Wolff, Klaus: Werde ganz du selbst

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Klaus Wolff

Werde ganz du selbst Das GlĂźck in der eigenen Mitte finden

Claudius


Mit größter Dankbarkeit und von Herzen all meinen Lehrerinnen und Lehrern von Dru gewidmet.

Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral

Bibliografische Informationen Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © Claudius Verlag München 2012 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Umschlagfoto: © Aliaksandr Zabudzko/Fotolia.com Druck: Ebner/Spiegel, Ulm ISBN 978-3-532-62435-7


Inhalt

Jeder Mensch sucht nach Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Grundentscheidungen: Das richtige Fundament legen . . . . . . . . 13 Das Leben, ein Wunder: Was die Stubenfliege uns lehren kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 „Einweihung in das Leben“: Die Überwindung des Dinosauriers in uns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die wichtigste Reise: Vom Kopf ins Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die Notwendigkeit eines Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Das Leben ist der größte Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ziel: Den inneren Lehrer wecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die heiligen Schriften als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kraft des Lehrers liegt in der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kampf des Lehrers mit dem Ego des Schülers . . . . . . . . . . . Das Geheimnis der Identifikation: Fortschritt durch „Nachahmung“ und „Einswerden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eine Wissenschaft des Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Warum Unwissenheit so gefährlich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinter jedem Menschen steht eine Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Menschen wirklich verstehen: Das Schichtenmodell im Yoga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg und die Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Schichten des Menschen heilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Den Körper eins werden lassen: Im eigenen Körper und auf der Erde ankommen . . . . . . . . . . . . 39 Die Energieschicht heilen: Energie aufbauen und in die richtige Richtung lenken . . . . . . . . 45 Neu fühlen lernen: Die Emotionsschicht heilen . . . . . . . . . . . . . 51


Neu denken lernen: Die Gedankenschicht schöpferisch heilen . 55 Den Herzensraum betreten: Die Seligkeit der Stille . . . . . . . . . . 70 Der Königsweg: Sich mit der Natur verbinden . . . . . . . . . . . . . . . 72 Verbindung mit der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindung mit der Sonne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindung mit dem Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindung mit dem Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindung mit dem großen Raum der Natur . . . . . . . . . . . . . . Kraft und Notwendigkeit der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entspannung pur: Der Blick in die Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sinne erleuchten: neu hören, sehen, tasten, schmecken, riechen . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Geheimnis der richtigen Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Motivation und Energie durch richtiges Handeln . . . . . . . . . . 102 Im Einklang handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Kraft der Selbstlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Nicht an den Früchten des eigenen Handelns hängen . . . . . . . Immer zum Wohle aller denken, fühlen und handeln . . . . . . . Das Geheimnis des Gebens: Wie wir das Leben „zwingen“, uns Gutes zu tun . . . . . . . . . . . Aus der geheimnisvollen Mitte heraus handeln: „Gott“ im anderen sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gemeinschaft bilden: Das Leben teilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Wahre Freundschaft leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehr leben durch mehr teilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied von der Komfortzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheit durch Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partnerschaft als Wachstumsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder als „Wachstumsbeschleuniger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enthaltsamkeit als „Wachstumsbeschleuniger“ . . . . . . . . . . . . .

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Die alltäglichen Glückstugenden: Lebenskunst praktisch . . . . . 125 Die Grundtugend des Maßhaltens: Abschied von den Extremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125


Dankbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht-Anhaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zurückziehen der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bewusstsein des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrität und Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht urteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht über andere reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Loslassen und Vergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Sinn sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Erinnerungen pflegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Fokus auf das Licht richten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das goldene Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jung bleiben: Nicht aufhören zu lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Großzügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geduld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 128 130 131 133 134 137 138 140 143 145 147 148 150 153 155 156 158 160

Das tägliche Investment: Kein Gewinn ohne Einsatz . . . . . . . . . 163 Die Erde: Der beste Platz, um jetzt zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168



