemanden umarmt oder geküsst? Juncker: Unabhängig davon, dass Teile dieser Auskunft unter der Rubrik Amtsgeheimnis einzuordnen sind: schon lange nicht mehr. Ich vermisse das sehr. Ich mag Menschen. Sie zu berühren, zu herzen – die, die ich mag, manchmal auch andere – das ist für mich der direkte Weg zu ihnen. Ich habe heute Mittag mit einigen Kommissaren gegessen und musste sie begrüßen, wie man das in Asien macht. profil: Es geht auch mit dem Ellenbogen. Juncker: Wenn mir jemand seinen Ellenbogen unter d ie N a s e r e i bt , d an n w e h r e i ch d en a b! D i e se Z ei t i st nicht meine Zeit, weil die Körpersprache wegfällt. Wer nicht mit dem Körper redet, der redet nur halb. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Ob es jemals v o r b e i s ein w ir d , w e i ß m an n oc h n ich t . I n d en 7 5 Tagen, in denen wir in Luxemburg eingesperrt war e n – i ch w a r i n 4 5 J a h r e n n och n ie s o vi el m it m ei ner Frau zusammen, es ging trotzdem gut –, kam ich mir vor wie jemand, der nicht zeigen konnte, was er zeigen wollte. Ich habe das Haus kaum verlassen, denn die Luxemburger erkennen mich trotz Maske. Zuerst dachte ich: Eine schöne Zeit, kein Schwein kennt mich, und doch: Sie stürzten auf mich zu. Aber ich wusste: Genau das darfst du jetzt nicht. Du darfst Menschen, die dich liebevoll begrüß en , a ber a u c h n icht z u r ückw e is e n. p r o fil: W a s h abe n S ie s ta t tdesse n g et a n? J unc k e r : I ch h abe g esag t : S t o pp . I ch w a r e in ü ber z eug t e r M a s kentr ä ge r . I ch h ab e m ich a n d ie E mp fehlung der Regierung gehalten und bin nicht ohne

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Maske aus dem Haus gegangen, weil ich zeigen wollte, dass die Regel für alle gilt. profil: Kaum war Ihre Amtszeit zu Ende, wurde die EU von einer der größten Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges überrollt. Mit Krisen kennen Sie sich aus. Haben wir dieses Mal alles richtig gemacht? Juncker: Wenn man sich mit einer größeren Krise „Die ,vier Sparauseinandersetzen muss, kann man nicht alles richtig machen. Keine Regierung hat alles richtig gemacht, aber viele Regierungen haben das Notwensamen‘, was für ein prätendige nicht falsch gemacht. Tatsache ist, dass die Eutiöser Ausropäische Kommission in Fragen der öffentlichen G es u ndheit k e i ne K o m pet e nzen h a t . profil: Warum eigentlich nicht? druck – als ob die anderen Juncker: Es ist nicht so, dass kein Versuch unternomGeldvermen wurde, ihr diese zu geben: Bei den Vorbereitungen zum Verfassungsvertrag 2003/2004 hat die luxemburgische Regierung eine Kompetenzerweis c h w e nd wären!“ e r terung der Europäischen Union in Richtung öffentlicher Gesundheit vorgeschlagen. Das wurde von drei Viertel der Regierungen abgeblockt, vornehmlich von jenen, die jetzt lauthals nach mehr europäischem Zusammenhalt schreien. Deshalb war der Handlungsbezugsrahmen ein nationaler Rahmen, denn es gab ja keinen europäischen. Jeder hat sein eigenes Corona-Süppchen gekocht. Das hat zu Verwerfungen geführt: Es gab zum Teil überflüssige Grenzschließungen und erstaunliche, strikt nation al e R ef l e x e , w e n n e s u m d e n E xpo r t v o n m e d izinischem Material ging. Ich habe in vielen Gesprächen festgestellt – man telefoniert ja jetzt viel und küsst sich nur noch am Telefon –, dass viele Men„Ich mag Menschen. Sie schen erkannt haben, dass der Hinweis auf die zu berühren, W ich t ig k eit o ffene r V e r k e hr s w e ge i n d er E U k ein Märchen war. Viele, vor allem in den Grenzregionen, haben gemerkt, dass es an Europa gemangelt zu herzen – die, die ich mag, h a t . E s g ab a u c h S ol i dari t ä t sb e k u ndu n gen . P a t ien manchmal t e n a u s O stf r a n k r e i ch w ur d en i n d e u ts c hen S p i tä auch andere. l e r n b eha n del t . V i e l e M ens c hen m e r k e n : O hne E ur o p a g eht e s n ic h t . D er N a t io n als t aa t g e r ä t a u ß er Atem, wenn das Tempo schneller wird. Daher denIch vermisse das sehr.“ k e i ch , d ass w ir i n d ieser K rise b e s ser e E ur o p ä e r g e worden sind. profil: Die Corona-Krise hat aber zuerst einmal die Schwächen der EU offengelegt: von bewaffneten Polizisten bewachte Grenzen, das Zurückhalten von medizinischen Produkten … Juncker: Das ist nicht die EU. Das sind die Mitgliedstaaten. p r o fil: A ber d i e E U , d as s ind j a d i e M itgl i edst a a t e n . J unck e r: J a , j a . W a n n i m m e r m a n s ag t , d i e E U h a t versagt, höre ich schon im Hinterkopf: Die Kommiss ion h a t v e r s a g t . p r o fil: E s g eh t u m d ie E ur o pä i sc h e U ni o n a ls G a n z es. D er e n S chw ä chen s ind i n d er K rise z utage g e Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). Pressespiegel Seite 19 von 52

