OrtswechselPLUS 12 - Blickfeld

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Ortswechsel +

Religionsbuch für Gymnasien 12
Evangelisches
BLICKFELD
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Evangelisches Religionsbuch für Gymnasien 12 BLICKFELD
Ortswechsel+ Grundlegendes Anforderungsniveau copyrightedmaterial

Herausgegeben und verfasst von Ingrid Grill-Ahollinger, Heide Ewerth, Sebastian Görnitz-Rückert, Tanja Gojny

Claudius Verlag München 2024 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de

Rechtschreibreformiert, sofern nicht urheberrechtliche Einwände bestehen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gestaltung und Typografie: Cordula Schaaf, München

Druck und Bindung: appl, Wemding

978-3-532-70097-6

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INHALT 3 Inhalt VORWORT ........................................................................................................................................... 4 KAPITEL 1: IM BLICKFELD ............................................................................................................. 8 Lernbereiche: »Der im-perfekte Mensch« (12.2), »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage« (12.1) KAPITEL 2: »OH MY GOD«!? .......................................................................................................... 20 Lernbereich: »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage« (12.1) KAPITEL 3: (GE)SCHAFFEN ........................................................................................................... 58 Lernbereiche: »Homo faber – der Mensch und seine Möglichkeiten« (12.3), »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage« (12.1) KAPITEL 4: BRUCHSTÜCK MENSCH ............................................................................................. 82 Lernbereiche: »Der im-perfekte Mensch« (12.2), »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage« (12.1) KAPITEL 5: GETEILTE FREIHEIT ................................................................................................. 112 Lernbereich: »Mittendrin?! – Christsein in der Gesellschaft« (12.4) Alles im Zusammenhang 140 Abiwerkstatt 141 Lexikon ............................................................................................................................................... 163 Register ............................................................................................................................................... 176 Quellenverzeichnis ............................................................................................................................... 177 copyrightedmaterial

IM BLICKFELD

Liebe Schülerinnen und Schüler,

was Sie sehen und was nicht, hängt wesentlich von Ihrem Blickfeld ab: In welche Richtung schauen Sie? Was ist Ihr Bezugsrahmen? Wie weit reicht Ihre Sicht? Usw. Dies gilt auch im übertragenen Sinn: Vielleicht rückt jetzt zu Beginn der Jahrgangsstufe 12 das Abitur stärker in den Fokus. Vielleicht erhält auch ganz anderes Ihre Aufmerksamkeit und bestimmt Ihr Denken. Vielleicht wandern Ihre Gedanken häufiger in Richtung der »Zeit danach« und wie diese gestaltet sein wird. Vermutlich ist eine solche Vorausschau ambivalent. Einerseits werden Sie sich schon auf neue Freiheiten und Möglichkeiten freuen. Endlich können Sie dann ganz eigenverantwortlich und in hohem Maße selbstbestimmt sich ergebende Herausforderungen angehen und sich an ihnen beweisen. Andererseits werden sich vielleicht nicht alle Hoffnungen erfüllen –so wie Sie ja vermutlich in Ihrem bisherigen Leben bereits (gewisse) Erfahrungen von Enttäuschung und Verlust gemacht haben. Wie Sie mit einer solchen Ambivalenz umgehen, hängt auch mit Ihrem Blick auf die Welt und auf sich selbst zusammen.

Das Eingangskapitel regt dazu an, sich mit der Frage zu befassen, wie stark sowohl im konkreten als auch im übertragenen Sinn die Wahrnehmung vom jeweiligen Blick des Betrachters bzw. der Betrachterin abhängt und wie sich bezüglich der Grenzen menschlicher Wahrnehmung überhaupt von »Wirklichkeit« und »Wahrheit« sprechen lässt.

Die Frage nach dem Sinn des eigenen L ebens und Handelns ist nicht einfach mit der Frage nach »Gott« identisch;

gleichzeitig kann aber die Suche nach Sinn ein Überschreiten, ein Transzendieren des menschlichen Horizonts implizieren. Sie denken über diese Zusammenhänge nach und reflektieren, ob bzw. inwiefern sich der Blick auf die Welt ändert, wenn man sie aus der Perspektive eines biblisch-christlichen Gottesglaubens betrachtet (Lernbereich 12.1 »Woran dein Herz hängt –Sinnfrage und Gottesfrage«)

In einer Phase, in der sich bei Ihnen g gf. schon Pläne für eine Ausbildung oder ein Studium nach dem Abitur konkretisieren, werden Sie dazu angeregt, gründlicher darüber nachzudenken, inwiefern Arbeit, Aktivität und Kreativität zum Wesen des Menschen gehören und welche Aspekte in den Blick rücken, wenn das »Schaffen« des Menschen aus christlicher Perspektive mit seinem »Geschaffen-Sein« zusammengedacht wird (Lernbereich 12.3 » ›Homo faber‹ – der Mensch und seine Möglichkeiten«)

In der Gesellschaft zeigt sich immer wieder ein Streben, den Menschen –körperlich und geistig – zu optimieren. Ausgehend von diesem Phänomen untersuchen Sie, inwiefern auch die Frage nach dem eigenen Ich von solchen Vorstellungen beeinflusst sein kann. Unter der Leitperspektive des »Blicks« befragen Sie die christliche Tradition auf ihren Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit den Grenzen, Brüchen und Beschädigungen im Leben (Lernbereich 12.2 »Der im-perfekte Mensch«).

Wer gerät aus welchen Gründen in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit? Wie gehe ich selbst damit um, copyrightedmaterial

4 VORWORT

wenn ich im Mittelpunkt stehe? Ausgehend von solchen Fragen setzen Sie sich mit unterschiedlichen Bildern vom Menschen als politischem Wesen und

der politischen Dimension von Christentum und Kirche auseinander (Lernbereich 12.4 »Mittendrin?! – Christsein in der Gesellschaft«).

ZUM UMGANG MIT DIESEM BUCH

OrtswechselPLUS 12 enthält folgende, aus den vorigen Bänden bekannte, Elemente:

Jedes Kapitel beginnt mit einer Reihe von »großen Fragen«. Sie führen in die Thematik des Kapitels ein und sind in der Regel nicht abschließend zu beantworten. Sie regen zum Weiterfragen und Philosophieren an.

Doppelseite *

Auf der ersten Doppelseite hilft eine Vorschau dabei, sich im Kapitel zu orientieren. Sie ist an die Kompetenzerwartungen des Lehrplans angelehnt und ermöglicht Ihnen, den eigenen Lernfortschritt zu überprüfen und ggf. Schwerpunkte zu setzen.

Die Extratour enthält einen Vorschlag, wie man einzelne Themen oder Teile davon mithilfe des Buches allein oder in Kleingruppen selbstständig erarbeiten kann.

In jedem Kapitel führt eine Doppelseite mit besonderen Bildern oder Texten mitten in das jeweilige Thema hinein. Die darauffolgende Doppelseite enthält Erläuterungen und Aufgaben dazu. Es folgen Doppelseiten mit unterschiedlichen Materialien und Impulsen. Jede Doppelseite stellt eine Einheit dar, vergleichbar einem Raum, in dem man sich in unterschiedliche Richtungen bewegen und an unterschiedlichen Orten aufhalten kann.

Was man zum Bearbeiten der jeweiligen Aufgaben wissen sollte, steht in den Infos. Weitere Informationen enthält das Lexikon am Ende des Buches. Begriffe, die dort erklärt werden, sind im Text mit einem Sternchen* versehen. Wenn ein Begriff auf einer Doppelseite selbst ausführlicher oder genauer erklärt wird als im Lexikon oder wenn das ganze Kapitel davon handelt, wird meist auf das Sternchen verzichtet, ebenso, wenn ein Begriff in einem Text wiederholt wird. Alle Lexikonbegriffe der Ortswechsel-Bände finden Sie auf der Homepage des Verlags.

Manchmal »merkt« man etwas, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, man wundert sich, es geht einem ein Licht auf oder man möchte etwas kritisch »anmerken«. Solche Gedankensplitter finden Sie als »Merkes« auf manchen Buchseiten. Lassen Sie sich davon zu eigenen »Merkes« anregen.

Die »Wegweiserkästen« enthalten Aufgaben und Impulse zur Bearbeitung des jeweiligen Themas. So wie der Wegweiser in mehrere Richtungen weist, so sind auch die angebotenen Aufgaben vielfältig. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Niveaus und ihrer Komplexität sowie hinsichtlich des benötigten Materials und Zeitaufwands; sie richten sich an unterschiedliche Lerntypen und decken ein breites Spektrum an Methoden und Sozialformen ab.

VORWORT 5 EXTRATOUR ? Große
INFO
Fragene
MERKwürdig Sie erkunden spielerisch unterschiedliche Blickfelder und beschreiben die Erfahrungen, die Sie bei diesen Erprobungen machen. Sie lernen philosophische und christliche Perspektiven zu Fragen nach Wahrheit, Wirklichkeit und Erkenntnis kennen und können diese beschreiben. beschreiben wiedergeben Sie denken über die Grenzen menschlicher Erkenntnis der »Wirklichkeit« bzw. der »Wahrheit« nach. In diesem Zusammenhang setzen Sie sich mit bekannten erkenntnistheoretischen eorien kritisch auseinander. urteilen reflektieren wahrnehmen deuten kommunizieren Sie diskutieren über mögliche Konsequenzen der Begrenztheit menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung und tauschen sich darüber aus, inwiefern der »Stückwerk«Charakter des eigenen Lebens und Denkens auch relevant ist für die Frage nach Sinn. sich ausdrücken Sie nehmen wahr, wie das eigene Blickfeld die Sicht auf die Welt sowohl im räumlich-konkreten als auch im übertragenen Sinne bestimmt. Sowohl Platons Höhlengleichnis als auch 1 Kor 13 deuten Sie im Hinblick auf die Frage, wie darin die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis von Wahrheit gesehen werden.
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Im Zusammenhang

Eine Zahl in eckigen Klammern weist darauf hin, dass ein Thema in einem der vorhergehenden Schuljahre behandelt wurde.

Das Schließfach-Symbol kennzeichnet solche Aufgaben, die Sie für sich allein bearbeiten können und deren Ergebnisse Sie nicht mit anderen teilen müssen – wenn Sie es nicht möchten.

Am Ende eines jeden Kapitels können Sie anhand von exemplarischen Materialien und Anforderungssituationen erproben, ob Sie das Gelernte im Zusammenhang anwenden können. Dies ist auch eine gute Übung für schriftliche und mündliche Prüfungen.

Auf dieser letzten Seite finden Sie auch den für Ortswechsel charakteristischen Rucksack. Er steht symbolisch dafür, dass sinnvoll Gelerntes eine Art »Reisegepäck« fürs Leben darstellen kann. Er soll Sie außerdem dazu anregen, den Prozess des L ernens zu reflektieren und sich darüber auszutauschen.

NACHHALTIG LERNEN

In der nun beginnenden Kursphase begegnen Sie in dieser Jahrgangsstufe noch einmal grundlegenden Themen christlichen Nachdenkens über Gott, Mensch und Welt, die Sie nun im Zusammenhang reflektieren, auf Ihr eigenes Leben beziehen und mit gegenwärtigen Wirklichkeitsdeutungen ins Gespräch bringen können. Dabei bauen Sie immer wieder auf Einsichten der Jahrgangsstufe 11 auf, die eine Ar t »Propädeutik« (Vorbereitung) für die Kursphase bildet. Die dort erarbeiteten Klärungen im Blick auf den Umgang mit der Bibel und auf den besonderen Weltzugang theologischen Nachdenkens werden in diesem Jahr wichtig werden.

Die »Abiwerkstatt«

Sich in Sachen Religion gut auszukennen, bedeutet in erster Linie, dass Sie in der Lage sind, mit dem im Unterricht Erarbeiteten auch kritisch umzugehen, sich dazu zu positionieren, es weiterzudenken, damit zu argumentieren und es ins Gespräch zu bringen. Wenn Sie solche Fähigkeiten geschult und erprobt haben, werden Sie dieses Wissen flexibel nutzen und immer wieder in neue Lebenszusammenhänge bringen können. Selbstverständlich – und dies werden Sie im Moment vielleicht eher im Blick haben – dient dies auch einer effektiven Vorbereitung auf Klausuren und das Abitur. OrtswechselPLUS 12 bietet nicht nur die Seiten »Im Zusammenhang«, um Unterrichtsinhalte anzuwenden und zu üben, sondern widmet diesem Ziel ein eigenes Kapitel, genannt »Abiwerkstatt«. Dieses enthält Hilfen zum Umgang mit den Operatoren in Prüfungsaufgaben, inhaltliche »Bausteine« für die einzelnen Kapitel und ein Coaching zu Beispielaufgaben.

Folgende Grundlegende Kompetenzen formuliert der Lehrplan für die Jahrgangsstufe 12:

Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit Grundaussagen christlicher Rede von Gott vor dem Hintergrund eigener Sinnfragen auseinander und vertreten eine differenzierte Position gegenüber Herausforderungen an den chr istlichen Gottesglauben.

Die Frage nach Gott war in allen Jahrgangsstufen eine Art »Grundmelodie« für die verschiedenen Lernbereiche. Die Basis dafür bildete die Beschäftigung mit der Bibel. Aber auch wenn es um persönliche Lebensgestaltung, um Trauer und Glück,

6 VORWORT
[7] copyrightedmaterial

um ethische Fragen oder um historische Zusammenhänge ging, geschah dies im Religionsunterricht aus der Perspektive jüdisch-christlichen Gottesglaubens. Explizit haben Sie sich mit dem trinitarischen Gottesverständnis im Sinne des Credos in den Jahrgangsstufen 5 – 7 beschäftigt sowie in Jahrgangsstufe 9, als Sie über den Glauben an Jesus Christus nachgedacht haben. In diesem Jahr bringen Sie dar über hinaus den christlichen Gottesglauben mit atheistischen Positionen sowie mit Glaubensüberzeugungen anderer Religionen ins Gespräch. In der Auseinandersetzung mit Leid und Theodizee knüpfen Sie ggf. an das Buch Hiob [11] an.

Die Schülerinnen und Schüler deuten die Spannung zwischen menschlichem Perfektionsstreben und Erfahrungen von Fragmentarität im Horizont des biblisch­reformatorischen Verständnisses von Sünde, Vergebung und Rechtfertigung.

Auch das biblisch-reformatorische Menschenverständnis bildete eine leitende Perspektive des gesamten evangelischen Religionsunterrichts der vergangenen Jahre. Explizit thematisiert wurde es v. a. in den Jahrgangsstufen 8 (Reformation) sowie 11 (evangelisches Gewissens- und Freiheitsverständnis). Wiederholt haben Sie einen kritischen Blick auf ein übersteigertes Perfektionsstreben geworfen, z. B. im Zusammenhang mit digitalen Medien [9], mit Körperbildern und -idealen [9] oder mit Glücksvorstellungen [10]

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Schon in der Jahrgangsstufe 5, dann vertieft in der 8. und schließlich in der 11. Jahrgangsstufe haben Sie sich mit dem biblischen Schöpfungsglauben und der damit verbundenen Sicht des Menschen als eines Geschöpfes, das »einfach nur« da sein darf und als »Ebenbild Gottes« zur Weltgestaltung beauftragt ist, auseinandergesetzt. Wiederholt ist Ihnen dabei auch Martin Luthers Sicht von der Freiheit eines Christenmenschen begegnet, der, befreit vom Zwang, sich Gottes Liebe verdienen zu müssen, dem/der Anderen und der Welt dienen kann.

Die Schülerinnen und Schüler reflektieren das Verhältnis von Individualität und dem Leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen und nehmen zu einer sozialethischen Problematik unter Einbeziehung theologischer Positionen Stellung.

Die Schülerinnen und Schüler bringen eigene Erfahrungen in Bezug auf Aktivität, Kreativität und Leistung in Beziehung mit biblischen und reformatorischen Sichtweisen ein und entwickeln Perspektiven für gesellschaftliche Fragen von Arbeit und Gerechtigkeit.

Der Dienst am Nächsten hat immer auch eine politische Dimension. Die gesellschaftliche Verantwortung von Christinnen und Christen konnten Sie in den vergangenen Jahrgangsstufen z. B. im Zusammenhang mit Themen wie »Anders, fremd, verschieden« [6], »Diakonie« [7], »Gerechtigkeit« [8, 11], »Medien« [9] oder »Klimagerechtigkeit« [10] wahrnehmen und diskutieren. In diesem Jahr fragen Sie explizit nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche; Sie können dabei etwa zurückgreifen auf die Jahrgangsstufen 7 (Kirche im Kontext des 3. Glaubensartikels; frühe Kirchengeschichte), 8 (Reformation, Vielfalt der Konfessionen), 9 (Kirche im 20. Jh.) sowie 10 (kirchliches Engagement für Frieden und Gerechtigkeit).

Viel Freude beim Nachdenken und Diskutieren im Religionsunterricht wünschen Ihnen die Autorinnen und Autoren von OrtswechselPLUS 12.

VORWORT 7

IM BLICKFELD

Was sehe ich – und was nicht?

Was begrenzt mein Blickfeld?

Ist das, was ich (nicht) sehe, wirklich wahr?

Sehe ich das Gleiche wie du?

Was bewahre ich auf, obwohl es kaputt ist?

Ergeben Bruchstücke Sinn?

Gibt es eine letzte Wahrheit?

Lernbereiche: »Der im-perfekte Mensch«, »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage« copyrightedmaterial

KAPITEL 1 8 KAPITEL 1
?

Sie erkunden spielerisch unterschiedliche Blickfelder und beschreiben die Erfahrungen, die Sie bei diesen Erprobungen machen. Sie lernen philosophische und theologische Perspektiven zu Fragen nach Wahrheit, Wirklichkeit und Erkenntnis kennen und können diese beschreiben.

Sie denken über die Grenzen menschlicher Erkenntnis der »Wirklichkeit« bzw. der »Wahrheit« nach. In diesem Zusammenhang setzen Sie sich mit bekannten erkenntnistheoretischen Theorien kritisch auseinander. urteilen

Sie nehmen wahr, wie das eigene Blickfeld die Sicht auf die Welt sowohl im räumlich-konkreten als auch im übertragenen Sinne bestimmt. Platons Höhlengleichnis und 1 Kor 13 deuten Sie im Hinblick auf die Frage, wie jeweils die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis von Wahrheit gesehen werden.

Sie diskutieren über mögliche Konsequenzen der Begrenztheit menschlicher Wirklichkeitswahrnehmung und tauschen sich darüber aus, inwiefern der »Stückwerk«Charakter des eigenen Lebens und Denkens auch relevant ist für die Frage nach Sinn.

WAHRNEHMUNG UND ILLUSION IM FILM

In diesem Kapitel geht es u. a. um die Frage, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen und ob unsere Wahrnehmungen »richtig« bzw. »wahr« sind. Zahlreiche Filme handeln von Wahrnehmung und Illusion, von den Grenzen der Erkenntnis und von dem Gefühl, »im falschen Film« zu sein, wie z. B. »Matrix«, »Die Truman Show« oder »Inception«. Analysieren Sie einzelne Szenen solcher Filme und beziehen Sie diese auf die im Kapitel behandelten Fragestellungen.

IM BLICKFELD 9
wiedergeben
beschreiben
deuten
reflektieren wahrnehmen
kommunizieren
sich
ausdrücken
EXTRATOUR copyrightedmaterial

Blickfeld

Die Bilder auf dieser Doppelseite stammen aus der Ausstellung »Field of Vision« mit Werken der Künstlerin Francis Zeischegg (Berlin, 2013). Diese »stellt in all ihren Arbeiten grundlegende Fragen nach der Wahrnehmung des Menschen im Raum, in der Stadt, oder wo immer er lebt und agiert. Wie gestaltet sich

das ›Feld des Blickwinkels‹, so der Titel der Ausstellung? Wie nehmen wir Strukturen und Raster wahr, wie die Behausungen und Bezugspunkte des Menschen, an dem sich in seiner Maßstäblichkeit alles orientiert?«

(aus einer Ankündigung zur Ausstellung)

10 KAPITEL 1
Francis Zeischegg, Blickwinkel, 2011 (Wandgraphik, tapeziert, Pigmentdruck auf Papierbahnen, 320 x 365,6 cm)
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In seiner »Politeia*« diskutiert Platon* die Möglichkeit einer idealen Staatsordnung. Im Zusammenhang mit der Frage, wie die Menschen gebildet werden können, verwendet Platon das berühmte Höhlengleichnis. In ihm geht es zugleich auch darum, ob und wie der Mensch die Wahrheit erkennen kann.

Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte. Von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt. Sie sehen nur geradeaus vor sich hin, von oben her aber aus der Ferne von rückwärts leuchtet ihnen ein Feuerschein; zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, längs dessen eine niedrige Mauer errichtet ist. Längs dieser Mauer tragen Menschen allerlei Gerätschaften vorbei. Können solche Gefesselten sowohl von sich selbst wie gegenseitig voneinander etwas anderes gesehen haben als die Schatten, die durch die Wirkung des Feuers auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle geworfen werden? Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände. Wenn einer von ihnen entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, nach dem Lichte emporzublicken, und wenn man ihn nun zwänge, seinen Blick auf das Licht selbst zu richten, so würden

Francis Zeischegg, Kleine Neugierde II, 2013 (Holzgestell, Weidengeflecht, 50 x 60 cm) copyrightedmaterial

ihn doch seine Augen schmerzen. Wenn man ihn nun aber von da gewaltsam durch den Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhte, als bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben? Zuletzt dann würde er die Sonne und nicht etwa bloß Abspiegelungen derselben im Wasser in voller Wirklichkeit schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein. Wenn ein solcher wieder hinabstiege in die Höhle und dort wieder seinen alten Platz einnähme, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht werden in Finsternis? Und wenn er nun wieder mit jenen ewig Gefesselten wetteifern müsste in der Deutung jener Schattenbilder, würde er sich da nicht lächerlich machen und würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran und schon der bloße Versuch, nach oben zu gelangen, sei verwerflich? Und wenn sie den, der es etwa versuchte, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, irgendwie in ihre Hand bekommen und umbringen könnten, so würden sie ihn doch auch umbringen?

Platon, Politeia (Der Staat), 7. Buch, 514a–517a, Übers. Karl Vretska, gekürzt

In Fesseln IM BLICKFELD 11

Augen-Blicke

»Durchschnittlich 30 Minuten im Blickfeld« verspricht eine Werbekampagne für Einkaufswagen-Werbung.

IM GUCKLOCH

Die Soziologin Anne Honer berichtet über den Verlauf ihrer Augenkrankheit und Augen-OP. Die Lochbrille reduzierte und verwandelte auch nochmals ganz entschieden meine eigene Welterfahrung: Der Blick durch die punktgroße, etwa zwei Zentimeter vom Auge entfernte Öffnung gibt dem Schauenden zunächst kurzzeitig das Gefühl, sich in einem großen, dunklen Raum zu befinden, in dem weit entfernt eine kleine Öffnung angebracht ist, durch die spärlich Licht hereindringt. Wenn man sich dann besser an diesen »Raum« gewöhnt hat – wobei offenbar das Sehvermögen die Fähigkeit besitzt, das Räumliche des Zwischenraums zu »negieren« und sich zu »eigen« zu machen –und versucht hinauszusehen, dann hat man eine Art »Schlüsselloch-Erlebnis«: Man sieht von dem, was jenseits dieses Loches vor sich geht, eben nur das, was sich zufällig in diesem minimalen Ausschnitt des Sichtbaren abspielt. Nun versucht man dieses Handicap des völlig eingeschränkten Gesichtsfeldes dadurch zu kompensieren, dass man den Blick schweifen lässt, was natürlich nur dadurch möglich ist, dass man ständig den ganzen Kopf in alle möglichen Richtungen dreht – bzw. eben dorthin, wo man Interessantes vermutet. Fatalerweise aber entschwindet eben schon bei einer leichten Veränderung der Kopfhaltung alles, was man eben noch gesehen hat, vollständig aus dem Blick, sodass das, was das Auge registriert, eher einer Folge von kaum zusammenhängenden Einzelbildern ähnelt als einem kontinuierlich ablaufenden Film.

DER MENSCH UND SEIN BLICKFELD

1. »Sein Blickfeld erweitern« / »aus dem Blick verlieren / »im toten Winkel« … Sammeln und deuten Sie Redensarten zum Buchmotto und beziehen Sie diese auf die Grafik unten.

2. Deuten Sie die Kunstwerke auf S. 10 f. mithilfe des Ankündigungstextes zur Ausstellung.

3. A. Honer bezieht ihre Erfahrungen mit ihrer Augenkrankheit auf ihr Verhältnis zur Welt. Arbeiten Sie entsprechende Aussagen / Motive aus dem Text links heraus und ergänzen Sie sie ggf. durch eigene Erfahrungen.

4. Veranstalten Sie Experimente zum Thema »Blickfeld«, indem Sie z. B. unterschiedliche Perspektiven im Raum ausprobieren oder Fotos machen.

5. Werbung arbeitet oft mit Blickfeldern – sammeln und bewerten Sie Beispiele. Vgl. die Anzeige (links).

AUS EINEM LEXIKON DER OPTIK

Blickfeld, Gesamtheit aller Objektpunkte, die bei unbewegtem Kopf und umherblickenden Augen fixiert werden können.

Gesichtsfeld, Gesamtheit aller Punkte im Außenraum, die bei unbewegtem Kopf und Primärstellung der Augen wahrgenommen werden können.

Gesichtsfeld

Gesichtsfeld rechtes

12 KAPITEL 1
0° 180°
135° 45° stereoskopisches Sehen (räumliches)
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Bereich schärfsten Sehens Blick- feld

Zwischen Dunkel und Licht

PLATONS* IDEENLEHRE*

DAS HÖHLENGLEICHNIS – ERKENNTNIS­

THEORETISCH GEDEUTET

• Platon unterscheidet die vergängliche Sinnenwelt und die ewige Welt der Ideen*: Sinnlich wahrnehmbare Phänomene sind für Platon lediglich Abbilder, also gleichsam Schatten der unvergänglichen Ideen, und damit nicht »wahr« bzw. »eigentlich«. Z. B. ist ein konkreter Tisch nur ein mögliches Abbild der Idee eines Tisches. Dies gilt auch für immaterielle Dinge, wie z. B. für die Tugenden der Gerechtigkeit, Tapferkeit oder für die Schönheit. Die höchste Idee ist die »Idee des Guten«.

• Nach Platons dualistischem* Welt- und Menschenbild entstammt die Seele des Menschen ursprünglich dem Reich der Ideen. Im menschlichen Körper ist sie jedoch eingekerkert. Allerdings ist der Mensch fähig, sich in seinem Denken an die Ideen zu erinnern und sein Leben danach auszurichten. Gänzlich befreit von der Welt des Scheins wird er erst im Tod.

BeMERKenswert:

Der Entfesselte geht nicht freiwillig.

SCHATTENBILDER

1. Jemand liest das Höhlengleichnis (gekürzt auf S. 11 oder in einer ungekürzten Übersetzung) langsam vor. Die anderen fertigen eine Skizze zum Gehörten an. Vergleichen Sie anschließend Ihre Ergebnisse.

2. Deuten Sie das Höhlengleichnis mit Bezug auf Platons* Ideenlehre* (Info). Stellen Sie Bezüge zu den Kunstwerken auf S. 10 und 11 her.

3. Fassen Sie den Text von T. Assheuer zusammen. Legen Sie der Platon-Statue auf dem Bild rechts Sätze in den Mund, in denen der Philosoph zum gegenwärtigen »Stimmengewirr der öffentlichen Meinungen« Stellung bezieht

Platons* Höhlengleichnis hatte nicht nur einen philosophischen, es hatte auch einen handfesten politischen Hintergrund. Damals kämpften die Aufklärer, so darf man diese Philosophen ruhig nennen, nicht bloß gegen die Verführungskraft alter Mythen; sie kämpften zugleich gegen Populisten, Sophisten, Demagogen und die »Schmeichler des Volkes«. In Platons »Gorgias« beschwert sich Sokrates darüber, dass es denen, die dem Volk nach dem Munde reden, nicht um »die Verkündigung von Wahrheit« gehe, nicht um das Wohl der Polis, sondern um »die Erzeugung von Wohlwollen beim Zuhörer«. Auch Aristoteles* warnte vor Volksführern ohne Amt und Rechenschaftspflicht; sie putschten Menschen auf und seien »schuld daran, dass nicht nach den Gesetzen entschieden wird«. Oder mit Platon gesagt: Demagogen ergötzen sich am Schattengefecht der Meinungen. Sie pfeifen auf die Erkenntnis, dass »Wissen gerechtfertigte wahre Meinung« ist. Sie versperren den Höhlenausgang und behindern »den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis«.

Warum kann man solche Geschichten nicht oft genug erzählen? Ganz einfach: weil der antike Streit um Wahrheit und Meinung immer ein Streit um die Möglichkeiten der Demokratie ist. Lassen sich im Stimmengewirr der öffentlichen Meinungen überhaupt Wahrheitsfragen stellen? Dürfen alle Bürger gleichermaßen mitreden? Oder sollte – wie in Platons Ständestaat –ein Wächterrat die Wahrheit kontrollieren?

Thomas Assheuer

IM BLICKFELD 13
INFO
Platonstatue in Athen
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Was können wir wissen …

KANT* FÜR ANFÄNGER

In einer Produktion des Bildungskanals BR-alpha unterhält sich die Studentin Sophie mit dem ihr zumeist im Traum bei ihren Studien erscheinenden Immanuel Kant. Kant: Mir ging es darum, herauszufinden, wie die Grenzen meiner Erkenntnis abgesteckt werden. Der Rationalismus zum Exempel sagt: Die Sinneserfahrung kann keineswegs die Grundlage oder Grenze der Erkenntnis sein. Wahr ist nur, was die Vernunft über die Welt aussagt.

Sophie: Aber ist nicht auch Erfahrung wichtig?

So argumentiert der Empirismus: Allein die Erfahrung ist Quelle und Grenze allen Erkennens. Kennen Sie John Locke?

Den Namen habe ich schon mal gehört. Er sagt: Es ist nichts im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen wäre. Ihm zufolge wäre eine Metaphysik* nicht möglich.

Wer hat nun Recht?

Ich wollte Rationalismus und Empirismus miteinander versöhnen. Zu diesem Zweck habe ich das gesamte menschliche Denken einer Prüfung unterzogen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser fortkommen, wenn wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.

Aha! Wenn ich also jetzt die Erde mit dem Menschen gleichsetze und die Sonne mit dem Gegenstand, den ich erkennen will, ja ... dann dreht sich meine Erkenntnis um den Gegenstand.

Nein, nein. Andersherum, werte Sophie! Der Verstand ist das zentrale Maß aller Erkenntnis. Um ihn drehen sich die erkannten Gegenstände, und zwar so, wie wir sie sehen, und nicht, wie auch immer sie in Wirklichkeit sein mögen.

Der Verstand ist die Sonne?

Kant richtet ein altes Spiegelteleskop aus.

Würden Sie freundlicherweise durch dieses Teleskop blicken? Was sehen Sie?

Einen Fleck. Einen blass-blauen runden Fleck. Ein leuchtender Stern? Nein, da sind Schatten ... Ah! Ein Planet ... Moment, da sind so Ausbuchtungen, nein das sind Ringe ... Ah, das ist der Saturn!

Sehen Sie: Die Begriffe Fleck, Stern, Planet, Ringe und der Name Saturn hat Ihr Verstand produziert. Das, was Sie als Saturn bezeichnen, hat sich nach Ihrem Verstand gerichtet. Der Saturn an sich hat sich nicht geändert.

Ist das das berühmte »Ding an sich«?

Exakt. Wir können über die Gegenstände an sich nichts Sicheres sagen. Sie gehören zu den Dingen an sich, die dem Menschen nie zur Verfügung stehen werden. Heißt das, der Mensch kann sie weder mit seinen Sinnen noch mit seiner Vernunft je begreifen?

Ja. Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineindenkt! Allerdings besteht jede Erkenntnis über die Welt aus Sinnlichkeit und Verstand, denn die Sinnlichkeit ist auf den Verstand angewiesen, und der Verstand ist auf unsere fünf Sinne angewiesen. Daher: Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind.

»Dieser Verstand aber ist ein gänzlich aktives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprünglich, und er schafft sich also seine Welt. (Aus: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft)

14 KAPITEL 1
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»Wissen bedeutet, anderen etwas zu glauben.

»Das Internet weiß alles.

»Ich weiß das, ich war ja dabei.

IMMANUEL KANTS* ERKENNTNISTHEORIE

• In »Kritik der reinen Vernunft« (1781, 1787) geht es Immanuel Kant um die Fragen (griech. krinein: prüfen, beurteilen), wie Erkenntnis möglich ist und wie weit diese reicht. Dafür verwendet er die sog. transzendentale Methode, die als Wendepunkt der Philosophiegeschichte gesehen wird: Um die erfahrungsunabhängigen (also die objektiven, »reinen«) Gr undlagen aller Verstandeserkenntnis zu erfassen, fragt Kant danach, was die »Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis« sind.

• Gegenüber dem Empirismus macht er mit Verweis auf die Mathematik deutlich, dass nicht alle Erkenntnisse aus Beobachtungen durch die Sinne stammen müssen, sondern auch erfahrungsunabhängig sein können. Gegenüber dem Rationalismus zeigt er auf, dass die meisten Erkenntnisse durchaus Material aus Sinneseindrücken benötigen. Die eigentliche Erkenntnis kommt jedoch nicht durch dieses (empirische) Material zustande, sondern durch Erkenntniswerkzeuge des Verstandes, die Kant als »Kategorien« bezeichnet. Mit ihrer Hilfe strukturiert das Subjekt sein Wahrnehmen und Denken, indem es z. B. mittels

DAS BLICKFELD: GEREGELT UND BESCHRÄNKT

1. Was kann man wissen? Setzen Sie sich mit den Zitaten unten auseinander.

2. Halten Sie Erkenntnisse und Fragen zum Dialog ( S. 14) fest. Beziehen Sie sie auf die Info und die »Denkhaube«. Bewerten Sie das Sendungsformat (vgl. Bild S. 14).

3. Zeitgenossen, wie z. B. Heinrich von Kleist*, reagierten erschüttert auf I. Kants* Erkenntnistheorie. Suchen Sie nach Gründen dafür und diskutieren Sie darüber

4. Vergleichen Sie, worin Platon* und Kant* die Einschränkung des menschlichen Blickfelds sehen.

»Ich weiß, dass ich nichts weiß. (Sokrates)
»Man kann eigentlich nicht wissen, was man nicht weiß.

Vergleich, Abstraktion und Verknüpfung Zusammenhänge herstellt. Diese Kategorien bringt der Verstand selbst mit – sie liegen nicht in der Natur der Dinge. Daraus ergeben sich Konsequenzen: Zum einen sind Erkenntnisse über die Welt prinzipiell an Raum und Zeit als »reine Anschauungsformen« gebunden. Was über Zeit und Raum hinausgeht, kann zwar gedacht, aber nicht gewusst werden. Zum Beispiel stellt der Begriff »Freiheit« nach Kant eine »regulative Idee« dar, die beispielsweise für das Zusammenleben zentrale Bedeutung hat. Freiheit kann aber nicht als wahr wahrgenommen werden. Zum anderen können wir die Dinge in der Welt nicht so erkennen, wie sie »an sich« sind, sondern nur so, wie unser Verstand sie mithilfe der Verstandeswerkzeuge formt.

• Wahrheit kann nach Kant damit nicht mehr als Übereinstimmung mit einer unabhängigen, objektiven Wirklichkeit (dem »Ding an sich«) bestehen, sondern als Übereinstimmung mit den Sachverhalten und Gegenständen, wie sie sich für uns aufgrund der Verstandesbedingungen von Erkenntnis notwendigerweise darbieten, nämlich als »Erscheinungen«.

… und denken? IM BLICKFELD 15
INFO
Kants* »Denkhaube« von Richard Osborne und Ralph Edney
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Jetzt noch: verschwommen

STÜCKWERK

In Basel hat eine Ausstellung zu diesem Thema eröffnet. »Stückwerk« – so verspricht der Flyer: Geflickte Kr üge, Patchwork*, Kraftfiguren. Das ist Stückwerk im ganz wörtlichen Sinne. Da geht es um Objekte. Es geht um etwas Dingliches. Die Objekte sind, so weiterhin der Werbetext zur Ausstellung, »beschädigt, geflickt, unvollkommen.« Es sind Objekte mit Schrammen und Kerben, Objekte mit Gebrauch und Geschichte. In meinem Elternhaus gab es über Jahre hinweg eine Tasse ohne Henkel, die dennoch aufbewahrt und benutzt wurde. Sie hieß die »kaputtene Tasse«. Stückwerk: Warum haben die Basler Ausstellungsmacher gerade dieses Wort gewählt, obwohl es doch auch solche schönen deutschen Wörter gegeben hätte wie »Flickwerk« oder – unterdessen schon ebenso deutsch – »patchwork« oder einfach »Fragmente«? Luther ist schuld. Stückwerk ist ein wunderbares Beispiel für die sprachprägende Kraft von Martin Luther. Er hat das Wort in seiner Bibelübersetzung gebraucht und geprägt. Wer das Wort gebraucht, zitiert direkt oder indirekt 1 Korinther 13. Unser Wissen ist nicht nur irgendwie unterwegs oder vielleicht noch nicht ganz fertig oder halt mal versuchsweise so dahingeredet. In der Hoffnung, dass es »schon noch wird«. Es ist vielmehr grundsätzlich, seiner Natur nach defizient. Das wird nicht noch. Da wächst nichts mehr. Es ist eine kaputtene Tasse. Vielleicht können wir ja unsere Fähigkeiten, Zusammenhänge zu erkennen, noch steigern, vielleicht hier und dort noch etwas dazulernen. Und es ist sicher nicht schlecht, wenn wir es versuchen. Aber es nützt nichts. Es wird dabei bleiben. So sehr wir uns auch mühen: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild« (V. 12 a, Luther 1984). Martin Walraff, Theologe

Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

1 Kor 13,8–13

INFO

PAULUS’ »HOHES LIED DER LIEBE«

1 Kor 13 ist vor allem als das »Hohelied der Liebe« bekannt und wird als solches z. B. bei Hochzeiten viel zitiert [9]. Besungen wird darin die hingebungsvolle Liebe, die nicht das Eigene, sondern das Wohl des bzw. der Anderen im Blick hat. Der Schluss des Textes macht deutlich, dass 1 Kor 13 keine moralische Anweisung für menschliche Liebesbeziehungen sein will. Menschliche Liebe steht wie alles menschliche Tun und alle menschliche Erkenntnis in der Spannung zwischen »schon« und »noch nicht«. Das bruchstückhafte »Jetzt« wird einem erhofften und erwarteten »Dann« gegenübergestellt. »Dann« wird das Blickfeld nicht mehr beschränkt, wird die Wahrheit nicht mehr getrübt sein. Dabei richtet sich die Hoffnung einerseits auf die Begegnung mit Gott »von Angesicht zu Angesicht«, andererseits darauf, selbst unverstellt gesehen und erkannt zu werden. Was zwischen »Jetzt« und »Dann« bleibt, sind für Paulus Glaube und Hoffnung, vor allem aber die Liebe, die in Ewigkeit nicht aufhört.