Jeder Mensch sucht nach Glück Jeder Mensch sucht nach Glück, in jedem Moment und mit allem, was er tut, unabhängig davon, ob er es weiß oder nicht. Der griechische Philosoph Aristoteles lehrt, dass der Mensch immer zielgerichtet handelt, das Ziel seines Handelns ist das Glück. Selbst wenn wir „Böses“ oder etwas tun, das uns und anderen schadet, suchen wir insgeheim nach Glück. Doch wie finden wir wirklich unser Glück? Was müssen wir tun, um glücklich zu sein, was müssen wir lassen? Wie finden wir Lebensfreude, Erfüllung und – um ein hoch gegriffenes Wort zu benutzen – „Erleuchtung“? Die Antwort dieses Buches ist einfach: Um sein Glück zu finden, muss der Mensch wissen, wer er wirklich ist. Da aber der Mensch und sein Leben weit mehr sind als sein Verstand, kann dieses Wissen, wer er wirklich ist, nicht in erster Linie intellektuell erworben werden. Der Mensch muss vielmehr – Schritt für Schritt – „eingeweiht“ werden in das Leben und in die Wirklichkeit seiner selbst. Bei einem neu gekauften Kühlschrank oder einem CD-Player kann man aus der Gebrauchsanweisung ablesen, was man tun muss, welche Knöpfe man drücken muss, damit die ganze Sache funktioniert. Für den Menschen und gelungenes Leben gibt es dagegen keine „Gebrauchsanweisung“, die uns mit der Geburt mitgegeben würde. Zwar geben unsere Gesellschaft und die modernen Medien dem Menschen vielerlei Rezepte mit. Diese sind aber oft eher geeignet, den Menschen ins Unglück zu stürzen als ihn das finden zu lassen, was er tief in seinem Inneren sucht und wer er wirklich ist. Deshalb versucht dieses Buch eine Art „Systematik des Glücks“ zu beschreiben – eine Schule der „Einweihung“, in der man lernt, die „richtigen Knöpfe“ im eigenen Leben zu drücken, um umfassend glücklich zu sein. Natürlich kann ein Buch nicht einen konkreten „Lebens-Lehrer“ ersetzen. Das „Leben“ lässt sich letztlich nur lebendig weitergeben, ein Buch ist etwas anderes als ein konkreter Gesprächspartner. Aber ein Buch kann einen Menschen mitnehmen auf eine Art Wanderung durch das Land des Lebens. Jeder von uns besitzt dieses 11


Land. Ob dieses Land jedoch blüht und gedeiht, hängt davon ab, ob man genügend weiß über die Beschaffenheit der Erde, ob man gelernt hat, wie man sein Land beackert, wann und was man sät – in Gedanken, Worten und Werken – und was man für seine Pflege tut. Die richtige Pflege des eigenen Landes ist eine Kunst. Das Leben ist eine Kunst, die man lernen muss. Sich in diese Kunst zu vertiefen und sie zu vervollkommnen, ist das spannendste Abenteuer, auf das man sich auf dieser Erde einlassen kann.

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Grundentscheidungen: Das richtige Fundament legen

Alles im Leben ist eine Wahl. Ob ich morgens aufstehe, was ich esse, was ich denke, was ich tue, wie ich mich verhalte – immer entscheide ich mich, bewusst oder unbewusst, für einen bestimmten Weg. Wenn man im Leben weiterkommen will, muss man bewusste Entscheidungen treffen, Grundentscheidungen, ohne die kein wirkliches Wachstum möglich ist. Wenn die Grundentscheidungen falsch sind, wenn die Fundamente nicht stimmen, kann man an seinem eigenen Haus arbeiten und bauen und renovieren, soviel man will, und es wird doch immer schwankend bleiben. Wenn man ein sicheres starkes Haus bauen will, muss man die „richtigen“ Fundamente legen, mit anderen Worten: Grundentscheidungen treffen, die im Einklang mit den Gesetzen des Lebens stehen.

Das Leben, ein Wunder: Was die Stubenfliege uns lehren kann Das Leben ist ein Wunder und nur wenn man es als Wunder betrachtet, versteht man das Leben richtig. Es gibt nichts Gefährlicheres für das eigene Leben, als das kindliche Staunen zu verlieren. Ein Kind betrachtet alles als ein Wunder: jeder Baum, jede Blume, jeder Grashalm, jeder Stein, jedes Tier, jeder Fluss, jeder kleine Bach, jeder Erdklumpen, auch jeder Teil des eigenen Körpers ist für das Kind etwas Besonderes. Nichts ist selbstverständlich, weder die Sonne noch der Mond noch das Feuer, weder die Sterne am Himmel noch das Wasser oder die Luft zum Atmen, weder der Wind noch die Tatsache, dass wir uns auf dem Planeten Erde bewegen. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich gelangen“ (Matthäus 18,3) – dieser Satz Jesu aus der Bibel zielt auf das kindliche Staunen, ohne das uns die wesentlichen Türen des Lebens verschlossen bleiben. Leider tut 13