treten, etwa die zunehmende Abhängigkeit von China … Juncker: Abhängigkeiten sind keine Schwächen. Sie sind gewollt oder geduldet. Abhängigkeiten gegenüber China waren nicht gewollt, wurden aber massiv, sehr oft aus egoistischen, nationalökonomischen Gründen, betrieben. Das Resultat haben wir in dieser Krise gesehen. Ich war über viele Jahre ein ausgesprochener China-Freund. Ich habe hier in Brüssel viele Gipfel mit dem chinesischen Präsidenten geführt. Einmal sagte ich zu dessen Ärger: Wir sind Partner, aber wir sind auch Rivalen. Dann haben wir unter meiner Schirmherrschaft Mechanismen zur Investitionsüberprüfung ausgearbeitet, die vor allem auf China abzielten. Viele Mitgliedstaaten versuchten, bilaterale Vereinbarungen mit China unterhalb der Linie, die die EU festgelegt hat, abzuschließen. Viele dachten: Wenn ich mit den Chinesen ein Geschäft hinkriege, ist mir Europa egal. Die sitzen jetzt im Sud, den sie sich zusammengeb r a u t h aben. profil: Wie kann dieses Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten bekämpft werden? Juncker: Die EU muss ihre Fähigkeit, Weltpolitik zu betreiben, verbreitern und vergrößern. Es ist öfter passiert, dass wir nicht imstande waren, die Menschenrechtslage in China zu verurteilen. Wieso nicht? Weil die Chinesen dabei waren, mit einzelnen Mitgliedstaaten Sondergeschäfte abzuschließen. Die Chinesen haben in den Hafen von Piräus investiert – das hätten die Europäer auch tun können. Es braucht auch in Fällen der europäischen Außenpolitik ein Mehr an Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit gefällt werden können. Regierungen reagieren darauf sehr allergisch, weil es eingebildete Souveränitätsreste gibt, die man nicht so einfach aufgeben will. Es mangelt Europa an Selbstvertrauen und an deutlichem Verlautbarungswillen nach außen, weil wir nicht weltpolitikfähig sind – noch nicht. profil: Ist das der nächste große Integrationsschritt: eine gemeinsame Außenpolitik, die diesen Namen verdient? Juncker: Angesichts der internationalen Herausforderungen, angesichts der Tatsache, dass frühere Verbündete wie die USA zwar noch Verbündete sind, sich aber Europa gegenüber mit einer Geste der kalt e n S chult e r n ähern, is t e s d ringend g ebot e n, d ass w ir i n d er A u ß e n pol i tik z u q ual i f i ziert e n M e h r h ei t s entscheidungen kommen. profil: Kommen wir zu Ö st e rr e ic h … Juncker: Da fahre ich im August hin, nämlich zum Stanglwirt nach Gols. p r o fil: W ie j edes J a h r . J unc k e r : I ch b in w ie alle Rentner ferienmäß ig u nv e rr ü ckba r v e r o rt b ar . I ch h o f fe, d ass i ch h inf a hr e n k ann,