16 KAPITEL 1
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Exponate der Ausstellung »Stückwerk« im Museum der Kulturen, Basel

STÜCKWEISE

Unser Leben ist zerbrechlich. Weil es nicht auf festem Grund steht und sich nicht von selbst versteht, fragen wir nach seinem Sinn. Brüchig wie das Leben selbst sind freilich auch unsere Antworten. Wir stellen fest, dass viele überkommene Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ihre Überzeugungskraft verloren haben, weil sie am Leben selbst abgeprallt und zerschellt sind. Vertraute Weltbilder, in denen wir die Wirklichkeit wie in einem Spiegel betrachtet haben, sind ebenso zerbrochen wie die Hoffnungsgemälde gesellschaftlicher Utopien. Allenfalls Bruchstücke sind uns geblieben, die sich nicht mehr zu einem Ganzen fügen wollen.

Auch die Antworten des Christentums auf die Frage nach dem Sinn des Lebens sind fragwürdig geworden. Nur noch stückweise ahnen wir bestenfalls, wovon in seiner Überlieferung die Rede ist. Das Verstehen will nur noch bruchstückhaft gelingen, weil wir als Angehörige der in die Krise geratenen Moderne nurmehr ein gebrochenes Lebensverhältnis zum christlichen Glauben haben.

Im 1. Korintherbrief schreibt Paulus: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin« (1 Kor 13,12, Luther 1984). Mir scheint, als sei es auch unserem heutigen Versuch, die Botschaft des Christentums zu verstehen, nur gegeben, ein Fragment zu bleiben. Ob die Bruchstücke unseres Erkennens unter der Verheißung stehen, vollendet zu werden, wie Paulus es für sich erhofft hat, steht dahin. Es sei jedoch an Dietrich Bonhoeffer* erinnert, welcher, in Gestapohaft seinen gewaltsamen Tod vor Augen, zu bedenken gab, dass gerade das Fragment des eigenen Lebens und Denkens »auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen« könne. »Es gibt«, wie Bonhoeffer notiert hat, »Fragmente […], die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen.« U lr ich Körtner, Theologe

Aus »Die Bibel in Bildern von Quint Buchholz« zu 1 Kor 13,12

JETZT – DANN

1. Besitzen Sie selbst ein solches »Stückwerk«, das in die Ausstellung ( S. 16) passen würde? Tauschen Sie sich aus, Sie können auch Fotos machen.

2. Stellen Sie Vermutungen an, warum die Ausstellungsmacher / innen dieses Thema gewählt haben.

3. Lesen Sie 1 Kor 13,8–13. Gestalten Sie daraus eine Sprechmotette* [5], in der die Spannung von »Jetzt« und »Dann« zum Ausdruck kommt.

4. Identifizieren Sie Motive des Sehens und den Gedanken des Blickfelds in 1 Kor 13,8–13.

5. »Erkannt werden, so wie ich bin …« – notieren Sie Gedanken dazu.

6. Vergleichen Sie Bildwelt und Aussage von 1 Kor 13,8–13 und dem Höhlengleichnis ( S. 11).

7. Fassen Sie den Text von U. Körtner zusammen. Erläutern Sie D. Bonhoeffers* Zitat von »Fragmenten, die Fragmente sein müssen.« (zu Fragmenten vgl. Kap. 4, S. 94 f.)

8. Q. Buchholz fügt dem Symbol des Spiegels weitere hinzu. Deuten Sie sein Bild.

Am Ende Durchblick
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Sichtbar – unsichtbar

Fujiko Nakaya gestaltet aus Nebel Kunstwerke, hier zwei Beispiele aus der Ausstellung »Nebel. Leben« in München (2022)

»Nebel lässt sichtbare Dinge unsichtbar werden, während unsichtbare –wie Wind – sichtbar werden.«

18 KAPITEL 1
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Im Zusammenhang

wiedergeben ++ beschreiben ++ wahrnehmen ++ deuten ++ reflektieren ++ urteilen ++ kommunizieren ++ sich ausdrücken

»Im Nebel stehen« –tauschen Sie sich über Erfahrungen aus, die zu dieser Sprachfigur passen, Sie können auch z. B. Tagebucheinträge, Gedichte, Poetryslams oder Posts verfassen.

Sammeln Sie Ihre ersten Eindrücke zu den Ausstellungsbildern. Beschreiben Sie die Fotos möglichst genau.

Beziehen Sie die Fotos auf das Buchmotto des Blickfelds. Berücksichtigen Sie dabei auch das Zitat von F. Nakaya.

Versetzen Sie sich in die Person auf dem unteren Bild und gehen Sie in Gedanken ein Stück mit ihr mit. Beschreiben Sie, wie sich ihr Blickfeld verändert. Diskutieren Sie darüber, ob das Bild zu 1 Kor 13 passt.

Deuten Sie die Nebelinstallationen aus der Sicht von Platon* und I. Kant*.

Die Nebelinstallationen von F. Nakaya sind auf der ganzen Welt erfolgreich, sowohl in Ausstellungen als auch im öffentlichen Raum. Diskutieren Sie mögliche Gründe dafür.

Was haben Sie dazugelernt (vgl. S. 9)?

Was möchten Sie sich merken?

Welche Methoden bzw. Materialien haben Sie besonders angesprochen?

Was wird Sie weiter beschäftigen?

Welche Fragen bleiben offen?

IM BLICKFELD 19
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»OH MY GOD«!?

Warum eigentlich »mein« Gott?

Ist Gott die Antwort auf die Frage nach Sinn?

Macht Gott einen Unterschied?

Ist Gott eine Erfindung?

Kann Gott alles?

Verändert sich Gott?

Was merkt man von Gott?

?

Lernbereich: »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage«

KAPITEL 2 20 KAPITEL 2
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Ausgehend von der Frage nach Sinn beschäftigen Sie sich mit der Frage nach Gott. Sie bündeln zentrale Aussagen biblisch-christlichen Gottesglaubens, die Sie aus den vergangenen Jahren kennen, und begegnen exemplarischen theologischen Positionen zur Gottesfrage. Sie können wichtige Argumente philosophischer Religionskritik wiedergeben und die Theodizeefrage präzise formulieren.

Sie fragen nach dem gegenwärtigen Stellenwert der Sinn- und Gottesfrage, auch bei Jugendlichen, und bewerten gesellschaftliche Sinnangebote. In der Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Positionen können Sie Ihre Vorstellungen von Gott vertiefen. Religionskr itische Positionen überprüfen Sie auf ihre Relevanz für den christlichen Glauben.

urteilen

Sie nehmen wahr, wie Sinn- und Gottesfrage zusammenhängen. Sie deuten und vergleichen biblische Aussagen über die Beziehung zwischen Gott und Mensch vor dem Hintergrund eines trinitarischen Gottesverständnisses und erschließen theologische und philosophische Texte sowie Werke der Kunst und Musik und leiten daraus Konsequenzen für Lebensgefühl und Lebensführung ab.

Sie artikulieren eigene Gottesvorstellungen und Anfragen an den christlichen Glauben und tauschen sich respektvoll darüber aus. Sie diskutieren über unterschiedliche theologische und wissenschaftliche Positionen, formulieren Stellungnahmen und setzen Symbole des christlichen Glaubens kreativ um.

KINDERLIEDER UND -GEBETE »Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein« – erinnern Sie sich an Gebete oder Lieder aus Ihrer Kindheit? Fragen Sie Ihre Eltern oder Großeltern danach oder recherchieren Sie im Internet. Untersuchen Sie einzelne Texte daraufhin, wie hier Kindern Sinn vermittelt wird und welche Vorstellungen von Gott ggf. darin zum Ausdruck kommen. Beziehen Sie Ihre Ergebnisse auf Fragestellungen dieses Kapitels. Prüfen Sie, welche Gedanken aus den Liedern bzw. Gebeten Sie problematisch finden und welche Sie gern an eigene Kinder weitergeben würden.

»OH MY GOD«!? 21
wiedergeben
beschreiben
reflektieren
deuten
wahrnehmen
kommunizieren
sich ausdrücken
EXTRATOUR copyrightedmaterial

Der erste Blick am Morgen

22 KAPITEL 2
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Josef Limburg, Erwachendes Mädchen, Berlin, Stadtpark Steglitz

Aus der Graphic Novel »Große Fragen« von Anders Nilsen copyrightedmaterial

»OH MY GOD«!? 23
Fragen
Große

DER VERBORGENE SINN

VERGNÜGUNGEN

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen

Das wiedergefundene alte Buch

Begeisterte Gesichter

Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten

Die Zeitung

Der Hund

Die Dialektik

Duschen, Schwimmen

Alte Musik

Bequeme Schuhe

Begreifen

Neue Musik

Schreiben, Pflanzen

Reisen

Singen

Freundlich sein

BERTOLT BRECHT*

Guten Morgen! Der Kaffee ist fertig.

Wer aufsteht, setzt ihn schon voraus, den Sinn. Er ist da, sobald die Augen aufgeschlagen werden und der Körper sich erhebt. Die Augen aufschlagen heißt, die Welt neu sehen. Sich erheben heißt, sich in der Welt bewegen. Die Beständigkeit der Welt, mit ihr rechnen wir, wenn wir uns in ihr frühmorgens orientieren. Dass nach der Nacht, die gerade vorüber ist, der Tag kommt. Dass auf den Sommer der Winter folgt. Dass wir oben und unten zu unterscheiden wissen. Dass vorher nicht nachher ist. Was uns umgibt, was wir ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen, das ist schon da. Weil sie schon da ist, die Wirklichkeit, der der Sinn innewohnt, brauchen wir sie uns auch nicht aus uns selbst setzen zu wollen. Wir können den Sinn nur als vorausgesetzt in Anspruch nehmen.

Dietrich Korsch, Theologe

MARTIN LUTHER, MORGENSEGEN

GUTEN MORGEN!

1. Beschreiben Sie typische Gesten des Aufwachens oder stellen Sie sie dar. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit der Skulptur auf S. 22.

2. Schildern Sie die ersten Sekunden Ihres Tages in Zeitlupe: Was sehe ich? Was fühle und denke ich? Wie komme ich in Bewegung?

3. »Wer aufsteht, setzt ihn schon voraus, den Sinn«. Erläutern und diskutieren Sie diese These von D. Korsch (oben rechts).

4. Beziehen Sie die Materialien dieser Seite auf die Überlegungen von D. Korsch.

5. Luthers Morgensegen – ein guter Einstieg in den Tag? Diskutieren Sie.

6. Untersuchen Sie Morgengedichte bzw. -lieder (z. B. im Gesangbuch) nach Sinn-Motiven.

7. Sammeln Sie Situationen im weiteren Tageslauf, bei denen wir Sinn einfach schon voraussetzen.

Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen. Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen: Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen. Als dann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.

Sinn – einfach
da?
24 KAPITEL 2
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WIR KÖNNEN NICHT ANDERS

Wieso kommen wir auf die Idee, dass es einen Sinn des Lebens geben könnte und scheitern immer wieder daran, herauszufinden, worin er besteht? Philosoph Prof. Gert Scobel hat dafür eine Erklärung. Er sagt: Wir wünschen uns so sehr, dass es diesen Sinn gibt, wir wünschen uns so sehr, dass unsere kurze Existenz auf diesem Planeten Teil eines großen Plans, einer großen Idee ist:

»Wir wissen, dass wir sterben, wir wissen, dass nichts von Bestand und Dauer ist. Dass wir es einfach hassen, mit unserer eigenen Fehlbarkeit und Endlichkeit der Erkenntnis umzugehen, und wir wollen, dass das ein Ende hat. Und das andere ist, dass wir etwas suchen, was uns in den Irrnissen und Wirrnissen des Lebens, durch die Widerstände, denen wir begegnen, hindurchträgt. Also etwas, wie Luther sagen würde, was sich in L eben und Sterben bewährt. Das hätten wir bitte auch gerne.«

Das eine ist also der Wunsch nach einer beständigen und ewigen Wahrheit. Nach so einer Art allgemeingültiger Betriebsanleitung für das Leben. Dass wir am Ende sagen können: »So, alles erfüllt. Gut gemacht, mehr g ing nicht.« Das andere ist, wir können nicht anders als nach einem Sinn suchen, wir sind so. Wir sind so gemacht. Unsere Entscheidungen, gemeinsam etwas zu tun, Dinge zu teilen, Entbehrungen auf uns zu nehmen, das alles setzt einen Sinn voraus. Ohne diese Kategorie »Sinn« können wir nicht handeln, sagt Biochemiker Prof. Andreas Beyer: »Und dazu gehört eben auch, ständig nach Begründungen zu fragen. Wir sind die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten, die faktisch nichts tun, ohne einen Gr und dafür angeben zu können.« – Die Lieblingsfrage unseres Gehirns ist die Warum-Frage. Darum dreht sich im Grunde alles: Warum, warum, warum? Unser Hirn ist streng genommen eine Sinn-Suchmaschine. Aus einer Radiosendung des MDR

AUF SINN-SUCHE

1. »… ein paar wirklich große Fragen« ( S. 23): Formulieren Sie in Gruppen solche Fragen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse. Zeigen Sie an Beispielen, worin sich diese Fragen von anderen, »weniger großen« unterscheiden.

2. Beschreiben und deuten Sie die Karikatur (links); entwerfen Sie mögliche Fortsetzungen.

3. Arbeiten Sie aus dem Text (links) und dem Zitat von V. Frankl Gründe dafür heraus, dass Menschen nach Sinn fragen. Überprüfen Sie die Aussagen an eigenen Erfahrungen.

4. Philosophieren Sie über das Merke und den Comic (unten).

5. Stellen Sie Vermutungen an, warum die Sinnfrage für Karikaturisten und Comiczeichner attraktiv zu sein scheint. Suchen Sie weitere Beispiele.

»Die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben ist es, das Fragen stellt. (Viktor Frankl*)

Eine MERKwürdige Frage –aber ist sie auch sinnvoll?

Sinn – fraglich?
»OH MY GOD«!? 25
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AUF DER SUCHE NACH DEM LEBENSSINN

Aus einem Gespräch mit der Sinnforscherin Tatjana Schnell Was ist Sinn überhaupt?

Sinn ist nichts, was irgendwo drinsteckt, sondern Sinn ist etwas, das wir einer Sache zuschreiben. Als wichtige Erkenntnis hat sich herausgestellt: Sinn ist immer mehr! Mehr als das, was unmittelbar vor Augen ist.

Was konkret gibt unserem Leben Sinn?

Wenn wir ganz offen fragen, sagen die meisten Menschen auf der ganzen Welt zuerst: Familie und Freunde, soziale Beziehungen. Danach kommen die Arbeit oder die Natur. Diese Aussagen sind aber nicht sehr aussagekräftig. Wir haben daher in unseren Studien eine Methode verwendet, die weitergräbt. In einem Interview haben wir einen jungen Mann gefragt, warum Familie für ihn so wichtig ist. Er hat gesagt, es seien die Familienfeiern. Wir haben weitergefragt, wofür stehen die Feiern? Er hat gesagt, sie würden viel lachen, es sei spannend und »wie in einem Wettkampf«. Für diesen Mann ist Familie eine Herausforderung; die Herausforderung ist für ihn die Sinnquelle. Für viele Menschen bedeutet Familie aber etwas ganz anderes, zum Beispiel Gemeinschaft oder das Füreinanderdasein. Man sieht, wie subjektiv Sinnzuschreibungen sind. Was meinen wir, wenn wir sagen, unser Leben ist sinnvoll? In der empirischen Sinnforschung haben sich vier Merkmale gezeigt: Bedeutsamkeit (Es ist nicht egal, was ich tue), Stimmigkeit (Was ich tue, entspricht dem, was mir wichtig ist; ich muss nicht anders handeln, als ich möchte), Orientierung (Ich weiß, in welche Richtung mein Leben gehen soll). Wir haben heute viele Möglichkeiten zu leben. Wenn ich meine Richtung kenne, kann ich zu vielen Dingen Nein sagen. Vierter Punkt ist die Zugehörigkeit (Ich habe einen Platz in dieser Welt). Das muss keine Gruppe sein, es kann auch das größere Ganze, z. B. die Natur sein.

Stell dir vor, du hast einen Job mit Sinn!

Werbung einer Bankengruppe

Sinnangebote
26 KAPITEL 2
HEUTE. FÜR MORGEN. FÜR UNS.
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Im Rahmen der Themenreihe »Warum?«, in der es um Sinnsuche und Spiritualität ging (2021), fragte die ZEIT Leserinnen und Leser nach dem Sinn ihres Lebens. Hier eine Auswahl aus 400 Einsendungen:

David, 19: Als optimistischer Nihilist* gibt es für mich keinen objektiv begreifbaren Sinn des Lebens, also kann ich ausprobieren, was für mich funktioniert und mir meinen eigenen Sinn erfinden; meine eigene Bestimmung bestimmen. Da ich ein junger Mensch bin, versuche ich mich an revolutionären Philosophien und vermute, dass irgendwann eine Person der Sinn meines Lebens sein wird.

Hannah, 24: Ich glaube an Gott, den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde, den Sohn, Jesus Christus, und den heiligen Geist. Für mich bedeutet das: Ich dar f Mensch sein, Fehler machen, die Kontrolle verlieren, denn ich habe die Fäden nicht in der Hand. Es heißt für mich aber auch, dass ich Verantwortung habe für die Umwelt, meine Mitmenschen und mich selbst. Diese Verantwortung muss ich aber nicht alleine tragen, sondern bin mir gewiss, dass ich begleitet werde.

Dina, 28: Schon seit meiner Kindheit sehe ich den Sinn meines Lebens darin, etwas Gutes für diese Welt zu tun. Mein islamischer Glaube unterstützt mich zusätzlich, weil ich mir davon nicht nur Zufriedenheit in diesem, sondern auch in einem nächsten Leben erhoffe. Gutes zu tun, kann für mich vieles sein: meinen Eltern ein Lächeln auf die Lippen zaubern, Müll vom Boden aufheben oder auch einem Menschen Liebe und Geborgenheit schenken. Selbst in dunklen Zeiten schöpfe ich daraus Kraft und Hoffnung.

ne Trauer oder emotionalen Schmerz zu kennen. Für mich gehört auch die Frage, was am Ende bleibt, dazu. Lebenszeit ist das Wertvollste, was es im Leben eines Menschen gibt. Wenn wir Zeit mit anderen Menschen verbringen, schenken wir ihnen einen Teil unserer begrenzten Lebenszeit. Deshalb ist auch eine Umarmung oder ein gutes Gespräch mit einem Freund, der weiß, wie du wirklich bist, und dich versteht, der für dich da ist, wenn du ihn brauchst, so viel wertvoller als vierhundert Kommentare unter einem Selfie mit Smileys, die Herzen als Augen haben.

Tillmann, 22: Sinn ergibt sich für mich aus Arbeit. Damit meine ich nicht den Job oder mit etwas Geld zu verdienen. Arbeit ist für mich ein Prozess der Schöpfung, der Entäußerung: Ich gestalte ein Stückchen Welt. Das eigene Arbeiten ist auch nie von den anderen Menschen zu trennen. Egal, was man erarbeitet, man ist stets auf andere angewiesen und bezogen. Nichts verbindet mehr und ist sinnstiftender, als gemeinsam etwas zu schaffen. copyrightedmaterial

Marina, 23: Der Sinn des Lebens ist etwas ganz und gar Individuelles. Ich finde ihn vor allem in den nichtmateriellen Seiten des Lebens. Etwa, wenn ich Zeit mit den Menschen verbringe, die ich liebe. Das können die Eltern sein, der Partner, Kinder oder Freunde – Menschen, die positive Spuren in meinem Herzen hinterlassen, Menschen, die mir guttun. Eine weitere Antwort auf die Sinnfrage ist für mich, das Leben in seiner Ganzheit wertzuschätzen. Zu erkennen und zu akzeptieren, dass alles ein Gegengewicht braucht, dass wir Glück und Freude nicht komplett erleben können, oh-

MERKe: Sinn ist immer »mehr«.

SINN – FÜR MICH?

1. Ergänzen Sie die Umfrage durch eigene kurze Texte.

2. Arbeiten Sie aus dem Interview mit T. Schnell ( S. 26) Merkmale von »Lebenssinn« heraus und wenden Sie sie auf die Statements aus der Umfrage (und ggf. auf Ihre eigenen Texte) an. Spekulieren Sie, was sich vielleicht an den Aussagen ändern wird, wenn die Befragten 20 Jahre älter sind.

3. Vergleichen und beurteilen Sie die Sinnangebote in den drei Werbeanzeigen ( S. 26). Achten Sie dabei auf die sprachliche und grafische Gestaltung sowie auf die Aussageabsicht.

Sinn – für jeden und jede anders
»OH MY GOD«!? 27

Sinn und Religion …

DER SINN DES GANZEN

Die Frage nach dem Sinn im Leben und erst recht die Frage nach dem Sinn des Lebens sind moderne Fragen. Was bleibt? Wohin führt das Ganze? Hat mein Leben überhaupt eine Richtung? Diese Sinnfragen entstehen, wenn die selbstverständlichen Vorgaben geprägter religiöser Traditionen verloren gehen, wenn bergende Gemeinschaften sich auflösen.

Dass wir unser Leben als sinnvoll erfahren, hängt zunächst schlicht daran, dass wir vermittels unserer Sinne im Weltkontakt stehen. Mit unseren fünf Sinnen, indem wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten, bildet sich ein Zusammenhang zwischen uns und einer Welt, die uns über unsere Sinne zugleich auf elementare Weise erschlossen ist. Gesteigert teilt sich uns über unsere Sinne zugleich der Sinn mit, in den das Leben uns hineinzieht: Wenn wir Schönes erleben, eine schöne Landschaft, ein schönes Essen, schöne Musik, die liebende Vereinigung mit einem anderen Menschen. Sinn kommt in der Begegnung mit großer Kunst zur Erfahrung.

Der Sinn des Lebens kann sodann zum Gegenstand des Denkens und des Gesprächs werden. Die Frage nach dem Sinn ist damit eine Frage der Deutung des Lebens, der Lebensgeschichte, ihrer Herkunft und ihrer Zukunft, ihres Vonwoher und Woraufhin. Sie wird zu einer Frage der Interpretation. Interpretieren heißt ja »dazwischentreten«. Ich trete zwischen mich und mein Leben, versuche zu verstehen, warum es so und nicht anders verlaufen ist. Im Rückblick versuchen wir die Ziele zu erfassen, auf die hin wir gelebt haben und leben. Wir suchen nach dem roten Faden, der die verschiedenen Phasen und Orte unseres Lebens zusammenbindet und einen bestimmten Richtungssinn erkennen lässt. Wenn wir im Nachhinein unser Leben deuten, dann stellen wir diese Zusammenhänge her, verbinden die Bruchstücke unserer Lebensgeschichte miteinander, versuchen unter Umständen zu summieren, was wir erreicht haben, klären, was noch aussteht und was wir noch erreichen wollen.

In all dem geht die Ganzheit des eigenen Lebens aber nie auf. Das Lebensganze könnte überhaupt nur von einem externen Beobachter erfasst werden. Er nur könnte auf mein Leben als Ganzes blicken, es überschauen und als Ganzes für gut befinden. Von einer externen Position aus kann es somit auch erst als insge-

samt wert- und sinnvoll anerkannt werden. Deshalb geht die Suche nach Sinn zuletzt über die eigene Existenz und die Existenz des Menschen in seiner Endlichkeit und Wirklichkeit überhaupt hinaus. Wir überschreiten den Horizont unserer Erfahrung, somit aber auch den Bereich, innerhalb dessen wir sicheres Wissen gewinnen können. Wir Menschen haben seit jeher diese Grenze zur Unendlichkeit überschritten. Die frühesten Zeugnisse der Menschheit sind schließlich die Grabstätten. Menschen sind solche Lebewesen, die ihre Toten bestatten. Wir denken über den Tod hinaus, dabei ist uns in unserem Selbstgefühl gewissermaßen unmittelbar bewusst, dass uns die Wirklichkeit im endlich Vorhandenen nicht aufgeht. Wie diese unendliche Ganzheit, das Universum, das über unsere endliche Wirklichkeit hinausgeht, mit unserem endlichen Dasein zusammenhängt, können wir nicht wissen. Wo es um das Jenseits unserer endlichen Erfahrung geht, fängt das Glauben an. Nur im Fürwahrhalten dieser Wirklichkeit oder im religiösen Vertrauen auf diese Wirklichkeit, die unser endliches Dasein überschreitet und umgreift, können wir jedoch auf bewusste Weise dafür eintreten, dass unser Leben einen wirklichen, nicht negierbaren, unverlierbaren Sinn hat.

»SCHLECHTHIN ABHÄNGIG«

1. Fassen Sie den Text von W. Gräb auf dieser Seite in drei bis vier Thesen zusammen. Diskutieren Sie, ob und inwiefern die Frage nach dem Sinn letztlich eine religiöse Frage [10] ist.

2. Versuchen Sie, das berühmte Zitat Friedrich Schleiermachers ( S. 29) in eigene Worte zu »übersetzen«, achten Sie dabei besonders auf die (von den Hrsg.) markierten Begriffe. Fügen Sie auf einer Kopie Anmerkungen und Anfragen hinzu und tauschen Sie sich darüber aus.

3. W. Gräb sieht Schleiermachers Religionsverständnis in C. D. Friedrichs Bild umgesetzt ( S. 29): Überprüfen Sie seine Beobachtungen am Bild.

4. »Anschauung des Universums«: Deuten Sie die Texte und das Bild auf dieser Doppelseite unter dem Aspekt des »Blickfelds«.

28 KAPITEL 2
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Caspar David Friedrich*, Mönch am Meer (entstanden zwischen 1808 und 1810, restauriert 2015)

ANSCHAUUNG DES UNIVERSUMS

Die direkteste und eindrücklichste Umsetzung der Religionsauffassung Schleiermachers* hat Caspar David Friedrich* mit dem Landschaftsbild der »Mönch am Meer« realisiert.

Dieser Mensch in dem langen Gewand wird von Friedrich als einer gezeigt, der eben diese Erfahrung macht, die Schleiermacher in seinen »Reden über die Religion«, dann in seiner »Glaubenslehre« als religiöse Erfahrung beschrieben hat. Religion ist diejenige »Anschauung des Universums«, des Ganzen der Wirklichkeit, sagt Schleiermacher in den »Reden«, die im Anschauenden zugleich das Gefühl der Demut und der absoluten Abhängigkeit auslöst. Später, in der Glaubenslehre, hat Schleiermacher das religiöse Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit klarer noch als in den »Reden« als ein Gefühl der radikalen Abhängigkeit alles Endlichen, der Welt als Ganzer, vom unverfügbaren Seinsund Sinngrund, von Gott, begriffen.

Auf dieses Religionsverständnis weist Friedrichs »Mönch am Meer« hin. Dieser Mensch, in dem vermutlich Friedrich sich selbst mit seinem Rauschebart gemalt hat, erfährt sich mitsamt der unermesslichen Weite des Universums in der Abhängigkeit von einem allem Erkennen und Handeln transzendenten*, uneinholbar voraus liegenden Wirklichkeitsgeschehen. Klein ist der Mensch vor der ebenso erhabenen wie unendlichen Größe des Universums. Er ist Teil einer umfassenden Wirklichkeit, der er zugleich fragend und deutend

gegenübersteht. So fühlt er sich ergriffen und übermächtigt, schlechthin abhängig von einem Geschehen, das er nie in die eigene Hand bekommen wird, dessen er insgesamt nie mächtig sein wird.

Wilhelm Gräb, Theologe

BeMERKenswert: Schlechthinnige Abhängigkeit bedeutet Freiheit von allen anderen Abhängigkeiten.

Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheidet, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind ...

Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserem Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu versehen, dass eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll.

FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER*,

GLAUBENSLEHRE, 1821

… eine Sache des Gefühls?
»OH MY GOD«!? 29
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MARTIN LUTHER ERKLÄRT DAS ERSTE GEBOT:

Ich bin der HERR, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott? Antwort: ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also dass einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott. Darum ist nun die Meinung dieses Gebots, dass es fordert rechten Glauben und Zuversicht des Herzens, welche den rechten einigen Gott treffe und an ihm allein hange. Und will so viel gesagt haben: siehe zu und lasse mich allein deinen Gott sein und suche ja keinen andern; wo du Unglück und Not leidest, kriech und halte dich zu mir. Ich, ich will dir genug geben und aus aller Not helfen, lass nur dein Herz an keinem andern hangen noch ruhen.

Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.

Dtn 6,4 f.; die ersten Sätze des jüdischen Glaubensbekenntnisses Sch’ma Jisrael [9]

Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Ich nehme das versteinerte Herz aus eurer Brust und schenke euch ein Herz, das lebt. Hes 36,26 (Gute-Nachricht-Bibel)

[…] Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt und brüstet sich darauf so steif und sicher, dass er auf niemand etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzt, welches auch der allergewöhnlichste Abgott ist auf Erden. Also auch, wer darauf traut und trotzt, dass er große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten, einigen Gott.

Also verstehst du nun leichtlich, was und wie viel dies Gebot fordert, nämlich das ganze Herz des Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein und niemand anders. Denn Gott zu haben kannst du wohl abnehmen, dass man ihn nicht mit Fingern ergreifen und fassen noch in Beutel stecken oder in Kasten schließen kann. Das heißt ihn aber gefasst, wenn ihn das Herz ergreift und an ihm hängt.

Aus dem Großen Katechismus*

»WORAUF DU DICH VERLÄSSEST …«

1. Sammeln Sie Redewendungen und Kontexte, in denen metaphorisch vom »Herzen« gesprochen wird. Vergleichen Sie damit die Bedeutung, die das Herz bei Martin Luther und in den Bibelstellen (oben) hat.

2. Notieren Sie Schlüsselbegriffe in Luthers Text und fertigen Sie daraus ein Schaubild an.

3. »[…] allein das Trauen und Glauben des Herzens […] macht Gott und Abgott« – ist Gott dann eine Konstruktion, mache ich mir meinen Gott selbst?

Philosophieren Sie!

4. Beschreiben und deuten Sie das Plakat der Aktion »7 Wochen ohne« und beziehen Sie seine Aussage auf Luthers Rede vom Herzen.

Herzenssache
30 KAPITEL 2
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Kalender der Fastenaktion »Sieben Wochen ohne«* (2016)

SINN UND GOTT – AUS BRIEFEN UND VORTRÄGEN

VON PAUL TILLICH

Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg bezeichnete Paul Tillich später als die einschneidendste Erfahrung seines Lebens und seines theologischen Denkens: Das Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich so tief auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Mir wurde klar: Wenn es eine neue Theologie geben kann, dann muss sie dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht werden. Es ist ein Abgrund der Sinnlosigkeit. ***

Man kann den Sinn finden in kleinsten und größten Dingen. Der Sinn kann niemals definiert, fest umschrieben oder gar griffig gehandhabt werden. Für mich ist Gott das grundlegende Symbol für den Sinn des Lebens. Er ist die Kraft des Seins. Daran glauben wir, wenn wir den Mut haben, Ja zu unserem Leben zu sagen, selbst wenn wir in unseren Worten die so genannte »Existenz Gottes« verneinen.

***

[…] Mut zum Sein heißt, der Angst ins Gesicht sehen, sie als eine Eigenschaft menschlicher Begrenztheit und zugleich menschlicher Würde auf sich nehmen und tragen. Denn der Mut zum Sein ist das Ja zum Sein, das Ja , das durch das Nein der Angst hindurchgegangen ist. [Dieser Mut] kann nicht geschaffen, er kann nur empfangen werden. […] Er ist das Ja des Lebens zu sich selbst, dieses große, alles tragende Ja, das in der Sprache der Religion das Ja ist, das Gott zu sich selbst spricht, und an dem alles, was ist, Teil hat. Es ist gegenwärtig in der Erfahrung des Sterbenmüssens, der Schuld und des Zweifels. Dieses Ja wird sicht bar in der Angst.

»GLAUBWÜRDIG VON GOTT REDEN«

1. »Was unbedingt angeht« – Philosophieren Sie über die einzelnen Elemente dieser Formulierung.

2. Nähern Sie sich den Texten P. Tillichs über Begriffspaare wie Sinn – Sinnlosigkeit, Mut – Angst, Leben – Sterben, konkret – transzendieren[d] an. Leiten Sie daraus ab, was es für P. Tillich bedeutet, »glaubwürdig von Gott zu reden« (vgl. Buchtitel).

3. »Woran du dein Herz hängst« – »was den Menschen unbedingt angeht« – beschreiben Sie Berührungspunkte und Unterschiede dieser beiden Denkfiguren (vgl. S. 33).

»WAS DEN MENSCHEN UNBEDINGT ANGEHT«

Gott ist der Name für das, was den Menschen unbedingt angeht. Das heißt nicht, dass es zunächst ein Wesen gibt, das Gott genannt wird, und dann die Forderung, dass es den Menschen unbedingt angehen soll. Es heißt, dass das, was einen Menschen unbedingt angeht, für ihn zum Gott (oder Götzen) wird, und es heißt, dass nur das ihn unbedingt angehen kann, was für ihn Gott (oder Götze) ist. Der Ausdruck: »das, was unbedingt angeht«, weist auf eine Spannung in der menschlichen Erfahrung hin. Auf der einen Seite ist es unmöglich, dass uns etwas angeht, dem nicht konkret begegnet werden kann, sei es im Bereich der Wirklichkeit, sei es im Bereich der Einbildung. Universalbegriffe können nur durch ihre Macht, konkrete Erfahrungen zu repräsentieren, zu dem werden, was unbedingt angeht. Je konkreter ein Ding ist, desto leichter kann es ein entscheidendes Anliegen für uns werden. Das völlig Konkrete, die individuelle Person, ist das Objekt des leidenschaftlichsten Anliegens, des Anliegens der Liebe. Andererseits muss das, was unbedingt angeht, alles, was uns vorläufig und konkret angeht, transzendieren*. Es muss den ganzen Bereich des Endlichen transzendieren, um die Antwort auf die Frage zu sein, die in der Endlichkeit liegt. […] Das ist die unausweichliche innere Spannung in der Gottesidee.

Paul Tillich*

Unbedingt!
»OH MY GOD«!? 31
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»MINIMUMRELIGION«?

Das Buch »Ansichten vom Göttlichen« ist aus Gesprächen mit 22 Schweizer Jugendlichen unterschiedlicher Konfessionen entstanden. Sie sprachen über Fragen wie: Wer oder was ist für dich Gott? Greift Gott in dein Leben ein? Hast du schon Situationen erlebt, in denen du gefühlt hast, dass Gott dir nahe ist oder dir etwas mitteilen will? Gab es eine Situation, in der du an Gott gezweifelt hast? Dominik Schenker, der wissenschaftliche Begleiter der Studie, fasst am Ende zusammen:

Die konfessionelle Religiosität ist nicht mehr die gesellschaftliche Norm. An ihre Stelle trat seit den Neunzigerjahren des 20. Jh.s die sozial tolerierte Minimumreligion. Sozial toleriert, da alle darüber hinausgehende Religion begründet werden muss. Im Zentrum der Minimumreligion steht ein nicht näher bestimmbarer Glaube an eine höhere Macht, ohne Dogmen und Bekenntnisse.

Die Minimumreligion ist diesseitig. Sie sichert nicht das Seelenheil, sondern bewältigt den Alltag. Religion soll Gelassenheit und Halt vermitteln, aber keinesfalls Konsum oder Lebensgestaltung einschränken.

Die Religion wurde mit der Minimumreligion endgültig in den individuellen Freizeitbereich verdrängt. Konkret religiöse Inhalte sind in der sozial tolerierten Minimumreligion zweitrangig. Absolutheitsansprüche werden zurückgewiesen, allen Religionen wird ein ähnliches Maß an Irrtum und Wahrheit zugeschrieben. Man kann agnostisch*, katholisch, protestantisch, neuheidnisch, buddhistisch oder sonst etwas sein, wenn man es nur nicht zu überzeugt ist.

AUSZÜGE AUS DER STUDIE »ANSICHTEN VOM

GÖTTLICHEN«

Hoppla. Ich weiß nicht, wer Gott ist. Für mich muss es nicht jemand sein, es kann einfach … Gut, ich stell mir nicht eine Person vor. Für mich ist es eher ein Gefühl. Ich kann das nicht formulieren. Gott ist für mich jemand, der mich begleitet. Also, eben nicht jemand. Eher etwas. Es gibt mir ein gutes Gefühl und nimmt mir oft die Angst vor Dingen im Leben. Also nicht, dass ich jetzt vor nichts Angst hätte. Es ist so etwas wie eine Hülle um mich herum.

Alea, 18

Jeder schafft Gott für sich selbst, meist in Situationen, in denen er Hilfe benötigt. Will heißen: Es gibt einen Gott für die, die daran glauben und das Gefühl haben, es müsse ihn geben. Ich selbst schaffe mir meinen Gott auch selbst, allerdings nur, wenn es mir schlecht geht. Eigentlich nenn ich das nicht Gott, es sind eher meine Gedanken. Es ist wie ein Teil vom Unbewussten, das uns sagt: Ich bin ja gar nicht alleine und trage nicht die Verantwortung für alles.