die moderne oder „postmoderne“ Gesellschaft alles, um dem Menschen das Staunen auszutreiben. Alles wird „vernünftig“, rational erklärt. Der Mensch wird als Maschine betrachtet, die aus bestimmten chemisch-physikalischen Prozessen besteht. Wenn etwas mit einem Menschen nicht stimmt, muss man operieren, Teile auswechseln – wie bei einem Apparat. Kein Zufall, dass die „Apparatemedizin“ heute Hochkonjunktur hat. Sie ist nur der Spiegel des rationalistischen Tunnelblicks, der unsere westliche Gesellschaft dominiert. Wie der britische Biologe und Autor Rupert Sheldrake sagt: Der wissenschaftliche Rationalismus („alles muss vernünftig sein“) ist die verdeckte Religion unserer Tage. Deshalb wird alles, was auf den ersten Blick nicht als vernünftig erscheint, diskreditiert und als „Spinnerei“, als „unzeitgemäß“ oder „lächerlich“ entwertet. In Wirklichkeit aber ist die rationalistische Weltsicht völlig willkürlich und irrational. Es ist eine willkürliche Entscheidung, das Leben mit den Kategorien der Vernunft einfangen zu wollen. Was ist an der Schöpfung vernünftig? Ist ein Baum oder ein Fluss vernünftig, kann man die Existenz eines Menschen „vernünftig“ erklären und begründen? Wer sagt, dass das Leben den Kategorien der Vernunft folgt? Auch im Menschen selbst sind die Vernunft und der Kopf nur ein ganz kleiner Teil des Ganzen. Der Begründer der Tiefenpsychologie, Carl Gustav Jung, hat die Formulierung geprägt, Menschen seien wie Eisberge. Das rationale Bewusstsein – das, was wir mit dem Kopf von uns selber wissen – ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs über Wasser und macht maximal 10 Prozent des Eisbergs aus. Die restlichen 90 Prozent – das „Unterbewusstsein“ „unter Wasser“ – entziehen sich vollkommen dem Zugriff der Vernunft. Das Unterbewusstsein ist nur über Träume oder tiefe Entspannung zugänglich. Vielleicht deshalb erachten die sogenannten „primitiven“ Gesellschaften und Ureinwohner verschiedener Kontinente die Traumwelt (90 Prozent des Eisbergs) als die eigentlich wirkliche Welt, während sie die äußere Welt, die man mit der Vernunft wahrnehmen kann, als eine Täuschung begreifen. Der wissenschaftliche Rationalismus („alles muss vernünftig sein“, „alles muss wissenschaftlich erklärbar sein“) stellt eines der größten Hindernisse für gelungenes Leben und menschliches Glück dar. Wenn man sein Leben nur noch mit den Maßstäben der Vernunft betrachtet, 14


hat man das kindliche Staunen (die „Traumwelt“) schon verloren. Man geht in die Position eines Beobachters, anstatt das Spiel des Lebens mitzuspielen. Man tanzt nicht mehr, sondern analysiert den Tanz (wofür eigentlich?) und darüber geht der Spaß verloren. Natürlich darf man vernünftig sein, aber man sollte auch die Grenzen der Vernunft sehen und die Augen in jedem Moment geöffnet lassen für das Wunder des Lebens. Die Flugkünste einer einfachen Stubenfliege zum Beispiel lassen die Navigationsfähigkeiten eines Bordcomputer des modernsten Flugzeugs total stümperhaft aussehen. Wenn man das begreift, bekommt man eine Ahnung, welches Wunder das Leben ist und dass hinter unserem Leben eine Intelligenz steckt, die alles übertrifft, was man sich rational vorstellen kann.

„Einweihung in das Leben“: Die Überwindung des Dinosauriers in uns Die meisten Menschen, hat der bulgarische Mystiker Omraam Mikhael Aivanhov einmal gesagt, sind noch Dinosaurier. Ihr Leben kreist nur um Essen, Trinken, Sex, Fortpflanzung, Bewachung des eigenen Territoriums und das Ausschalten von Konkurrenten und Feinden. Das ist natürlich alles legitim. Und wer wollte bestreiten, dass diese Bedürfnisse – mit Ausnahme der Ausschaltung von Konkurrenten und Feinden – zum Leben dazugehören. Aber trägt die Erfüllung dieser Bedürfnisse wirklich so viel zur Erfüllung und zum Glück des Menschen bei? Ich erinnere mich noch gut, wie ein Freund einmal lachend sagte: „Fühle ich mich nach 50 Jahren Essen wirklich erfüllter?“ Wer nur nach den dinosaurischen Bedürfnissen lebt, führt eine sehr beschränkte Form des Lebens, so wie jemand, der nur 2 Prozent seines Potenzials nutzt und darauf unglaublich stolz ist, ohne zu sehen, dass man auch 50, 70, 80 oder sogar noch mehr Prozent seines Potenzials nutzen kann. Oder wie einer meiner indischen Lehrer einmal gesagt hat: Die meisten Menschen sind – bildlich gesprochen – schon wahnsinnig stolz, wenn sie ihren großen Zeh bewegen können. Dass das Leben aber weit mehr ist als diese kleine lächerliche Bewegung des großen Zehs, dass man Arme und Beine bewegen kann, ins Wasser 15