denn wenn die Regierung die Pandemie in Luxemburg nicht in den Griff kriegt, dann werden die Luxemburger ihre Ferien wohl zu Hause verbringen. Die Regierung hat bislang alles gut gemacht, doch jetzt geht es nicht in die richtige Richtung. Aber das ist Provinzkram. profil: Apropos Provinz: Ischgl gilt ja als Wuhan Europas. Hat Tirol durch das Missmanagement in „Ich habe es Ischgl für Sie an Charme verloren? Juncker: Nein. Es gibt immer wieder Brennpunkte in Europa, das zieht sich durch alle Länder, wo die Innie gemocht, dass Österfektionen nach oben gehen. Das hat aber mein Bild reich sagt: Der von Tirol oder von Österreich keinen Millimeter verändert. profil: Österreich hat bei den „sparsamen Vier“ eine EU-Haushalt darf nicht mit neue Rolle gefunden. Steht sie unserem Bundeszusätzlichen kanzler Sebastian Kurz? GeldüberweiJuncker: Ich kommentiere vorgetragene Überzeugungen oder Attitüden nie ad personam. Österreich war in den letzten Jahren, nicht erst seit Kurz, ein Eurosungen verbunden sein.“ pa zugewandtes, positiv gesinntes Mitgliedsland. Aber während der Flüchtlingskrise hat ein Reflex um sich gegriffen, der erkennen ließ, dass man sich der eigenen Verantwortung gerne dadurch entledigt, indem man europäische Verantwortung in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt. Ich habe mich diesbezüglich mit den österreichischen Bundeskanzlern manchmal in Massenschlägereien verwickelt. profil: Wie das? Juncker: Weil ich die Schließung der Balkanroute, die „Jeden Tag zu es ja nie gab, als Antwort auf die Flüchtlingskrise als einen nichteuropäischen und vornehmlich antideutschen Reflex bewertet habe. Es ist nicht erfahren, dass ich korrupt bin, wahr, was in Österreich dauernd erzählt wurde: dass ein Säufer und Merkel die Grenzen geöffnet hat – nein, sie hat die Grenzen nicht geschlossen. Das ist ein Riesenunters chi e d. W e n n s i e d a s n icht g etan h ä t t e , d an n w ä r e n ein Hurenbock, finde ich nicht Ungarn und Österreich mit Problemen konfrontiert notwendig –gewesen. Merkel hat das verhindert. Die dumpfe Art u n d e s s t i m m t u nd W e i se, w ie d ie d eutsche B undeskanzlerin i n Ö st e rr e i c h v o n f ast a l l e n p o l it i sc h en L ager n k ri t isiert wurde, hat mich massiv gestört. So geht es ja nicht alles davon.“ n ich t ! M an d a r f n ic h t d e n k rit i sier e n, d e r e i ne m b ei der Problembehebung hilft. Und ihn verantwortlich machen für das Problem, mit dem er ursächlich nichts zu tun hat. profil: Noch einmal zu den sparsamen Vier – oder wie Sie sagen, den geizigen Vier … Juncker: Habe ich das gesagt? Es war wahrscheinlich richtig. p r o fil : S i n d d ie Ö st e rr e i c her z u s p i e ß ige n K le i nk r ä m er n g ew o r d e n o der i st S e b as t ia n K u r z i n d ie F u ß stapfen von Wolfgang Schüssel getreten, den Sie ja g ut k ennen? J u nc k e r : I ch h ab e V e r s t ändni s d afü r , d ass m an i n Ö s terreich, wie auch in anderen Ländern, den BestimZum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). Pressespiegel Seite 20 von 52 34 profil 30 • 19. Juli 2020