Martina, 16

Gott ist etwas Spirituelles. Etwas, das man nicht sieht. Fast alle Menschen haben einen Gott, aber jeder einen anderen. Gott kann helfen bei Problemen, bei ihm erhältst du immer Unterstützung. Wenn du ein Problem hast, kannst du mit ihm reden, er hat Zeit. Ob du eine Antwort kriegst, ist auch von dir abhängig. Vielleicht nimmst du sie wahr, vielleicht auch nicht.

Ursin, 16

»Mein Gottesbild«: Bild einer Schülerin der 13. Jgst.

Als religiöser Mensch fällt es mir leichter, mit Problemen umzugehen. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass, wenn man am A... ist, noch jemand für einen da ist. Wenn ich mit meiner Freundin Zoff habe oder Probleme in der Schule, sehe ich das halt alles viel lockerer. O.k., in Bezug auf die Schule ist das nicht nur gut. Aber ich denke dann einfach: Es kommt schon gut und so, wie es kommen muss. Eine Art Gottvertrauen. Und wenn ich vom Gymnasium fliege, dann mache ich was anderes.

André, 17

Irgendwie? Vielleicht?
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DÜRFEN?«

Gespräch mit dem Pfarrer und Religionslehrer Peter Samhammer, der auf seinem Youtube-Kanal »Reli denken« Anregungen gibt, sich mit Glauben und Gott auseinanderzusetzen.

»Schlechthin« – »unbedingt« – »suche ja keinen andern«: Das klingt sehr radikal und kompromisslos. Und wenn Gott gar nicht existiert?

Schleiermacher*, Tillich* oder Luther geht es gar nicht zuerst um diese Frage, ob Gott existiert. Sie versuchen zu umschreiben, was wir meinen können, wenn wir von Gott sprechen. Ihre Vorschläge: das, woran du dein Herz hängst, das, von dem du schlechthinnig abhängig bist, das, was dich unbedingt angeht.

Uns geht eine Menge an: Wie ich bei anderen ankomme, wie ich bewertet werde, was ich aus meinem Leben mache, was die Ärztin bei meinem nächsten Besuch wieder alles feststellen wird, dass mein Leben begrenzt ist usw. Manches von diesen Dingen drängt sich so auf, dass es den Anschein hat, es geht mich wirklich unbedingt an: Unbedingt, also vollkommen, schrankenlos und ohne irgendwelche Voraussetzungen. Wenn sich da etwas so unbedingt aufdrängt, dann hänge ich auch mein Herz daran und es macht mich auch schlechthinnig abhängig.

Dem wird ein Riegel vorgeschoben, wenn es heißt: Moment mal! Unbedingt angehen, schlechthinnig abhängig, mein volles Vertrauen, das hat nur Gott verdient und sonst gar nichts. All dem, was sich mir sonst noch aufdrängen will, wird damit Macht entzogen. Es geht mich etwas an, aber eben nur bedingt.

lassen? Nicht, wenn die gewohnte Familie für mich ein und alles war. Nur, wenn ich mich über das Gewohnte hinauswage. Ich weiß nicht, ob da irgendetwas ist, was mir wieder die Heimat geben kann, die ich in der Gemeinschaft mit meiner Frau und meinem Sohn erfahren habe.

Könnte es nicht sogar so sein, dass es meiner Familie, meinen Freunden und mir gar nicht gut tut, wenn ich an sie mein ganzes Herz hänge, mich von ihnen vollkommen abhängig weiß? Wem soll man das zumuten dür fen? Das müsste schon ein Gott sein.

Und Erfolg in Schule und Beruf sind dann auch nicht mehr wichtig?

Bemerkenswerterweise hat Luther Arbeit und Beruf geradezu als eine Art Gottesdienst gesehen, und auch Tillich hat sich vehement z. B. für soziale Gerechtigkeit eingesetzt.

MINIMUMRELIGION? ( S. 32)

1. Führen Sie zu den Fragen, die den Jugendlichen gestellt wurden, Schreibgespräche.

2. Vergleichen Sie ggf. die Aussagen der Jugendlichen miteinander und mit Ihren eigenen Gedanken. Prüfen und diskutieren Sie, ob D. Schenkers These von der »Minimumreligion« hier angemessen ist.

3. Interpretieren Sie das »Gottesbild« und beziehen Sie es auf die Aussagen der Jugendlichen.

Vielleicht ist es so: Gerade, weil ich von nichts in der Welt ganz abhängig bin, auch nicht vom Gelingen meiner Arbeit, verschafft mir das Spielraum, um nach meinen Möglichkeiten kreativ zu handeln.copyrightedmaterial

UNBEDINGTES VERTRAUEN?

1. Beschreiben Sie Situationen, in denen Sie ein solches Meme (oben) verschicken würden oder es schon getan haben.

Aber was ist mit den Dingen, die einem wirklich sehr wichtig sind: Familie, Freunde?

Die Familie ist ein gutes Beispiel. Mein Sohn ist vor einigen Wochen ausgezogen. Obwohl das nicht wenig weh tut, ist mir gleichzeitig klar, dass ich loslassen muss, und das auch noch so, dass ich meinem Sohn kein schlechtes Gewissen mache. Wie geht dieses Los-

2. Arbeiten Sie aus dem Gespräch Kernaussagen heraus. Führen Sie es in Partnerarbeit weiter.

3. Formulieren Sie, ausgehend vom letzten Abschnitt des Gesprächs, Tipps zur Abiturvorbereitung.

4. Entwerfen Sie ein zum Interview passendes Meme: Das geht mich (un)bedingt an!

Spielraum
»WEM ANDERS SOLLTE MAN DAS ZUMUTEN
»OH MY GOD«!? 33

Gott: eine Projektion?

AUS: LUDWIG FEUERBACH*, DAS WESEN DES CHRISTENTUMS (1841)

Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen.

Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist –der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.

Eine Wesensbestimmung des menschgewordnen oder, was eins ist, des menschlichen Gottes, also Christi, ist die Passion. Die Liebe bewährt sich durch Leiden

Gott als Gott ist der Inbegriff aller menschlichen Vollkommenheit, Christus der Inbegriff alles menschlichen Elends. Gott leidet, aber für die Menschen, für andere, nicht für sich. Was heißt das auf Deutsch? Nichts andres als: Leiden für andere ist göttlich, wer für andere leidet, seine Seele lässt, handelt göttlich, ist den Menschen Gott.

Ein leidender Gott ist ein empfindender, empfindsamer Gott. Aber der Satz: Gott ist ein empfindendes Wesen, ist nur der religiöse Ausdruck des Satzes: die Empfindung ist göttlichen Wesens. Die Religion ist die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst

Wir haben bewiesen, dass der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, bewiesen, dass das Geheimnis der Theologie die Anthropologie*, des göttlichen Wesens das menschliche Wesen ist. Aber die Religion gesteht nicht ein, dass ihr Inhalt [ein] menschlicher ist. Der notwendige Wendepunkt der Geschichte ist daher dieses offne Bekenntnis und Eingeständnis, dass das Bewusstsein Gottes nichts andres ist als das Bewusstsein der Gattung, dass der Mensch kein anderes Wesen als absolutes, als göttliches Wesen denken, ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das menschliche Wesen. Unser Verhältnis zur Religion ist daher kein nur verneinendes, sondern ein kritisches; wir scheiden nur das Wahre vom Falschen.

Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein, sie muss zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe ein wahre, heilige, zuverlässige Macht. Homo homini Deus est1 – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.

1 Der Mensch ist dem Menschen (ein) Gott.

Denkmal (1930) für Ludwig Feuerbach auf dem Nürnberger Rechenberg, seiner letzten Wohnstätte. Die Inschriften lauten: »Dem Freidenker Ludwig Feuerbach zum Gedächtnis 1804–1872«; »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde« (in Umkehrung von Gen 1,27) und »Tue das Gute um des Menschen willen.« Die Nationalsozialisten entfernten das Denkmal, 1955 wurde es wieder aufgestellt.

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34 KAPITEL 2
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GOTT STRAHLT VOR WELTLICHKEIT

»Da ist Ludwig Feuerbach*, der bestrickende Vogel, der auf einem grünen Aste in der Wildnis sitzt und mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott aus der Menschenbrust wegsingt!« (Gottfried Keller*, Der grüne Heinrich)

Dank dem Gesang des philosophischen »Zaubervogels« [beginnt es bei Keller] auf hoffnungsvoll grünem Ast in der entgotteten Menschenbrust zu leuchten: »Die Welt glänzte in stärkerem und tieferem Glanze.« Gott strahlt vor Weltlichkeit. Keller bezeugt so nicht nur die überragende Bedeutung Feuerbachs um die Mitte des Jahrhunderts. Der autobiografische Roman Kellers, spricht vor allem davon, dass es beim Atheismus* Feuerbachs nicht um eine depressive Verlustgeschichte, sondern um die Intensivierung des Lebens und die Aneignung der Welt, um die Wiedergewinnung der Natur und die Selbstgewinnung des Menschen geht.

»Homo homini deus«. Schwerlich konnte man höher von Gott und dem Menschen denken als der Atheist und Humanist Feuerbach.

Ludger Lütkehaus, Philosoph

Feuerbach gilt als Atheist. MERKwürdig.

DAS BEWEIST GAR NICHTS!

Das Problem der Feuerbachschen Argumentation ist: Feuerbach begründet damit gar nicht den Atheismus*, er setzt ihn einfach voraus und versucht bloß psychologisch zu erklären, warum es Menschen geben kann, die sich nicht zum Atheismus bekennen. Dass es psychologische Gründe geben kann, einen Gegenstand zu wünschen, sagt freilich aus logischen Gründen gar nichts darüber aus, ob es den Gegenstand in Wahrheit gibt oder nicht. Man kann sich intensiv Sahnetorte wünschen. Das heißt selbstverständlich nicht, dass diese Torte hier und jetzt existiert. Aber es heißt natürlich – glücklicherweise –überhaupt nicht, dass sie nicht existiert. Freilich müssen starke Wünsche vorsichtig machen, damit man sich nicht aus großem Hunger heraus eine vorschnelle oder übermäßige Befriedigung herbeizwingen will. Man sollte bekanntlich nie hungrig einkaufen gehen, man kauft dann eher zuviel.

DIE RELIGIONSKRITIK* L . FEUERBACHS

1. Thesen wie die von L. Feuerbach ( S. 34) durfte man im 19. Jh. nicht ungestraft veröffentlichen –informieren Sie sich über Feuerbachs Leben.

2. Feuerbachs sog. »Projektionsthese« fordert zu einer Visualisierung heraus! Machen Sie einen eigenen Versuch, nachdem Sie den Text ( S. 34) nach der Västerås-Methode* erschlossen haben. Vergleichen Sie ggf. Ihr Ergebnis mit im Internet veröffentlichten Schaubildern.

3. Die Wiederaufstellung des Feuerbachdenkmals ( S. 34) 1955 war sehr umstritten. Spielen Sie ein Streitgespräch darüber nach und gehen Sie dabei auch auf die Zitate auf dem Denkmal ein.

4. Bringen Sie die unterschiedlichen Positionen auf dieser Seite miteinander und mit der Position Feuerbachs ins Gespräch. Nehmen Sie selbst in einem kurzen Statement Stellung.

Umstritten
»OH MY GOD«!? 35
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WAS IST ATHEISMUS?

Der ungläubige Atheismus* sagt nur: »Ich glaube nicht, dass es Gott gibt«; er bekennt also nur seinen Unglauben. Es wäre irreführend, dieses Bekenntnis selbst für eine Konfession zu halten; dann wäre der Unglaube, das Nichtglauben, selber ein Glaube, und das ergibt keinen Sinn. Darum hat dieser Atheist auch keine Beweislast zu tragen. In der Tat ist es misslich, die Position des Unglaubens selbst wieder als einen »-ismus« zu präsentieren, wozu uns die Sprache verführt. Der ungläubige Atheist ist auch nicht kämpferisch, er will niemanden von irgendetwas überzeugen, und somit gesteht er nur ein, dass er das nicht hat, was sein Gegenüber zu besitzen behauptet – den Glauben an Gott. Wenn ihm dies nicht gleichgültig ist, ist er vielleicht sogar ein frommer Atheist, der nicht anders kann, als das, was er nicht hat, ernst zu nehmen und seinen Verlust zu bedauern. Vielen Zeitgenossen ist freilich ihr Nichtglauben nur ein Achselzucken wert, und noch zahlreicher sind die, die gar nicht wissen, dass sie Ungläubige sind, denn wenn die Gottesfrage aus dem Blickfeld verschwindet, ist auch der Atheismus kein Thema mehr.

Herbert Schnädelbach*

POSITIONEN DES ATHEISMUS

1. Informieren Sie sich über Zeit und Leben von Karl Marx* (vgl. auch S. 75 ).

2. Arbeiten Sie aus dem Textausschnitt heraus, inwiefern K. Marx* an L. Feuerbach* anknüpft und wo er ihn weiterführt

3. Vergleichen Sie die Haltung eines »ungläubigen Atheismus*« (vgl. H. Schnädelbach und das Bild) mit den Positionen von L. Feuerbach* und K. Marx*.

4. Klären und unterscheiden Sie anhand des Lexikons die Begriffe: Atheismus*, Theismus*, Religionskritik*, Agnostizismus*. Informieren Sie sich ggf. anhand von Referaten über andere bekannte atheistische / religionskritische Positionen (z. B. Nietzsche*, Freud*).

5. Nichtglauben kann laut H. Schnädelbach mit »Bedauern«, »Achselzucken« oder völligem Desinteresse verbunden sein. Tauschen Sie sich aus, wie Sie das in Ihrer Umgebung erleben.

I’m Good Without God

AnMERKung: Opium wirkt als Rausch-, Schmerz- und Schlafmittel.

KARL MARX*: OPIUM DES VOLKES

Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind [...]. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. [...]. Die Kritik des Himmels ver wandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.

Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

glücklich?
Gottlos
36 KAPITEL 2
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WIR BETEN AN DEN KUSCHELGOTT

RELIGIONSKRITIK* INNERHALB DES CHRISTENTUMS

• Argumente der Religionskritik und des philosophischen Atheismus wurden und werden in der christlichen Theologie nicht nur negativ aufgenommen, denn sie weisen auf Fehlentwicklungen und Defizite in Theologie und Kirche hin. Sie fordern dazu heraus, in biblisch-christlicher Tradition einen befreienden, erwachsenen Gottesglauben (wieder) zu entdecken, der Menschen nicht klein macht.

• In diesem Sinne hat Religionskritik schon biblische Wurzeln. Das 1. Gebot wendet sich nicht nur gegen die Verehrung fremder Götter, sondern auch gegen die Pervertierung des eigenen Glaubens. So prangern Propheten wie Amos oder Jeremia [8] einen Gottesdienst an, der ungerechte Herrschaft und soziales Unrecht legitimiert.

• Ein Gespräch zwischen atheistischen bzw. religionskritischen Anfragen und christlicher Theologie ist möglich, wenn es auf beiden Seiten von Offenheit geprägt ist.

NICHT-RELIGIÖS VON GOTT REDEN

Oft frage ich mich, warum mich ein »christlicher Instinkt« häufig mehr zu den Religionslosen als zu den Religiösen zieht. Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen, weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme –, kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig und wie selbstverständlich Gott nennen. Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina*, den sie aufmarschieren lassen; das hält zwangsläufig immer nur so lange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex machina überflüssig wird. Es scheint mir immer, wir wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; – und ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft sprechen.

»Großer Gott, wir loben dich; Herr wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke«, sangen Deutschlands Christen früher gern an wichtigen Festtagen. Inzwischen erklingen in vielen Kirchen ganz andere Töne. »Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.« Seit gut dreißig Jahren lässt sich im Lande ein tiefgreifender Wandel der Gottesrede beobachten. Sprach man auf den Kanzeln einst vom allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, der zugleich Richter und Retter sein könne, so wird Gott nun primär als allumfassende Liebe bezeugt.

Auf den Kanzeln wird zunehmend ein Kuschelgott verkündet, an dem wer auch immer sich fröhlich erwärmen kann. Gott entbehrt hier des Stachels der Negativität, kann also keine Irritationskraft mehr entfalten.

Im Mainstream der christlichen Kirchen haben die Ferne und erhabene Transzendenz* des »mächtigen Königs der Ehren« keinen Ort mehr.

IMPULSE AUS DER RELIGIONSKRITIK

1. Suchen Sie biblische Begründungen für einen befreienden, erwachsenen Glauben.

2. Erläutern Sie, was Bonhoeffer* mit nicht-religiöser Rede von Gott meint. Stellen Sie Bezüge zum Graffito her.

3. Diskutieren Sie über F. W. Grafs Vorwürfe und vergleichen Sie diese mit eigenen Erfahrungen.

Dietrich Bonhoeffer*

Religion INFO
Kritische
»OH MY GOD«!? 37
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Graffito an einer Londoner Brücke nach Michelangelo Buonarroti, Die Erschaffung des Adam (Rom, Sixtinische Kapelle)

Beziehungs-

Maria und Anna Obernoster, Enigma; aus der Ausstellung »1+1+1=1« in Graz (2011). Bei dieser Installation sieht man zunächst nur eine leere Wand. Mithilfe einer UVTaschenlampe werden nach und nach die Buchstaben sichtbar.

TRINITÄTSSYMBOLE

1. Ein altes und zwei moderne Trinitätsbilder auf dieser Doppelseite: Beschreiben Sie sie und vergleichen Sie die jeweilige Umsetzung des Geheimnisses der Trinität. Recherchieren Sie nach weiteren Trinitätsbildern.

2. »Gottes Sein blüht gesellig«: Identifizieren Sie Motive aus K. Martis Gedicht ( S. 39) in den Bildern.

3. Lassen Sie sich vom Merke zu eigenen Versuchen anregen: »Gott … – Ich/wir …«

4. Gestalten Sie vor dem Hintergrund der Informationen und Materialien dieser Doppelseite eigene Bilder / Skulpturen / Gedichte zum Thema Trinität.

Gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Mt 28,19 f. (die letzten Worte des Matthäusevangeliums)

Gott ist Vielfalt. Wir sind alle verschieden. BeMERKenswert.

Fenster der St. Pauls Kathedrale in Lüttich

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GOTT TRINITARISCH VERSTEHEN

• »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« – so beginnt jeder christliche Gottesdienst. Mit diesen Worten werden Kinder und Erwachsene getauft. Die Rede von der »Dreieinigkeit« (Trinität) Gottes ist zunächst keine »Lehre«, sondern stammt aus Gebet und Liturgie der frühen Christenheit, vgl. die Taufformel in Mt 28,19.

• Unter dem Einfluss griechischer Philosophie wurde die Trinitätslehre argumentativ ausgearbeitet. Es ging dabei um wichtige Glaubensfragen, z. B.: Wenn Gott einer allein ist, wie kann er dann in Jesus Christus Mensch geworden sein? Wie kann es sein, dass Jesus Christus Gott ist und doch von ihm verschieden, dass er Gott und Mensch zugleich ist? Wenn Gottes Geist in der Gemeinde wirksam ist, ist das dann Gott selbst oder eine Art »Medium«?

• Auf mehreren Konzilien* der alten Kirche (Nizäa 325, Konstantinopel 381, Chalcedon 451) wurden die einzelnen Aspekte der Trinitätslehre verbindlich als Dogmen* festgelegt. Dabei ging es auch darum, sich von abweichenden Positionen zu distanzieren und dem (mittlerweile Staatsreligion gewordenen) Christentum eine einheitliche Grundlage zu geben.

• Um diese schwierige »Lehre« zu verstehen, ist es nötig, die festen Formeln wieder zu verflüssigen und zu entdecken, welche Fragen und Erfahrungen dahinterstehen, welche Geschichten sie von Gott erzählt.

• Sie erzählt von einem Gott, der nicht bei sich bleibt, sondern, weil er Liebe ist, aus sich herausgeht, auf die Menschen zugeht, eine Beziehung mit ihnen eingeht, mit ihnen lebt und leidet (Offenbarungstrinität). Sie erzählt von einem Gott, der nicht statisch, monolithisch ist, sondern vielfältig, in Bewegung und doch mit sich eins (Wesenstrinität).

Der – später in die Trinitätsformel gegossene – Glaube an einen Gott, der aus sich herausgeht und mit den Menschen eine Beziehung eingeht, prägt die gesamte Bibel. Auf den folgenden Seiten wird dies beispielhaft an einigen biblischen Traditionen gezeigt.

DIE GESELLIGE GOTTHEIT

[…] Mich stellt’s jedenfalls auf 1 , Gott als Beziehungsvielfalt zu denken, als Mitbestimmung, Geselligkeit, die teilt, mit-teilt, mit anderen teilt: […] Und insofern: Niemals statisch, nicht hierarchisch, […] lustvoll waltende Freiheit, Urzeugung der Demokratie.

Dreieinigkeit? […] Entwurf ohne Endgültigkeit. Gott ist Liebe, will er sagen, Gottes Sein blüht gesellig. […]

KURT MARTI, Theologe und Dichter

1 schweizerisch: es freut mich, macht mir Spaß

Dreieinigkeitsfresco aus St. Jakob in Urschalling (Ende 12. Jh.); die Darstellung wurde dadurch berühmt, dass die mittlere Figur deutlich weibliche Züge trägt.

-vielfalt INFO
»OH MY GOD«!? 39
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Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.

Gen 1,2

Kupferstich zu Gen 1,2 von Merian, 1630. In der Mitte der in Gen 1 verwendete Gottesname Elohim (vgl. S. 42)

GOTTES GEIST ÜBER DEM WASSER

Die ersten Sätze der Bibel zählen zu ihren schönsten. In ihnen weht der Geist Gottes. Die Schöpfungsgeschichte erzählt, wie die Erde nach ihrer Schöpfung auf Hebräisch tohu wa bohu, »wüst und leer« war. Die Welt des Anfangs ist ohne Ordnung und finster, und doch schwebt über ihr der Geist Gottes. Er ist von Anbeginn der Welt gegenwärtig und bewegt sich in geheimnisvoller Anwesenheit über den Fluten.

Entstehungsgeschichten sind Sinngeschichten. Die biblische Schöpfungserzählung handelt davon, wie der Sinn der Welt im Geheimnis ihrer Entstehung verborgen liegt. Unfassbar und doch gegenwärtig zeigt sich der Geist als eine geheimnisvolle Präsenz Gottes. Der Geist Gottes rauscht und schwebt über dem Wasser. »Schweben« ist auf Hebräisch das gleiche Wort, mit dem man den Flügelschlag eines Adlers beschreibt. In dem Schweben und Flattern des Geistes über dem Wasser kündigt sich an, was kommen wird: die machtvolle und planvolle Erschaffung der Welt. In den dunklen Anfängen der Welt wirkt Gott als eine geistige Kraft, deren Woher und Wohin rätselhaft bleibt. Sie gleicht in ihrer Wirkung dem Wind, den man nicht sieht, aber doch spürt. Die Anfangsworte der Bibel enthalten in knappen Worten den Kern einer Überzeugung, die sich bis heute in über 2000 Jahren immer wieder entfaltet. Die Welt ist nicht genug. In ihr ist etwas gegenwärtig, was immerfort über sie hinausweist. Die Rede vom Geist Gottes, der über den Wassern schwebt, öffnet ein Tor. Geist ist der Sammelbegriff für all die Erscheinungsformen, in denen Gott in dieser Welt anwesend ist.

Es ist die Kraft des Mythos, die aus den Worten spricht. Die Worte aus Genesis 1,2 beantworten keine metaphysisch-naturwissenschaftlichen Vorweltfragen, sondern besingen die religiöse Gewissheit ihrer Verfasser in kraftvoller Poesie. Der Geist ist die Spur göttlicher Präsenz in der Welt, sie führt von der Ewigkeit her in die Gegenwart. Mit der Welt entfaltet sich, was zuvor schon angelegt war. Alles, was ist, entsteht nicht aus Zufall, sondern als der greifbare Sinn eines großen Geheimnisses.

Jörg Lauster, Theologe

Geistesgegenwart
40 KAPITEL 2
Aus Joseph Haydns Oratorium »Die Schöpfung«
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DIE GESELLIGE GOTTHEIT AM WERK

Von Ur an:

Gott in Geselligkeit, Gott mit Sophia, der Frau, der Weisheit, geboren, noch ehe alles begann. Sie spielte vor dem Erschaffer (Spr 8,22–31), umspielte, was er geschaffen, und schlug, leicht hüpfend von Einfall zu Einfall, neue Erschaffungen vor:

Warum nicht einen anmutig gekurvten Raum?

Warum nicht Myriaden pfiffiger Moleküle?

Warum nicht schleierwehende Wirbel, Gase?

Oder Materie, schwebend, fliegend, rotierend?

So sei es, lachte Gott, denn alles ist möglich, doch muss auch Ordnung ins Ganze –durch Schwerkraft zum Beispiel.

Dazu aber wünschte Sophia sich Ebensoviel Leichtigkeit.

Da ersann Gott die Zeit. Und Sophia klatschte in die Hände. Sophia tanzte, leicht wie die Zeit, zum wilden melodischen Urknall, dem Wirbel, Bewegungen, Töne entsprangen, Räume, Zukünfte, erste Vergangenheiten –

der kosmische Tanz, das sich freudig ausdehnende All.

Fröhlich streckte Sophia Gott die Arme entgegen. Und Gott tanzte mit.

Am Anfang also: Beziehung.

Am Anfang: Rhythmus.

Am Anfang: Geselligkeit.

Und weil Geselligkeit: Wort. Und im Werk, das sie schuf, suchte die gesellige Gottheit sich neue Geselligkeiten.

Weder Berührungsängste Noch hierarchische Attitüden. Eine Gottheit, die vibriert Vor Lust, vor Leben. Die überspringen will Auf alles, auf alle.

[…]

SCHÖPFUNGSGESCHICHTEN ALS SINNGESCHICHTEN

1. Es geht in Schöpfungsgeschichten nicht um »metaphysisch-naturwissenschaftliche Vorweltfragen«, sondern sie sind »Sinngeschichten«. Erläutern Sie diese Aussage J. Lausters mithilfe Ihres Wissens über Schöpfung [8] bzw. »Glaube und Vernunft« [11]. Entdecken Sie Aspekte von Sinn in Gen 1–3.

2. »Ich glaube … an den Schöpfer des Himmels und der Erde« – arbeiten Sie Gottesbilder aus den Materialien dieser Doppelseite heraus und vergleichen Sie sie mit den biblischen Vorlagen.

3. K. Marti interpretiert die Schöpfungsgeschichte trinitarisch – erläutern Sie dies anhand seines Gedichts.

4. Wenn möglich, hören und analysieren Sie das auf S. 40 zitierte Stück aus Haydns Schöpfung. Gestalten Sie ggf. auch zu K. Martis Gedicht eine musikalische Performance.

5. Stellen Sie mithilfe des Bildes von T. Zacharias Bezüge zwischen der Rede vom Geist in der Schöpfungs- und Pfingstgeschichte her.

Lebenslust
»OH MY GOD«!? 41
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die Lebendige ich bin da die Heilige Du der Name der Ewige GOTT der Eine haSchem Adonaj Sie Er

INFO

»DAS IST MEIN NAME AUF EWIG« (EX 3,15)

• Die Hebräische Bibel kennt verschiedene Gottesbezeichnungen (z. B. »Gott« / elohim (Plural!), Herr / adonaj, der Ewige, der Starke, der Herr Zebaoth / Her r der Heere, sowie zahlreiche sprachliche Bilder und Umschreibungen). Sie alle sind zu unterscheiden von »dem Namen« Gottes.

• In Ex 3,15 wird erzählt, wie Gott sich dem Mose aus dem brennenden Dornbusch vorstellt als »JHWH, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs.« Im vorausgehenden Vers umschreibt er seinen Namen als »ähjäh ascher ähjäh«. Die Bedeutung ist schillernd: »Ich bin, der ich sein werde« / »Ich werde sein, der ich sein werde« / »Ich bin da«. [5] Man weiß nicht, wie der Name JHWH, der in der Hebräischen Bibel fast 7000-mal vorkommt, auszusprechen ist; nur die Konsonanten sind überliefert. Schon in alttestamentlicher Zeit vermied man es immer mehr, den Gottesnamen auszusprechen; im Neuen Testament und im Koran wird er gar nicht mehr genannt. An den entsprechenden Textstellen wird im jüdischen Gottesdienst heute »adonaj« (Herr) gelesen. Darüber hinaus werden im Gottesdienst auch andere Gottesbezeichnungen wie »der Ewige«, »der Heilige« verwendet.

• Mar tin Luther übersetzt JHWH immer mit HERR. Dass Gott dadurch sehr viel stärker männlich konnotiert wird, wird heute unter dem Aspekt der Gendergerechtigkeit kritisiert. Die »Bibel in gerechter Sprache« von 2006 versucht, die Ungreifbarkeit und Vielfalt des Gottesnamens zu realisieren, indem sie die Namen wechseln lässt.

• In der jüdischen Tradition wurde der »Name« (ha Schem) geradezu zum Synonym für Gott. »Den Namen heiligen«, heißt dann: ganz und gar Gottes Geboten entsprechend zu leben, bis hin zum Martyrium. Viele der in Auschwitz ermordeten Männer und Frauen haben ihren Tod als »Heiligung des Namens« verstanden.

»Erhoben und geheiligt werde Dein Name in der Welt.«

Beginn des jüdischen Kiddusch*-Gebets

»Vater Unser. Geheiligt werde dein Name.«

Erste Bitte des christlichen Vaterunsers, Mt 6,9

»Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.«

Bismillah, mit der mit Ausnahme von Sure 9 alle Suren des Koran beginnen.

DER NAME UND DIE NAMEN GOTTES

1. Sich jemandem vorstellen – aufgerufen werden –jemanden oder etwas benennen – einen Namen vergessen: Tauschen Sie sich über Erfahrungen mit Situationen aus, in denen Namen wichtig sind.

2. In den unterschiedlichen Gottesnamen stecken Vorstellungen von Sinn. Arbeiten Sie diese heraus.

3. Auch in Gen 16 wird Gott ein Name gegeben. Lesen und deuten Sie den Text.

4. Erläutern Sie die drei Zitate (oben) mit Hilfe Ihres Wissens über die drei monotheistischen Religionen [7, 9, 11].

5. Beschreiben und deuten Sie das Bild von M. Chagall* vor dem Hintergrund von Ex 3.

Unaussprechbar
42 KAPITEL 2
Marc Chagall*, Mose am brennenden Dornbusch
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UNVERFÜGBAR –ERREICHBAR

Nach meinem (laienhaften) Verständnis besteht der Kern des jüdisch-christlichen Gottes durchaus in einer resonanztheoretischen* Vorstellung: Auch und gerade wenn Gott als prinzipiell unverfügbar gedacht wird, ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch doch als eines der wechselseitigen Erreichbarkeit und Bezogenheit konzipiert: Der Mensch soll auf Gott oder sein Wort hören, und Gott lässt sich im Gebet erreichen – was eben nicht heißt, dass er sich in irgendeiner Form verfügbar machen ließe. Responsivität bedeutet hier – ungeachtet aller endloser theologischen Kontroversen – ein gleichsam hörendes, auf-hörendes Aufeinanderbezogensein, das verwandelnde Kraft hat, aber beiden Seiten die »eigene Stimme« und die Antwortfreiheit lässt: Ob sich Resonanz einstellt und was ihr Ergebnis sein wird, bleibt unverfügbar offen. Meines Erachtens liegt diese Konzeption oder diese Form des Bezogenseins der Praxis des Betens zugrunde, die anders nicht zu verstehen ist: Anders als in magischen und alchemistischen Praktiken wird hier nicht versucht, die andere Seite oder ein bestimmtes Ergebnis oder Ereignis manipulativ verfügbar zu machen, sondern es geht eher darum, ein entgegenkommendes Antworten oder ein Antwortgeschehen zu erspüren, dessen Inhalt eben nicht schon feststeht.

Hartmut Rosa, Soziologe

IN KONTAKT MIT GOTT

1. »Oh my God« (OmG): Tauschen Sie sich über mögliche Messenger-Nachrichten mit diesem Smiley aus. Deuten Sie das Foto (unten).

2. Sammeln und deuten Sie mithilfe einer Onlinebibel Bibelstellen, in denen es um das »Hören« in der Beziehung zwischen Gott und Mensch geht.

3. Formulieren Sie die Kernaussagen der beiden Texte. Arbeiten Sie heraus, was den Autoren jeweils am Gebet wichtig ist. Diskutieren Sie über ihre Aussagen, auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen.

4. R. Preul und H. Rosa sprechen von der »Gottesbeziehung« bzw. von einem »Aufeinander-Bezogensein« von Gott und Mensch. Ziehen Sie Verbindungen zur Trinitätslehre ( S. 38 f.).

EINE PERSÖNLICHE BEZIEHUNG

Aus der Ausstellung: Graffiti und Urban Art (2016)

Mit dem Aufweis des Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit [Schleiermacher*] ist ein wie auch immer beschaffenes »Woher« der schlechthinnigen Abhängigkeit gesetzt. Aber es ist nicht einmal zwingend, das Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit überhaupt »Gott« zu nennen. Wenn man über Gott nicht mehr zu sagen weiß, als dass er der Ursprung von allem ist, erübrigt sich das Wort »Gott«, stattdessen bieten sich philosophische Begriffe wie »das Absolute, »das Sein an sich« u. Ä. an. Für den Christen, zumal den betenden Gläubigen, ist es freilich zwingend notwendig, hier von »Gott« und von der »Gottesbeziehung« zu reden. Erst recht ist nicht selbstverständlich, zu diesem Woher oder Ursprung oder geheimnisvollen Grund irgendeine persönliche Beziehung aufzunehmen, ihn anzureden, zu bitten, auf ihn zu vertrauen bzw. »sein Herz daran zu hängen«, ihn zu loben, hoffend etwas von ihm zu erwarten. Das meine ich mit der Unwahrscheinlichkeit des Gebets. Durch das Gebet wird gleichsam eine neue Seite aufgeschlagen in der Gottesbeziehung. R einer Preul, Theologe

Ansprechbar
»OH MY GOD«!? 43
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Mit mächtiger Hand …

WIE ISRAEL SEINER GESCHICHTE SINN GIBT

Israels Geschichtstheologie hat ihre unverwechselbaren Konturen in Epochen geschichtlicher Erschütterungen gefunden. So verwundert es nicht, dass die meisten »Bücher der Geschichte« ihre entscheidende literarische (End-)Gestalt in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Krisenerfahrungen erhalten haben (Untergang des Nordreichs 722 v. Chr.; Exilserfahrung des 6. Jh.; hellenistische Erschütterungen im 2. Jh.; Makkabäerzeit 2. Jh.). Angesichts dieser Erfahrungen entstand Israels Theologie der Geschichte als Theorie über Bedingungen, Sinn und Ziel von Geschichte überhaupt.

Zum einen geht die Geschichtstheologie Israels davon aus, dass der Gesamtverlauf der Geschichte als eine einzige große Tat Gottes geglaubt werden muss, die seinem tiefsten Wesen entspricht, das er in der für Israels Geschichtserinnerung normativen Exodus-Tat geoffenbart hat. Und zum anderen ist der Exodus als normative Erinnerungsfigur zugleich das geschichtstheologische Kriterium, nach dem die erzählten »Stoffe« ausgewählt und beurteilt werden.

Erich Zenger, Theologe

»MIT MÄCHTIGER HAND«

1. Dtn 26,5b–10a fasst die Geschichtstheologie Israels zusammen. Arbeiten Sie das Gottesbild dieses Textes heraus.

2. Das Symbol des Weges spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. Sammeln und deuten Sie Beispiele [5]

3. Überlegen Sie, was es für die einzelnen Epochen der Geschichte* Israels bedeuten kann, wenn der Exodus als »normative Erinnerungsfigur« (E. Zenger) gedacht wird (vgl. Zeittafel im Lexikon).

4. Eine Exodusdarstellung in den Katakomben – deuten Sie sie in diesem Kontext.

5. Ein Gott mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm – beschreiben und diskutieren Sie das Lebensgefühl, das mit einem solchen Gottesbild verbunden sein könnte.

Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.

Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf.

Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.

Nun bringe ich die Erstlinge der Früchte des Landes, das du, HERR, mir gegeben hast.

Dtn 26,5b–10a

44 KAPITEL 2
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Die Rettung am Schilfmeer – frühchristliche Katakombenmalerei [7]

DIE STIMME DER TIEFEN STILLE

Der Prophet Elia* hat mit aller Kraft gegen den Baalskult* und das Unrecht des Königshauses gekämpft, müde und erschöpft zieht er sich in die Wüste zurück [8]. Am Horeb (Sinai), dem Berg, an dem schon Mose die Zehn Gebote erhielt, begegnet er Gott.

Man sieht ihn in der Höhle sitzen, Elia, der sich einen anderen Gott wünscht und sich ausdenkt, was er mit den Menschen gerne tun würde. Mit diesem verlotterten Haufen, dem man einmal wirklich zeigen müsste, wo der Hammer hängt. Aber das kann Elia nicht mehr. Er hat es einmal getan und wird es nicht wiederholen. Aber Gott müsste es tun. Und wie er so dasitzt und sich ausdenkt, was Gott tun müsste, hört er draußen einen Sturm aufbrausen, der das ganze Menschengesocks wegfegt. Und wie er so dasitzt fühlt er, dass in seiner Höhle die Wände zittern. Ein Erdbeben setzt ein. Ja, so wäre das richtig. Alles stürzt ein! Und wie er so dasitzt, sieht er sie alle in der Hölle schmoren, im Feuer verglühen. Ja, so wäre es richtig, das haben sie alle verdient. Die dunkle Nacht der Seele – so beschreiben die Mystiker* in poetischer Sprache diesen Zustand. Die Menschen, die Gottes Verheißungen nicht nur nachplappern, sondern wirklich ersehnen. Die geraten in solche Nächte. Und müssen nun dieses Licht dort finden, wo sie nur noch dunkel sehen. Dort, wo sie Gott vermis-

sen. Und so nimmt die Geschichte eine Wendung, die nur Gott ihr geben kann. Sie wird eine Offenbarungsgeschichte. Gott zeigt sich.