springen und schwim­men kann, auf Berge steigen, fremde Länder erkunden, dass man andere umarmen kann – das bleibt allen Menschen verschlossen, die nicht bereit sind, sich auf den Weg zu machen und zu wachsen. Wenn man im Leben weiterkommen will, muss man wachsen und das Altbekannte verlassen wollen. Wer mit den dinosaurischen 2 Prozent zufrieden ist, erfährt keinen Fortschritt. Ohne den Durst nach Wachstum gibt es kein Weiterkommen, bleiben die Türen des höheren Lebens verschlossen. Wie ein alter Spruch besagt: Der Lehrer kommt erst dann, wenn der Schüler dafür bereit ist. Wenn ich wirklich wachsen will, sendet mir das Leben die Mittel, um weiterzukommen. Und dann beginnt die eigentliche Reise. Es ist eine Reise nach innen, die spannender ist als jede Reise, die man äußerlich auf der Erde unternehmen könnte. Denn auf dieser Reise lernt man das ganze Universum kennen, das im Herzen des Menschen verborgen liegt. Je tiefer ein Mensch „eingeweiht“ wird, je weiter er fortschreitet, desto mehr entfalten sich seine Power und sein eigenes Licht und das Leben blüht auf allen Ebenen. Die wichtigste Reise: Vom Kopf ins Herz Um wirklich zu wachsen und glücklich und eins zu sein, muss der Mensch letztlich nur einen großen Schritt tun: Er muss sein Bewusstsein, seine Wahrnehmung verschieben: vom Kopf ins Herz, in die Mitte der Brust hinein, in das sogenannte „Energiezentrum des Herzens“ in der Mitte der Brust, wie man im Yoga sagt. Weg vom dauernden Denken hin zum Mitgefühl und der Sonne des Herzens. Das ist für den westlichen Menschen oft eine bittere Pille, weil man, um weiterzukommen, gerade all das aufgeben muss, worauf man so stolz ist: die Kraft des eigenen Denkens und die Fähigkeit, alles kritisch von der Vernunft her zu betrachten. Das echte und große Leben beginnt da, wo man den Kopf und seine Kontrolle loslassen kann und von Herzen eins wird mit allem, was ist. Der geniale Satz des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry bringt es auf den Punkt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Oder mit Blaise Pascal gesagt: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ Die Biografie des mittelalterlichen Theologen und Philosophen Tho16


mas von Aquin (1225/26–1274) ist ein wunderbarer Beweis für die Begrenztheit des Kopfes und die Notwendigkeit der Reise vom Kopf ins Herz. Thomas von Aquin hat unendlich viele Bücher geschrieben, in einer Zeit ohne Computer und Buchdruck nach heutigen Maßstäben unvorstellbar viele Bücher. Er diktierte mehreren Schreibern gleichzeitig, die Mühe hatten, ihm zu folgen. Sein Verstand muss unglaublich geschärft und genial gewesen sein. Doch in einer Eucharistiefeier am 6. Dezember 1273 – wenige Monate vor seinem Tod – hatte er eine Art „Erleuchtungserfahrung“ und sagte danach: „Alles, was ich geschrieben habe, ist nur Stroh im Verhältnis zu dem, was ich gesehen habe.“ Mit anderen Worten: Die rationale Erkenntnis ist nur Stroh im Verhältnis zu dem, was man erfahren kann, wenn man sein Bewusstsein vom Kopf ins Herz verschiebt. Bezeichnenderweise hat Thomas von Aquin nach seiner besonderen Erfahrung nichts mehr geschrieben. Das Leben hatte seine Vernunft überholt. Wenn man zu den höheren Formen des Lebens finden will, muss man die Bewusstseinsverschiebung vom Kopf in die Mitte der Brust vorantreiben. Denn die Mitte der Brust ist nicht nur der Ort des Mitgefühls und deshalb der Ort echter Liebe, sie ist auch der eigentliche Ort der mystischen Erfahrung. In der Mitte der Brust, so denkt man im Yoga, befindet und eröffnet sich das ganze Universum. Wenn man mit gezielten Übungen das Energiezentrum des Herzens in der Mitte der Brust weit genug öffnet, empfindet man von morgens bis abends eine wunderbare Seligkeit, unabhängig von allem, was einem äußerlich geschieht. In jedem Fall geschieht Wunderbares, wenn ein Mensch den Fokus vom Kopf oder vom Solarplexus (dem Zentrum, auf das Machtmenschen fokussieren) oder vom Sakralbereich (Sexualenergie) in die Mitte der Brust verschiebt. Dann merkt der Mensch, wo er wirklich zu Hause ist. Er merkt, dass er kein Dinosaurier ist, kein Sklave irdischer Bedürfnisse oder Wünsche, sondern dass er eine königliche Herkunft und Würde hat, die ihm durch nichts zu nehmen ist. Je mehr man sich auf die Mitte der Brust konzentriert, desto stärker wird die innere Freiheit und die Freude und gleichzeitig die Fähigkeit und der Wille, anderen Gutes zu tun. Wer auf die Mitte der Brust fokussiert, merkt, dass er nicht auf der Erde ist, um tatenlos zuzusehen oder sich nur um die ei17