mungsort der europäischen Solidaritätsgelder gerne millimetergenau kennen würde. Das halte ich nicht für ein unverschämtes Ansinnen, sondern für die Haltung, die jene einnehmen müssen, die den Gebrauch und Verbrauch von Steuergeldern zu verantworten haben. Ich habe es nie gemocht, das weiß mein Freund Sebastian Kurz auch, dass Österreich sagt: Der europäische Haushalt darf nicht mit zusätzlichen Geldüberweisungen nach Brüssel verbunden sein. Alles Geld, das nach Brüssel fließt, kommt ja nicht Brüssel zugute, sondern fließt in die Mitgliedsländer. Die Idee, dass es einen zentralen, überbürokratisierten, dinosaurierartigen Vielfraß gibt, der uns die Butter vom Brot nimmt, stimmt nicht. Ich halte es für gut, dass man darauf achtet, dass das Geld richtig zur Anwendung kommt. Dass man, angesichts der Krisenhaftigkeit der internationalen Politik und auch der innereuropäischen Irrungen und Wirrungen denkt, Europa bräuchte nicht mehr Geld, ist ein grober Fehler – denn wir brauchen mehr Geld für die Erasmus-Programme, für Forschung, für Verteidigung, Umwelt, Klimaschutz. Zu sagen: Aber wir in Wien sind der Meinung, mit einem Prozent ist der Sache genüge getan, mag in Österreich für Beifall sorgen. Ich halte es aber für einen groben Fehler, wenn es um europ ä i sch e Z u k u n f t sge s tal t ung g eht . D i e „ v i e r S p a r s a men“, was für ein prätentiöser Ausdruck – als ob die anderen Geldverschwender wären! Ich bin wenig beeindruckt von der Sparsamkeit der Betroffenen. profil: Zurück zur Flüchtlingsproblematik. Das „profil“ hat vor Kurzem getitelt: „Europas Schande“ … Juncker: Die Schande der Mitgliedstaaten der Europäischen Union! profil: Nun, der Titel war: „Europas Schande“ … Juncker: Alle Schlagzeilen sind falsch! profil: Es ging um die Lage an den Außengrenzen Europas und den Umgang mit Asylsuchenden. Teilen Sie diese Einschätzung? Juncker: Ich teile diese Einschätzung überhaupt nicht. Es ist journalistisches Machwerk, zu sagen, die Europäische Union hätte versagt. Ich habe vorletztes J a h r v o r g e schla g en, d ass w ir d en S chutz d er A u ß e n grenzen ernst nehmen und die Zahl der Grenzschützer massiv in Richtung 10.000 erhöhen. Die Einzigen, die uns dabei unterstützt haben, waren die Öst e r r e ic h er u nd K a n zl e r K u r z . A ll e s ch r e i e n n ach einer stärkeren Überwachung der EU-Außengrenzen. Aus gutem Grund, m anch m al a u c h a u s w e niger gutem Grund, weil s ie E ur o pa z u e iner F e s tung machen wollen, was nicht meiner Sicht der Dinge entspricht. Die Kommission hat im F r ü hjah r 2 0 1 5 e in k o m p lett e s A sylpaket v o rg e l eg t , d as w ur d e b is h eu t e n icht v e r a b schiedet . N ein, n icht d ie E U h a t v e r s a g t u nd n ich t E ur o -

pa, denn Europa hat Hunderttausenden Menschen

Asyl gewährt, sondern die Mitgliedstaaten haben versagt. profil: Sie haben sich immer gegen die Rechten eingesetzt, auch aus persönlichen Gründen. Ihr Vater wurde im Zweiten Weltkrieg für die Wehrmacht z w a ngsr e krutiert u nd a n d er O stfr o nt s chw e r v e r wundet. Warum gewinnen die Rechten Europas in den letzten Jahren dermaßen dazu?