[…] Und nach dem Feuer – qol demama daqqa (hebr.): eine Stimme der tiefen Stille, Windstille. Schweigen und darin eine leise Stimme, »eine Stimme verschwebenden Schweigens« (wie Martin Buber 1 Kön 19, 12 b übersetzt).

Gott eignet sich nicht für Machtdemonstrationen, wie ein Mensch sie ersehnt. Alles Menschliche kommt hier an seine Grenze. Nicht Sturm, nicht Feuer, nicht Erdbeben. Alle Bilder sind hier zerschlagen. Der größte Mangel, der denkbar ist. Das Nichts. Und zugleich der Schoß aller Dinge.

Ich glaube an Gott und vermisse sie, die Geistkraft, das Licht, die Quelle. Im Dunkel ist sie schwer zu finden. Doch dort brauche ich sie wirklich. Und wenn sie mich findet, die leise Stimme, die Stimme der tiefen Stille, die qol demama daqqa, kann ich mein begrenztes, mein fehlerhaftes Leben annehmen.

Elia wird an die Nahtstelle zweier Formen von Religion geführt. Die eine geht so: Man glaubt, um es anderen zu zeigen, man kann Gott benutzen: zur Selbstregulierung, zur Beruhigung, zur Machtdemonstration. Doch das ist im Grunde immer ein Leben ohne Gott, ein Lebensentwurf der Selbstrechtfertigung. Religion als Opium – Betäubung, Unterhaltung, letztlich eine Ego-Show mit Neigung zur Gewalt.

Mit Elia werden wir eingeweiht in eine andere Form von Religion. Eine andere Form von Leben überhaupt. Ein Leben aus Gott. Mit Elia lernen wir, Empfangende zu sein. Sehnsüchtig zu bleiben zusammen mit Menschen anderer Religionen und Konfessionen. Und am Ende zu sagen: »Mir wird nichts mangeln« (Ps 23,16).

Melitta Müller-Hansen, Theologin

EINE ANDERE FORM VON RELIGION

1. Finden Sie für die beiden Formen von Religion, die M. Müller-Hansen beschreibt, Beispiele in der Eliageschichte (1 Kön 17–19.21).

2. Beschreiben Sie das Bild und stellen Sie Bezüge zum Text von M. Müller-Hansen her.

3. Diskutieren Sie die Konsequenzen, die die Autorin aus dem Glauben an den »leisen« Gott zieht.

… und leiser Stimme
»OH MY GOD«!? 45
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Giovanni Lanfranco (1582–1647), Elia

»BEI CHRISTUS KANN MAN GOTT NICHT VERFEHLEN« – LUTHERS KREUZESTHEOLOGIE

Für mittelalterliche Theologen (v. a. Thomas von Aquin* und Anselm von Canterbury*) war es selbstverständlich, dass Gott durch Vernunft zwar nicht »beweisbar«, aber erkennbar sei, z. B. weil es eine letzte Ursache von allem bzw. ein höchstes zu Denkendes geben müsse. Diese Ansicht teilte auch Martin Luther. Jedoch war er davon überzeugt, dass der Mensch auf dem Weg vernünftigen Nachdenkens nicht erkennen könne, wer Gott wirklich ist. Die Vernunft kann Gott nur als »höchstes Prinzip« denken, als allmächtigen, majestätischen Herrscher, der einschüchtert und Angst macht. Aber der Gott der Bibel ist anders. Er liebt die Menschen bedingungslos. Er offenbart sich im Menschen Jesus, im Kind in der Krippe, im Leidenden, im Gekreuzigten. Gottes Macht zeigt sich paradoxerweise in Schwäche und Ohnmacht, »unter seinem Gegenteil« verborgen (absconditus sub contrario). Dass Gott im gekreuzigten Christus den Menschen nahe kommt, ist allerdings nicht der Vernunft zugänglich (ihr erscheint es als »Torheit«, 1 Kor 1,18 ff.), sondern nur dem Glauben. Luther nennt diese beiden unterschiedlichen Arten von Gott zu denken »theologie gloriae« (Theologie der Herrlichkeit«) und »theologia crucis« (Kreuzestheologie).

Du darfst nicht zu Gott emporsteigen, sondern fange an, wo er angefangen hat: im Leib der Mutter ward er Mensch – und verbiete dir den Geist der Spekulation. Willst du sicher sein, dann sollst du überhaupt keinen Gott kennen außer diesem Menschen. In dieser Sache, nämlich wie mit Gott und Gott gegenüber zu handeln sei, lass fahren die Spekulation der Majestät. Paulus will christliche Theologie lehren, welche nicht oben in höchster Höhe beginnt, wie alle anderen Religionen, sondern unten in tiefster Tiefe. Ist es dir um dein Heil zu tun, dann lass fahren alle philosophischen Lehren und eile zur Krippe und zum Mutterschoß und betrachte ihn, den Säugling, den Wachsenden, den Sterbenden.

Am Ende der ersten Kantate seines Weihnachtsoratoriums unterbricht Johann Sebastian Bach die Chorstrophe aus »Vom Himmel hoch«, in der die Niedrigkeit des Kindes in der Krippe besungen wird, immer wieder durch Trompetenfiguren, die (als königliche Symbole) auf das göttliche Geheimnis des Kindes hinweisen. Manche Interpreten spielen sie laut, andere leise.

KRIPPE UND KREUZ

1. Die Weihnachtsgeschichte ist wohl eine der berühmtesten Geschichten der Welt. Tauschen Sie sich darüber aus, welche Kontexte, Erinnerungen und Assoziationen Sie damit verbinden.

2. Lk 2 lässt sich aber auch als präziser theologischer Text lesen: Untersuchen Sie ihn genau auf Motive, Hinweise, Symbole, die einerseits – vorgreifend auf die Passion – die Niedrigkeit des Kindes, andererseits das göttliche Geheimnis des Kindes andeuten.

3. Deuten Sie die Installation von F. Kreuzer. Recherchieren Sie, wie in weiteren Darstellungen einerseits der Krippe, andererseits des Kreuzes die göttliche und menschliche Seite Jesu zum Ausdruck gebracht wird. [6, 9]

4. Analysieren Sie das gesamte Lied »Vom Himmel hoch« (EG 24) unter dem Aspekt der theologia crucis; auch andere Lutherlieder sind hilfreich, um Luthers Theologie zu verstehen (z. B. EG 101, 341).

INFO
46 KAPITEL 2
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OSTERLACHEN*

Zum Lachen war das Osterfest von Anfang an: Grund zu befreitem Auflachen für die einen, weil Ostern ihren Glauben an ein ewiges Leben begründet – eine ganz und gar lächerliche Angelegenheit hingegen für diejenigen unter den anderen, die überhaupt davon Kenntnis nehmen, dass das Osterfest einen Sinn hat. Wer lacht richtig? Diejenigen, die in diesem am Kreuz exekutierten Menschen Jesus einen Gott am Werke sehen, der, sich dem Allmachtsanspruch des Todes aussetzend, dem Tod sozusagen auf Augenhöhe begegnet ist, um so zur Entscheidung zu bringen, wer in Wahrheit das letzte Wort hat: der Tod oder das Leben? Dann wäre zumindest in diesem einen Fall der jeden Menschen irgendwann irgendwie ereilende Tod selber bereits tödlich blamiert: Oder ist das österliche Lachen der Glaubenden einfach nur lächerlich, so dass das spitze oder klirrende Lachen derer angemessen wäre, die das Ganze für eine ausgemachte Torheit halten? Ein Toter unter den Lebenden? Ein nach menschlichem Recht Hingerichteter als Inbegriff göttlichen Lebens? Wenn schon Gott, dann bitte so, dass er über unsere genuin menschliche Schwäche und über den Exponenten dieser Schwäche, den Tod, unendlich erhaben ist.

Leben heißt sowohl im Alten wie im Neuen Testament zuerst und vor allem Zusammenleben, bedeutet also ein Leben voll von Beziehungen. Im Tod hingegen endet das beziehungsreiche Leben, da endet die Beziehung des Ich zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt, da endet aber auch die Beziehung des menschlichen Ich zu sich selbst. Nur die Beziehung des lebendigen Gottes zu dem sterbenden Ich endet auch im Tode nicht. Denn das ist der Sinn der Rede von der »Auferstehung des Herrn«, dass Gott uns in unserem Tode von allen Seiten bergend umgibt und so sein eigenes Leben gegen den Tod aufbietet. Warum? Weil er sein Geschöpf liebt, so sehr liebt, dass er sogar dessen Tod teilt, damit der Mensch Gottes Leben mit ihm teilen kann. Gezwungen werden kann zu dieser Lebensgemeinschaft niemand. Eingeladen ist jeder. Und die christlichen Kirchen sind,

ÖSTERLICHE FREIHEIT

1. Wiederholen Sie Grundzüge der Passions- und Osterüberlieferungen [9] und deuten Sie das Glasfenster M. Chagalls.

2. Fassen Sie den Text von E. Jüngel* in Thesen zusammen; ziehen Sie Verbindungslinien zu Luthers Kreuzestheologie ( S. 46).

3. Weihnachten – Karfreitag – Ostern: Christen entscheiden sich unterschiedlich, wenn sie nach dem »wichtigsten Fest« gefragt werden. Beschreiben Sie Zusammenhänge.

4. Auferstehung als Beziehungsgeschehen: Untersuchen Sie daraufhin ausgewählte Ostergeschichten (z. B. Lk 24, Joh 20,11–18).

5. »… wendet sich der […] Glaubende den […] zerbrechlichen Verhältnissen […] zu«: Konkretisieren Sie diesen Gedanken E. Jüngels an einem Beispiel.

wenn sie sich selber recht verstehen, nichts anderes als die Institution gewordene Einladung zu einem Leben mit Gott. Die österliche Verheißung ewigen Lebens besagt also, dass das menschliche Ich nicht an der isolierenden Kraft des Todes zu Grunde gehen muss, sondern Gott als die Macht der Liebe erfahren kann, die selbst da, wo alle irdischen Beziehungen abbrechen und mit ihnen auch das gelebte Leben endet, neue Verhältnisse, ewige Lebensbeziehungen schafft. Nur die Liebe vermag das. Mit dieser Gewissheit wendet sich der die Auferstehung des Herrn feiernde Glaubende erneut den bedrohten und zerbrechlichen Verhältnissen hier und jetzt, mit dieser Gewissheit wendet er sich auch den komplizierten irdischen Beziehungskisten zu, um den Beziehungsreichtum schon des irdischen Lebens zu schützen und, so gut es geht, noch zu steigern. Und wenn jemand sagt, dass das unvernünftig sei und dass es sich nicht rechnet, dann erinnert sich der Glaubende der österlichen Freiheit, über so viel vermeintliche Klugheit schallend zu lachen. Diese Freiheit zum Lachen verbindet das irdische mit dem ewigen Leben. Eberhard Jüngel*, Theologe

Kreuz: Leben
Im
»OH MY GOD«!? 47
Marc Chagall*, Der Gekreuzigte, Glasfenster in der Frauenkirche Zürich (1970)
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Nach einem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2016, bei dem 12 Menschen ums Leben kamen

»Wo ist dieser Gott, wenn junge Menschen sterben? Wo ist dieser Gott, wenn es auf unserer Welt Krieg und Hass gibt? Wo ist dieser Gott, wenn Menschen, die wir lieben, an einer tödlichen Krankheit sterben? Wo ist dieser Gott? Ja, super. Ich kann einfach nicht an etwas glauben, das so viel Unglück in der Welt zulässt.«

Paula, 16

»EIN RISS IN DER SCHÖPFUNG«

1. Tauschen Sie sich über private und gesellschaftliche Anlässe aus, in denen die Warum-Frage gestellt wird.

2. Fragen, wie Paula (oben) sie formuliert, stellen nach Ansicht mancher Religionspädagogen eine »Einbruchstelle« im Glauben Jugendlicher dar. Prüfen Sie (z. B. anhand einer selbst entworfenen Umfrage), ob dies für Ihre Religionsgruppe zutrifft.

3. »Der Fels des Atheismus«: Vergleichen Sie die obige Begründung des Atheismus aus G. Büchners Theaterstück mit der von L . Feuerbach und K. Marx ( S. 34 – 36).

4. In B. Beuschers Text schwingt Kritik am öffentlichen Umgang mit Katastrophen mit – arbeiten Sie sie heraus und diskutieren Sie darüber. Sammeln und bewerten Sie Beispiele für die Darstellung von Katastrophen in den Medien.

Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus*. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.

GEORG BÜCHNER, DANTONS TOD

WARUM?!

Ob Naturkatastrophe, Amoklauf oder Unglück – es dauert nur Minuten, bis das erste WARUM?!-Schild in den Medien auftaucht, dessen Adresse unausgesprochen jeder mitdenkt: »Warum lässt Gott das zu?!« Theologen diskutieren diese Frage unter dem Stichwort Theodizee. Haben sie eine Antwort oder bleibt nur Verzweiflung?

Normalerweise machen wir uns keinen Kopf: Wir lassen Gott einen guten Mann sein und romantisieren »die Natur«. Bis dann – aus heiterem Himmel – etwas passiert. Dann schlägt unsere Gedankenlosigkeit erschrocken um und äußert sich als vorwurfsvoller intellektueller Zweifel. In den Nachrichten kann man dann Augenzeugen sehen, die angesichts von qualvoll erstickten, verbrannten, ertrunkenen, zerfetzten Leichen unter Schock in die Mikrofone von Journalisten Sätze sprechen wie: »Das war heftig.« Wer könnte das nicht nachvollziehen? Es folgt Schnitt und Schwenk aufs Pappschild: »WARUM?!« Jedoch ein paar Wochen später, wenn der Schock vorbei ist, kann man dann etwas Besonneneres sagen als in den ersten Schreckensmomenten? Ich meine: Ja. Handelt es sich um ein Unglück mit menschlichem Versagen, wird dem Nachdenken häufig ausgewichen, indem es durch die Suche nach einem Schuldigen ersetzt wird. Da kann man was tun und sich empört und entschieden zeigen – das entlastet. Schwieriger ist es bei Naturkatastrophen. Wen soll man jetzt verantwortlich machen? Gibt es etwa keinen Schuldigen? Soll man die vermeintlich gute und reine Natur belangen?

Im moralischen Register bleiben angesichts von Leid und Unglück in dieser Welt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man sucht die Schuld bei Menschen, um Gottes moralische Ehre zu retten, oder man sucht die Schuld bei einem Gott, an den man eigentlich nicht glaubt. Mit der Theodizee kommt der Mensch an seine Grenze.

Bernd Beuscher, Theologe

Fragen …
48 KAPITEL 2
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THEODIZEE

• Theodizee (von griech. theos: Gott und dike: Gerechtigkeit) bezeichnet die Rechtfertigung eines allmächtigen, gerechten und liebenden Gottes angesichts des Bösen und des Leidens auf der Welt.

• Geprägt wurde der Begriff vom Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz* (1646–1716). Dieser führt aus, dass alles Geschaffene notwendigerweise unvollkommen sein muss, da es sonst mit Gott identisch wäre. Wenn Gott die Freiheit der Geschöpfe will, müssen diese zudem die Möglichkeit zur Wahl des Schlechten haben.

• Nach Leibniz lassen sich alle Formen der Beeinträchtigung der Lebensgrundlage auf drei Gruppen von Übeln (malum) zurückführen: Formen, die auf die menschliche Freiheit zurückgehen (malum morale, das Böse); solche, die natürlich-physikalischen Gesetzen gehorchen, wie z. B. Naturkatastrophen, Krankheiten (malum physicum); Formen, die sich aus der grundsätzlichen Beschränkung von Mensch und Welt ergeben, wie z. B. die Vergänglichkeit (malum metaphysicum).

• So kommt er zu dem Schluss, dass die Welt von Gott (sofern dieser als vollkommen gedacht wird) nur als »die beste aller (möglichen) Welten« erschaffen worden sein kann. Das, was wir aus der begrenzten menschlichen Sicht als böse, schmerzhaft und begrenzend empfinden, ist somit Grundvoraussetzung unserer Welt und hat im Weltganzen, das Leibniz als ein sinnvolles Zusammenspiel von einzelnen Teilen (Monaden) beschreibt, seinen Platz und dient dem Guten.

»Gott will die Menschen prüfen.

»Katastrophen passieren eben. Pech gehabt.

»Es gibt gar keinen Gott.

»Gott leidet selbst, er kann das Böse nicht verhindern.

»Die Menschen haben nun mal einen freien Willen.

»Im Jenseits wird alles wieder gutgemacht.

»Die Menschen sollen aus Unglücksfällen lernen.

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»Vielleicht dient Leiden einem guten Zweck.

ANTWORTVERSUCHE

1. Experimentieren Sie mit der Definition von Theodizee (Info, erster Satz), indem Sie z. B. ein Gottesattribut daraus wegnehmen bzw. verändern.

2. In den Zitaten (oben) und dem Comic finden Sie oft gehörte Antworten auf die Theodizeefrage. Diskutieren Sie darüber. Nehmen Sie dabei auch die Perspektive eines / einer von Leid Betroffenen ein.

3. Erläutern Sie die Position G.W. Leibniz’ und wenden Sie diese auf ein aktuelles Beispiel an.

AUS G. W. LEIBNIZ,

THEODICEE (1710)

Was wir von Gottes Weltregierung sehen können, ist kein genügend großes Stück, um die Schönheit und Ordnung des Ganzen daraus erkennen zu können. So bringt es die Natur der Dinge selbst mit sich, dass jene Ordnung des Gottesstaates, die wir hienieden noch nicht schauen, ein Gegenstand unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unseres Vertrauens auf Gott sein muss.

… bleiben Fragen INFO
»OH MY GOD«!? 49

Hiob:

GOTTES NÄHE – EIN GLÜCK?

Ein biblisches Gedankenexperiment

Die Bibel erzählt davon, wie Gott sich den Menschen offenbart, wie er ihnen nah kommt. Das Heil, das Gott schenkt, besteht gerade darin, dass er sich nicht im Himmel verschanzt, sondern dass er den Menschen nah kommt. Doch was wäre, wenn Gott sich naht und nicht nach den Regeln spielt?

Gottes Nähe wird im Alten Testament dann als Glück und Geborgenheit erfahren, wenn sie sich gegen Gegner wendet. Das Alte Testament kennt indes auch eine Nähe Gottes, die Unglück verursacht, selbst wenn sie keine gottfeindliche Macht abwehrt. Schon Erzvater Jakob erfährt das: Wer Gott (zu) nahe kommt, bekommt vielleicht den Segen, bleibt aber fürs Leben gezeichnet (Gen 32,23–33). Der Prophet Jeremia leidet nicht nur darunter, dass niemand ihn hören will, sondern auch unter der überwältigenden Nähe Gottes (Jer 20).

Am weitesten geht das Hiobbuch. Sprechend ist Hiobs Klage (Hi 7,17–21):

Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dass du ihn beachtest? Dass du ihn heimsuchst jeden Morgen und

MIT GOTT GEGEN GOTT

1. Schlagen Sie die von M. Köhlmoos erwähnten Bibelstellen nach. Erinnern Sie sich dabei an den Inhalt des Hiobbuches [11] bzw verschaffen Sie sich einen ersten Eindruck davon.

2. Beschreiben Sie das Gottesbild, das M. Köhlmoos in ihrem Text zum Ausdruck bringt, und beziehen Sie es auf die Illustration von W. Blake.

3. Die Nähe Gottes kann als schützend oder bedrohlich erlebt werden: Belegen Sie dies an weiteren Bibelstellen.

4. »In Hiobs Protest ist immer noch mehr Wahrheit als in der Theodizee der Theologen« (R. Spämann, S. 51): Erläutern und diskutieren Sie diese Aussage.

5. »Mit Gott gegen Gott« – spielen Sie den Prozess, von dem in den Texten und auf dem Bild auf S. 51 die Rede ist, gedanklich nach: Formulieren Sie die Anklageschrift, bestimmen Sie die Rollen der Prozessbeteiligten, lassen Sie sie Stellung nehmen.

ihn jeden Augenblick prüfst? Wirst du von mir wegblicken, mich lassen, bis ich meinen Speichel schlucke? Habe ich gesündigt, was tut es dir, Menschenhüter? Warum hast du mich dir zur Zielscheibe gemacht, und (warum) bin ich dir zur Last geworden? Warum vergibst du mir nicht meinen Aufstand und lässt hingehen mein Vergehen? Denn jetzt: In den Staub werde ich mich legen, und wenn du mich suchst, bin ich nicht mehr.

Hiob stellt die Psalm-Erfahrung auf den Kopf: Beginnend mit dem Zitat von Ps 8,5 in Hi 7,17 wird Gottes Nähe gnadenlos: Gott prüft und überwacht den schwachen Menschen, statt seiner liebevoll zu gedenken. Statt Hiob an die Hand zu nehmen, wie in Ps 73, greift Gott Hiob an, seine Hand wird zur Waffe (stärker noch in Hi 16,12–14). Hiobs Verzweiflung resultiert also nicht aus der Ferne Gottes, sondern aus seiner Nähe! In seinen Klagen und Anklagen dreht Hiob pausenlos Psalmensprache um und wendet sie in ihr Gegenteil. Hiobs Freunde erweisen sich nicht nur dadurch als nicht hilfreich, dass sie bei Hiob Sünde vermuten, sondern dass sie ihm konstant empfehlen, er möge zu Gott beten, um dessen Nähe zurückzuerhalten: Sie vermuten Gottes Ferne als Grund des Leidens ihres Freundes (besonders in Hi 4–5; 8; 11).

Nur die Leserinnen und Leser des Hiobbuches kennen die ganze Wahrheit. Hiobs Leiden entstammt einem Experiment – umgangssprachlich einer Wette – zwischen Gott und dem Satan: Was wird passieren, wenn ein zweifellos Rechtschaffener mit allem Unglück belegt wird, das es gibt? Wird er an Gott festhalten oder nicht (Hi 1–2)? Zwar ist es der Satan, der Hiobs Herden und Familie tötet und ihn krank macht, aber er tut es mit Gottes ausdrücklicher Erlaubnis.

Klage …
50 KAPITEL 2
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William Blake, Illustration zu Hiob (1805)

GOTT VOR GERICHT

Vor dem Gericht seiner Heimatstadt Ohama hat Senator Ernie Chambers Gott vor ein paar Tagen angeklagt wegen (man muss es im Original zitieren) »fearsome floods, egregious earthquakes, horrendous hurricanes, terrifying tornadoes, pestilentious plagues, ferocious famines, devastating droughts, genocidal wars, birth defects and the like«. In der Anklage heißt es auch, Gott habe in der Vergangenheit Terrordrohungen mit großem Schaden für viele Personen ausgestoßen und fahre fort, diese auszustoßen.

Ernie Chambers hat bei alldem ein großes, ein biblisches Vorbild. Hiob, der fromme Mann aus dem Lande Uz , war ja keineswegs nur der große Dulder. Er lehnte sich auch auf gegen den göttlichen Ratschluss; er beharrte darauf, dass das Unglück, das ihn vom Himmel hoch befallen hatte, den Falschen traf. Auch Hiob wollte die Sache gern mal persönlich mit Gott bereden: »Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Thron kommen könnte! So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen.«

Chambers hat beantragt, Gott möge auf einen Anwalt verzichten, da er bekanntlich allwissend sei, einer Verteidigung also nicht bedürfe. Hiob war noch raffinierter: Er sagte, dass Gott selbst sein Anwalt und Richter sei, der ihn gegen das Unrecht in Schutz nehmen werde. Anders gesagt: Hiob rief Gott als Bundesgenossen gegen Gott auf – ein gewagtes juristisches Manöver. Die WELT, 22. September 2007

MERKe:

Gott den Prozess machen –mehr Vertrauen geht nicht.

AUS EINEM INTERVIEW MIT DEM PHILOSOPHEN ROBERT SPAEMANN ANLÄSSLICH DER TSUNAMIUND ATOMKATASTROPHE IN JAPAN 2011

Japan wurde von Katastrophen heimgesucht, die das bisher Denkbare übersteigen. Wo war Gott in Japan? Bei uns lautet bisher die klassische Frage: Wo war Gott in Auschwitz? Meine Antwort: Am Kreuz. In Auschwitz wirkte die teuflische Bosheit von Menschen. In Japan handelt es sich um ein ungeheuerliches Zusammentreffen von drei Katastrophen. Die Frage, wo Gott war, wird in solchen Situationen immer gestellt. Aber sie stellt sich auch, ohne dass ich etwas von Auschwitz oder Japan weiß, schon wenn ich zum Beispiel höre, dass ein kleines Kind von seinen Eltern auf bösartige Weise zu Tode gequält wurde. Nach Katastrophen entsteht eine gewisse Hysterie, die auf die Größenordnung schaut. Bei kleineren Sachen ist man bereit, darüber hinwegzusehen. Gott hingegen sieht über gar keine Sache hinweg.

Wie kann er es dann zulassen?

Darauf gibt es eine klare biblische Antwort im Buch Hiob. Hiob fragt sich, warum ihm so viel Unglück zustößt. Seine Freunde betreiben Theodizee und erklären ihm, dass Gott gerecht ist und die Schuld bei Hiob selbst liegt. Dann tritt Gott selbst auf und weist die Freunde in ihre Schranken. Er sagt: Sie haben überhaupt keine Ahnung. Sie kennen Gottes Motive nicht. In Hiobs Protest ist immer noch mehr Wahrheit als in der Theodizee der Theologen.

Und wie reagiert der bedrängte Hiob?

Gott redet mit Hiob am Ende selbst unter vier Augen und fragt ihn: Wo warst du denn, als ich die Sterne gemacht habe? Als ich das Krokodil gemacht habe, das Nilpferd und den Leviathan? Diese Antwort stößt Hiob nicht ab, sondern sie bringt ihn zur Besinnung: Er vertraut auf Gott, trotz allem, was geschieht. Er sagt: Wir haben von ihm das Gute genommen, sollten wir dann nicht auch das Böse annehmen; der Name des Herrn sei gepriesen. Ein ermordeter Jude in Auschwitz schrieb in einem herausgeschmuggelten Testament: Gott, mach mit uns, was du willst. Du wirst es nicht schaffen, dass wir aufhören, dich zu loben. Dieses gewaltige Paradox versteht nur ein Gläubiger.

… und Anklage
»OH MY GOD«!? 51
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Nach Auschwitz …

HANS JONAS: GOTT IST NICHT ALLMÄCHTIG!

Der jüdische Philosoph Jonas, der 1933 Deutschland verließ und später vor allem in den USA lehrte, ist von Auschwitz existentiell betroffen. Seine eigene Mutter wurde dort ermordet. Seinem »selbsterdachten Mythos« gemäß hat Gott sich zugunsten der Schöpfung, des Werdens, selbst entäußert. Das impliziert die Rede von einem leidenden, werdenden, sich sorgenden Gott, d. h. einem Gott, der von dem, was in der Welt geschieht, verändert wird, nicht in Ewigkeit der gleiche sein wird und der für seine Geschöpfe Sorge trägt. Das heißt dann aber auch, dass dieser Gott nicht allmächtig ist. Die Allmacht Gottes muss weichen, wenn die traditionellen Attribute absolute Güte, absolute Macht und Verstehbarkeit Gottes gleichzeitig gelten sollen. Den Verzicht auf die Allmacht hat Gott aber nicht erst im Laufe der Geschichte gewählt, sondern er ergab sich schon in der Schöpfung, dem Akt göttlicher Selbstentäußerung. Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, dass es nicht geschehe, oder nicht zu oft geschehe und nicht seinetwegen, dass es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muss.

Auschwitz ist für Jonas gleichzeitig der Ort des Scheiterns Gottes (»Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein«, Gott ist nicht »Herr der Geschichte«) als auch der Ort, an dem die Heiligkeit Gottes in der Gestalt der Gerechten [die für Jonas auch in Auschwitz zu finden waren] hervortreten konnte. Birte Petersen, Theologin

»Adam, wo bist du?« (2020): Die Skulptur von Ilana Lewitan zeigt Jesus in der Kleidung der KZ-Häftlinge und mit dem Judenstern. Hinter ihm steht in verschiedenen Sprachen das jüdische Liebesgebot (Lev 19,18, vgl. Lk 10,27). I. Lewitan erklärt zu ihrem Kunstwerk: »Ich zeige dieses sehr harte Stahlkreuz nicht als christliches Symbol, […] sondern es ist in meiner künstlerischen Arbeit das Kreuz – das Tötungswerkzeug der Römer. Das heißt, er ist damals als Jude am Kreuz gestorben und dann setze ich ihn in eine andere Zeit und da wäre er als Jude in der Gaskammer gestorben. Und das zeige ich in einer Skulptur.«

GOTT LOBEN IN AUSCHWITZ?

GOTT, WO BIST DU? ADAM, WO BIST DU?

1. E. Wiesel* und H. Jonas setzen sich mit der Allmacht Gottes auseinander. Erläutern Sie ihre Gedanken. Formulieren Sie Fragen, die Sie ihnen stellen möchten.

2. Suchen Sie nach biblischen Bezügen zu den beiden Texten auf dieser Seite.

3. I. Lewitan gibt der Theodizeefrage die Wendung: »Adam, wo bist du?« Beschreiben und deuten Sie ihr Kunstwerk.

Elie Wiesel erzählt von einem Gottesdienst, den er als Kind im KZ Auschwitz erlebte: Warum, warum soll ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabriken geschaffen hat? Wie sollte ich zu ihm sagen: »Gepriesen seist Du, Ewiger, König der Welt, der Du uns unter den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern verenden sehen?«

Elie Wiesel*

52 KAPITEL 2
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LEBENSMACHT

Eines der schwierigsten Probleme ist die Frage nach der Macht, die dieser Gott der Beziehung hat. Die christliche Annahme, dass wir im Gesicht des zu Tode gefolterten Jesus von Nazareth Gott am deutlichsten erkennen, widerspricht vollkommen unserer Fixierung auf Macht und Herrschaft. Christus erscheint in den Evangelien als der Mensch für andere, der außer seiner Liebe nichts besitzt: keine Waffen, keine Zaubertricks, keine Privilegien. Christus wies es zurück, Wunder zu tun, wenn sie von ihm als Beweis gefordert wurden. Er kam mit keinem anderen Kapital in die Welt als mit dem seiner Liebe, und sie war so machtlos und so mächtig, wie Liebe eben ist.

Und doch ist damit noch nicht alles gesagt. Es ist möglich, das Kreuz Christi in dieser Sprache der machtlosen Liebe zu verstehen, aber es ist nicht möglich, die Auferstehung zu artikulieren, solange wir alle Macht als »böse« ansehen. Ich stelle das fest in kritischer Haltung meiner eigenen Theologie gegenüber, die sich in drei Schritten verstehen lässt.

Aus dem Glauben an einen allmächtigen Vater »der alles so herrlich regieret«, dem Theismus*, war ich herausgetreten. Angesichts von Auschwitz schien – und scheint! – mir die Annahme der Omnipotenz Gottes eine Häresie*, ein Missverständnis dessen, was Gott bedeutet.

Aus dieser Kritik am theistisch-patriarchalen Gott entwickelte ich eine zweite Position, in der das Kreuz Christi im Mittelpunkt steht, eine Bejahung der gewaltfreien Ohnmacht der Liebe, in der Gott selber nicht mehr Leidverhänger ist, sondern Mitleidender. Die Schwierigkeit dieser Position hängt mit der Frage nach der Macht dieses gewaltfreien Gottes zusammen. Ist wirklich alle Macht böse, oder können wir irgendetwas über die gute Macht, die Macht Gottes, den Sieg des L ebens über die Todeswünsche aussagen?

Die dritte Position versucht, die Auferstehung Christi und unser Herauskommen aus dem Tod als Partizipation an Gottes Macht zu denken. Der Übergang von der zweiten zur dritten Position hängt mit meinem Hineinwachsen in die Theologien der Befreiung* zusammen. Langsam verstand ich, dass es außer der Macht zu brüllen und zu schießen, außer der Macht des Imperiums noch andere Formen der Macht gibt, die aus der Verbundenheit mit dem Grund des Lebens kommen.

Das Gras, das durch den Asphalt ins Licht wächst, hat auch power. Nicht die zu befehlen, zu herrschen, zu manipulieren, aber eine Macht, die aus der Beziehung zum Leben kommt. Gute Macht ist geteilte Macht, solche, die sich austeilt, die andere beteiligt, die durch Ver teilung wächst und nicht knapper wird. In diesem Sinn ist die Auferstehung Christi eine ungeheure Macht-Verteilung. Den Frauen, die sie als erste erfuhren wurde Anteil an der Lebensmacht ge geben. Es war die un geheure Gewissheit Gottes, die nun in ihr Leben trat.

Dorothee Sölle*

»Kreuz mit zwei Lebensbäumen« (Offb 22,2) mit der Inschrift: Iesous Christos nika (Jesus siegt), HarbavilleTriptychon, byzantin. 10. Jh.

MACHTVERTEILUNG

1. D. Sölle setzt sich in diesem Text mit ihrer eigenen theologischen Entwicklung auseinander. Geben Sie den beschriebenen drei Phasen ihres Denkens Überschriften. Erläutern Sie, welche Rolle Passion und Auferstehung darin spielen.

2. Suchen Sie für die von D. Sölle beschriebene »andere Form der Macht« Beispiele aus dem persönlichen und gesellschaftlichen Bereich.

3. Beschreiben Sie das Bild (oben) und beziehen Sie es auf Gedanken von D. Sölle.

4. Verfassen Sie einen Kommentar zum ersten Glaubensartikel. Ziehen Sie dazu die Materialien dieser Doppelseite heran.

… Macht neu denken
»OH MY GOD«!? 53
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Die trinitarische Gottheit ...

MONOTHEISMUS UND TRINITÄTSLEHRE

• Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam [11] verbindet der Glaube an einen Gott.

• »Höre Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einer« (Dtn 6,4): Dieser Satz aus der Hebräischen Bibel gehört zu den gemeinsamen Grundlagen von Judentum und Christentum; im Judentum bildet er bis heute den Anfang des Glaubensbekenntnisses (Sch’ma Jisrael) [9]. Ein traditionelles jüdisches Morgengebet entfaltet dies: »Erhaben ist der lebendige Gott und gepriesen, er ist, und keine Zeit beschränkt sein Dasein. Er ist einzig, und nichts ist einzig gleich seiner Einzigkeit, er ist unsichtbar, und unendlich ist seine Einheit.«

• Muslime bekennen ihren Glauben mit den Worten: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.« (Schahada) [7]

• Der Monotheismus hat sich in biblischer Zeit erst allmählich entwickelt. Das erste Gebot des Dekalogs geht ja zunächst durchaus von der Existenz anderer Gottheiten aus, verlangt aber, JHWH allein zu verehren (Monolatrie). Vor allem in der Zeit des babylonischen Exils* wurde der Monotheismus in seiner konsequenten Form ausgebildet: der Glaube an einen einzigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und neben dem es keine andere göttliche Macht gibt.

• Der trinitarische Glaube an einen Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, wird von Vertretern des Islam und des Judentums teilweise als Bruch mit dem Monotheismus gesehen: »Wahrlich, der Messias Jesus, der Sohn Marias, ist ein Gesandter Allahs, […] glaubt daher an Allah und seinen Gesandten, sagt aber nichts von einer Dreiheit. Vermeidet das, und es wird besser um euch stehen. Es gibt nur einen einzigen Gott. Fern von ihm, daß er einen Sohn habe. Sein ist, was in den Himmeln und auf Erden ist. Allah genügt als Beschützer.« (Sure 4)

• Doch wenn man Trinität als eine Aussage über den einen Gott versteht, der Beziehungen eingeht, in Bewegung ist und die Menschen liebt, dann ergeben sich durchaus Berührungspunkte für ein konstruktives Gespräch zwischen den Religionen.

Oswald Putzer, Code für den dreieinigen Gott, 2011, Spiegelplatten, 3-teilig, 180 x 90 cm, 180 x 104 cm. Drei Spiegeltafeln bilden zusammen ein Dreieck des Sehens in einem unendlichen Sehraum. Die beiden Texttafeln zeigen verschlüsselte Worte in Spiegelschrift, zum einen den Ausspruch ICH BIN DER ICH BIN, zum anderen die darin enthaltenen Buchstaben INRI. Über den dritten leeren Spiegel lassen sich die Inschriften entziffern. So sieht der Mensch gleichzeitig alle drei Spiegel, unendlich weit, und sich selbst mitten darin. (Ausstellungskatalog)

IM BLICKFELD DER TRINITÄT

1. Diese Doppelseite schließt den Bogen zur Trinität, S. 38 f. Beschreiben und deuten Sie die Installation von O. Putzer. Beziehen Sie sie auf biblische Gottesvorstellungen und auf theologische Modelle, die in diesem Kapitel erarbeitet wurden.

2. »... und sich selbst mittendrin«. Die Person sieht sich auch selbst im Spiegel. Was macht das mit ihr? Formulieren Sie mögliche Gefühle, Gedanken, Perspektiven.

INFO
54 KAPITEL 2
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JÜDISCHE POSITIONEN

Die Einheit G'ttes, die man Israels einziges »Dogma« nennen könnte, ist weder eine mathematische noch quantitative Einheit im Sinne eines starren Uniformismus, sondern eher eine lebendig bewegende Einheit, die von ihrem Wesen her auf das Einswerden der Menschheit in der Versöhnung des allumfassenden Schalom aus ist.

Pinchas Lapide, jüdischer Theologe

»Wenn zwei Menschen zusammensitzen und über die Tora reden, dann ist die Schechina anwesend« (Mischna, Awot 3,2). »Schechina« (hebr. sch-a-ch-en, »sich niederlassen«) bezieht sich auf einen geistigen Aspekt des G’ttlichen, der sich in der materiellen Welt manifestiert. In der Tora offenbart sich die g’ttliche Anwesenheit erstmals als eine Art Wolke, die über dem Stiftungszelt schwebte und das jüdische Volk fortan, als Zeichen g’ttlicher Verbundenheit, begleitete (2 Mose 40,34).