genen Belange zu kümmern. Man erkennt, dass man einen Auftrag hat und Erfüllung nur finden kann, wenn man diesen Auftrag erfüllt. Die Notwendigkeit eines Lehrers Für alles im Leben gibt es Lehrer: für Mathematik, für Sprachen, für Sport, für Entspannung, selbst fürs Autofahren und das Benutzen einer Motorsäge im Wald. Aber für das Leben selbst? Von dem bekannten mittelalterlichen Mystiker Meister Eckart stammt der Ausspruch, wir brauchten nicht „Lesemeister“, sondern „Lebemeister“. Und er fügte hinzu: „Ein solcher Lebemeister ist mehr als 1000 Lesemeister.“ Was Meister Eckart noch bewusst war, ist heute zumindest im Westen weitgehend aus dem Blick geraten. Es gibt kein Bewusstsein mehr dafür, dass auf der Reise zum Glück und beim Bemühen um die Erkenntnis, wer wir sind, ein Lehrer unendlich hilfreich ist, und zwar ein Lehrer, der weiter ist als wir selbst und der seine Erfahrungen und seine Kraft mit uns teilt. In meinem bisherigen Leben verdanke ich fast alles Vorwärtskommen guten Lebenslehrerinnen und Lebenslehrern – einschließlich meiner Eltern. Natürlich unterscheiden sich Lehrer: Manche gleichen Schildern am Straßenrand. Man folgt nicht ihnen selbst, sondern nur der Richtung, die sie anzeigen. Andere Lehrer sind, was man erreichen möchte, und von einem solchen lebendigen Lehrer zu lernen und in die Tiefe und wirkliche Größe des Lebens eingeführt zu werden, ist reine Gnade. „Moderne“ Menschen sehen die Vorstellung eines Lebenslehrers wahrscheinlich eher als ein Schreckgespenst denn als eine Gnade an. Man will unabhängig sein und tun und lassen, was man will. Besonders wer autoritäre Eltern hatte, meint oft, durch einen Lebenslehrer wieder unter die „Knute“ einer höheren Autorität zu geraten, der er sich fügen muss. Ein wirklich guter Lehrer aber trägt zu unserer eigenen Freiheit, zu unserer Lebensfreude und unserer Leichtigkeit bei. Ohnehin hat jeder Mensch immer einen Lehrer, ob er das weiß oder nicht. Wer keinen Lehrer hat, geht weiter in die Schule der eigenen Kindheitsmuster und verlängert diese bis zum Sanktnimmerleinstag. Darüber hinaus werden wir von den unsichtbaren Lehrern unserer Gesellschaft gelenkt, den Massenmedien und ihrer Infiltration des 18


Geistes mit Unsinn, Angst und schwächenden Vorstellungen. Wie viele Menschen schlucken tagtäglich – unhinterfragt – die willkürlich zusammengestellten Negativnachrichten der Zeitungen, des Fernsehens und des Internets. Sie lassen sich – und noch schlimmer: ihr Unterbewusstsein – manipulieren von einer weitgehend negativen Bilder- und Informationsflut, die sie ihrer Kraft beraubt und ihnen das Gefühl gibt, ohnmächtig zu sein, ohne Power, wie ein Schaf, das geführt werden muss. Es ist eine wichtige Frage im Leben, worauf man hört. Höre ich auf die Medien und auf das Geschwätz anderer Menschen? Die Antwort ist klar: Ich muss vor allem auf mich selbst hören, auf meine eigene Intuition und Weisheit. Aber auch das will gelernt sein. Wir müssen unterscheiden lernen zwischen den Impulsen unserer Kindheitsmuster und dem, was wirklich „Intuition“, Impuls des Lebens ist. Die wenigsten Menschen können das aus sich heraus. Nach Überzeugung des bulgarischen Mystikers Omraam Mikhael Aivanhov brauchen wir einen Lehrer für das Leben vor allem deshalb, weil das Leben selbst nichts erklärt. Das Leben erklärt nicht, warum dieses oder jenes passiert. Das Leben erklärt nicht, warum ich mir den Fuß breche, warum ich eine Prüfung nicht bestehe, warum dieses oder jenes nicht klappt. Es geschieht einfach. Entscheidend ist, die Signale des Lebens zu verstehen. Das Leben sendet uns andauernd Signale und Zeichen. Selbst im Supermarkt an der Kasse ist das Verhalten der Kassiererin mir gegenüber ein Zeichen. Ich muss es nur verstehen. Ein Mensch, der die Signale nicht versteht, gleicht einem Blinden in einem riesigen Raum, der von einer Ecke in die andere torkelt, hier anstößt und da anstößt, ohne zu verstehen, warum all das passiert und wo die richtige Richtung liegt. Deshalb ist ein Lehrer, der sieht, für das Leben eine Gnade. Das Leben ist der größte Lehrer Immer ist das Leben selbst der größte Lehrer. Wer die Signale des Lebens zu deuten weiß, bekommt in jedem Augenblick, in jeder Sekunde klare Hilfen und sieht ein, was er tun oder lassen „soll“. Menschen, die wirklich eins sind mit der Natur, können an einer Regung des Windes, 19