Juncker: Die EU findet in allen Umfragen – seit dem

Brexit noch mehr – große Zustimmung, weil die

Menschen spüren, dass die Nationalstaaten allein nicht in der Lage sind, die Probleme zu bewältigen.

Fragt man die Menschen: Sind Sie dafür, dass Europa größere Verantwortung übernehmen sollte, dann ist der spontane Reflex, vor allem in kleineren Mitgliedstaaten: Ja, Europa soll sich kümmern. Wenn man das national subdividiert, sieht das Bild manchmal anders aus, weil man die Fragen nicht kennt, die dort gestellt werden. Die Wahlergebnisse tendieren manchmal in Richtung Populisten und VerB A C K D einfachern. Auch in Österreich war das so. Die FPÖ M A N hatte zu ihren Hochzeiten beeindruckende WahlerA R gebnisse. War das nur wegen Europa oder war das auch wegen ungelöster Probleme in Österreich selbst? Ist ein Votum für die AfD in Deutschland eiINTERVIEW nes exklusiv gegen die EU oder hat das auch mit profil-Redakteurin

Problemen in Deutschland zu tun? Marine Le Pen Siobhán Geets und wird in Frankreich gewählt – aber nicht, weil alle Jean-Claude Juncker ihre Wähler Faschisten wären oder Antieuropäer. profil: Warum dann? vergangenen Mittwoch in Brüssel

Juncker: Weil es in Frankreich eine Debatte zwischen der Elite und „La France d’en bas“ gibt, also den unteren Schichten. Populisten und Europagegner sind, von ihren Wahlergebnissen her, nicht nur so zu analysieren, als ob das nur Europagegner wären. Dies ist die Zeit der stupiden plumpen Vereinfachungen.

Deswegen lese ich soziale Medien nicht. Mir wurde berichtet, was da tendenziell los war, aber jeden Tag zu erfahren, dass ich korrupt bin, dass ich ein Säufer bin und ein Hurenbock, finde ich nicht notwendig – und es stimmt ja nicht alles davon. profil: Machen es sich Politiker zu leicht, indem sie d en L eut e n n ach d em M und r e d en u nd s ie n icht m it vielleicht bitteren Wahrheiten konfrontieren?

Juncker: Von mir gibt es einen Satz, den man nicht oft genug wiederholen kann: dass man sich den

Wählern manchmal in den Weg stellen muss. Denn w e r d en W ä h lern n achlä u ft , d er s ieht s ie i mm e r n ur von hinten, und daraus ergibt sich kein Gespräch.

Z u r P o l itik u nd zu m F ü h r e nw o llen g ehört , d ass m an dem Volk wohl aufs Maul schauen muss, aber nicht n ac h d e m M a u l r e d en d arf. W e n n m an d enkt , d as