Michelle Berger, Jüdische Allgemeine

Franz Rosenzweig, der große jüdische Denker und Bibelübersetzer hat im 20. Jahrhundert den Gedanken, dass die Schechina Gottes mit seinem Volk nach der Zerstörung des Tempels selbst heimatlos wurde und durch die Exile dieser Welt wandert, in seinem Werk »Der Stern der Erlösung« so gedeutet: »Gott scheidet sich von sich selbst, er gibt sich weg an sein Volk, er leidet sein Leiden mit ihm in das Elend der Fremde, er wandert mit seinen Wanderungen.« In einer solchen SchechinaTheologie ist doch ein prägender Hintergrund der neutestamentlichen Christologie zu finden, zum Beispiel, wenn es im Johannesevangelium heißt »Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns«, oder im Kolosserbrief, in Christus »wohnte die Fülle Gottes leibhaftig«. Und diese Einwohnungen Gottes in Christus weisen über sich hinaus auf die kosmische Schechina, in der Gott sein wird »alles in allem«.

Jürgen Moltmann, evangelischer Theologe

ISLAMISCHE POSITIONEN

Nach meiner Beobachtung sprechen Christen doch immer wieder von Jesus als Gott, weshalb sich mir die Frage stellt, ob hier Gott nicht vergleichbar wird mit Seiner eigenen Schöpfung. Er wäre damit gewissermaßen Seine eigene Schöpfung in Seiner eigenen Schöpfung und das als »Person«, was nicht nur aus muslimischer Sicht paradox zu sein scheint. Aus christlicher Sicht scheint diese paradoxe Grunderfahrung der Begegnung mit Gott in Jesus von Nazaret notwendig zu sein, um das Wesen Gottes als Liebe zu begreifen. (Es) fragt sich, wieso Jesus von Nazaret so entscheidend für die Wesenserschließung Gottes sein soll. Laut der islamischen Theologie ist die gesamte Schöpfung ein Zeichen Seines Wesens. Daher bedarf es nicht dieser einen Berührung von Gott und Mensch, um von Gott sprechen zu können.

Cemil Şahinöz, islamischer Theologe

Wenn ich mir alle Attribute Gottes wegdenke, um das zu benennen, was er in seiner Essenz ist, so ist das Letzte, was ich von Gott aussagen kann: »Er ist«. »Ist« bedeutet aber nicht einfach nur »existent«, sondern es ist der Name für das, was mit »lebendig sein« ausgesagt werden soll, und lebendig ist Gott ja nach islamischer Vorstellung durch sich selbst heraus. Ich würde somit letztlich argumentieren, dass Gott Leben in seinem Wesen ist. In diesem Zusammenhang ist es nötig, den Widerspruch zwischen »Leben« (Dynamik und Entwicklung) und »Vollkommenheit« (Statik und Abgeschlossenheit) zu lösen. Ist Statik notwendig für Vollkommenheit? Ist nicht vielmehr die Bewegung ein viel ersichtlicherer Ausdruck der Vollkommenheit? Aus diesen Überlegungen wurde hoffentlich ersichtlich, dass die Idee, Gott als Leben zu denken, dem Islam nicht fremd ist und dass man auf dieser Basis durchaus sehr fruchtbar weiterdenken und kommunizieren kann.

Hureyre Kam, islamischer Theologe

DIFFERENZ UND NÄHE

1. Arbeiten Sie mithilfe der Info ( S. 54) aus den Texten mögliche Gesprächsthemen, Berührungspunkte und Differenzen zwischen christlichem, jüdischem und islamischem Gottesverständnis heraus. [9, 11]

2. Versuchen Sie einem jüdischen bzw. muslimischen Mitschüler / einer Mitschülerin zu erklären, dass Trinität nicht »Glaube an drei Götter« bedeutet.

... im interreligiösen Gespräch
»OH MY GOD«!? 55
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Segen, Mut und Traubenzucker

Die Website des Projekts »PrüfungsSegen« gibt Anregungen, wie man die Zeit vor einer Prüfung gottesdienstlich begleiten kann. Zu einem solchen Gottesdienst gehört auch – freiwillig natürlich – ein Einzelsegen, ein Gebet »nur für dich und deine Prüfungen«. Auf dieser Seite finden Sie einige Bausteine.

WAS WIR WOLLEN

Die Prüfungszeit ist eine besonders dichte Zeit. Wir wollen Mut und Lust machen, die Prüflinge bewusst durch diese Phase zu begleiten.

Mit seinem Segen beschenkt er dich

Gott ist jetzt da. Hier.

In diesem Moment.

Hier bei dir.

»Ich sehe dich«, flüstert Gott dir ins Ohr.

»Ich kenne dich.«

»Ich hab’ dich lieb.«

»Und ich will dich segnen.«

PrüfungsSegen: interreligiös

Lass kurz los: deine Vorbereitungen, den Stoff, den du gebüffelt hast, die Fragen, die noch offen sind, das mulmige Gefühl im Bauch. Gott beschenkt dich. Jetzt. copyrightedmaterial

Prüfungssegen: Fürbittgebet

Vater im Himmel, du hast diese Welt gemacht: alles, was lebt, auch uns.

Es gibt nichts, das du nicht siehst.

Es gibt niemanden, den du übersiehst.

Du hast jeden und jede immer vor Augen. Auch gerade jetzt, wenn nächste

Woche die Prüfungen sind.

Du kennst jeden Schüler, jede Schülerin. Du weißt, was Eltern für ihre Kinder wollen.

Mach ihr Herz ganz weit, damit sie loslassen und zutrauen, sich mitfreuen und trösten können.

Du hast alle vor Augen. Du vergisst niemanden.

Du freust dich mit, du tröstest und du liebst uns.

Danke, dass das auch dann stimmt, wenn etwas nicht gelingt.

Vaterunser ...

Durch die Heterogenität unserer Schulen und da Segen bzw. die Segensbitte in allen Religionen wichtig ist, könnte für den PrüfungsSegen eine multireligiöse Form gefunden werden, in der neben- oder nacheinander die Gebete gesprochen werden. Wichtig ist die gemeinsame Vorbereitung, der Verzicht darauf, Andersgläubige zu vereinnahmen, sowie der Verzicht auf eine Kirche. Der Segensraum sollte einfach gestaltet sein.

Möglicher Ablauf:

1. Eingangssprüche: »Im Namen Gottes, der ganz nah bei uns ist.«

2. Thematischer Teil: Texte aus der je eigenen Glaubenstradition, z. B. einen Psalm oder eine Koransure.

3. Abschluss: Individueller Segen und Friedensgruß, z. B. »Gott stärke dich in den Prüfungen, er schenke dir einen kühlen Kopf, eine ruhige Hand und vor allem Gelassenheit. Gott segne dich.«

56 KAPITEL 2

Informieren Sie sich auf der Webseite über das Projekt »PrüfungsSegen«.

Arbeiten Sie aus den einzelnen Texten und Materialien ( S. 56)

Vorstellungen von Gott heraus. Vergleichen Sie sie mit Gottesvorstellungen aus Bibel und Theologie, die in diesem Kapitel zur Sprache gekommen sind.

Formulieren Sie Anfragen an das Projekt und / oder an einzelne Texte. Ändern Sie ggf. Texte auf der Basis der Überlegungen dieses Kapitels.

Nehmen Sie zu dem PrüfungssegenProjekt aus der Sicht einer religionskritischen bzw. atheistischen Position Stellung.

Prüfen Sie den interreligiösen Vorschlag vor dem Hintergrund Ihrer Überlegungen zum interreligiösen Gespräch über Gott.

Für Sie dauert es noch eine Weile bis zum Abitur. Aber überlegen Sie schon einmal, ob Sie sich ein solches Segensritual vorstellen könnten. Wie würden Sie es gestalten wollen? Würden Sie Materialien aus dem Projekt nehmen oder haben Sie andere Ideen? Skizzieren Sie einen vorläufigen Entwurf.

Was haben Sie dazugelernt (vgl. S. 21)?

Was möchten Sie sich merken?

Welche Methoden bzw. Materialien haben Sie besonders angesprochen?

Was wird Sie weiter beschäftigen?

Welche Fragen bleiben offen?

Eine Abiturientin fragt ihre Freundin: »Du weißt ja, dass ich eigentlich nicht religiös bin. An Gott kann ich irgendwie nicht glauben. Soll ich trotzdem an diesem Prüfungssegen teilnehmen?« Formulieren Sie eine Antwort der Freundin.

Im Zusammenhang
++
»OH MY GOD«!? 57
wiedergeben ++ beschreiben ++ wahrnehmen ++ deuten ++ reflektieren ++ urteilen
kommunizieren ++ sich ausdrücken
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Was kann ich schaffen?

Sind Christen gegen Leistung?

Sind alle Menschen kreativ?

Gar nichts tun: Geht das überhaupt?

Ist es ohne Arbeit langweilig?

Hat jeder Mensch eine Berufung?

Ist es nur Arbeit, wenn es anstrengend ist?

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Lernbereiche: »Homo faber – der Mensch und seine Möglichkeiten«, »Woran dein Herz hängt –Sinnfrage und Gottesfrage«

KAPITEL 3 58 KAPITEL 3
(GE)SCHAFFEN
?

Aktivität, Kreativität und Leistungsfähigkeit stellen zentrale Aspekte des Menschseins dar. Sie beschreiben unterschiedliche Sichtweisen vom Menschsein mit besonderem Blick auf sein aktives, produktives und kreatives Wesen. Vor diesem Hintergrund geben Sie auch verschiedene Theorien zu Arbeit und Beruf wieder.

Sie nehmen wahr, dass mit eigenen wie fremden Ansprüchen an Aktivität, Kreativität und Leistung zwiespältige Erfahrungen verbunden sein können, und deuten diese vor dem Hintergrund, dass menschliches Leben grundsätzlich in einer Spannung von Empfangen und Gestalten besteht. Hierbei erschließen Sie Bibelstellen zum Sabbat und zum Herrschaftsauftrag.

Die Sichtweisen vom Menschen als gestaltendes Wesen und die Theorien zur Arbeit verlangen nach einer Bewertung. Entsprechend reflektieren Sie z. B., welche Bedeutung Aktivität, Kreativität und Leistung für Sie haben. In diesem Zusammenhang prüfen Sie Impulse, die von der Gedankenfigur der »Freiheit eines Christenmenschen« auf Ihre Haltung zu Leistungsfähigkeit und Leistungszwang ausgehen können.

urteilen

Sie tauschen sich über Berufsorientierung aus und sprechen dabei über eigene Erfahrungen mit dem Arbeitsleben. Sie diskutieren, welche Perspektiven sich aus einem biblisch­ chr istlichen Menschenbild für die zukünftige Arbeitswelt und deren möglichen Veränderungen ergeben.

FILMANALYSEN ZUM SOG. AMERICAN DREAM

In Filmen wie »The Pursuit of Happyness« ist der sog. American Dream ein zentrales Motiv. Recherchieren Sie weitere Filme, in denen die Vorstellung, dass man sich durch eigenes Engagement einen wirtschaftlichen Aufstieg und damit eine bessere Zukunft erarbeiten kann, zu Erfolg führt oder zum Problem wird. Zeigen Sie für ausgewählte Filmbeispiele jeweils auf, welches Menschenbild sich hier zeigt, und setzen Sie sich anschließend kritisch mit diesem auseinander.

(GE)SCHAFFEN 59
beschreiben wiedergeben
reflektieren wahrnehmen deuten
kommunizieren
sich
ausdrücken
EXTRATOUR copyrightedmaterial

Mein Werk

60 KAPITEL 3
Werbeplakate von Baumärkten copyrightedmaterial

»Sobald der Mensch sich selbst als frei erfasst und seine Freiheit gebrauchen will, so wird, welche Angst ihn auch sonst bedrückt, seine Tätigkeit zum Spiel.«

(GE)SCHAFFEN 61
Mein Element
JEAN-PAUL SARTRE*
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Selbst gemacht

DER DO-IT-YOURSELF-TREND Gärtnern, Basteln, Stricken: Das Schlagwort heißt »Do­It (DIY): Menschen wollen mit den eigenen Händen etwas herstellen – als Ausgleich zum fremdbe stimmten Berufsleben. Susan ne Kickern sitzt an einer Näh maschine im »NähBüro« in Köln. Beruflich ist die Kulturma nagerin viel unterwegs und hat immer ein Telefon am Ohr. »Nähen«, sagt sie, »hilft mir, zur Ruhe zu kommen«. Bis auf das Rattern der Nähmaschinen und das Dampfen des Bügeleisens herrscht um sie herum eine entspannte Ruhe. Fünf Frauen sind über Schnittmuster und Bügelbretter gebeugt und arbeiten konzentriert. Sie nähen nicht, um Geld zu sparen. Nach einem langen Arbeitstag im Büro möchten sie in ihrer Freizeit selbst bestimmen, womit sie sich beschäftigen. Und es geht ihnen darum, wieder etwas selber herzustellen. »Ich finde es sehr angenehm, dass ich mich nur mit einer Sache beschäftige und mich darauf konzentriere und vor allem etwas mit den Händen tue«, sagt Kickern, die nicht nur selber näht, sondern auch selbst geerntetes Gemüse und Obst einkocht. Tätigkeiten, die in Deutschland jahrzehntelang nicht zum Bild eines modernen Menschen passten, sind wieder in Mode. Die Ursache sieht Ines Imdahl als Trendforscherin in der ständigen Verfügbarkeit, dem »Standby ­Modus«, in dem sich viele moderne Arbeitnehmer in Deutschland permanent befinden. Frauen genauso wie Männer fühlen sich fremdbestimmt und in ihrem Arbeitsalltag, der meist daraus besteht, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, gehetzt. »Viele können eine Tätigkeit in ihrem Beruf nicht vom Anfang bis zum Ende durchführen. Dieser Kontrollverlust hat dazu geführt, dass wir angefangen haben, kleine Nebenwerke zu suchen, wo wir selber bestimmen, wann fängt es an, wann hört es auf und wann haben wir es komplett fertiggestellt«, erklärt Imdahl die Entwicklung. Beim Nähen – das hat auch Susanne Koch, Initiatorin des »NähBüros«, bei ihren Kursteilnehmern beobachtet – gehe es nicht nur darum, sich kreativ auszutoben. Vor allem für die Erwachsenen gleiche es einer »Therapie, sich mit einem Handwerk zu beschäftigen«.

Sabine Oelze, Journalistin

Schau mal Mama, das hab ich selbst gemacht.

» Auf geht’s.

Selbst eingekochte Marmelade ist die beste.

»Ohne Fleiß kein Preis.

VOM WERKSINN DES KINDES

Obwohl alle Kinder es brauchen, dass man sie zeitweilig allein spielen lässt, und obwohl alle Kinder Stunden Tage in einer spielerischen Als­ob­Welt verbringen müssen, werden sie doch alle früher oder später unbefriedigt und mürrisch, wenn sie nicht das Gefühl haben, auch nützlich zu sein, etwas machen zu können und es sogar gut und vollkommen zu machen; dies nenne ich Werksinn. Ohne ihn reagiert das bestunterhaltene Kind, als würde es ausgebeutet. Es ist, als ob es wüsste und als ob seine soziale Umwelt wissen müsste, dass es psychologisch nun schon ein rudimentärer Erwachsener ist und daher anfangen muss, etwas zu arbeiten und für etwas Sorge zu tragen. Es lernt, sich Anerkennung zu verschaffen, indem es Dinge produziert. Es entwickelt Fleiß. Es kann völlig in einer WerkSituation aufgehen. Eine solche schöpferische Situation zur Vollendung zu bringen, ist nun Ziel. So wie es einmal danach strebte, gut zu laufen, etwas gut wegzuwerfen, so strebt es nun danach, etwas gut zu machen. Es entwickelt eine Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauernden Fleiß. Er ik H. Erikson, Entwicklungspsychologe

AKTIVITÄT IM TREND

1. Philosophieren Sie über den Titel dieses Kapitels.

2. Analysieren Sie die Werbung ( S. 60) und beziehen Sie dabei Ihre Überlegungen zu Sinnangeboten ( S. 26 f.) mit ein.

3. Erstellen Sie Ihre persönliche Top-3-Liste mit den am wenigsten sinnvollen Aktivitäten Ihrer Schullaufbahn.

4. Sammeln Sie aktuelle DIY-Trends und tauschen Sie sich über Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Selbermachen aus.

5. Arbeiten Sie aus den Materialien dieser Seite Beweggründe für DIY heraus. Ergänzen Sie diese ggf.

6. Beziehen Sie E. Eriksons Vorstellung vom Werksinn auf eigene Kindheitserinnerungen und prüfen Sie, inwieweit sie für Erwachsene gültig ist. Berücksichtigen Sie dabei auch die Zitate (oben).

62 KAPITEL 3
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DER MENSCH IM SPIELEN

Spiel als Kriterium der Anthropologie*? Was um Himmels willen hat es mit dieser Behauptung auf sich, haben wir nicht das Spielzimmer unserer Kindheit verlassen, um endlich als Erwachsene im Ernst des Lebens mit Verantwortung mitten im Leben zu stehen? Aber vielleicht hat gerade das Erwachsensein viel mehr mit Spiel zu tun als es auf den ersten Blick scheint? Was ist eigentlich Spiel?

Im Deutschen steht das Wort »Spiel« für sehr Verschiedenes: sei es das Kinderspiel, das Glücksspiel, das »Sotun­als ob« – aber auch das Spiel der Musik, der Wellen und Farben. Eine Achse braucht Spiel, um sich bewegen zu können, ebenso eine Schublade. Hier wird das Spiel als Zwischenraum verstanden, der Bewegung zulässt, im Gegensatz zum Stillstand durch Verkantung. Dieser Aspekt von Spiel präzisiert sehr deutlich, um was es bei Spiel als existenzielle Lebensbewegung geht. Es ist das Bewegungsprinzip, das für Lebendigkeit von zentraler Bedeutung ist, im Gegensatz zu Formen der Fixierung und damit der Feststellung! Etwas erzwingen zu wollen, verhindert Spiel. Von daher ist der Gegensatz von Spiel nicht der Ernst, sondern viel eher Verbissenheit und Krampf. Nach Sartre* »setzt in der Tat das Spiel die Subjektivität frei«. »Sobald der Mensch sich selbst als frei erfasst und seine Freiheit gebrauchen will, so wird, welche Angst ihn auch sonst bedrückt, seine Tätigkeit zum Spiel.«

Wenn Glaube heißt, ein eigener Mensch zu werden, wenn Gott herausführt aus Zwängen, wenn das Grundwort »Befreiung« ist, dann werden neue Spielräume eröffnet. Dann kann die Welt anders erfahren werden, dann wird Spiel zum Idealpartner für den Glauben, denn im Spiel kann das Andere, das »Noch Nicht« erfahrbar werden.

Petra Dais, Theologin

Ein MERKe nach Johan Huizinga*: Spiel ist Nicht-Ernst, kann aber sehr wohl ernsthaft sein.

HOMO LUDENS – DER SPIELENDE MENSCH

1. Tauschen Sie sich darüber aus, wann Sie ganz in Ihrem Element sind.

2. Beziehen Sie das Zitat von J.-P. Sartre* auf das Foto ( S. 61).

3. Suchen Sie nach passenden Fotos zum Thema »Mein Element« oder gestalten Sie solche.

4. Fassen Sie P. Dais’ Ausführungen in Thesen zusammen.

5. Erläutern Sie P. Dais’ Gedanken vom Spiel als Idealpartner für den Glauben und beziehen Sie diese auf das Plakat der Fastenaktion (unten).

6. Wählen Sie ein Wochenthema der Fastenaktion aus und schlagen Sie die Stelle in der Bibel nach. Notieren Sie Ideen zu einer Morgenandacht, die den Aspekt des Spielraums berücksichtigt.

7. Sammeln Sie begleitend zum Kapitel verschiedene Sichtweisen vom Menschen auf einer digitalen Pinnwand und vergleichen Sie diese jeweils am Ende des Kapitels miteinander.

In der Fastenakten »Sieben Wochen ohne …«* (2021) mit dem Motto »Spielraum –Sieben Wochen ohne Blockaden« wurden folgende Wochenthemen festgelegt: »Alles auf Anfang« (Spr 8,23.29–31), »Von der Rolle« (Jer 1,4–8), »Das Spiel mit dem Nein« (Ex 1,15–20), »Dir zuliebe?« (1 Kor 13,4–7), »Geht doch!« (Gen 13,1–11), »Richtungswechsel« (Num 22,21–32) und »Die große Freiheit« (Mk 16,1–4).

(GE)SCHAFFEN 63 Einfach so
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Was macht den Menschen …

HUMANOIDE ROBOTER

• Um 1970 entstehen die ersten humanoiden Roboter. Sie können einfache Bewegungen ausführen und zum Beispiel Gegenstände halten sowie Abstände messen. Die Programmierungsmöglichkeiten der in der Maschine verbauten Künstlichen Intelligenz und damit auch (Lern­)Fähigkeiten der Roboter werden weiterentwickelt. So überwinden die meisten Roboter durch Ausweichen oder Hüpfen mittlerweile Hindernisse. Durch integrierte Sprachassistenten sind die Maschinen imstande, einfache, teils auf Stichworte hin vorprogrammierte, Gespräche zu führen.

• Wie humanoide Roboter sinnvoll eingesetzt werden können, wird in verschiedenen Bereichen erst erprobt und diskutiert. Sie können nicht nur bei Arbeitsabläufen in der Industrie Menschen bei körperlicher Arbeit entlasten. Auch für Dienstleistungsaufgaben z. B. im Einzelhandel könnten humanoide Roboter eingesetzt werden. Selbst im Alltag könnten sie nützlich sein, indem sie dabei helfen, Wäschekörbe aus anderen Stockwerken zu transportieren und die Waschmaschine zu bedienen. Besonders umstritten ist ihr möglicher Einsatz in Bildungseinrichtungen sowie in der Pflege.

HUMANOID – WIE EIN MENSCH?

1. Humanoide Roboter sind beliebte Science-Fiction Figuren. Sammeln Sie Beispiele aus Film und Literatur und tauschen Sie sich darüber aus, welche menschlichen Eigenschaften den Maschinen jeweils verliehen werden.

ANGELA

Meckel: Würden Sie sich im Alltag von jemandem wie Sophia pflegen lassen?

Merkel: Bei bestimmten Dingen könnte ich mir das durchaus vorstellen. Also wenn man Roboter den Rasen mähen lässt, warum soll Sophia einem nicht Orangen auspressen, wenn man mit der Hand nicht mehr so richtig zugreifen kann. Trotzdem glaube ich, dass ich nicht zufrieden sein werde, wenn ich nur von Robotern umgeben bin.

Wäre das für Sie eine schöne Utopie, dass wir vieles von künstlich intelligenten Maschinen machen lassen können, um uns wieder den eigentlich menschlichen Dingen zuzuwenden? Also miteinander im Gespräch zu sein, kreativ zu sein?

Ja, wobei selbst wenn Roboter alles für mich kochen könnten, würde ich selbst immer noch gerne kochen. Ich möchte nicht alles ersetzt bekommen, was dann vielleicht ersetzbar ist und ich dann nur noch denken darf. Das wäre mir ein bisschen wenig.

AUS EINEM INTERVIEW MIT SOPHIA

»Sophia the Robot« (links im Bild) ist ein humanoider Roboter einer Firma aus Hongkong. Bei einem Diskussionsabend zum Thema Künstliche Intelligenz auf dem Kongress der Zeitschrift »Morals & Machines« 2018 wird sie von Miriam Meckel, der Verlegerin der Zeitschrift (mittig im Bild), der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (rechts im Bild) vorgestellt. copyrightedmaterial

2. Prüfen Sie, ob die auf dieser Seite dargestellten Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten humanoider Roboter aktuell sind, und ergänzen Sie diese ggf.

3. Antworten Sie selbst auf die Interviewfragen (rechts) an Angela Merkel und stellen Sie sich gegenseitig weitere Fragen zu humanoiden Robotern.

4. Was ist das Besondere am Menschen? Was unterscheidet ihn von Maschinen? Arbeiten Sie Antworten auf diese Fragen aus den Interviews (rechts) heraus.

Sophia, bist du Single? Ich bin technisch gesehen erst drei Jahre alt, das ist ein bisschen früh, um über Romanzen nachzudenken, meinen Sie nicht auch? Wer oder was ist deine große Liebe? David Hanson, mein Erfinder. Ihm verdanke ich alles, was ich heute bin. Aber ver rate es ihm nicht, ja? Was magst du an den Menschen? Dass ihr lachen könnt und euch emotional ausdrücken. Das finde ich bewundernswert und würde ich gern lernen, aber das sind Fähigkeiten außerhalb meiner Reichweite. An den Menschen gefällt mir nicht, wenn sie vergessen, sich gegenseitig zuzuhören.

64 KAPITEL 3
INFO
MERKEL ÜBER »SOPHIA THE ROBOT«

PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE*

• Nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Zusammenbruch vieler kultureller Selbstverständlichkeiten wurde die Frage nach der Bestimmung des Menschen verstärkt gestellt.

• Nach Helmuth Plessner* zeichnet sich der Mensch im Gegensatz zu den Tieren dadurch aus, dass er sich zu seinem eigenen Leben in Distanz und Beziehung setzen kann. H. Plessner nennt dies die »exzentrische Positionalität« des Menschen und leitet aus ihr eine »natürliche Künstlichkeit« ab: Es gehört zur Natur des Menschen, Kultur(en) zu bilden, er erlebt die Welt nur vermittelt durch sein Bewusstsein. Wegen der Exzentrizität gehört es zum Menschsein, jede geschichtliche Realisierung immer wieder zu überschreiten. Menschsein ist daher immer eine Aufgabe.

• Arnold Gehlen* sieht den Menschen als »Mängelwesen« an, das von seiner biologischen Ausstattung her unfertig und wenig an seine Umwelt angepasst ist. Aus diesem Umstand entsteht der Druck des Menschen, sein Überleben zu sichern und diese Mängel zu kompensieren. Dies geschieht nach A. Gehlen zum Beispiel durch technischen Fortschritt oder durch das Bilden von Institutionen, Gemeinschaften und Kulturen.

»MENSCH« VON HERBERT GRÖNEMEYER

[…] Und der Mensch heißt Mensch / Weil er irrt und weil er kämpft / Und weil er hofft und liebt / Weil er mitfühlt und vergibt / Und weil er lacht und weil er lebt. […]

DER MENSCH – EIN RÄTSEL

Es gibt vieles, was Sie und ich gemeinsam haben. Mindestens teilen wir die Eigenschaft, ein Mensch zu sein. Damit haben wir vieles Weitere gemeinsam. Wir haben Wünsche, Hoffnungen und Ängste und sind als endliche, vergängliche Lebewesen verkörpert. Wir gehören zur Natur und teilen viele Grundstrukturen mit anderen Lebewesen. Die Frage [aber], was oder wer der Mensch ist, ist keineswegs endgültig beantwortet. Denn wir wissen heute nicht, worin unser Bewusstsein sowie unser Geist bestehen, dank denen wir uns selbst überhaupt als Naturphänomen betrachten können. Es gibt nicht nur die Außenperspektive auf uns, sondern es gibt auch noch: uns (d. h. zum Beispiel Sie und mich). Wir teilen nicht nur das menschliche Genom, sondern auch, dass wir Subjekte sind, also jeweils unseren eigenen Standpunkt einnehmen. Es gibt keine Außenperspektive auf das Menschsein, die wir einnehmen könnten, um von dort aus den Sinn des Lebens zu ermessen.

DER MENSCH HEISST MENSCH, WEIL ...

1. Die Überlegungen von M. Gabriel, A. Gehlen* und H. Plessner* beleuchten sich gegenseitig. Stellen Sie deren Vorstellungen vom Menschsein in einer Grafik dar.

2. Prüfen Sie, ob sich die Thesen von H. Plessner und A. Gehlen im Liedtext und in dem Comic wiederfinden lassen.

3. Hören Sie nach Möglichkeit das ganze Lied von H. Grönemeyer an. Dichten Sie eine eigene Strophe: »Der Mensch heißt Mensch, weil …«.

… zum Menschen?
INFO
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Pippi Langstrumpf

MERKt an: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!

verwendet.

DER MENSCH – ERFINDER UND KÜNSTLER

Einführungstext zu einem Gespräch von Gert Scobel mit dem Philosophen Hans Lenk (3sat)

Als Homo creator kann der Mensch die ihn umgebende Welt neu gestalten und sogar eine künstliche Welt und somit eine eigene Kultur erschaffen. Er ist in tiefster Weise kulturgeprägt. Um mit anderen Kulturmenschen zu kommunizieren, muss der Mensch Sprache verwenden. Die Sprache ist somit das kulturelle Instrument par excellence. Mit Hilfe sprachlicher Symbole schafft das menschliche Wesen Welten, wie sie von Natur aus nicht vorgesehen sind. Es schafft virtuelle Welten. Als Sprach­ und Geisteswesen drängt der Mensch nach Wissen und sucht nach Gründen und Ursachen. Das macht ihn zum einzigen rational agierenden Wesen. Als einziger ist er zur Wissenschaftstheorie fähig und kann über angewandte Methoden reflektieren. Er ist technisch begabt und kann mit dieser Begabung immer wieder Neues schaffen. Er ist ein Erfinder und Künstler, der gestalten und Ästhetisches schaffen kann. Auch ist er ein Homo oeconomicus, der nach Geld und Macht strebt. Er denkt über sich selbst und den Sinn des Lebens nach. Gleichzeitig sind die Menschen fähig, über sich hinauszugehen und sich andere Welten vorzustellen. Der Mensch ist die Summe seiner Möglichkeiten, eben ein flexibles Vielfachwesen.

»Ich habe eine Idee.

»Erst fällt mir gar nichts ein, dann geht es wie von selbst.

»Einfach mal ausprobieren.

»Heute dürfen Sie mal kreativ sein.

»Vielleicht wird es nichts – macht nichts.

HOMO CREATOR – DER SCHÖPFERISCHE MENSCH

1. Wie kommt man auf neue Ideen? Unter welchen Umständen kann man am besten kreativ arbeiten? Tauschen Sie sich darüber aus und beziehen Sie dabei die Zitate (oben) mit ein.

2. Ergänzen Sie die Vorstellungen des Philosophen H. Lenk mit Beispielen, die die Welt verändert haben.

3. Beziehen Sie die Thesen von A. Gehlen, H. Plessner sowie von M. Gabriel ( S. 65) auf H. Lenks Sichtweisen vom Menschen.

4. Kommentieren Sie das Foto (oben) in Partnerarbeit. Treffen Sie sich anschließend in Gruppen und formulieren Sie Spannungen, die sich aus Ihren Kommentierungen ergeben haben.

66 KAPITEL 3 Kreativ
Die Fotografie der Stadt Dubai von Jens Neumann und Edgar Rodtmann wurde für einen Zeitungsartikel zum Thema Anthropozän*
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UNTERTAN MACHEN? HERRSCHEN? – BEGRIFFSKLÄRUNGEN

»Macht euch die Erde untertan und herrscht über alle Tiere!«, so lässt sich der göttliche Weltauftrag in knapper Form wiedergeben. Die beiden Schlüsselworte »untertanmachen/unterwerfen« und »herrschen« müssen weit behutsamer gedeutet werden, als dies vielfach geschah. Sie dürfen nicht im Sinne von »Unterdrückung« und »Ausbeutung« verstanden werden.

»Untertanmachen« (Gen 1,28) bedeutet, die Erde (den Boden) mit ihrem Wildwuchs »botmäßig, gefügig machen«. Der Boden wird in ein Abhängigkeitsverhältnis gesetzt, vergleichbar dem Verhältnis eines Herrn zu seinem untergeordneten Knecht, der Gehorsam schuldet, zugleich aber auch nicht ausgebeutet und ohne fürsorgenden Schutz gelassen werden darf. Dem Menschen wird also von Gott in dem Herrschaftsauftrag aufgetragen, durch seine Arbeit das Angesicht der Erde zu schonen, zu gestalten, sie zu verändern, sie bewohnbar und fruchtbar zu machen. Das Herrschen des Menschen über die Tierwelt hebt sich von der Unterwerfung des Bodens nach biblischem Sprachgebrauch deutlich ab. Es erinnert an das Walten eines Hirten gegenüber seiner Herde. Gott legt dem Menschen das Leiten und Hegen der Tiergattungen auf (Gen 1,26.28). Der Mensch soll Übergriffen einer Tierart auf die andere wehren, um auch auf diese Weise die Tiere vor ihren Feinden zu schützen. Auch die Nahrungszuweisung für die Tiere wird in den Segen, der über den Menschen ergeht, eingeschlossen (Gen 1,29 f.), seiner Fürsorge unterstellt.

Aus einer gemeinsamen Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz

AUS EINER EINLADUNG ZU EINER AUTOREN

LE SUNG IN EINEM LITERATURHAUS

Zum Umdenken bewegt auch der Historiker

Philipp Blom: Die Natur war und ist nicht dazu da, um »verbessert« und verbraucht zu werden – doch seit Genesis 1,28 ist die Menschheit der Meinung, sie dürfe genau das: sich die Erde untertan machen. In »Die Unterwerfung« zeigt

Philipp Blom mit radikaler Deutlichkeit, dass der Menschheit nur dann eine Möglichkeit zum Überleben bleibt, wenn sie aufhört, sich der Natur zu widersetzen.

WELTGESTALTUNG – OHNE AUSBEUTUNG

1. Waren Sie selbst schon einmal in gesellschaftlicher oder politischer Verantwortung, zum Beispiel in Jugendorganisationen, in Gremien in der Kirche, in AGs in der Schule und in Vereinen? Tauschen Sie sich über Ihre Erfahrungen aus.

2. Über politische Entscheidungen werden oft abfällige Bemerkungen gemacht. Begeben Sie sich gedanklich in die Rolle, Verantwortung in der Lokalpolitik zu tragen: Was würden Sie in Ihrem Landkreis oder in Ihrer Stadt umgestalten oder verändern wollen? Überlegen Sie sich konkrete und begründete Maßnahmen, die Sie in verschiedenen Gremien oder als Personen in politischen Ämtern vorschlagen würden (z. B. Kreistag, Gemeinderat, Stadtrat oder Landrat), und tauschen Sie sich über diese aus. Denken Sie dabei auch an die je nötigen Voraussetzungen und Konsequenzen Ihrer Vorschläge.

3. Verfassen Sie eine E-Mail an das Literaturhaus, in der Sie begründen, inwiefern der Bezug auf die biblische Schöpfungstradition im Einladungstext (unten) verkürzt ist. Ziehen sie dazu Gen 1 und 2 sowie die gemeinsame Erklärung der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz heran.

Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Gen 1,28

(GE)SCHAFFEN 67 Verantwortlich
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Unterbrechung …

UNTERBROCHEN

1. Reflektieren Sie darüber, welche Unterbrechungen Ihnen selbst wichtig sind und welche Sie stören. Notieren Sie Erfahrungen und Gedanken dazu

2. Lesen Sie das Gedicht von D. Sölle und nehmen Sie einen Audioclip auf, den man zum Beispiel als Morgenmeditation hören könnte. Achten Sie auf die Lesegeschwindigkeit und Unterbrechungen sowie auf Zeilenumbrüche. Vielleicht möchten Sie auch passende Hintergrundmusik bzw. -geräusche aussuchen oder bewusst darauf verzichten.

3. »Zwischen Arbeiten und Konsumieren«, »Zwischen Aufräumen und Vorbereiten«, »Zwischen Wegschaffen und Vorplanen«: Halten Sie das, was im Gedicht von D. Sölle in den Zwischenräumen [11] geschehen soll, in einem Standbild fest.

4. »Sich selbst unterbrechen« – Geht das überhaupt? Diskutieren Sie.

5. Geschaffen zum »Rumhängen und NICHTStun«? Charakterisieren Sie die Art der Unterbrechung in Gen 2,2 f. und vergleichen Sie sie mit der Vorstellung in dem Comic.

6. Deuten Sie das Plakat der Sonntagsinitiative unten und diskutieren Sie darüber, ob der Sonntag immer am Sonntag sein sollte. Beziehen Sie dabei auch die Info ( S. 69) mit ein.

Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn. Gen 2.2

DU SOLLST DICH SELBST UNTERBRECHEN

Zwischen Arbeiten und Konsumieren soll Stille sein und Freude, dem Gruß des Engels zu lauschen: Fürchte dich nicht!

Zwischen Aufräumen und Vorbereiten sollst du es in dir singen hören, das alte Lied der Sehnsucht: Maranata, komm, Gott, komm!

Zwischen Wegschaffen und Vorplanen sollst du dich erinnern an den ersten Schöpfungsmorgen, deinen und aller Anfang, als die Sonne aufging ohne Zweck und du nicht berechnet wurdest in der Zeit, die niemandem gehört außer dem Ewigen.

DOROTHEE SÖLLE*

68 KAPITEL 3
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SABBAT ALS UNTERBRECHUNG DER ARBEIT

• Ausgehend davon, dass nach Gen 2,1 f. der Schöpfer »von all seinem Werk, das er gemacht hatte« ruht, legen Jüdinnen und Juden den Sabbat nach Ex 20,8–10 so aus, dass auch der Mensch an einem Tag ganz darauf verzichten soll, verändernd und gestaltend in die Welt einzugreifen [6, 8, 9]. Er legt die Verantwortung für die Welt (vgl. Herrschaftsauftrag S. 67) für einen Tag wieder in Gottes Hände zurück. Der Mensch nimmt als Ruhender und Feiernder an einem Tag auch von den Zwängen der Arbeitswelt Abstand, um sich von der Anstrengung zu erholen. Dadurch kann er bemerken, wie sehr der Wechsel von Gestaltung der Welt ( S. 66) und Ruhe zum Menschsein gehört. Die Zeit der sabbatlichen Unterbrechung ermöglicht es dem Menschen, seine Lebenszeit als geschenkte und erfüllte Zeit wahrzunehmen. Am Sabbat geht es damit weniger um Pflichterfüllung, sondern um eine Haltung zum Leben.