am Scheinen der Sonne oder an den Bewegungen der Bäume ablesen, was das Universum ihnen gerade sagen will. Rational geprägten Menschen des Westens wird das fremd erscheinen oder wie Einbildung, aber Kulturen, die das Hören auf die Natur und das Fühlen Jahrtausende lang geübt haben, verfügen über solche Erfahrungen, ebenso wie ein erfahrener Mediziner einen Patienten anschaut und an wenigen Symptomen erkennt, was ihm fehlt. Ein Mensch, der gelernt hat, genügend eins zu sein mit der Natur, kann an ihren Zeichen immer erkennen, in welche Richtung er sich wenden soll. Das Leben gleicht einem Spiegel. Mit seinen vielen Ereignissen spiegelt es dem Menschen unablässig, welche Bilder und Vorstellungen er tief in seinem Unterbewusstsein gespeichert hat. Die meisten Menschen halten das, was ihnen passiert, für Zufall. Sie glauben, es sei Zufall, dass sie immer wieder an die falschen Partner geraten, immer wieder in dieselben schrecklichen Situationen. Sie halten es für Zufall, dass die Verkäuferin immer unfreundlich zu ihnen ist. In Wirklichkeit aber ist das äußere Leben einfach der Spiegel der Vorstellungen, die man tief in sich im Unterbewusstsein trägt. Nach C.G. Jungs Eisbergschema macht das Bewusstsein, der Kopf des Menschen, nur 10 Prozent des Ganzen, das Unterbewusstsein dagegen 90 Prozent des Menschen aus. Probleme werden oft von problematischen Vorstellungen im Unterbewusstsein verursacht. Diese Vorstellungen hat der Mensch in Kindertagen oder irgendwann später als „Programm“ gespeichert und solange er die Vorstellung im Unterbewusstsein nicht ändert, wiederholt sich das „Programm“ ständig. Denn der Geist (die Vorstellungen im Unterbewusstsein) steuert die Materie (das, was äußerlich passiert). Wenn man als Mensch dieses Spiegelgesetz begreift, wird das Leben leicht. Ich verstehe dann, dass das Leben mit den unangenehmen Erfahrungen mich keineswegs vernichten oder prügeln will, sondern dass es mir nur meine verdrängten Anteile spiegeln will. So wie man einen Spiegel braucht, um eine Wunde im eigenen Gesicht zu sehen, so spiegelt das äußere Leben die Wunden, die ich tief in mir trage. Das Leben ist also niemals böse, sondern es versucht mit aller Kraft, mir meine Wunden bewusst zu machen, damit sie geheilt werden können. Deshalb ist alles, was passiert, immer auch ein Segen, weil in allem, was geschieht, die Chance zur Heilung und zum Wachstum steckt. Ich 20


habe in meiner Beratungspraxis viele Menschen kennengelernt, die durch den Tod eines geliebten Menschen unglaublich gereift sind. Mit größter Hochachtung durfte ich miterleben, wie das Tal der Tränen, durch das sie gehen mussten, der Weg war, auf dem sie freier, glücklicher, lebensbejahender wurden. Natürlich verzweifeln viele Menschen ob ihrer negativen Erfahrungen und ihrem Leiden. Die Mystikerin Edith Stein, die im KZ Auschwitz umgekommen ist, sagt über das Leid: „Kein Mensch kann ohne Schmerzen reifen. Von diesem Gesetz können wir auch die nicht befreien, die wir am meisten lieben.“ Die meisten Menschen brauchen den Leidensdruck, um sich zu ändern. Wenn alles „in Butter“ ist, neigt man dazu, im Status quo zu verharren. In der Bibel heißt es an einer Stelle, Jesus habe durch Leiden den Gehorsam gelernt (vgl. Philipper 2,8). Das bedeutet nichts anderes, als dass das Leiden im Leben oft der beste Lehrer ist, dass man durch das Leiden besser als durch die sogenannten „guten Zeiten“ lernt, auf das Leben zu hören und das zu tun, was richtig ist. Wohl gemerkt: Ich bin mitnichten Masochist und absolut kein Freund von Selbstquälerei. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass im Leiden eine Qualität verborgen liegt, die oft mehr Segen mit sich bringt als die leidfreien Zeiten. Mein indischer Lehrer hat einmal zu mir gesagt: „Leiden ist Gnade.“ Wer das Gesetz des Lebens versteht, dass es nämlich durch das Leiden den Panzer unseres falschen Egos aufbricht und dass der Mensch durch das Leid freier, stärker und größer wird, der beginnt zu verstehen, was dieser gewagte Satz vielleicht bedeuten kann. Vielleicht verhilft die Wahrheit dieses Satzes uns zu einem anderen Umgang mit dem Leiden und wir müssen nicht länger zu der wenig tröstlichen Annahme Zuflucht nehmen, dass das Leid nur ein schrecklicher Zufall oder ein Irrtum ist. Das Leben ist ein unbestechlicher Spiegel. Der böse Satz Immanuel Kants „Wer sich als Wurm betrachtet, braucht sich nicht zu wundern, wenn er fortwährend getreten wird“ bringt es auf den Punkt. Alles hängt daran, welche Vorstellungen wir in unserem Bewusstsein und vor allem Unterbewusstsein pflegen. Was wir in den Wald des Lebens hineinrufen, das schallt auch heraus. Wer begreift, dass das Leben einem Spiegel gleicht, hört auf, andere 21