Volk hat recht – das Volk gibt es in dem Sinne ja überhaupt nicht –, dann darf man durchaus wied er h olen, w a s d a M ehr h eitsmeinung i s t . W e n n m an der Meinung ist, dass die Mehrheit sich irrt, dann muss man ihr entgegentreten – sonst braucht man k e i ne P o l i t ik z u m a c h e n , d an n k an n m an d a s a nde r e n ü ber l as s en. p r o fil: W e n n m an a l s e u r o p äi s che r P o l i t ik e r d ur c h d ie W e l t z ie h t , h a t m an i n s ein e r W a a g s cha l e e i n en B in n enmar k t m it 4 4 0 M illi o nen M en s c h en – u nd Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG. Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/213 12-3502). Pressespiegel Seite 21 von 52 unsere Werte. Die Regierungen in Ländern wie Ungarn und Polen sägen aber daran. Schwächt das die europäische Verhandlungsposition in der Welt? Juncker: Nein. Die EU genießt Anerkennung in der Welt, weil sie auf einem strikten Wertekanon fußt, der nicht aufgekündigt wurde, obwohl sich Ungarn und Polen und manchmal auch andere alle möglichen Freiheiten herausnehmen. Trotzdem sorgt mich dieses Abdriften vom europäischen Wertekanon sehr, weil es zu der bestimmten Idee, die ich von Europa habe, gehört, dass wir intern und nach außen für diese Werte eintreten. Ich habe es nie gemocht, dass man Europa nur als Wirtschaftsraum begriff. Europa ist eine Verpflichtung, die der Kontinent sich selbst auferlegt hat aufgrund schlimmer historischer Vorgänge, die noch nicht lange her sind. Ich verzweifle manchmal daran, wenn ich mit Menschen über den Balkan rede. Man hat vergessen, dass das vor 20 Jahren war – Vergewaltigung, Massenmord, Vertreibung. Auch der Zweite Weltkrieg ist nicht so lange her. Es gibt von Bertolt Brecht den schönen Satz: „Fruchtbar ist der Schoß noch.“ Man muss Geschichte und ihre Wiederholbarkeit sehr ernst nehmen. Auch in Afrika und Asien wird Europa bewundert aufgrund unserer zäsurhaften Gesamtleistung: Nie mehr Krieg! – Dieser Satz ist aufgegangen. profil: Sie sprechen von europäischen Werten, aber in der Flüchtlingspolitik findet man die nicht. Die EU ist zur Festung geworden, Menschen werden illegal in Nicht-EU-Gewässer zurückgedrängt. Diese „Push-backs“ verletzen das Völkerrecht, weil die Menschen keinen Asylantrag stellen können. Juncker: Es ist ja nicht so, dass alle Mitgliedstaaten das gemacht hätten. Es gab einige, die verhindert haben, dass es einvernehmliche Lösungsansätze in der EU gibt. Man kann nicht die EU als solche haftbar machen für derartige Verirrungen. Was soll denn das? Dass man sagt: die EU! Man kann sagen, die EU und Österreich. profil: Österreich hat in der Flüchtlingskrise 2015 s ehr v i e le M e n s ch en a u f ge n ommen … Juncker: Ich bin ausgesprochener Österreich-Freund. D ie M ens c he n i n T ir o l, a u c h d ie K u r z - u nd d i e F P Ö Wähler, äußern sich nicht deckungsgleich mit dem extrem rechten Rand der österreichischen Gesellschaft. Man braucht eine nuancierte Betrachtung. Als gestandener Christdemokrat bin ich der Einzige, der noch Lenin zitieren darf, und Lenin hat ges ag t , m an m us s d ie D in g e h int e r d en D ingen s e h e n . profil: Ist das der Grund, warum die EVP jene Parteien, die nach rechts abdriften, im Club hält? Junker: Die Kritik mag die EVP treffen, aber mich nicht. Seit drei Jahren plädiere ich intensiv dafür, dass man die ungarische Fidesz aus der Europäis chen V o l k s part e i a u s gliedert , w e i l i ch z wischen V i k tor Orbán und mir keine großen Schnittmengen s ehe. D as g ilt a u c h f ür d ie F o r z a I tal i a. A be r d ie m öch t e i ch n icht a u s sc h lie ß en , s onde r n r e f ormi e r e n . I ch h a b e g elesen , C o h n- B end i t h abe e r k lärt , J u n cke r i st d er s o z ia l demok r a t isch s t e a ll e r C h r is t d emokr a t e n – s o i st d as w o h l.

I nter v iew u nd F o t o s : S iobhán G eets, B rüssel

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