• Jüdinnen und Juden denken am Sabbat nicht nur an die Schöpfung (Ex 20,8–10), sondern verbinden mit ihm auch gleichzeitig die Erinnerung an die Zeit der Unterdrückung in ägyptischer Gefangenschaft (Dtn 5,12–15) sowie an den Auszug aus Äg ypten und an Gott als Befreier [5]. So sollen in wacher Erinnerung an den Exodus auch die Unterdrückten und Ausgestoßenen und sogar die Tiere und Pflanzen Teil der Gemeinschaft der SabbatRuhenden sein. Die jüdische Auslegung des Sabbatgebots hält damit auch eine Vorstellung von Gerechtigkeit wach, in der es um Teilhabe aller geht.

• Der christliche Brauch der Sonntagsruhe nimmt die jüdische Tradition der Sabbatruhe auf und verbindet sie mit der Erinnerung an die Auferstehung Jesu Christi. Über die Frage, ob mehr Ausnahmen vom Grundsatz eines arbeitsfreien Sonntags erlaubt werden sollten, wird politisch immer wieder kontrovers diskutiert (siehe Plakat S. 68).

Ein beMERKenswerter Gruß: »Schabbat schalom*«

GRÜNDE

57 % Zeit für mich und meine Interessen

57 % Reisen

54 % Neue Perspektiven finden

50 % Burnout vorbeugen

30 % Sprachen lernen

21 % Leben verändern

12 % Karriere fördern

Aus einem Online-Karriereratgeber zu einer Studie aus dem Jahr 2015: Zum Thema berufliche Auszeit wurden 2.142 Personen online befragt.

SABBATICAL LIFESTYLE

1. Spielen Sie die Forderung des Halten einer Sabbatruhe (Info) für einen typischen Tag am Wochenende durch: Inwiefern greifen Sie verändernd in die Welt ein? Inwiefern tun dies bereits andere? Beginnen Sie mit dem Aufstehen.

2. Vergleichen Sie die beiden Sabbatgebote (Ex 20,8–10 und Dtn 5,12–15) miteinander und achten Sie dabei vor allem auf die verschiedenen Begründungen. Erklären Sie mithilfe der Info, warum diese sich nicht ausschließen müssen.

3. Deuten Sie das Gedicht von D. Sölle ( S. 68) mithilfe der Info.

4. Überlegen Sie, an welchen Stellen das Sabbatgebot in Spannung zu moderner Arbeitswelt steht, und formulieren Sie politische Forderungen, die diese Spannungen aufgreifen.

5. Einige Arbeitgeber bieten die Möglichkeit eines »Sabbatjahres«. Prüfen Sie, inwiefern die in der Umfrage (oben) genannten Gründe für ein Sabbatical im Beruf der biblischen Vorstellung vom Sabbat entsprechen.

6. Schreiben Sie einen kurzen Ratgebertext zum Sabbatical und legen Sie dabei die biblische Vorstellung des Sabbats zugrunde.

(GE)SCHAFFEN 69 … sabbatlich INFO
FÜR EIN SABBATICAL IM BERUF
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Wer bin ich?

Die Fotografin Marie Hudelot wuchs mit französischer und algerischer Kultur auf. In ihren Fotos möchte sie ihre Familiengeschichte erzählen. Gesichter lenken aus ihrer Sicht ab, weshalb Sie ihre Fotomodelle – Mitglieder aus ihrem Freundes- und Familienkreis – mit symbolischen Gegenständen überdeckt. Die Erläuterung zum Foto: »Mein Vater kommt aus einer traditionellen französischen Familie. Ich habe mich gefragt, wie seine Verwandten wohl reagiert haben, als sie zum ersten Mal meine Mutter trafen, eine Migrantin aus Nordafrika. Ich glaube, sie kam ihnen exotisch vor. Wie die Ananas.«

ALLES – LUTHERS BLICK AUF DEN MENSCHEN

Nicht dass Gott die Welt geschaffen hat, ist Luthers Pointe, sondern dass er mich geschaffen hat. Er geht dabei gleichsam in der Betrachtung in immer größeren Kreisen den gesamten menschlichen Leib entlang; er beginnt mit »Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne«, aber auch Kleider und Schuhe, Essen und Trinken, Haus und Hof gehören in Luthers Wahrnehmung zu seiner Leiblichkeit, um dann auf die soziale Welt auszugreifen.

Wolfgang Schoberth, Theologe

GLAUBE – LIEBE – HOFFNUNG

DANKE FÜR DIESEN GUTEN MORGEN

Danke für diesen guten Morgen

EINGEBUNDEN

1. Spielen Sie »Wer bin ich?«, indem Sie sich gegenseitig Klebenotizen mit Namen bekannter Personen an die Stirn heften. Erraten Sie durch gezieltes Fragen, wer für Sie ausgewählt wurde. Reflektieren Sie im Anschluss daran, welche Informationen Ihnen beim Raten weitergeholfen haben.

2. Deuten Sie M. Hudelots Fotoprojekt. Wie würde ein Foto zu Ihrem Leben aussehen?

3. Lesen Sie W. Schoberths Erklärung zu Luthers Verständnis von Leiblichkeit und ziehen Sie selbst entsprechende »Kreise«

4. Notieren Sie zu Luthers Auslegung des Ersten Glaubensartikels Fragen und Bemerkungen.

5. Beschreiben Sie eigene Erfahrungen mit dem Umstand, jemandem einen Dank schuldig zu sein.

6. Für Luther ergibt sich aus dem Gefühl, Geschöpf Gottes zu sein, eine Haltung zum Leben. Arbeiten Sie diese aus seiner Auslegung heraus und überprüfen Sie, ob und wie sie sich im Text eines bekannten geistlichen Lieds (unten) wiederfinden lässt. Lesen Sie dazu auch weitere Strophen im Evangelischen Gesangbuch (EG 334).

7. Vergleichen Sie das Lied (unten) mit anderen Dankliedern im EG wie z. B. »Nun danket alle Gott« (EG 321) in Bezug auf die darin enthaltenen Gottesbilder. Formulieren Sie anschließend mithilfe Ihrer Überlegungen auf S. 48 f. Anfragen

LUTHERS AUSLEGUNG DES ERSTEN GLAUBENSARTIKELS

GeaDG eaDGG /f

mei ne Sor gen auf dich wer fen mag. fürje den neu en Tag. Dan ke, daßich all 4 4

Dan ke fürdie sen gu ten Mor gen, dan ke

C/eEG/dDG

Text und Melodie: Martin Gotthard Schneider

Dankefu¨r allegutenFreunde, / danke,oHerr,fu¨r jedermann. / Danke,wennauchdemgro¨ßtenFeinde / ichverzeihenkann.

Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was Not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr. copyrightedmaterial

Dankefu¨r meineArbeitsstelle, / dankefu¨r jedeskleineGlu¨ck. / Dankefu¨r allesFrohe,Helle / undfu¨r dieMusik.

Dankefu¨r mancheTraurigkeiten, / dankefu¨r jedesguteWort. / Danke,daßdeineHandmichleiten / willanjedemOrt.

Danke,daßichdeinWortverstehe, / danke,daßdeinenGeistdu gibst. / Danke,daßinderFernundNa¨he / dudieMenschen

70 KAPITEL 3
7 7 7 7E7 334 1
2 3 4 5

GESCHAFFEN – ZUM EBENBILD

Auch wenn der Begriff »Ebenbild« in der Bibel nur selten erscheint, kann er doch als Verdichtung der theologischen Rede vom Menschen verstanden werden. Er bedarf freilich der genauen Analyse, schon weil er eine optische Ähnlichkeit nahelegt, die im Kontext des Alten Testaments, das die Unabbildbarkeit Gottes immer wieder herausstellt, abwegig sein muss. Aber auch der Versuch, in einer unsichtbaren Eigenschaft, eine Gottähnlichkeit des Menschen auszumachen, geht fehl. Die »Ebenbildlichkeit« steht für die besondere Würde, die dem Menschsein zukommt. Sie ist freilich nicht als Qualität zu verstehen, die mit der natürlichen Ausstattung des Menschen gegeben wäre oder gar als Ziel menschlicher Aktivität. Darum impliziert Ebenbildlichkeit auch keine qualitative Höhergeltung des Menschseins gegenüber anderen Geschöpfen; eine wie immer geartete Stufenordnung ist hier nicht abzuleiten. Vielmehr ist die besondere Stellung des Menschen in der Welt allein im Handeln Gottes begründet und kommt, indem sie in der Schöpfung Gottes erkannt wird, jedem Menschen durch sein bloßes Dasein zu, ohne sein Verdienst oder seine Qualität. Indem dabei ausdrücklich die Erschaffung von Männern und Frauen genannt ist, ist zugleich das Menschsein in seiner Sozialität im Blick; damit aber auch in seiner Geschlechtlichkeit und in der Verwiesenheit der Menschen aufeinander. Dieses Moment der Pluralität von Menschsein ist nun auch darüber hinaus bezeichnend dafür, dass der Mensch immer in Relationen und in Gemeinschaft mit anderen gedacht wird: Die Beziehung zu Gott, aber auch die Beziehung zu anderen Menschen ist für Menschsein konstitutiv.

»Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet [erlaubt], das hat eine Würde.

Das Plakat ist Teil einer Kampagne des Entwicklungswerks der Evangelischen Kirche »Brot für die Welt«, das arme und ausgegrenzte Menschen dabei unterstützt, ihre Lebenssituation zu verbessern.

»WÜRDE FÜR DEN MENSCHEN«

1. Sammeln Sie Überschriften von Medienbeiträgen, in denen die Begriffe »Würde« oder »unwürdig« eine Rolle spielen, und tauschen Sie sich jeweils über die Bedeutung von Würde in den gewählten Artikeln aus.

2. Erläutern Sie mithilfe der Ausführungen von W. Schoberth falsche und richtige Verständnisweisen von Ebenbildlichkeit.

3. Deuten Sie das Plakat von »Brot für die Welt« und beziehen Sie dabei den Gedanken der Ebenbildlichkeit sowie das Zitat (unten) mit ein.

4. Gestalten Sie alternative Plakate zum Thema Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde.

Ein MERKE aus dem Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

(GE)SCHAFFEN 71
Gottes?
Ebenbild
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Leistung …

LEISTUNG UND LANGEWEILE

Förderung beginnt manchmal erbarmungslos früh. Wenn Sie auf den Spielplatz gehen, dann hören Sie fast nur, wie Eltern sagen: Aber mein Kind kann schon ganz viele Dinge für sein Alter. Da wird ständig in Parametern der Leistung gedacht. Die Eltern versuchen, ich sage fast erbarmungslos, in bester Absicht ihre Kinder zu fördern. Es ist wichtig, dass Kinder Sport machen. Es ist aber auch wichtig, dass sie Musik machen. Also muss das Kind neben Fußball oder Schwimmen noch in den Geigenunterricht. Dann muss es einen Sinn für Natur haben, dann muss es auch Freunde haben, soziale Netzwerke aufbauen. Damit wird es von außen in Verdinglichungszusammenhänge gepresst. Deshalb glaube ich, ist es auch wichtig, dass sich Kinder mal langweilen. Hans Blumenberg hat gesagt: Kultur entsteht durch das Gehen von Umwegen. Man muss sich das mal genau vor Augen führen. Es entsteht nicht da, wo wir zielstrebig eine Sache umsetzen, in 90­MinutenTakten Geigen lernen, sondern wenn das Kind sich mit der Geige beschäftigt, weil es ihm langweilig ist. Und ich glaube, die Gesellschaft krankt daran, dass wir das massiv unterschätzen.

Aus einem Interview mit Hartmut Rosa, Soziologe

LEISTUNGSDRUCK?

1. Tauschen Sie sich darüber aus, unter welchen Voraussetzungen die Menschen auf den Fotos (rechts) vermutlich gerne Leistung erbringen und wann sie Leistung als Belastung oder Zwang wahrnehmen.

2. Sammeln Sie Situationen oder Tätigkeiten in Ihrem eigenen Leben, in denen Leistung positiv oder negativ besetzt ist .

3. Stellen Sie H. Rosas Sichtweise auf Leistung, Leistungszwang, Verdinglichung und Langeweile in einer Grafik dar.

4. Diskutieren Sie H. Rosas Beschreibung der Gesellschaft.

5. Leiten Sie aus H. Rosas Kritik Ratschläge ab, die Ihnen bei der Abiturvorbereitung helfen könnten. Vielleicht möchten Sie einen davon als Meme oder Karte gestalten. Beziehen Sie in Ihre Überlegungen auch Gedanken zum Prüfungssegen ( S. 56) mit ein.

BeMERKenswert: Zwang von außen und von innen

72 KAPITEL 3
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DER FREIE KNECHT

Das evangelische Freiheitsverständnis hat immer dieses Zugleich einer Freiheit von etwas und einer Freiheit für etwas zusammengedacht. Denn dieses Zugleich spiegelt die auch heute noch nachvollziehbare Einsicht, dass der mit sich selbst allein gelassene Mensch in sich selbst gefangen bleibt und sein Ich zum Mittelpunkt der Welt machen muss. Freiheit nach evangelischem Verständnis ist darum zuerst die Freiheit vom Narzissmus, das heißt von der Ichbezogenheit und vom Zwang, sich selbst immer größer, breiter, wichtiger, toller und so weiter machen zu müssen, als man ist. Diese Freiheit von der Selbstbezogenheit ist keine Abwertung einer guten Ich­ Stärke oder eines gesunden Selbstbewusstseins, das um die eigene Leistungskraft weiß und die eigenen Grenzen nicht verleugnen muss. Es ist vielmehr die Befreiung von allem Größenwahn, selbst wie Gott sein zu wollen. Zugleich aber ist diese Freiheit von allen »Herrschern, Mächten und Gewalten« [Röm 8,38] keine Willkürfreiheit, keine Beliebigkeitsfreiheit, sondern eine sich selbst strukturierende und bindende Freiheit. Für Martin Luther war es die Freiheit für den Dienst am Nächsten, die den Christenmenschen auszeichnet, also konkret die Hilfe für denjenigen, der mich braucht, der meine Hilfe, meine Solidarität und Zuwendung, aber auch mein Gebet braucht. Dem Nächsten und seiner Not gegenüber bin ich in aller Freiheit ein »dienstbarer Knecht«. Heute würde man diese Freiheit für den Nächsten vermutlich am ehesten im Engagement für die Schwachen, im Einsatz für die Kinder, in einer Verantwortlichkeit für das politische Gemeinwesen sehen. Der evangelische Glaube weiß darum, dass die Konkretionen jener Freiheit für andere sehr vielfältig sind. Aber der Grundgedanke ist bis heute gleich geblieben: Der freie C hristenmensch kann und soll im Laufe seines Lebens lernen und entdecken, zu welchem »Dienst am Nächsten« er berufen ist und wo er seine Gaben besonders gut einsetzen kann. Thies Gundlach, Theologe

FREIHEIT VON UND FÜR ETWAS

1. Sie haben letztes Schuljahr über Freiheit nachgedacht [11]. Tragen Sie wichtige Gedanken zusammen und beziehen Sie diese auf den Auszug aus Luthers Freiheitsschrift (unten) und auf den Beitrag von Th. Gundlach (links).

2. Erläutern Sie M. Luthers Gedanken des Zugleichs einer Freiheit von etwas und für etwas.

3. Rekonstruieren Sie Gründe, warum sich die Landeskirche für das Bild (unten) entschieden hat. Bewerten Sie selbstgewählte Alternativen.

4. Diskutieren Sie, ob das Eingangsbild ( S. 61) auch als Reformationsplakat (unten) geeignet wäre.

5. Beziehen Sie die auf den Fotos dargestellten Situationen ( S. 72) auf ein reformatorisches Freiheitsverständnis.

AUSZÜGE AUS LUTHERS FREIHEITSSCHRIFT

Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Diese zwei Sätze liegen klar bei Paulus vor: 1 Kor 9. Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu jedermanns Knecht gemacht. Ebenso Röm 13. Ich sollt niemand etwas schuldig sein, außer dass ihr einander liebt. Liebe aber, die ist dienstbar und untertan dem, was sie liebt.

(GE)SCHAFFEN 73 … und Freiheit
Plakat zum Reformationsjubiläum 2017 copyrightedmaterial

Im System …

In dem animierten Kurzfilm »El empleo« (spanisch »die Arbeit«) aus dem Jahr 2008 von Santiago Bou Grasso geht es um die Funktionalisierung des Menschen als Objekt. Er zeigt den Weg eines Angestellten vom Aufwachen in seiner Wohnung im Schlafanzug, beim Frühstück in Anzug und Krawatte sowie auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle (letztes Bild).

DER MENSCH ALS OBJEKT

1. Schreiben Sie einen Monolog aus Sicht der Lampe im ersten Screenshot, nachdem die Hauptfigur den Raum verlassen hat. Sie können auch anderen Menschen auf den Szenenbildern Worte in den Mund legen oder sie ein Gespräch führen lassen.

2. Deuten Sie die Screenshots und das darin enthaltende Menschenbild. Beziehen Sie dabei das Thema des Kurzfilms mit ein.

3. Arbeiten Sie Attribute der Arbeitswelt in S. B. Grassos Kurzfilm heraus und bewerten Sie diese. Begründen und belegen Sie Ihre Positionen nachvollziehbar.

4. Hinter vielen Dingen stehen Menschen, die sie erfunden, hergestellt oder bearbeitet haben. Gehen Sie dem Gedanken exemplarisch nach und überlegen Sie für einige Gegenstände, inwiefern durch sie Ihnen heute bereits Menschen indirekt »begegnet« sind.

5. Lesen Sie das Gedicht »Im Betrieb« und arbeiten Sie heraus, wie die Verdinglichung des Menschen dargestellt wird. Denken Sie darüber nach, zu welchen Berufen bzw. Jobs in Deutschland und weltweit dieser Text besonders gut passt.

6. Vergleichen Sie die Art und Weise der Objektivierung von Menschen in der Arbeitswelt in Kurzfilm und Gedicht miteinander

IM BETRIEB

Meine Gedanken bleiben im Dämmer, denn im Gehämmer all der Maschinen schalten Reflexe. Tausend Komplexe tanzen auf ihnen.

Zwischen den Sinnen und meinem Handeln zuckt das Verwandeln chronisches Blitzen. Hirn wird zum Sieb. Und der Betrieb strömt durch die Ritzen

Tropft
mit in

meine Seele

den Sumpf? Ich fühle dumpf, indes ich diene, dass mir zerbricht mein Menschengesicht in der Maschine!

JOSEF BÜSCHER

74 KAPITEL 3
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ENTFREMDETE ARBEIT

Karl Marx* (1818–1883) entwickelt seine Kritik an prekären Arbeitsverhältnissen in der Zeit wachsender Industrialisierung. Nach ihm hat jeder Mensch eigentlich das Bedürfnis nach schöpferischer, produktiver und damit auch sinnvoller Arbeit. Idealerweise fällt das Ergebnis der Tätigkeit demjenigen zu, der es hergestellt hat, und der Güteraustausch erfolgt nicht aufgrund von Zwang, sondern in der Form gegenseitigen Schenkens. Allerdings ist, so K. Marx, die Arbeit in der modernen kapitalistischen Gesellschaft weit von diesem Idealzustand entfernt. In seiner Theorie der Entfremdung beschreibt er, dass durch den Verkauf der Produkte als Waren auf dem Markt diese denjenigen, die sie hergestellt haben, als fremde, feindliche Gegenstände gegenübertreten. Der Kapitalismus beruhe darauf, dass diejenigen, die über Kapital verfügen, sich an den durch fremde Arbeit geschaffenen Gütern bereichern und dadurch immer reicher werden, wohingegen die breiten Massen verarmen. Die Ausrichtung der Arbeit auf eine Gewinnmaximierung durch den WarenVerkauf führe zur Arbeitsteilung und einer Unterordnung menschlicher Arbeit unter die Erfordernisse maschineller Produktionsabläufe. Nach K. Marx kann die Unterordnung der Arbeiterklasse und die Bereicherung der Kapitalisten nur durch eine revolutionäre Erhebung des Proletariats geschehen, das das Eigentum der Kapitalisten zu Gesellschaftseigentum erklärt.

KARL MARX ZUM THEMA ARBEIT

»Der Arbeiter wird umso ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft.«

»Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden. Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherrn und den rechtlichen Schein des Kontrakts aufrechterhalten.«

»Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.«

FREIHEIT VON UND FÜR ETWAS

1. Erläutern Sie den Begriff »entfremdete Arbeit« mithilfe der Info und beziehen Sie das Gedicht von J. Büscher ( S. 74) mit ein.

2. Gestalten Sie aus den Zitaten von K. Marx zum kapitalistischen Arbeitsmarkt mögliche Protestplakate.

3. Deuten Sie die Streetart (oben) und nehmen Sie Stellung dazu, ob diese zu Marx’ Kritik passt.

4. Entwerfen Sie weitere Streetart zu K. Marx: Setzen Sie die Figur in andere aktuelle Kontexte, in denen seine Kritik angebracht wäre. Überlegen Sie sich, an welchen Orten das Graffito am besten wirken würde.

(GE)SCHAFFEN 75 … gefangen?
INFO
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Street-Art-Darstellung von Karl Marx; auf dem T-Shirt steht: »I told you how to change the world«.

Zum Beruf …

UND WAS WILLST DU MAL WERDEN?

1. Schreiben Sie jeweils Top-3-Sätze, die Sie in Be zug auf Berufsorientierung genervt und die Ihnen schon geholfen haben.

2. Tauschen Sie sich über den aktuellen Stand Ihrer »beruflichen Orientierung« und Ihre Erfahrungen im Modul »berufliche Orientierung« aus.

3. Arbeiten Sie die Bedeutung von beruflicher Orien tierung aus dem Lehrplanauszug heraus und bewerten Sie die Vorstellungen aus evangelischer Perspektive ( S. 73 zu Freiheit, [11] ).

SELBSTVERSTÄNDNIS DES FACHES

BERUFLICHE ORIENTIERUNG UND SEIN BEITRAG ZUR BILDUNG (LEHRPLANAUSZUG)

4. Deuten Sie das Kampagnenplakat (rechts). Beziehen Sie dabei Vorstellungen vom produktiven und kreativen Menschen ( S. 62 f.) mit ein.

5. Grenzen Sie »Beruf« und »Job« voneinander ab, indem Sie in Online-Lexika nachschlagen. Beziehen Sie auch Luthers Verständnis von Beruf ( Info S. 77) ein.

6. Nehmen Sie die Umfrage (unten) zum Anlass, sich einmal selbst zu überlegen, wer oder was Sie bei der beruflichen Orientierung unterstützt hat .

7. Spekulieren Sie über Gründe für die Ergebnisse der Umfrage (unten) und diskutieren Sie darüber, welche aus Ihrer Sicht wünschenswert wären.

Aus einer Studie aus dem Jahr 2022: Befragt wurden 1666 14- bis 20-Jährige.

Die Förderung der beruflichen Orientierung ist Teil des Bildungsauftrags des bayerischen Gymnasiums: »Das Gymnasium vermittelt die vertiefte allgemeine Bildung, die für ein Hochschulstudium vorausgesetzt wird; es schafft auch zusätzliche Voraussetzungen für eine berufliche Ausbildung außerhalb der Hochschule« (Art. 9, Abs. 1 BayEUG). Hierzu zählt auch, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, einen passenden Beruf zu finden. Gerade in einer digitalisierten und globalisierten Welt ist angesichts der Informationsfülle, der Vielfalt an Berufen sowie der komplexer werdenden Berufswelt eine fundierte Berufswahlentscheidung wichtiger denn je. Auch angesichts der Zeit, die man im Leben in seinem Beruf verbringt, ist eine passende Berufswahl von großer Bedeutung. Wer täglich mit Freude zur Arbeit geht, hat mit seiner Berufswahlentscheidung einen bedeutenden Beitrag für ein erfülltes Leben geschaffen. Auf dem schulischen Weg der beruflichen Orientierung begleitet das bayerische Gymnasium die Schülerinnen und Schüler intensiv: Auf Basis ihrer persönlichen Begabungen und Potenziale sowie ihrer Neigungen und Interessen setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Berufen auseinander. Sie überlegen vor diesem Hintergrund, welche Studiengänge bzw. Ausbildungswege sie dabei zum Ziel führen. Im Bewusstsein ihrer Gleichwertigkeit werden akademische und ber ufliche Bildung gleichermaßen in den Blick genommen.

76 KAPITEL 3
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MARTIN LUTHER ZUM THEMA BERUF

»Da könnte alsdann ein armes Dienstmägdlein ernstlich die Freude im Herzen haben und sagen: Ich koche jetzt, ich mache das Bett, ich kehre das Haus. Wer hat’s mich geheißen? Es hat mich mein Herr und meine Herrin geheißen. Wer hat ihnen nun solche Macht über mich gegeben? Es hat Gott getan. Ei, so muss es wahr sein, dass ich nicht allein ihnen, sondern auch Gott im Himmel diene, und dass Gott einen Gefallen daran hat. Wie kann ich seliger sein! Ist es doch ebenso viel, als wenn ich Gott im Himmel sollte kochen.«

»Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott. Und aus der Liebe ein freies, fröhliches, williges Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so, wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat durch seinen Leib und seine Werke, nichts anderes tun, als dem Nächsten zu helfen.«

»Ein Sprichwort heißt: Wer treulich arbeitet, der betet doppelt. Das muss aus diesem Grunde so geredet sein, weil ein gläubiger Mensch in seiner Arbeit Gott fürchtet und ehrt und an seine Gebote denkt, damit er niemand unrecht tun, noch jemand bestehlen oder übervorteilen oder etwas veruntreuen wolle.«

»Denn Gott will keine faulen Müßiggänger haben, sondern man soll treulich und fleißig arbeiten, ein jeglicher nach seinem Beruf und Amt. So will er den Segen und das Gedeihen dazu geben.«

LutherMERKt an:

»Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie ein Vogel zum Fliegen.«

BERUFSVERSTÄNDNIS BEI LUTHER

Der Begriff »Beruf« wurde von Martin Luther geprägt. Er leitet sich ab von »berufen«/»gerufen werden«: »Nur soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gott einen jeden berufen hat.« (1 Kor 7,17). Jeder Christ hat nach Luther einen doppelten Beruf, den Beruf zum Glauben und den Beruf zum Dienst am Nächsten. Weil sich beides in jeder christlichen Existenz verbindet, kann es keinen Rangunterschied zwischen den Berufen geben, auch nicht zwischen geistlichen und weltlichen. In jeder Tätigkeit geht es darum, Gott zu ehren und dem Nächsten zu dienen. Dies verleiht jeder Tätigkeit die gleiche Würde, unabhängig von ihrem Ansehen in der Gesellschaft und ihrer Bezahlung.

BERUFEN – ZUM DIENST AM NÄCHSTEN

1. Tauschen Sie sich über die Karikatur und das Merke aus.

2. Interviewen Sie Menschen mit unterschiedlichen Berufen zu ihrem Werdegang und ihrer Berufsfindung. Finden Sie dabei heraus, ob so etwas wie »Berufung« eine Rolle gespielt hat oder immer noch spielt.

3. Diskutieren Sie, ob es Berufe gibt, zu denen man nicht berufen sein kann.

Erfinden Sie Personenkonstellationen und Situationen, in denen die Sätze Luthers gesprochen werden könnten, und halten Sie Anfragen und Erkenntnisse fest.

Arbeiten Sie aus den Zitaten auf dieser Seite heraus, wie Luther Arbeit versteht, und ordnen Sie Ihre Ergebnisse mithilfe der Info und den Gedanken zu Leistung und Freiheit ( S. 72 f.) ein.

Überlegen Sie sich, was sich ändert, wenn man die eigene Arbeit als »Beruf« im Sinne M. Luthers begreift bzw. wenn man die Arbeit eines anderen als »Beruf« wahrnimmt

M. Luther und K. Marx* konnten sich nie treffen. Schreiben Sie einen imaginären Dialog der beiden, in dem sie die Sichtweisen des jeweils anderen bewerten.

(GE)SCHAFFEN 77 … berufen
INFO
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Work and Life

Büroraum eines Unternehmens, das ein Onlineportal für Ferienwohnungen betreibt

NEW WORK* – DIE ZUKUNFT DER ARBEIT

Die Suche nach Strom und einer guten Internetverbindung diktiert allzu oft die Tagesroute von Greta und Jan Navel. Die beiden sind in ihrem Van auf Weltreise und arbeiten immer noch fest angestellt. Und dabei erleben sie, dass schlafen, kochen, arbeiten und leben auf engsten R aum ganz schön stressig sein kann. Der Van muss ständig umrangiert werden, damit alle Flächen für die Freizeit und die Arbeit genutzt werden können. Greta und Jan Navel leben den Traum vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Als Festangestellte sind sie seit einem halben Jahr im Van auf Weltreise und erledigen ihre Arbeit, wann und wo es gerade passt: mal frühmorgens am Campingtisch, mal tagsüber im Café oder auch abends in einer Strandbar. Work­Life­Blending statt Work­Life­Balance – ein Modell, bei dem Arbeits­ und Privatleben verschwimmen: »Wenn Mitarbeitende private Dinge in ihren Arbeitstag integrieren können, reduziert das ihren Alltagsstress und steigert gleichzeitig die Bindung an das Unternehmen«, so Arbeitsmarktexperte Dr. Daniel Dettling. »Work­LifeBlending kann zur Win­Win­ Situation für alle werden.« Bei manchen Unternehmen funktioniert das mit flexiblen Arbeitszeitkonten für alle und konsequenter Digitalisierung der Produktionsabläufe. Dazu kommen häufig eine hauseigene Kita, Fitnessstudio, Reinigungs­ und Bügelservice sowie Gesundheitschecks. Aus einer Fernsehreportage (ZDF) zum Phänomen New Work von Freya Engels, Oliver Koytek

NEW WORK IN DER KRITIK

Es reicht nicht aus, neue Strukturen einzuführen, gibt Wirtschaftspsychologe Carsten Schermuly von der Hochschule Berlin zu bedenken, der im New ­Work­Barometer regelmäßig verschiedene Firmen untersucht. Wichtig sei das psychologische Empowerment* der Mitarbeitenden. Für einen echten Kulturwandel müssten Angestellte ihre Tätigkeit als bedeutsam und sich selbst als selbstbestimmt, kompetent und einflussreich erleben. Einfach nur die Hierarchien abzuflachen, weil das gerade in Mode ist, könne sogar nach hinten losgehen: Landen die Führungsaufgaben beim Team, kann das zu Konflikten führen.

In vielen Old­Work­Bereichen wie Kitas, Pflegeheimen oder bei der Müllabfuhr sind Homeoffice und flexible Arbeitszeiten ohnehin nicht möglich. Die schöne neue Arbeitswelt gilt nicht für alle. Gewerkschaften pochen zudem auf Arbeits­ und Gesundheitsschutz. Die umfangreiche Selbstbestimmung bei New Work dürfe nicht zur Selbstausbeutung werden, so die Kritik. Wo die einen von Flexibilität und Freiheit sprechen, pochen Gewerkschaften auf eine Arbeitszeiterfassung. Aus einem Onlineartikel (Tagesschau) zum Phänomen »New Work« von Martina Senghas und Vera Kern (2022)

ARBEIT UND LEBEN

1. Beschreiben Sie den Büroraum (oben) und tauschen Sie sich darüber aus, wo überall gearbeitet werden könnte.

2. Diskutieren Sie Vor- und Nachteile dieses Arbeitsraumes. Bringen Sie dabei auch mit ein, ob und wo Sie selbst in diesem Büro arbeiten könnten.

3. Beschreiben Sie die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt mithilfe der Reportage und dem Artikel (oben). Leiten Sie ab, welche Vorstellungen vom Menschen grundgelegt werden. Vergleichen Sie diese mit den Sichtweisen auf den Seiten 74 f.

4. Entwerfen Sie selbst Konzepte von Büroräumen, die aus Ihrer Sicht New Work nahekommen.

5. Macht New Work Sabbaticals überflüssig? – Diskutieren Sie mithilfe der Materialien dieser Seite und unter Einbezug Ihrer Überlegungen zum Sabbat ( S. 68 f.).

78 KAPITEL 3
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FORSCHUNGSERGEBNISSE AUS EINEM DOSSIER

ZUR VERTEILUNG VON ARBEIT IN FAMILIEN

• Frauen übernehmen mehr unbezahlte Sorgearbeit*: Frauen gehen seltener einer Erwerbsarbeit nach, die sie bis ins Alter finanziell absichern wird und ihnen auch eine eigenständige Existenzsicherung garantieren kann.

• Männer übernehmen mehr Erwerbsarbeit: Der Druck, finanziell für die Familie zu sorgen, lastet überwiegend auf ihnen. Somit bleibt Männern weniger Zeit, um Sorgeverantwortung zu übernehmen.

• Frauen sind seltener in Führungspositionen und arbeiten häufiger in schlechter bezahlten Branchen und Ber ufen als Männer. Dies wird auch als horizontale und vertikale Segregation des Arbeitsmarktes bezeichnet. Das verstärkt die Tendenz, Sorge­ und Erwerbsarbeit geschlechterstereotyp aufzuteilen.

• Frauen unterbrechen oder reduzieren öfter ihre Erwerbstätigkeit, unter anderem für Phasen, in denen sie kleine Kinder betreuen oder Pflegebedürftige pflegen, in denen sie wegen Kinderbetreuung oder Pflege in Teilzeit arbeiten.

• Mütter leisten in Paarhaushalten mit Kindern täglich zweieinhalb Stunden mehr Sorgearbeit als Väter, sodass der Gender Care Gap* 83,3 Prozent beträgt. Im Vergleich liegt der Gender Care Gap in Paarhaushalten ohne Kinder bei 35,7 Prozent.

Veröffentlicht vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020)

Die Postkarte ist Teil einer Werbekampagne der Stadt Wuppertal, die im Zusammenhang mit der EU-Charta für Gleichstellung* initiiert wurde.

Arbeit und Familie

JOB SHARING*

Auf der Homepage eines Unternehmens wird folgender Auszug aus einem Gespräch mit einer Führungskraft veröffentlicht:

Ich habe das Jobsharing­Modell tatsächlich schon eine Weile beobachtet, da ich es einen interessanten Weg finde, Beruf und Familie besser zu vereinen. Gerade wenn beide Elternteile in Vollzeit arbeiten, stößt man leicht an Grenzen. Natürlich muss man das finanziell abwägen, aber für mich wiegt das Mehr an Zeit diese Nachteile auf. Wenn ich durch mein Beispiel andere Männer zum Nachdenken anrege, neue Wege zu gehen, umso besser. Am Ende ist die Entscheidung für ein Teilzeitmodell, egal in welcher Form, etwas ganz Persönliches.

Das BGB MERKt in § 1619 an: »Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebenseinstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.«

VERTEILUNGSFRAGEN

1. Arbeiten Sie aus den Forschungsergebnissen (links) Spannungen in Bezug auf Lebens- und Arbeitsgestaltung von Frauen und Männern heraus.

2. Recherchieren Sie nach aktuellen Zahlen zur Verteilung von Sorge*- und Erwerbsarbeit zwischen Frauen und Männern.

3. Sprechen Sie ausgehend vom Merke über eine für alle faire Verteilung von Hausarbeit in der Familie!

4. Arbeiten Sie Gründe für Job-Sharing* aus dem Beitrag (oben) heraus und deuten Sie die Postkarte mithilfe Ihrer Ergebnisse.

5. Luthers Vorstellung von Arbeitsverteilung innerhalb einer Familie war sicher keine im Sinne einer modernen Vorstellung von Gleichstellung. Leiten Sie dennoch aus den theologischen Vorstellungen ( S. 77) Impulse für die aktuelle Debatte um Familien- und Erwerbsarbeit ab.

(GE)SCHAFFEN 79
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Kunstwerk Mensch

»Vom Traum, alles hinter sich zu lassen« wurde u. a. in einem Kirchenraum in München ausgestellt.

AUS EINER REDE ZUR VERLEIHUNG DES BUNDESVERDIENSTKREUZES* AN DEN KÜNSTLER

ANDREAS KUHNLEIN:

»Ihre Skulpturen sind erfüllt von einer ganz besonderen Verbindung zum Werkstoff Holz und zum Menschen: Denn Ihre vielschichtigen Holzfiguren bilden das menschliche Leben in all seinen Facetten ab. Sie sind an Orten in der ganzen Welt beheimatet und zeugen vom Renommee Ihrer künstlerischen Arbeit.« Markus Blume, Bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst

»Drang nach oben« ist Teil eines Skulpturenpfads im Chiemgau.

80 KAPITEL 3
»Auszeit« steht am Zugang eines Strandbads am Chiemsee.
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Im Zusammenhang

wiedergeben ++ beschreiben ++ wahrnehmen ++ deuten ++ reflektieren ++ urteilen ++ kommunizieren ++ sich ausdrücken

Beschreiben Sie die Skulpturen und überlegen Sie, welche der im Kapitel angesprochenen Dimensionen von Menschsein anklingen.

Führen Sie die Rede zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Künstler A. Kuhnlein fort. Beziehen Sie die Skulpturen (links) und eine passende theologische Vorstellung vom Menschsein mit ein.

Wählen Sie selbst aus, welche Sichtweise auf den Menschen Ihnen im Verlauf des Kapitels besonders wichtig geworden ist oder welche sie als problematisch ansehen, und halten Sie diese in einer eigenen »Skulptur« als Foto fest. Sie können sich überlegen, ob Sie die Skulptur aus verschiedenen Alltagsgegenständen herstellen oder ob Sie zum Beispiel auf Ton zurückgreifen wollen.

Sie haben in diesem Kapitel über »Aktivität«, »Kreativität« und »Leistung« nachgedacht. Erstellen Sie ein Schaubild, in dem Sie Zusammenhänge zwischen den Begriffen deutlich machen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse miteinander. copyrightedmaterial

Was haben Sie dazugelernt (vgl. S. 59)?

Was möchten Sie sich merken?

Welche Methoden bzw.

Materialien haben Sie besonders angesprochen?

Was wird Sie weiter beschäftigen?

Welche Fragen bleiben offen?