für die eigene Situation verantwortlich zu machen. Nur ich selbst mit meinen verinnerlichten Vorstellungen (und negativen Kindheitsmustern) fahre den Wagen in den Graben, niemand sonst. Der Rennfahrer Niki Lauda hat einmal scherzhaft gesagt: „Nicht der Baum fährt in das Auto, sondern das Auto in den Baum.“ Das tibetische Buch vom Leben und Sterben bringt diese Wahrheit wunderbar humorvoll zum Ausdruck. Dort heißt es: „Ich gehe eine Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich falle hinein, ich bin verloren. Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht meine Verantwortung. Es dauert endlos, wieder herauszukommen.“ „Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein. Aber es ist doch nicht meine Verantwortung. Immer noch dauert es sehr lange, wieder herauszukommen.“ „Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich sehe es. Ich falle immer noch hinein – aus Gewohnheit. Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin. Es ist meine eigene Verantwortung. Ich komme sofort heraus.“ „Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich gehe darum herum.“ Letzter Satz: „Ich gehe eine andere Straße.“ (nach Sogyal Rinpoche, Das tibetische Buch vom Leben und Sterben, München 1966, S. 50-51) Es dauert oft lange, bis ein Mensch die Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt. Wenn er die Verantwortung übernimmt, fließen ihm unermessliche Kräfte zu – entsprechend dem Motto: Wem du die Verantwortung gibst, dem gibst du die Macht. Wer anderen die Schuld gibt, bleibt das Opfer und das ist keine gute Rolle. Wer die Verantwortung übernimmt (wohl gemerkt: Verantwortung, nicht Schuld!), hat alle Macht und kann alles ändern, indem er sich ändert. Um sich zu ändern, muss der Mensch allerdings die Botschaften des Lebens verstehen. Wenn man alles selbst deutet, ist die Gefahr groß, dass die Deutung zu sehr von den eigenen Kindheitsmustern und Programmen geprägt ist und man das Leben missversteht und zu „niedrig“ und zu wenig positiv deutet, weil man selbst nicht hoch genug ist. Ein Klient erzählte mir einmal ziemlich aufgebracht, ein Kolle22


ge habe ihn unverschämt beschimpft und er sei so perplex gewesen, dass er nicht angemessen reagieren konnte. Man kann ein solches Vorkommnis natürlich „negativ“ deuten und fragen: Was hätte ich besser machen müssen? Aber vielleicht ist an diesem Tag in Wirklichkeit etwas ganz anderes passiert. Bei der Schilderung des Klienten erinnerte ich mich an die Aussage eines meiner Lehrer, derzufolge das Leben Demütigungen oft nutzt, um uns frei zu machen, und zwar besonders dann, wenn wir es nicht erwarten, denn durch die Demütigungen und Schläge wird unser Ego zerschlagen, oft ohne dass das sichtbar ist, und nachher sind wir ein anderer Mensch, auch wenn wir das nicht sofort fühlen oder nachvollziehen können. Ich erklärte meinem Klienten diese Deutung meines Lehrers und er fühlte sich durch diese Interpretation völlig befreit. Mir ist an diesem Beispiel klar geworden, wie wichtig „erleuchteter“ Rat ist, nicht nur, weil er das Leben und die Gründe für Ereignisse erklärt, sondern vor allem, weil er hell ist und Positives erkennen lässt, wo man selbst durch die Brille der eigenen Kindheitsmuster nur Probleme sieht. Eine chassidische Geschichte erzählt von der Macht der Deutung: Eine Frau kommt zu einem Rabbi und fragt ihn nach der Bedeutung eines Traums, in dem sie eine schwarze Kutsche vor ihrem Haus vorfahren sieht. Sie werde in den nächsten Tagen Besuch bekommen, deutet der Rabbi den Traum. Und so geschieht es. Nach wenigen Wochen hat die Frau denselben Traum, geht wieder zu dem Rabbi und fragt ihn nach der Bedeutung. Der Rabbi antwortet: „In den nächsten Tagen wirst du Besuch bekommen.“ Und so geschieht es. Schließlich träumt die Frau den Traum zum dritten Mal. Wieder geht sie zum Rabbi, doch er ist nicht da und sie trifft nur seine Schüler an. Und die Schüler deuten den Traum: Dein Mann wird sterben. Am nächsten Tag kehrt der Rabbi zurück und als er das Wehklagen der Frau über den Tod ihres Mannes hört, fragt er seine Schüler, was passiert sei. Sie berichten ihm von ihrer Deutung des Traums. Da ruft der Rabbi aus: „O ihr Unglücklichen, ihr habt den Mann getötet. Wusstet ihr nicht, dass es in der Schrift heißt: Wie ihr es deutet, so wird es geschehen?“ Die Geschichte zeigt: Man sollte sich mit seinen Fragen und Problemen nicht an den Erstbesten wenden, sondern an jemanden, der wirklich Erfahrung und einen hellen, „erleuchteten“ Blick auf die Dinge hat. 23