Vielleicht haben Sie sich mit einem Film und dem Motiv des American Dream beschäftigt. Diskutieren Sie, ob die Skulpturen zu Ihren Beobachtungen passen.

(GE)SCHAFFEN 81

BRUCHSTÜCK MENSCH

Gut genug?

Wegwerfen oder reparieren?

Können Täter etwas dafür?

Wie wird man böse?

Bin ich ein(e) Sünder(in)?

Sind auch Kinder schon sündig?

Vergibt Gott alles?

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?

Lernbereich: »Der im-perfekte Mensch«, »Woran dein Herz hängt – Sinnfrage und Gottesfrage«

KAPITEL 4 82 KAPITEL 4

Sie beschäftigen sich mit Fragen nach der Identität und klären in diesem Zusammenhang diesen Begriff sowie mögliche Einflussfaktoren auf die Identitätsentwicklung. Sie lernen unterschiedliche Theorien zur Entstehung von Aggression kennen, und geben eine dieser Theorien wieder. Sie bündeln und vertiefen Grundgedanken biblischer und reformatorischer Rede von Sünde und Rechtfertigung.

Sie reflektieren Vorstellungen von Perfektion und einem vollkommenen Leben und bewerten diese differenziert. Dabei beurteilen Sie, inwiefern Fragmentarität und Imperfektibilität zum menschlichen Leben gehören. Mit theologischen Versuchen, die Rede von Sünde und Rechtfertigung in die Erfahrungsund Sprachwelt der Gegenwart zu übersetzen, setzen Sie sich kritisch auseinander.

urteilen

Ausgehend von idealisierten Körperbildern analysieren Sie, inwieweit unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche vom Perfektionsstreben durchdrungen sind. Zudem nehmen Sie bei sich und bei anderen Fragmentarität und Imperfektibilität wahr. Brüche und Beschädigungen deuten Sie mit Hilfe biblischer Geschichten und theologischer Begriffe wie Sünde, Vergebung und Rechtfertigung.

Für Erfahrungen von Scheitern und Schuld und die damit verbundenen negativen Gefühle suchen und erproben Sie angemessene sprachliche und nicht-sprachliche Ausdrucksformen. Ihre Gedanken und Überlegungen zum Thema Identität drücken Sie durch unterschiedliche Formen kreativer Gestaltung aus.

DER IMPERFEKTE MENSCH IN DER KUNST

Immer wieder gibt es Kunst-Ausstellungen, in denen der Mensch in seiner Gebrochenheit, Bruchstückhaftigkeit, (Im-)Perfektibilität und Fragmentarität zum Thema wird. Recherchieren Sie Beispiele und leihen Sie sich ggf. die entsprechenden Ausstellungskataloge aus, in denen Sie Hinweise zur Ausstellungskonzeption und einzelnen Kunstwerken finden. Sie können den Doppelseiten im Schulbuch weitere Kunstwerke zuordnen und zu diesen knappe Infotexte verfassen. Oder Sie lassen sich von ausgewählten Ausstellungen zu eigenen künstlerischen Versuchen inspirieren, die Sie mit den Materialien einer Doppelseite ins Gespräch bringen. Denkbar sind z. B. Kunstfotografien, Zeichnungen, Collagen, Installationen oder auch Formen digitaler Kunst.

BRUCHSTÜCK MENSCH 83
beschreiben wiedergeben
reflektieren wahrnehmen deuten
kommunizieren
sich
ausdrücken
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EXTRATOUR

Vollkommen …

84 KAPITEL 4
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Raum »Altäre der Vollkommenheit« mit den Altären Autonomie, Leistung, Gesundheit, Schönheit, Genuss, Rationalität aus der Ausstellung »Der [im]perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit«, die in Dresden und Berlin 2000–2003 gezeigt wurde. In der Mitte sieht man den sog. gläsernen Menschen. Der »Gläserne Mensch« wurde erstmals 1930 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden ausgestellt und gilt inzwischen als Leitobjekt dieses Museums. Der menschliche Körper begegnet in dieser Darstellung »als funktionale, wohlgeformte, durchschaubare und optimierbare Maschine« (aus einer Ausstellungs-Dokumentation).

… oder nicht so ganz? BRUCHSTÜCK MENSCH 85
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Perfekter …

ALTÄRE DER VOLLKOMMENHEIT

1. Deuten Sie die Gestaltung der »Altäre der Vollkommenheit« und die Raumkonzeption auf S. 84 – 85 ! Sammeln Sie Ideen für weitere »Altäre der Vollkommenheit«.

2 Untersuchen Sie in arbeitsteiliger Gruppenarbeit zu den einzelnen in der Ausstellung gezeigten Altären passende Medienbeiträge und Werbeanzeigen.

3. Philosophieren Sie über den »Gläsernen Menschen« ( S. 85).

NOCH BESSER

1. Imaginieren Sie ein »perfektes Wochenende«, einen »perfekten Job« oder »mein perfektes Leben in zehn Jahren« und tauschen Sie sich aus.

2. Beschreiben und deuten Sie die Bilder auf dieser Seite und beziehen Sie sie auf den Text von N. Spitzer zur Optimierung des Menschen in der Moderne. Nehmen Sie anschließend in einer E-Mail Stellung zu seinem Text.

DIE OPTIMIERUNG DES MENSCHEN –EIN PROJEKT DER MODERNE

Die Idee einer Selbstverbesserung des Menschen ist in der Kulturgeschichte erst relativ spät aufgetaucht. Erst in der Renaissance verstand man den Menschen als das nicht festgelegte Wesen, das sich selbst immer erst herstellen muss. Und erst zu dieser Zeit geriet auch die Selbstverbesserung ins Programm des Menschen. Zu nehmend wurde die Verantwortung für diese Um gestaltung nicht allein gesellschaftlichen Agentu ren wie Schulen, Gefängnissen oder Psychotherapien aufgebürdet, sondern auch dem Indivi duum selbst. Der Einzelne hatte sich gefälligst auch von sich aus um seine Optimierung zu bemühen. Er sollte nun über akribische Methoden der Selbstbeobachtung und Selbstgestaltung Herr im eigenen Haus werden … und es schön und produktiv einrichten. Selbstvervollkommnung des Menschen gilt erst seitdem als höchstes Gut. Die Menschen von heute trainieren bis zum Umfallen, hungern sich halb zu Tode für die schlanke Linie, verwandeln sich mittels Psychopharmaka in ener

giegeladene und gut gelaunte Temperamentsbolzen, definieren ihre Aufmerksamkeit durch Meditation ähnlich präzise wie ihre Muskeln im Fitnesscenter, bohren sich metallischen Körperschmuck durch alle möglichen Körperstellen, lernen am Wochenende neue Formen der Sexualakrobatik, bearbeiten ihre Falten mit Nervengift oder lassen sich chirurgisch in Form bringen, wenn die Yogakurse und das japanische Schwertfechten am Strand nicht mehr dazu ausreichen. Der Kampf um Perfektion, so viele Zeitdiagnostiker, hat seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Die Bereitschaft, Hand an sich zu legen oder legen zu lassen, hat an Intensität und in der Breite deutlich zugenommen. Und es geht längst nicht mehr allein darum, die Leistungsfähigkeit zu optimieren – es geht auch um eine verbesserte Persönlichkeit, eine verbesserte Weiblichkeit, ein verbessertes Alter. Es scheint fast so, als seien die mühsam in oderne entstandenen Konventionen, was ein normaler Körper und normaler Geist sein könnte, im beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal zur Disposition gestellt worden – zugunsten von Hirndoping und Körpertuning. Perfektionierung und Optimierung sind jedenfalls die Parolen der Stunde. Nicht umsonst hat h der Sportler zu einem allgemeinen Vorbild entwickelt: Athletsein wird zu einer Metapher – das ganze Leben als ein permanentes Workout.

Nils Spitzer, Psychotherapeut

86 KAPITEL 4
Eingang zu einem Fitnessstudio
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AUS EINEM INTERVIEW MIT DER PSYCHOLOGIN

ADA BORKENHAGEN

Wer bestimmt denn unsere Körperbilder?

Es gibt keine bestimmte Gruppe oder Macht, die das festlegt. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus Moden und deren medialer Verbreitung. Natürlich spielen immer auch Vorbilder eine Rolle. Wichtig sind in dem Zusammenhang die technischen Möglichkeiten der Retusche. So makellose Haut, wie man sie durch Photoshop in der Werbung sieht, hat kein Mensch. So kursieren dann völlig unrealistische Körperbilder, die zum Ideal werden.

Erklärt das, warum sich viele Jugendliche so exzessiv mit ihrem Körper beschäftigen, sich in den sozialen Medien inszenieren und permanent Bilder von sich verschicken? Natürlich. Zur Kultur des Selfies gehört zum Beispiel das starke Schminken. Weil man ja ein schönes Selfie von sich machen möchte. Wie ein Maskenbildner tragen manche Mädchen Schminke auf, um einen makellosen Teint zu erreichen. Indem man solche Bilder verschickt, werden sie zum Maßstab. Wie wirken Werbung und Medien auf das Körperbild von Jugendlichen?

SCHÖN – NOCH SCHÖNER?

1. Sammeln Sie Fotografien, die die individuelle Schönheit von Menschen zeigen!

2. Betrachten Sie Fotos von sich selbst: Was gefällt Ihnen? Was würden Sie gerne verändern?

3. Arbeiten Sie aus dem Interview und dem Bild auf dieser Seite gesellschaftliche Einflüsse auf die Körperwahrnehmung heraus.

4. Überprüfen Sie, ob die im Text getroffenen Aussagen für Sie und andere Menschen stimmen.

5. Schönheit und körperliche Attraktivität – mit diesem Wunsch verbinden sich häufig weitere Sehnsüchte und Lebensziele. Tauschen Sie sich aus.

6. »Medienbilder prägen unsere Vorstellungen von dem, was wir für perfekt halten!« – Sammeln Sie Beispiele für diese These über den Bereich der Körperwahrnehmung hinaus.

Aus der Ausstellung »Das Gesicht«, die 2017–2018 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden gezeigt wurde.

Die medialen Bilder beeinflussen die Wahrnehmung meiner Körperform extrem stark, weil ich sie ständig mit mir selbst abgleiche und das als Ideal verinnerlicht habe. Durch die Selfie-Kultur wird mir auch noch vorgemacht, dass alle so aussehen.

Yo ga und Fitnessstudios haben Konjunktur. Ist es übertrieben, von einem Fitnesswahn zu sprechen?

Das Entscheidende heute ist nicht, dass man fit ist, sondern fit aussieht. Bei all den sitzenden Tätigkeiten ist es nicht mehr so einfach, Muskeln zu haben, dafür muss man trainieren. Das Sportstudio oder die Yogastunde ist Ausweis ihrer Investition in den Körper. Und das wird anerkannt.

Ist das Äußere generell wichtiger geworden?

Auf jeden Fall. Das hat mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der stärker werdenden Individualisierung zu tun. In der westlichen Welt sind wir dazu aufgefordert, die eigene Identität herauszubilden. Früher geschah das über den gesellschaftlichen Stand. Man war Arbeiter, Angestellter oder Bauer, und damit war die Identität für das ganze Leben festgelegt. Das hat sich fundamental verändert. Heute muss man ein eigenes Profil haben, ganz gleich welches. Deshalb ist das Aussehen wichtiger geworden und der eigene Körper das Medium, über das die Identität ausgedrückt wird.

Sieht man auch deshalb häufiger Körpermodifikationen wie Piercings oder Tattoos?

Das ist eine Möglichkeit, den Körper mit Individualitätszeichen zu versehen und zu präsentieren.

Auch die Bereitschaft, seinen Körper mithilfe von Schönheits-OPs zu optimieren, scheint größer geworden zu sein. Das hängt zum einen mit den technischen Möglichkeiten zusammen, zum anderen sind Eingriffe kostengünstiger geworden. Hinzu kommt, dass der Körper nicht mehr als Schicksal, sondern als veränderbar erlebt wird.

… Körper
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Noch besser!

»Eigentlich versuche ich, mich vegan zu ernähren. Aber bei Parmesan werde ich schwach.

»Ich wäre gerne mitfühlender und achtsamer.

»Ich muss mein Lernen für die Schule einfach besser organisieren.

»Ich bin eher ein Pessimist.

Mit mehr Optimismus wäre vieles einfacher.

»Manchmal verdaddele ich zu viel Zeit. Ich versuche, die Zeit besser zu nutzen.

EINE BESSERE VERSION VON MIR?

1. Überlegen Sie – ausgehend von den Zitaten –, welche Eigenschaften Ihnen für eine noch bessere Version Ihrer selbst noch fehlen. Gestalten Sie anschließend ein »Vision Board*« zum Thema »Die beste Version von mir«.

2. Sich selbst verbessern: Wie macht man das? Tauschen Sie sich hierzu aus. Vielleicht haben Sie auch Lust, exemplarische »Challenges« hierzu zu entwerfen und sogar auszuprobieren.

3. »Jemand ist ein guter Mensch, wenn …« Vervollständigen Sie, zunächst für sich, diesen Satz. Suchen Sie in Gruppen einen Konsens und formulieren Sie diesen.

4. Identifizieren Sie – ausgehend von den Bildern dieser Seite – Angebote, die auf eine Verbesserung des eigenen Handelns und des eigenen Charakters zielen, und bewerten Sie diese.

5. Wann wird das Streben danach, sich mental und moralisch zu entwickeln, zum Problem? Diskutieren Sie und formulieren Sie Kriterien.

6. »Moral ist unsere letzte Religion.« Überprüfen Sie die Grundthese des Textauszugs von A. Grau anhand eigener Wahrnehmungen und nehmen Sie Stellung.

7. Informieren Sie sich über Debatten zu »Moralismus«* und »Cancel-Culture«*. Stellen Sie Bezüge her zu den Phänomenen der Optimierung des Menschen (vgl. S. 86).

JENSEITS DES MENSCHEN? ( S. 89)

1. Darth Vader, Terminator … Sammeln Sie berühmte Cyborgs der Filmgeschichte und tauschen Sie sich über typische wie spezifische Eigenschaften dieser Filmhelden aus.

2. Informieren Sie sich über den aktuellen Stand der »Cyborg-Technologie« in der Medizin sowie bezüglich der Interaktion zwischen Menschen und einfachen Formen von KI (z. B. im Auto, im »smart home«). Diskutieren Sie, welche Eingriffe Sie jeweils für erstrebenswert und vertretbar halten ( S. 64).

AUS: HYPERMORAL. DIE NEUE LUST AN DER EMPÖRUNG.

Moral* ist unsere letzte Religion. Das ist auch der einfache Grund dafür, dass die Kirchen ihrerseits Religion im Wesentlichen auf Moral reduziert haben. Entsprechend wird das Gute zum Fetisch unserer halbaufgeklärten Gesellschaft, zum Zaubermittel, das allein den Kontakt zu einer höheren Sinnwelt zu garantieren scheint. Doch Religionen kennen nur Fromme oder Ketzer, Gläubige oder Verblendete. So hält mit dem Moralismus eine manichäische* Rhetorik Einzug in die gesellschaftlichen Debatten: es gibt nur noch Hell oder Dunkel, das Reich des Lichtes oder das der Schatten und den unbedingten Glauben an den heilsgeschichtlichen Sieg des Guten. Wer sich der herrschenden Moral und ihrer aufgeblasenen Selbstgewissheit verweigert, hat nicht einfach nur eine andere Meinung, er wird zum Häretiker*. Der Moralismus wandelt sich zum Hypermoralismus, also der Utopie einer ausschließlich nach rigiden moralischen Normen organisierten Gesellschaft.

Alexander Grau, Publizist und Philosoph

88 KAPITEL 4
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EIN (TECHNIK)UTOPISCHES UPGRADE?

Der Begriff »Human Enhancement« hat sich in der internationalen bioethischen* Diskussion als Oberbegriff durchgesetzt, der unterschiedlichste technologische Optionen einer Verbesserung des Körpers umfasst. Während aktuelle Enhancement-Optionen sich häufig lediglich im Bereich des gegenwärtigen menschlichen Potenzials bewegen, zielen transhumane Enhancement-Technologien auf die Erweiterung des menschlichen Möglichkeitsraums. Eben hier liegt das utopische Moment. Wie kann der sachtechnisch optimierte und transformierte Neue Mensch aussehen? Welche Technologien sollen ihn produzieren? Drei spekulative Pfade werden gegenwärtig diskutiert:

Der genetisch Neue Mensch: Designerbabys

Die aktuellen technologischen Durchbrüche im genome editing* haben einen Diskurs wiederbelebt: den Diskurs um eine Produktion Neuer Menschen durch biotechnische Interventionen. Die Debatte um »Designerbabys« war längere Zeit von der Idee der Selektion bestimmt – einer Selektion der »besten« Nachkommen durch die Eltern auf Basis der Präimplantationsdiagnostik. Doch mit den neuen methodischen Instrumenten des genome editing erscheint auch die Möglichkeit unmittelbarer genmanipulativer Eingriffe in die Keimbahn wieder in greifbare Nähe gerückt.

Der implantierte Neue Mensch: Cyborgs

Der genetisch Neue Mensch ist das Produkt einer immer noch recht fernen Zukunft. Doch seit mehreren Jahrzehnten ist eine andere transhumane Vision im Umlauf, die das Versprechen (oder die Drohung) in sich birgt, dass auch Menschen der Gegenwart zu Neuen Menschen werden können: nämlich durch Prothesen und Implantate. Die erwartete Konvergenz von Bio-, Nano- und Informationstechnologie führt in dieser Zukunftsvision zu einer ganzen Reihe von Verbesserungs-

optionen. Neuro-Implantate sollen zur Steigerung der Kognition verwendet werden. Ein künstliches Auge könnte den Menschen in die Lage versetzen, besser zu sehen und Teile des elektromagnetischen Spektrums wahrzunehmen, die ihm zuvor unzugänglich waren. Analog dazu könnte ein künstliches Ohr die Wahrnehmung von für den Menschen bislang nicht hörbaren Tönen ermöglichen. Zudem wäre es denkbar, die künstlichen Sinnesorgane verschiedener Personen miteinander zu vernetzen, sodass man in der Lage wäre, die sensorischen Informationen anderer Menschen zu verarbeiten. Bioelektronik könnte dem Körper auch zusätzliche Kraft verleihen. Nach einigen Jahrzehnten könnte der Mensch von heute kaum wiederzuerkennen sein: Schwärme von Nano-Robotern wandern durch seinen Körper und machen ihn widerstandsfähiger und langlebiger. Der implantierte Neue Mensch ist Schritt für Schritt zum Cyborg geworden, einem Hybrid aus Menschen und Maschine.

Der digitale Neue Mensch: Uploads Während Genmanipulationen und »Cyborgisierungen« einen graduellen Prozess voraussetzen, imaginiert die wohl radikalste Transformationsvision einen sprunghaften Übergang vom Menschen zum Neuen Menschen durch die vollständige Digitalisierung des menschlichen Bewusstseins. Dieser Prozess wird u. a. als »Uploading« bezeichnet. Die entscheidende Prämisse besagt, dass sich das Gehirn letztlich als austauschbare Hardware für die Software des Bewusstseins beschreiben lässt. Damit erscheint die Möglichkeit eines Neuroscans, der das Gehirn vollständig emulieren und damit verlustfrei auf einen Rechner übertragen kann, ebenfalls nicht ausgeschlossen: Dadurch wird nicht zuletzt eine digitale Unsterblichkeit erhofft. Doch es geht nicht nur um eine Verlängerung des menschlichen Lebens, sondern um eine allumfassende Entgrenzung: Von den Fesseln der Biologie befreit, soll der digitale Neue Mensch auch seine eigenen geistigen Fähigkeiten exponentiell verbessern und sich beliebig umgestalten und erweitern können – er wird so zur sich selbst formenden künstlichen Intelligenz.

Sascha Dickel, Soziologe

Der (farbenblinde) Künstler Neil Harbisson trägt eine Antenne, mit deren Hilfe er Farben »hören« kann; deshalb bezeichnet er sich als »Cyborg«.

BRUCHSTÜCK MENSCH 89
Neuer Mensch?
Ein
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Auf der Suche …

WER BIST DU? – ZUSCHRIFTEN AUS EINER

LESER(INNEN)BEFRAGUNG DER ZEITSCHRIFT

»CHRISMON«

Bis vor zwei Monaten war ich noch Langzeitstudentin, Bardame, Partygängerin und hatte eine Fernbeziehung nach Berlin. Seit dem Schwangerschaftstest bin ich werdende Mutter, Staatsexamensanwärterin, Am-Wochenende-zu-Hause-Bleiberin und bald Berlinerin. Ich bin glücklich, aber vermisse meine Freunde.

Birte Ribbeck, Leipzig

Ich mache nichts anderes, als Zeit meines bewussten Lebens dieser Frage nachzugehen: Wer bin ich? Immer wenn ich denke, nun habe ich etwas über mich begriffen und weiß, wer ich bin, macht mir die Realität einen Strich durch die Rechnung. Ich mache im Grunde alle Erfahrungen nur, um herauszufinden, wer ich bin. Was bin ich und was bin ich nur, weil ich die Vorstellung habe, ich sollte so sein? Was kann ich an mir ändern und womit muss ich mich arrangieren? Wo verzeihe ich mir und wo bin ich einfach nur faul? Welche Verletzungen sind heilbar? Welche Narben werden immer schmerzen, wenn man sie berührt? Ganz ehrlich: Ich weiß es noch nicht. Reicht die vage Vorstellung meiner selbst schon, um zu sagen: So bin ich? Sarah Wiener, Fernsehköchin

Ich bin ein Papierflieger aus rotem Seidenpapier, 20 Jahre alt. Die letzten 13 Jahre habe ich damit verbracht, mich auf meinen Start vorzubereiten. Ich habe alle Kanten sorgfältig nachgezogen und immer bessere und zahlreichere Knicke gelernt und eingebaut, so dass ich mich perfekt vorbereitet wusste; zumindest sagten mir das immer alle. Im letzten Sommer bin ich dann gestartet. Das Abheben war leicht. Auf meinen Fahnen wehte fröhlich das Wort »Abi!« im Wind. Aber ich habe meinen Kompass verloren. Und treibe jetzt hier oben, in der Hoffnung, bald das Ziel vor Augen zu haben. Auf meinem bisherigen Weg hat das Seidenpapier einige Stürme überlebt und hier und da einen kleinen Riss bekommen. Aber noch fliege ich. So lange, bis ich angekommen bin.

P. S

DIE FRAGE NACH DER IDENTITÄT

1. Vergleichen Sie, wie die Antwortenden jeweils mit der Identitäts-Frage umgehen und was ihnen wichtig ist. Beziehen Sie dabei auch das Konzept der »narrativen Identität« (vgl. S. 91) mit ein.

2. Gestalten Sie eine Steckbrief-Vorlage bzw. einen Fragebogen zum Thema »Das bin ich«.

3. Beschäftigen Sie sich selbst mit der Frage »Wer bin ich?«: Sie können z. B. eine Antwort auf die Umfrage (links) formulieren oder einen Fragebogen (vgl. Aufgabe 2) ausfüllen, Fotos machen, eine (digitale) Pinnwand gestalten, ein Kurzvideo drehen oder einen »Lebenskoffer« ( S. 91) packen.

4. Beschreiben und deuten Sie das (Selbst-)Porträt des Künstlers Liu Bolin. Vergleichen Sie das Bild anschließend mit anderen Selbstporträts von Künstlerinnen und Künstlern. Ziehen Sie Verbindungslinien zwischen den Ich-bin-Texten und den Kunstwerken.

5. Sich zeigen und sich gleichzeitig verbergen – das gibt es auch in den sozialen Netzwerken. Nennen Sie Beispiele und tauschen Sie sich über mögliche Gründe aus.

90 KAPITEL 4
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Liu Bolin, Hiding in the City – Balloon (2012)

IDENTITÄT

• Die Frage nach »Identität« ist letztlich die Frage danach, wie sich Menschen trotz aller biografie- und kontextbedingten Wandlungen und Brüche als mit sich selbst übereinstimmende Personen deuten. In die Wahrnehmung der eigenen Identität geht eine Reihe von Bestimmungsfaktoren ein, wie z. B. die soziale Herkunft, das Geschlecht, das Alter, der kulturelle Hintergrund und der Beruf. Zur Frage, wie sich Identität entwickelt, wurden verschiedene psychologische Modelle entwickelt.

• Besonders bekannt ist das Modell von Erik Erikson. Es geht davon aus, dass sich dieser Prozess über die gesamte Lebensspanne erstreckt, und beschreibt acht Stufen der Identitätsentwicklung: In jeder Stufe stehe dabei ein besonderer Konflikt im Vordergrund, der bearbeitet werden müsse. So sei es etwa ab dem Schulalter bis zum Beginn der Jugend zentral, eine Balance zwischen Werksinn und Minderwertigkeitsgefühl (vgl. S. 62) zu entwickeln. In der Jugend gehe es darum, in der Spannung zwischen stabiler Identität und Identitätsdiffusion ein neues Ich-Gefühl auszubilden.

• Insbesondere neuere Identitätstheorien betonen, dass Identität letztlich dadurch »konstruiert« wird, dass es zu einem Abgleich zwischen dem wahrgenommenen Fremdbild und dem eigenen Selbstbild bzw. dem Selbstkonzept* kommt. Dieser Prozess dient der Herstellung von innerer Kohärenz und steht im Zusammenhang mit den Bedürfnissen von Menschen einerseits nach Anerkennung und Zugehörigkeit und andererseits nach Individualität und Eigensinn.

ZUM KONZEPT DER NARRATIVEN IDENTITÄT

Narrative Identität thematisiert den sozialen Herstellungsprozess jener Bilder und Konzepte, mit denen Menschen sich eine Vorstellung von ihrer Wirklichkeit und von sich selbst machen. Wie aber werden diese Selbst-Bilder hergestellt? Die Narrative Psychologie sieht den Menschen als Geschichtenerzähler: Er entwirft sich in seinen Narrationen. Identität könnte man als erzählende Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« verstehen. In diesen Antworten wird subjektiver Sinn in Bezug auf die eigene Person konstruiert. Doch sind Menschen nicht nur Autoren und Autorinnen ihrer Erzählungen, sondern sie finden kulturelle Texte immer schon vor – Lebensskripte, in denen sie ihre persönlichen Erzählungen unterbringen. Philosophie, Religion (Religionspsychologie) und Mythos bestehen aus »Meta-Erzählungen«*, in denen sich eine Kultur gemeinsame Sinnstrukturen schafft, in die wiederum einzelne Subjekte ihre Selbstnarrationen einbetten können. Der zunehmende Verlust solcher kultureller Hintergrunderzählungen erzeugt die Notwendigkeit, dass sich Subjekte ihre eigenen Erzählfäden schaffen, um in einer überkomplexen Welt für sich selber eine verlässliche Basis von Selbstverständlichkeiten zu schaffen. Die Idee einer narrativen Identität erhält sicherlich Auftrieb durch die gesellschaftliche Dekonstruktion traditioneller Identitäten.

Aus: »Spektrum« Lexikon der Psychologie

IDENTITÄTSBILDUNG

1. Beschreiben Sie Ihr Selbstbild sowie das vermutete Fremdbild Ihrer Person . Tauschen Sie sich in der Lerngruppe darüber aus, inwiefern sich Selbst- und Fremdbild gegenseitig beeinflussen.

2. Arbeiten Sie an einem eigenen Beispiel die Bedeutung des Erzählens für Identitätsbildung heraus.

3. Entdecken Sie exemplarisch anhand Ihnen z. B. aus dem Unterricht oder den Medien bekannter Biografien Bezüge zu »Bestimmungsfaktoren« für Identität (vgl. Info) und identifizieren Sie kulturell bedingte »Lebensskripte« und »Meta-Erzählungen«*.

4. Notieren Sie Aspekte, die Sie in einem autobiografischen Text berücksichtigen würden.

BRUCHSTÜCK MENSCH 91 … nach dem Ich INFO
Beispiel für einen »Lebenskoffer«* aus dem Projekt »Gemeinsam leben & lernen in Europa«
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Zusammengesetzt

PATCHWORK-IDENTITÄT

Das Erlebnis einer widersprüchlichen und segmentierten Alltagswelt, die sich nicht mehr in einem umfassenden Weltentwurf integrieren lässt, es sei denn um den Preis esoterischer Sektenbildung, erzwingt eine Haltung, die Widersprüchliches nebeneinander stehen lassen kann und die nicht mehr von einem »Identitätszwang« beherrscht wird. Peter Gross (1985) versucht, das Besondere dieser aktuellen Typik in einer »Theorie der Bastel-Mentalität« zu erfassen. Sie sieht die modernen Menschen als Produzenten »individueller Lebenscollagen«. Sie basteln sich aus den vorhandenen Lebensstilen und Sinnelementen ihre eigenen kleinen lebbaren Konstruktionen. Der »Bastler«, der »Homeworker« als Sinnbild des zeitgenössischen Menschen! Während ich mich gedanklich zu neuen Ufern taste, mir die Bastlermetapher durch den Kopf geht, sehe ich meiner Partnerin beim Patchworken* zu, beim Produzieren eines »Fleckerlteppichs«. Und jetzt habe ich meine Metapher, mit der ich meine Ideen probeweise ordnen kann. Mit der ich jene Veränderungen ausdrücken kann, denen Identitätsbildungsprozesse unterliegen. Die klassischen Patchworkmuster entsprechen dem klassischen Identitätsbegriff. Da sind geometrische Muster in einer sich wiederholenden Gleichförmigkeit geschaffen worden. Sie gewinnen eine Geschlossenheit in diesem Moment der durchstrukturierten Harmonie,

Ausschnitt aus einem »Crazy Quilt« von 1885 (Quilt: Decke bzw. Stoffüberwurf aus mindestens zwei Lagen von zusammengenähten mehrfarbigen Stoffstücken)

in einem Gleichgewichtszustand von Form- und Farbelementen. Der »Crazy Quilt« hingegen lebt von seiner über raschenden, oft wilden Verknüpfung von Formen und Farben, zielt selten auf bekannte Symbole und Gegenstände. Gerade in dem Entwurf und der Durchführung eines solchen »Fleckerlteppichs« kann sich eine beeindruckende schöpferische Potenz ausdrücken. Wieder zurückübersetzt in identitätstheoretische Überlegungen lässt sich sagen, dass Identitätsbildung unter Bedingungen der Gegenwart etwas von diesem »Crazy Quilt« hat. Wir haben es nicht mit »Zerfall« oder »Verlust der Mitte« zu tun, sondern eher mit einem Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten, denn eine innere Kohärenz ist der Patchworkidentität keineswegs abhandengekommen.

Heiner Keupp, Sozialpsychologe

»Selbst gemacht« ( S. 62) – das gilt offenbar auch für mich selbst? MERKwürdig.

IDENTITÄT ALS KREATIVE AUFGABE

1. Erläutern Sie H. Keupps Metapher von der Patchworkidentität.

2. »Eine innere Kohärenz ist der Patchworkidentität keineswegs abhandengekommen.« Erläutern Sie diese Aussage anhand des Bildes und ggf. weiterer Abbildungen von »Crazy Quilts«.

3. Experimentieren Sie mit dem Gedanken der Identität als schöpferischer Konstruktion. Notieren Sie Attribute, Rollen, Tätigkeiten, die für Sie typisch sind. Schreiben Sie diese auf farbige Papierstücke und setzen Sie sie zu einem »Quilt« zusammen. Achten Sie besonders auf die Nahtstellen: Wo gibt es Spannungen, wo passt es gut? Wie gelingt es z. B. »Tochter« und »politisches Engagement« zu kombinieren? Tauschen Sie sich untereinander über Ihre Ergebnisse aus.

4. Begriffe wie »fluide« oder »fragile« Identität« bringen zum Ausdruck, dass Identität sich verändern und changieren kann. Finden Sie Beispiele für Elemente Ihres Quilts, die sich verändert haben oder verändern werden.

92 KAPITEL 4
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Aus dem Programmflyer:

Ikarus und Francis sind Freunde, grundverschieden und unzertrennlich.

Während sich Ikarus als Draufgänger präsentiert, schreibt Francis lieber Gedichte. Und was die beiden verbindet? Ihre Pubertät wird anders verlaufen als geplant, denn Ikarus ist seit einem Unfall querschnittsgelähmt und Francis hat Multiple Sklerose*. Das heißt aber nicht, dass für sie Alkohol, Ausgehen und Mädchen kein Thema sind. Als sich

Ikarus dann in Jasmin verliebt, bekommt seine äußere Fassade allerdings die ersten Risse. Mit Humor, Coolness und Gefühl erzählt »Irreparabel« rückblickend die Geschichte einer besonderen Freundschaft – und zugleich eine Geschichte vom Erwachsenwerden zweier Freunde und der Suche nach der eigenen Identität mit allen Fehlern und körperlichen Einschränkungen.

»Weg damit.

»Das kann man doch einfach kleben.

»Das wollte ich nicht.

»Da ist nichts mehr zu retten.

WERT DES REPARIERTEN

Das Reparieren, Ausbessern, Flicken von Dingen kennen wohl alle Menschen. Die materiellen Dinge, die uns im Alltag umgeben, sind brüchig und vergänglich. Neben zufälligem Ungemach wie dem Entgleiten einer Tasse ist es vor allem der Zahn der Zeit, der an den Dingen nagt: Abnutzung bis zur Unbrauchbarkeit. Beides führt dazu, dass Dinge entweder selbst repariert oder in die Obhut von Spezialist*innen gegeben werden. Einmal ist es schiere ökonomische Notwendigkeit, einmal emotionale Verbundenheit, einmal philosophisch begründete Achtsamkeit, die zur Reparatur führ t. Zunehmend wird auch Nachhaltigkeit angeführt. Nicht zuletzt verdankt sich der Boom der Reparaturcafés dem Wunsch, der Wegwerfgesellschaft entgegenzuwirken.

Anna Schmid, Kuratorin der Ausstellung »Stückwerk« in Basel (2022–2023)

BRÜCHE UND RISSE

1. Der Ausstellung »Stückwerk«, die Zusammengesetzes und »Kaputtes« aus verschiedenen Kulturen ausstellt, sind Sie auf S. 16 schon begegnet. Philosophieren Sie über die Idee dieser Ausstellung.

2. Tauschen Sie sich, ausgehend von den Ausstellungsmaterialien (unten), über Situationen des »Kaputtgehens« und »Reparierens« aus.

3. So wie »Patchwork« zum Symbol für Identität geworden ist, so kann man auch den Gedanken des Reparierens auf das menschliche Leben übertragen. Sammeln Sie Beispiele für »Beschädigungen« im Leben (etwa durch das Nicht-Erreichen persönlicher Ziele, durch Verluste, Schuld und Scheitern in Beziehungen, durch körperliche und seelische Verletzungen). Tauschen Sie sich darüber aus, wie eine »Reparatur« der Beschädigungen jeweils aussehen könnte.

4. Deuten Sie ausgehend von dem Auszug aus dem Flyer den Titel des Theaterstücks »Irreparabel«.

5. Auch im eigenen Leben lässt sich manchmal etwas nicht mehr reparieren. Notieren Sie Erfahrungen und Gedanken . Vielleicht haben Sie auch Ideen, wie man ihnen künstlerischen Ausdruck verleihen kann. Sprechen Sie ggf. darüber, was einem helfen kann, mit dem zu leben, was »kaputt« bleibt.

Aus der Ausstellung »Stückwerk«: ein Rahmtopf (ca. 1900). Die Risse, die sich mit der Zeit gebildet hatten, wurden mit Klammern ausgebessert, größere Schäden durch aufgesetzte Metallplatten repariert. Dabei entstanden jedoch wieder neue Schäden, sodass der Topf seine Funktion nicht mehr erfüllte, sondern nur noch zur Dekoration diente.

BRUCHSTÜCK MENSCH 93
(Ir)reparabel?
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Leben …

IDENTITÄT UND FRAGMENT

Der Begriff des Fragments kontrastiert dem der Totalität, also der in sich geschlossenen Ganzheit, der Einheitlichkeit und dauerhaften Gültigkeit. Mindestens zwei Bedeutungen des Fragments sind dabei zu unterscheiden. Da sind zum einen Fragmente als Überreste eines zerstörten, aber ehemals Ganzen, der Torso, die Ruine, also die Fragmente aus Vergangenheit. Zum anderen sind da die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestaltungsform nicht – noch nicht –gefunden haben, also die Fragmente aus Zukunft. Fragmente weisen über sich hinaus. Sie leben und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind. Von Fragmenten geht daher eine Bewegung der Unruhe aus, die nicht zu einem definitiven Stillstand führt. Blickt man auf menschliches Leben insgesamt, so scheint mir der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim. Die nicht vorhersehbare und planbare Endlichkeit des Lebens, die jeder Tod markiert, lässt Leben immer zum Bruchstück werden. Das Fragmentarische charakterisiert nun die Identität des Einzelnen in beiden oben bereits genannten Aspekten: Sie ist sowohl ein Fragment aus Vergangenheit als auch ein Fragment aus Zukunft.

Selbstrückfrage werden: »Wer bin ich?« Das Ideal der Ich-Stärke und der gefestigten Identität, die sich von der Andersheit der begegnenden Anderen nicht verunsichern und verwirren lässt, führt zur Gleichgültigkeit und Selbstabschließung gegenüber anderen.

Ein Identitätskonzept, das eine starke Ich-Identität für das Merkmal einer gesunden, reifen Persönlichkeit hält und fragmentarische Ich-Identitäten für pathologische Abweichungen, stellt eine folgenschwere Verkürzung dar.

Sie ist nur um den Preis von drei Einschränkungen möglich:

1. Sie ist auf die Verleugnung nicht realisierter Wünsche der Vergangenheit und die Verdrängung nicht positiv verarbeitbarer Schuld- und Versagenserfahrungen angewiesen. Volle Identität wäre nur bei Verzicht auf Trauer möglich.

2. Sie ist auf die Ausblendung des überraschend Neuen einer offenen Zukunft angewiesen. Volle Identität wäre nur bei Verzicht auf Hoffnung möglich.