Das Ziel: Den inneren Lehrer wecken Das Ziel eines guten Lehrers wird immer sein, den inneren Lehrer seines Schülers zu wecken. Einem guten Lehrer geht es nie darum, jemanden an sich zu binden oder abhängig zu machen, sondern immer darum, den „Schüler“ zu seiner eigenen Größe und Erhabenheit finden zu lassen. In indischen Ashrams werden daher Schüler nach einer Reihe von Jahren einfach wegschickt hinaus in die Welt, damit sie – getrennt vom Lehrer – wirklich selbständig werden. Auch die Natur kennt für diese Weisheit wunderbare Beispiele: Manche Vögel füttern ihre Jungen nur bis zu einem bestimmten Tag, dann hören sie abrupt auf und die Jungen müssen die Nahrung selber finden. Auch Kälber müssen, das habe ich von dem Landwirt gelernt, an dessen Land mein Waldgrundstück an der Ahr angrenzt, nach einer gewissen Zeit von ihren Müttern getrennt werden, denn sonst lernen sie nicht, Gras zu fressen, sondern bleiben immer weiter falsch an die Mutter gebunden. Ein guter Lehrer darf nicht zulassen, dass seine Schüler sich ausschließlich und völlig auf seine Energie stützen und keine Selbständigkeit erlangen, sondern er muss vor allem das Selbstvertrauen und die Eigenständigkeit der Schüler stützen und fördern und darauf hinwirken, dass sie lernen, auf ihren eigenen inneren Lehrer zu hören, für den der äußere Lehrer „nur“ das greifbare Symbol, das Sakrament ist. In jedem von uns gibt es diesen inneren Lehrer, wenn auch oft verschüttet. Wenn man gelernt hat, auf ihn zu hören, weiß man in jedem Moment, was man tun oder lassen soll. Das richtige Hören ist eine Kunst, die gelernt sein will. Dazu benötigt man innere Stille und die Fähigkeit, den eigenen Körper und seine Signale wahrzunehmen. Wenn man genügend still wird und ganz im eigenen Körper ist, fühlt man augenblicklich, was wahr ist oder wo man Vorsicht walten lassen sollte. Die meisten Menschen sind nicht geschult, bewusst zu fühlen und im eigenen Körper zu sein. Dazu bedarf es – ohne Frage – eines Lehrers. Ein Psychoanalytiker beispielsweise muss in seiner Ausbildung lernen, die sogenannte „Gegenübertragung“ zu fühlen. In jeder Begegnung zwischen zwei Menschen findet eine Art „Energieaustausch“ statt. Jeder überträgt seine eigenen Gefühle und vor allem auch sein 24


Körpergefühl auf den anderen. Deshalb fühlt man sich zum Beispiel automatisch besser oder schlechter, wenn ein anderer Mensch den Raum betritt. Oder man wird traurig oder wütend oder bekommt Bauchschmerzen. All das ist, wenn man nicht vorher schon wütend war oder traurig oder Bauchschmerzen hatte, klassische Gegenübertragung. Wer gelernt hat, diese Gegenübertragung wahrzunehmen, weiß intuitiv sofort, was dem anderen Menschen fehlt, sobald dieser den Raum betritt. Auf den inneren Lehrer zu hören bedeutet, die „Gegenübertragung“, das bewusste Hören und Spüren auf die ganze Natur und auf den Kosmos hin auszuweiten, sodass man im eigenen Körper augenblicklich spürt, was das Universum sagt. Ein solches „Weitmachen“ nennt man auch Meditation. Es gibt sehr unterschiedliche Formen der Meditation. Jedes bewusste Meditieren und Stillwerden hilft aber dabei, Zugang zum eigenen inneren Lehrer zu erlangen. Wer in seinem Leben nur seinen Kopf benutzt, hat keine Chance, jemals dem inneren Lehrer zu begegnen. Dazu bedarf es tiefer innerer Stille und Ruhe. Je mehr man wagt, bei sich zu sein, desto stärker wird der innere Lehrer. Man beginnt dann bei sich wahrzunehmen, dass das eigene Herz von unendlicher Weisheit, Klugheit und Licht erfüllt ist, die jederzeit alle Antworten bereithalten, wenn wir nur bereit sind zu hören. Die erstaunlichste Erkenntnis, die sich auf diesem Weg einstellt, lautet: „Du bist selbst, wonach du suchst.“ In diese wunderbaren Worte hat der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh die Grunderkenntnis des Buddha einmal gefasst. Wenn man tief genug geht, wenn man still genug wird, hört das Suchen auf und man kommt „nach Hause“, dorthin, wo man sich selbst ganz – ohne die üblichen Wellen des Geistes – so sieht, wie man ist, und in diesem Spiegelbild gleichzeitig den Schöpfer erkennt. Nichts trübt den klaren Blick, keine Bewegung des Geistes verzerrt die Oberfläche des Spiegels. Die heiligen Schriften als Lehrer Fast alle Kulturen kennen heilige Schriften oder die mündliche Weitergabe der göttlichen Lebenserfahrung eines Volkes. Diese Schriften oder mündlich weitergegebenen Erkenntnisse sind ein großer Schatz. 25



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