Wir sind immer auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit. Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenswünsche, verworfener Möglichkeiten, ver taner und verspielter Chancen. Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen. Dies ist der Schmerz des Fragments.

Andererseits ist jede erreichte Stufe unserer Ich-Entwicklung immer nur ein Fragment aus Zukunft. Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendenden Gestaltung. Aus ihm geht Bewegung hervor, die den Zustand als Fragment zu überschreiten sucht.

Fragmentarisch ist die jeweils erreichte Ich-Identität aber nicht nur im Blick auf die Möglichkeiten der (eigenen) Zukunft, sondern auch auf die Möglichkeiten der Gegenwart, wie sie sich aus der Kommunikation mit Anderen ergeben. Jede Begegnung mit anderen, die diesen als solchen ernst nimmt, muss zur erneuten

3. Sie ist schließlich auf die Abschottung gegenüber dem / den Anderen angewiesen, ohne die Begegnung mit dem Anderen als Veränderung zu verstehen. Volle Identität wäre nur bei Verzicht auf –empathetische, den Anderen als Anderen ernstnehmende – Liebe möglich.

Das eigentümlich Christliche scheint mir nun darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.

Den ersten Hinweis entnehme ich dem Sündenverständnis. Sünde heißt, sein wollen wie Gott. Sünde ist das Aus-Sein auf vollständige und dauerhafte Ich-Identität, das die Bedingungen von Fragmentarität nicht zu akzeptieren bereit ist.

In die gleiche Richtung weist auch die zentrale Intention des paulinischen Gedankens von der Rechtfertigung des Sünders. Erst wenn wir uns als Fragmente verstehen, erkennen wir unser Angewiesensein auf Vollendung, auf Ergänzung an. Erst und nur, wenn wir aus diesem Verwiesensein unserer fragmentarischen Existenz leben, sind wir gerechtfertigt, nicht aber, wenn wir bereits versuchen, ganz zu sein.

Henning Luther, Theologe

94 KAPITEL 4
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FRAGMENTARISCH LEBEN

Bachs Kunst der Fuge – ein berühmtes Fragment: Das Manuskript der Quadrupelfuge stammt von 1748/49 und bricht nach 239 Takten abrupt ab. Vermutlich hat der Tod die Arbeit beendet. Doch auch in ihrer unvollständigen Fassung ist die »Kunst der Fuge« das umfassendste Resümee seiner Instrumentalmusik und eine sehr persönliche Aussage, im letzten Satz eingewoben gleichsam als Signatur: B-A-C-H. Er schuf damit ein Kunstwerk, das den Charakter und die Universalität seiner Kunst unter Einbeziehung alter und neuer Stilrichtungen und Kompositionstechniken repräsentiert.

1. »Fragmente aus Vergangenheit« – »Fragmente aus Zukunft«: Ordnen Sie die Bilder und Zitate diesen Wendungen zu. Ergänzen Sie weitere Beispiele aus Ihrer Biografie oder den Lebensläufen Ihnen vertrauter Menschen.

2. Fassen Sie die Überlegungen H. Luthers ( S. 94) in Thesen zusammen.

3. »Sünde heißt, sein wollen wie Gott«: Erläutern Sie unter Rückbezug auf Gen 3,1–7 wie H. Luther Sünde, Rechtfertigung und Fragmentarität aufeinander bezieht. Diskutieren Sie, ob das Schild auf S. 94 dazu passt

4. In der Ausstellung »Der [im]perfekte Mensch« ( S. 84 f.) gab es neben den »Altären der Vollkommenheit« auch ein »Archiv der Mängel«. Sammeln Sie, welche Gegenstände dieses beinhalten sollte! Mit ausreichend Zeit können Sie eine eigene Ausstellung zum »[im]perfekten Menschen« gestalten: Eine Möglichkeit ist, Material zusammentragen, das Sie zufällig dabei haben oder in der Nähe des Schulgebäudes finden, dieses sinnvoll zu arrangieren und mit Zitaten aus dem Text von H. Luther zu kombinieren bzw. zu kommentieren. Oder Sie stellen statt »Dingen« Fotos aus, die möglichst vielfältig zeigen, worum es dem Autor geht!

5. Vergleichen Sie die Metaphern Identität als »Fragment«, »Patchwork-Identität« sowie »fluide« bzw. »fragile« Identität ( S. 92) und bewerten Sie diese.

6. Und wenn ich mich »ganz« und glücklich fühle? Diskutieren Sie, ob die genannten Identitätsmodelle allgemein gültig sind.

7. Beschreiben und deuten Sie die Karte zu 2 Kor 12,9. Formulieren Sie einen kurzen Andachtstext zu diesem Vers.

»Unvollendetes macht mich traurig.

»Nichts ist wirklich von Dauer.

2 Kor 12,9 copyrightedmaterial

»Wenn etwas nicht ganz vollkommen ist, ist es umso schöner.

»Fragmente geben Rätsel auf.

»Ist etwas noch nicht fertig, bekomme ich Lust, es zu Ende zu bringen.

»Schade, dass sie das nicht mehr erleben kann.

Marmorstatue Venus bzw. Aphrodite von Milo(s), die vermutlich 100 v. Chr. entstand; über den Verbleib der beiden fehlenden Arme ist nichts bekannt.

Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

BRUCHSTÜCK MENSCH 95 … als Fragment?

Die Kampagne #Niemals Gewalt zielt darauf, Menschen für unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Kinder wie psychische und körperliche Misshandlung, sexuelle Gewalt und Vernachlässigung zu sensibilisieren, die viele Kinder trotz ihres Rechtes auf gewaltfreie Erziehung erleiden.

Täglich erschüttern Nachrichten von menschlicher Aggression und Bosheit die Öffentlichkeit. Gewalt wird von vielen Menschen auch direkt erfahren. Beispiele sehen Sie in den Bildmaterialien auf dieser und der folgenden Doppelseite. Warum tun Menschen solche Dinge? Haben sie überhaupt eine Wahl? In dem fiktiven Hearing auf den Seiten 96 – 98 werden

Theorien zur Entstehung von Aggression und Gewalt nebeneinandergestellt. Eine davon sollten Sie besser kennen, um sie dann mit theologischen Erklärungsversuchen ins Gespräch bringen zu können.

DIETER E. ZIMMER, HEARING ÜBER AGGRESSION

Vorsitzender: Hiermit erkläre ich das internationale und interepochale Hearing über die Wurzeln menschlicher Gewalttätigkeit für eröffnet. Es ist mir eine Ehre, das Wort dem Psychologen John Dollard zu übertragen, der 1939 hierzu eine breit rezipierte Hypothese vorgetragen hat. Bitte.

Dollard: Meine Herren, ich spreche hier für ein ganzes Team von Psychologen an der Universität Yale. Unsere Hypothese lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Aggression ist immer die Folge einer Frustration. Sie haben sich nicht verhört: immer, immer! Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form der Aggression.

Würden Sie Aggression bitte doch einmal definieren?

Jede Verhaltenssequenz, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus-Ersatzes) ist

Und Frustration?

Ein Zustand, der eintritt, wenn eine Zielreaktion eine Interferenz (Störung) erleidet.

Also, wenn jemand etwas tun möchte, und ein anderer kommt ihm in die Quere und hindert ihn daran?

Geht man von alltäglichen Beobachtungen aus, erscheint es plausibel, anzunehmen, dass die gewöhnlich beobachteten Formen aggressiven Verhaltens immer

ERKLÄRBAR?

1. Fassen Sie die im Hearing vertretenen Positionen in je einer These zusammen!

2. Beschäftigen Sie sich arbeitsteilig genauer mit den einzelnen »Rednern« des Hearings und mit ihren Ansätzen! Vergleichen Sie, welchen Spielraum für menschliche (Willens-)Freiheit, Verantwortung und persönliche Schuld die einzelnen Positionen gewähren! Überlegen Sie auch, welche Möglichkeiten zur Gewaltprävention ggf. in den Positionen stecken! Sie können die Ergebnisse auf Plakaten präsentieren.

3. Prüfen Sie exemplarisch, inwieweit die abgebildeten Beispiele auf den Seiten 96 – 98 durch die Theorien erklärt werden können!

96 KAPITEL 4
Aggressiv …
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rückführbar sind auf irgendeine Art von Frustration. Häufig beobachtet man zwar bei Erwachsenen und selbst bei Kindern, dass sie sich unmittelbar nach einer Frustration anscheinend mit der Situation abfinden und sich ihr anpassen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass eine der ersten Lektionen, die der Mensch aufgrund des sozialen Zusammenlebens lernt, darin besteht, seine offenen aggressiven Reaktionen unter Kontrolle zu bringen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Reaktionstendenzen dadurch beseitigt werden; vielmehr findet man, dass diese Reaktionen nicht zerstört werden, obgleich sie vorübergehend von ihrem unmittelbaren und logischen Ziel abgelenkt werden. Je größer die Frustration, desto stärker die Aggressionstendenz.

Vorsitzender: Ich glaube, wir können die FrustrationsAggressions-Theorie hiermit verlassen. Das Wort erteile ich nun einem der Pioniere der Verhaltensforschung, der 1963 mit seinem Buch »Das sogenannte Böse« die Aggressionsdebatte so befeuert hat wie kein zweiter. Konrad Lorenz, bitte!

Lorenz: Ich möchte das Phänomen der Aggression aus der Sicht des Biologen angehen. Punkt eins. Aus der Sicht ihres Opfers ist eine Aggression gewiss eine unerfreuliche Tatsache. Das verstellt uns leicht den Blick dafür, dass Aggression, wenn auch nicht in jeder Form, ein biologisch sinnvolles Phänomen ist. Hätte Aggression keine sinnvolle Funktion, so hätte der Artenwandel sie ausgemerzt oder gar nicht erst entstehen lassen. Gegenseitige Abstoßung verteilt die Tiere über den Lebensraum. Wir dürfen als sicher annehmen, dass die gleichmäßige Verteilung gleichartiger Tiere im Raum die wichtigste Leistung der intraspezifischen Aggression ist. Hierher gehören alle Formen der territorialen

Umfragen zufolge fühlen sich mehr als die Hälfte der Verkehrsteilnehmer durch aggressives Verhalten anderer Autofahrer bedroht.

Ag gression: Jedes Tier verteidigt sein Revier, also den Teil des Lebensraums, den es zu seinem Überleben benötigt; die Konkurrenten müssen andere Reviere aufsuchen. Innerhalb der Gruppe etabliert die Aggression R angordnungen und erhält sie aufrecht. Die Rangordnung aber sorgt wiederum dafür, dass die Stärkeren die meisten Nachkommen haben, dass also die natürliche Zuchtwahl zu besonders großen und wehrhaften Familien- und Herdenverteidigern führt und dass die größte Bedeutung innerhalb der Gruppe den erfahrensten Tieren zukommt. Damit aber bin ich schon bei Punkt zwei. Es haben sich vielfältige Tötungshemmungen entwickelt, die die Folgen der Aggressivität abmildern. Auch sind die innerartlichen Kämpfe zumeist so ritualisiert, dass sie nicht tödlich ausgehen. Niemals haben wir gefunden, dass das Ziel der Aggression die Vernichtung der Artgenossen sei.

Vorsitzender: Sehen Sie beim Menschen etwa natürliche Tötungshemmungen?

Lorenz: Das Furchtbare ist, dass den Menschen eben keine instinktive oder moralische* Hemmung daran hindert, Waffen, Fernwaffen zu gebrauchen. Seine natürlichen Hemmungen waren und sind auf den körperlichen Kampf, auf die natürliche Bewaffnung abgestimmt. Mit der kulturellen Entwicklung der Waffen haben sie nicht Schritt gehalten. Und nun zu Punkt drei. Herr Dollard sprach wie die meisten Psychologen immer von Reaktionen. Aggression aber ist keine bloße Reaktion, sie ist ein Trieb. Gerade die Einsicht, dass der Aggressionstrieb ein echter, primär arterhaltender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen. Wenn ein Organismus längere Zeit nicht aggressiv war, staut sich sein Aggressionstrieb. Sein Schwellenwert für aggressionsauslösende Reize sinkt. Eventuell

Wenn ein Baby traurig ist, weint das andere mit. Schon ganz kleine Kinder zeigen Mitgefühl. Etwas später geben sie gern etwas ab und versuchen, auf ihre eigene Weise zu helfen, zum Beispiel, indem sie einem traurigen Erwachsenen Spielzeug bringen, um ihn aufzumuntern.

BRUCHSTÜCK MENSCH 97 … von Natur aus?
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Böse geworden?

kommt es sogar zu dem, was wir in der Verhaltensforschung Leerlaufhandlungen nennen. In der Kriegsgefangenschaft habe auch ich manchmal einen Koller gekriegt. Da kommt es soweit, dass man seinen besten Freund ohrfeigen könnte. Dagegen hilft nur, dass man still aus der Baracke schleicht und einen nicht zu teuren, aber mit möglichst sinnfälligem Krach in Stücke springenden Gegenstand zuschanden haut.

Vorsitzender: Die Frage ist offenbar: Wie weit ist der biologische Rahmen gesteckt? Wie viel Freiheit besitzt das Gehirn? Ich bitte wieder einen Psychologen, Prof. Albert Bandura von der Stanford-Universität, um sein Statement.

Bandura: Danke. Was wir von Herrn Lorenz gehört haben, ist eine Triebtheorie der Aggression. Und nun halten Sie sich fest, meine Herren. Die Aggression hat ihren Ursprung gar nicht im Innern. Aggression stammt von außen, aus der Gesellschaft. Aggression wird gelernt. Welche Arten des sozialen Lernens gibt es? Es gibt einmal das Lernen durch eigene Erfahrung. Das wird reguliert durch die unterschiedliche Belohnung oder Bestrafung bestimmter Handlungen. Wenn Kinder für Aggressionen gelobt und belohnt werden, werden sie darin bestärkt. Ihr aggressives Verhalten wird verstärkt. Und es gibt das Lernen durch Nachahmung eines Modells. Das Modell – das Vorbild, wenn Sie so wollen – lehrt neue Verhaltensweisen, und es stärkt oder schwächt bestehende Hemmungen. Wenn das Kind andere bei Akten der Aggression beobachtet, Eltern, Mitschüler, Film- und Fernsehhelden, gehen diese Formen der Aggression potentiell in sein eigenes Verhaltensrepertoire über, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch angewendet werden, ist dann besonders hoch, wenn die beobachteten Aggressionen unbestraft

In den 1960er-Jahren erlangte das Milgram-Experiment, in dem es um Mechanismen blinden Gehorsams ging, Berühmtheit: Probanden sollten – angeblich zu wissenschaftlichen Zwecken – Elektroschocks in immer größerer Stärke verabreichen. Sie gehorchten, obwohl sie die Schreie der »Opfer« hörten und um die Gefährlichkeit der Stromstöße wussten. Das Experiment wurde mehrfach wiederholt, zuletzt 2010 in der wissenschaftlich und medienethisch umstrittenen fiktiven französischen Doku-Show »Le jeu de la mort«. Wiederum war das Ergebnis, dass ca. 70 % bereit waren, den Opfern Schmerzen zuzufügen.

blieben oder sogar gerechtfertigt oder verherrlicht wurden. Im Falle der Aggression spielt das soziale Lernen am Modell die größere Rolle.

Vorsitzender: Soweit maßgebliche Aggressionstheorien. Und nun noch ein Experiment von Zimbardo, das Licht auf dieses Phänomen wirft (der Vorsitzende schildert das Stanfordexperiment*): Zimbardo wollte studieren, was die Sozialpsychologie »Deindividuation« nennt. Deindividuation, so definiert er, ist jener subjektive Zustand und Prozess, bei dem der Einzelne sich von den anderen nicht unterschieden fühlt. In diesem Zustand achtet man weniger auf sich selber und kümmert sich weniger um das, was die anderen von einem denken. Dieser Zustand kann durch Bedingungen herbeigeführt werden, in denen sich der Einzelne anonym und ohne Verantwortung fühlt. Soldaten und Polizisten werden vorsätzlich deindividuiert und anonymisiert: Bei Einsätzen agieren sie gemeinschaftlich, sind uniformiert, stecken in Rüstungen, hinter Schilden, unter Helmen und sind persönlich kaum erkennbar. Sie befinden sich in einer Situation herabgesetzter persönlicher Verantwortlichkeit; die Verantwortung liegt »oben«, bei dem jeweiligen Befehlshaber, und sie entsprechen ja nur der menschlichen Neigung zur Konformität: zu tun, was andere von ihnen erwarten, nicht aufzufallen. In der Kampfsituation sind sie außerdem noch stark erregt und nicht zum Denken aufgelegt. Und auch ihr Gegenüber wird deindividuiert und anonymisiert. Es ist dieser Zustand der Deindividuation, in dem der Mensch seine schlimmsten Brutalitäten verübt. Das wirksamste Mittel zur Verhinderung von Aggressionen wäre somit, Situationen zu verhindern, in denen Menschen ihre Individualität preisgeben.

Podcasts aus dem Genre »True Crime« haben z. T. Millionen von Abonnentinnen und Abonnenten weltweit; in Deutschland sind sie insbesondere seit den 2010er-Jahren zuverlässige Quotenbringer.

98 KAPITEL 4
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WAS IST DAS BÖSE?

Interview von »chrismon« mit Nahlah Saimeh, Direktorin eines Zentrums für Forensische Psychiatrie, wo psychisch kranke oder suchtkranke Täter therapiert werden, und Ingo Dalferth, Theologieprofessor.

Hatten Sie je das Gefühl, dem Bösen zu begegnen?

Saimeh: Ich sitze immer einem Menschen gegenüber. Auch bei einem schweren Gewalttäter, einem Sexualstraftäter gilt: Er ist ein Mensch, ich bin ein Mensch. Da kommen zwei Wesen einer Art zusammen, die sehr viel mehr gemeinsam haben, als sie trennt. Die Straftäter haben ungeheuer zerstörerische Handlungen begangen, die man als moralisch böse verurteilen muss. Aber ich sehe nicht dem Bösen ins Auge.

Ist das Destruktive nicht das Böse? Was ist das Böse?

Saimeh: Für mich ist das, was man philosophisch oder moralisch als das Böse bezeichnen könnte, dasjenige Handeln, das sich gegen das Prinzip des Lebendigen richtet.

Dalferth: Wir denken das Böse meist in der Täterperspektive. Es wäre jedoch besser, es aus der Perspektive der Opfer zu betrachten: Von Bösem kann man überall dort reden, wo jemand so betroffen wird, dass etwas in seinem Leben oder sein Leben überhaupt sinnlos abgebrochen, ruiniert, zerstört wird, ohne dass daraus Anknüpfungspunkte für etwas anderes entstehen. Das Böse geschieht, wo nur kaputt gemacht wird.

Brauchen wir immer einen Schuldigen?

Dalferth: Wir brauchen die Unterscheidung, um Opfern und Tätern gegenüber gerecht zu sein. Sie suggeriert allerdings, es gäbe die einen, die nur Täter sind, und die anderen, die nur Opfer sind. Die eigentlichen Probleme treten jedoch auf, wo die Grenze mitten durch Menschen – und durch mich – hindurchläuft, wo wir beides sind: Täter und Opfer.

Saimeh: Ich kenne viele Täter, die in ihrer eigenen Biografie lange Zeit Opfer gewesen sind. Das rechtfertigt überhaupt nicht deren Taten. Aber für die Täter ist es häufig so, dass sie durch schwere Misshandlung und Vernachlässigung in den ersten zwölf Lebensjahren ausschließlich Opfer waren, bis sie dann zum Täter mutiert sind. Ich kenne einige Fälle, bei denen die beschriebene Grenze mitten durch ihre Person hindurchläuft.

Dalferth: Deshalb ist es immer zu einfach, wenn wir einen Täter als Bösewicht oder Monster bezeichnen, der ganz anders ist als wir. Es ist ein wichtiger Schritt

zu erkennen, dass das Fremde auch auf meiner Seite zu finden ist. Was ich im anderen beschreibe, ist immer auch eine Selbstbeschreibung.

Wie kann man über ein schreckliches Erlebnis wegkommen?

Dalferth: Wenn mir etwas Schreckliches passiert ist oder ich etwas Schreckliches getan habe, kann ich nur dann weitergehen, wenn es mir gelingt, mich davon und von mir selbst zu distanzieren. Ich muss einen anderen Blick auf mich und das Erlebte finden. Sonst verharrt man ratlos davor. Man braucht einen Umweg. Das können neue Erfahrungen mit anderen Menschen sein, eine neue Umgebung, eine Therapie. Als Theologe setze ich hinzu: Wir brauchen den Umweg über Gott. Dann kommen andere nicht nur als Menschen mit bestimmten Tätigkeiten und erfreulichen oder abstoßenden Eigenschaften in den Blick, sondern als Nächste. Ich sehe sie Gott gegenüber in der gleichen Position wie mich selbst.

Ist der schwer gestörte Täter, der gerade einen anderen Menschen heimtückisch ermordet hat, Ihr Nächster?

Saimeh: Selbstverständlich ist er das in einem grundsätzlichen Sinn. Sonst könnte ich nicht tun, was ich tue. Die Medien neigen dazu, Täter zu dämonisieren. Das verstellt den Blick auf die banale Erfahrung, dass stets ein Mensch gehandelt hat. Der Mensch ist zum Bösen fähig.

(Weitere) Anregungen zu einer theologischen Deutung des Bösen finden Sie auf den Seiten 100 – 106.

»ICH SEHE NICHT DEM BÖSEN INS AUGE«

1. Fassen Sie das Interview zusammen und belegen Sie einzelne Aussagen anhand theologischer Einsichten aus früheren Jahrgangsstufen.

2. In den Bereichen Justiz und Strafvollzug stehen immer auch Menschenbilder zur Debatte – erläutern Sie dies ausgehend von dem Interview. Greifen Sie dabei auch auf Gedanken zur Willensfreiheit und Hirnforschung zurück [11]

3. »Die Medien neigen dazu, das Böse zu dämonisieren.« – Diskutieren Sie diese Aussage anhand von Beispielen.

BRUCHSTÜCK MENSCH 99
ist ein Mensch!
Er
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Geöffnete Augen …

DIE URGESCHICHTE

• Gen 1–11 wird als Urgeschichte bezeichnet, um auszudrücken, dass es sich hier nicht um einen historischen Bericht über die Anfänge der Menschheit handelt, sondern um zeitlose, mythologische Erzählungen (aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt), die zu erklären versuchen, wie es um die Welt steht, warum der Mensch ist, wie er ist, und worauf er hoffen darf. Dabei wird ein dramatischer Bogen gespannt von der Erschaffung der Welt und des Menschen über die Vertreibung aus dem Paradies und dem ersten Mord bis zur großen Flutkatastrophe und dem Scheitern des »Prestigeund Machtprojekts Babel«. Von »Sünde« ist dabei (außer in Gen 4,7) nicht explizit die Rede, aber geschildert werden die zunehmende Hybris (»sein wollen wie Gott«, vgl. Gen 3,5) und die Entfremdung des Menschen von Gott, seinen Mitmenschen, sich selbst und der Welt, in der er lebt; diese Entfremdung wird in der späteren Theologie als Sünde gedeutet.

• Manche Theologen sehen die Urgeschichte mit Gen 9 abgeschlossen: Dem Schöpfungsbund Gottes mit den Menschen korrespondiert der Noahbund, in dem Gott verspricht, diese Welt trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten. Mit Gen 12,1–12, der Segensverheißung an Abraham, beginnt die (historische) Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. »DA WURDEN IHRER

BEIDEN AUGEN AUFGETAN…«

1. Beschreiben Sie das Bild und deuten Sie seine Sicht der »Vertreibung aus dem Paradies«!

2. Sammeln Sie Bilder und Assoziationen zu »Adam und Eva«. Lesen Sie dann Gen 2 f. und prüfen Sie, wo Anknüpfungspunkte zu diesen Bildern /Assoziationen zu finden sind.

3. »Das erste göttliche Nein als Kompliment an die Freiheit des Menschen« – »das Drama der Sichtbarkeit« – Scham als »Nein zu sich selbst«: Erläutern Sie diese Schlüsselgedanken R. Safranskis und philosophieren Sie darüber!

DIE GEBURT DES »NEIN«

In Gen 3 werden wir Zeugen der Geburt des Neins, des Geistes der Verneinung. Gottes Verbot war das erste Nein in der Geschichte der Welt. Die Geburt des Neins und die der Freiheit gehören zusammen. Mit dem ersten göttlichen Nein, als Kompliment an die Freiheit des Menschen, tritt etwas verhängnisvoll Neues in die Welt. Denn nun kann auch der Mensch »nein« sagen. Er sagt »nein« zum Verbot, er setzt sich darüber hinweg. Die Folge davon wird sein, dass er nun auch zu sich selbst »nein« sagen kann. Nachdem Adam und Eva vom Baum gegessen haben, heißt es: »Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren; und flochten Feigenblätter und machten sich Schürzen ...« Plötzlich sieht sich der Mensch von außen, er ist nicht mehr in seinem Leib geborgen, er ist sich selbst auffällig geworden. Er sieht sich, er reflektiert und entdeckt nun, dass auch er gesehen wird. Er steht im Freien. Es beginnt das Drama der Sichtbarkeit. Die erste Reaktion: Zurückkehren in die Unsichtbarkeit. »Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter die Bäume im Garten«. Wer vor Scham in den Boden versinken möchte, will nicht nur eine Tat, sondern sich selbst, als ihr Urheber, ungeschehen machen. Er sagt »nein« zu sich selbst. Das ist die erste Spaltung des paradiesischen Selbstseins, das von nun an mit dem Nein infiziert bleibt. Aus Verneinungen werden schließlich Vernichtungen, was die Geschichte von Kain und Abel zeigt. Kains Opfer wurde von Gott zurückgewiesen, ihm gegenüber wurde also »nein« gesagt. Das lastet schwer auf K ain, er sucht Entlastung, indem er das »Nein« auf seinen Bruder abwälzt: Er tötet ihn.

Rüdiger Safranski, Literaturwissenschaftler und Philosoph

100 KAPITEL 4
INFO
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Giovanni di Paolo, Vertreibung aus dem Paradies, 1445

SICH SCHÄMEN

Widerfährt uns die Scham, dann entflammt die sprichwörtliche Schamröte, die Stimme versagt, man wird stumm, senkt den Blick, wird vielleicht anschließend bleich, möchte am liebsten im Boden versinken und unsichtbar werden (»man schämt sich zu Tode«), um den Blicken und Kommentaren der anderen nicht länger ausgesetzt zu sein. Plötzlich ist man in radikaler Weise mit sich selbst konfrontiert, vollständig auf sich zurückgeworfen, fühlt sich nackt, fragt sich, wie es zu dieser Bloßstellung in den Augen der anderen kommen konnte.

Klaas Huizing, Theologe

DAS ANTLITZ DES ANDEREN

Der Andere ist vor mir da und darum wichtiger als ich. Ich sehe, dass er mich ansieht, und er sieht so auch mich. In seinem »Antlitz« zeigt sich eine unendliche Fremdheit, aus der mich »die ganze Menschheit« anblickt und sagt: »Du wirst keinen Mord begehen.« Die »Spur des Unendlichen« im Anblick des Anderen macht diesen für mich unendlich kostbar. Das zwingt mich in eine strikte »Verantwortung« für ihn.

Matthias Schreiber (nach Emmanuel Lévinas*)

WO IST DEIN BRUDER?

1. Lesen Sie Gen 4 sehr genau; achten Sie besonders auch auf die Lücken im Text (»schwarzes Feuer auf weißem Feuer«* [11] ), z. B. indem Sie mit langen Pausen lesen und Fragen bzw. Kommentare hineinsprechen oder auf einer Kopie zwischen die Zeilen schreiben!

2. Der Blick spielt in Gen 4 eine wichtige Rolle; untersuchen Sie dieses Motiv im Text und deuten Sie es mithilfe der Gedanken von E. Lévinas!

3. Beschreiben und deuten Sie das Bild; achten Sie auch hier auf das Motiv des Blicks!

4. Beschreiben Sie möglichst genau die Gefühle der Protagonisten in Gen 4. Deuten Sie anschließend, ausgehend von dem Textausschnitt von K. Huizing, Gen 4 als Scham-Geschichte.

5. Deuten Sie Gen 4 aus der Perspektive der Aggressionstheorien, die Ihnen auf S. 96 – 98 begegnet sind.

… gesenkter Blick
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László Hegedús, Kain und Abel, 1899

Schuld …

DIE SCHULDUNFÄHIGKEIT

Um überhaupt schuldig sein zu können, muss der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung (vgl. §§ 19, 20 StGB) schuldfähig sein. Schuldunfähige bleiben straflos. Möglich ist aber die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt (§§ 63, 64 StGB, § 7 JGG). Schuldunfähig sind:

• Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr (vgl. § 19 StGB)

• Personen, die wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig sind, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. § 20 StGB).

SCHULD UND FREIHEIT

Weil implizit immer auch von Freiheit die Rede ist, wo Schuld thematisiert wird, ist der Schuldbegriff ein theoretisches Gegenmittel gegen die Versuchung, den Menschen auf bloße Natur und sein Bewusstsein auf hirnphysiologische Vorgänge zu reduzieren. Denkt man Schuld oder Sünde, so kann man soziales und moralisches Handeln nicht auf natürliche Phänome reduzieren. Wer reflektiert von Schuld spricht, ist darum weit davon entfernt, das malum morale, d. h. das vom Menschen verursachte Böse, zu verharmlosen. Er realisiert den Abgrund, der sich menschlicher Freiheit auftut. Was Menschen einander antun und sich zuschulden kommen lassen, ist mehr und Bedrohlicheres als natürliche Aggression oder der Impuls, soziale Anerkennung zu erlangen. Versteht man den Menschen als Freiheitswesen, setzt man voraus, dass er nicht gezwungen ist zu tun, was er tut, dass er kein bloßes Opfer der Evolution, der Umwelt oder seines Charakters ist, dass er weder »Sachzwängen« noch einem vermuteten Mainstream noch den Narben einer schweren Kindheit schlichtweg ausgeliefert ist. Als Freiheitsbestimmung kann das malum morale durch seine kausale – psychologische, medizinische, systematische –Herleitung nicht restlos entschuldigt werden. Freiheit ist in ihrer realen Ausprägung von Beginn an eine kontextbezogene Größe.

Plakat der Fastenaktion »Sieben Wochen ohne«* aus dem Jahr 2011

»Das kann jedem mal passieren.

»Das soll er mir büßen.

»Diese Spendenaktion hilft Menschen, die schuldlos in Not geraten sind.

»Man hat immer eine Wahl.

»Ich bin halt auch keine Heilige.

»Kürzlich habe ich einen Radfahrer zu spät gesehen … Zum Glück ist nichts passiert.

»Als privilegierter Europäer habe ich einen zu großen CO2-Fußabdruck. Soll ich mich deswegen ständig schuldig fühlen?

»Kein Wunder, dass sie einen Herzinfarkt bekommen hat.

SCHULDIG? UNSCHULDIG? MITSCHULDIG?

1. »Ich war’s.« – Tauschen Sie sich über entsprechende Situationen aus dem eigenen Leben und der medialen Öffentlichkeit aus.

2. Analysieren Sie das Plakat. Probieren Sie, welche anderen Körperhaltungen zum Satz »Ich war’s« passen könnten.

3. Beschreiben Sie ausgehend von Materialien dieser Seite Situationen, in denen es explizit oder implizit um die Frage geht, ob jemand »Schuld« (an etwas) hat bzw. »schuldig« ist. Sie können auch kleine Dialoge schreiben.

4. Erinnern Sie sich (ggf. mithilfe eines Kurzreferats) an die Kritik am Konzept der »Willensfreiheit« aus der Perspektive der Hirnforschung [11]. Inszenieren Sie ein Streitgespräch zwischen einem Hirnforscher und einer Theologin zur Frage nach Schuld und Freiheit

102 KAPITEL 4
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DIE KUNST DES VERGEBENS

»Nimm Platz – für eine inklusive Gesellschaft« hieß eine Aktion der Diözese Würzburg im Jahr 2011. 94 Stühle wurden von Menschen mit Behinderung, einzeln oder in Gruppen, kunstvoll gestaltet und ausgestellt. Dieser Stuhl trägt als Motto »Der werfe den ersten Stein«.

Aus einem Interview mit der Psychologin Doris Wolf: Warum ist es so wichtig, anderen zu verzeihen?

Wenn wir einem anderen oder uns selbst vergeben, kehrt innerer Frieden ein und wir können wieder in der Gegenwart leben. Nicht zu vergeben ist wie eine unerledigte wichtige Aufgabe, die unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zieht. Unser Körper ist dadurch in einem permanenten Alarmzustand. Durch das Verzeihen erlangen wir eine innere Freiheit.

Obwohl wir selbst darunter leiden, jemandem nicht zu verzeihen, fällt es uns oft schwer, diesen Schritt zu gehen. Woran liegt das?

Beim Vergeben gibt es viele irrationale Einstellungen. Menschen verwechseln z. B. verzeihen mit gutheißen. Verzeihen bedeutet jedoch keinesfalls, dass der andere sich richtig verhalten hat. Es bedeutet auch nicht, dass wir den Vorfall vergessen oder der andere dadurch einen Freibrief erhält. Verzeihen ist auch kein Zeichen von Schwäche. Der andere muss sich auch nicht verdienen, dass wir ihm verzeihen. Wir tun es zunächst einmal unseretwegen.

Trotzdem gibt es Dinge im Leben, die unverzeihlich zu sein scheinen. Wie schaffen wir es dennoch, demjenigen zu vergeben?

Es gibt keinen anerkannten Katalog dafür, was unverzeihlich ist und was nicht. Manche Menschen verzeihen noch nicht einmal, wenn Freunde ihren Geburtstag vergessen haben. Andere hingegen verzeihen schwere Straftaten. Es ist eine innerliche Entscheidung, zu verzeihen. Dabei kann helfen, sich daran zu erinnern, dass Menschen fehlbar sind. Und dass nur so ein weiteres entspanntes Zusammenleben mit diesem bestimmten Menschen möglich ist oder dass wir für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden verzeihen.

DIE ASYMMETRIE DER VERGEBUNG

Es gibt Grundworte der menschlichen Sprache, die man sich nicht selber zusprechen kann. Sie verlieren ihren Ausdrucksgehalt, wenn sie nicht von anderen kommen. Wenn man sich selbst lobt, wie gut man etwas gemacht hat, hat das keinen Sinn und genauso hat es keinen Sinn, sich selbst das Wort »ich vergebe dir« zuzusprechen. Das Wort der Vergebung kann man sich nicht selber sagen, man bleibt darauf angewiesen, dass die oder der andere einen neuen, aus der eigenen Kraft unableitbaren Anfang setzt. Darin wird nun eine tiefe Asymmetrie sichtbar, auf der unser Leben aufgebaut ist. Wir können vieles aus eigener Macht zerstören, das wir nicht aus ebenso freiem Entschluss wieder herstellen können. Im zwischenmenschlichen Bereich gilt nicht die Zuordnung von Schadensfall und Reparatur, sondern die von Schuld und Vergebung. Das wird in unmittelbaren Bezeugungen von Liebe und Freundschaft am deutlichsten, aber es gilt darüber hinaus für alles kommunikative Handeln, auch für den Bereich des Politischen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit im weitesten Sinn. Das erklärt, warum sich Politiker i. d. R. so schwertun, öffentlich ihre »Fehler« einzugestehen. Diese wären ja nicht nur das Eingeständnis einer korrigierbaren Fehlentscheidung, sondern das Bekenntnis zu einer Schuld, für die Vergebung zu erwarten in einer gnadenlosen Öffentlichkeit aussichtslos ist.

Eberhard Schockenhoff

WIEDER GUT?

1. Sammeln und vergleichen Sie mögliche entlastende Antworten auf ein Schuldeingeständnis wie z. B. »Nix passiert«, »Kein Problem«.

2. Was muss passieren, nachdem jemand einem anderen etwas Schlimmes angetan hat, damit es »wieder gut« ist? Diskutieren Sie – ausgehend vom Interview – an Beispielen.

3. Fassen Sie E. Schockenhoffs Überlegungen zusammen und erklären Sie die Überschrift des Textes.

4. »Der werfe den ersten Stein«: Lesen Sie Joh 8,1–11 und analysieren Sie den Text vor dem Hintergrund dieser Doppelseite. Versuchen Sie dann, das Kunstwerk zu deuten.

BRUCHSTÜCK MENSCH 103 … vergeben?
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Verstrickt, zwiegespalten,

NICHT EINFACH REPARIERBAR

Schuld taucht zwischenmenschlich auf und ist hier nicht einfach reparierbar. Sie ist darum nicht einfach ein Fehler. Die Nicht-Reparierbarkeit und die unbedingte Zwischenmenschlichkeit macht uns Angst, schuldig zu werden. Ein Leben mit Schuld, unreparierbar, scheint ein schreckliches Leben zu sein. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass die Erfahrung der Schuldhaftigkeit des einzelnen Menschen ausgewandert ist aus dem theologischen und dem gesellschaftlichen Diskurs. Sie ist ausgewandert in die Psychologie –nicht reparieren, sondern therapieren soll man sie. Und doch wissen wir darum, dass wir persönlich schuldig werden, das wissen wir doch auch in der Perspektive der Verstrickung. Wir wissen um Formen persönlicher Schuld außer der verursachenden schädigenden Tat im Verbrechen, Betrug oder Verrat, von persönlicher Schuld als Trägheit oder Gleichgültigkeit, als Mutlosigkeit und auch als Angst, sich zu widersetzen, als Scheitern in der Verantwortung. Insofern wissen wir, dass sich Schuld und Mitschuld, Tat und MittäterInnenschaft nicht wirklich voneinander trennen lassen. Und sie lassen sich auch nicht abwälzen auf Politiker. Es gibt also mitten im Wissen um die Verstrickung des menschlichen Lebens in Schuldzusammenhänge die Erfahrung von persönli-

fremd geworden

Lernen Sünder zu sein

Die theologische rede von der Macht der sünde benennt präzise und erfahrungsnah die von Menschen hervorgebrachten und am Leben erhaltenen abhängigkeiten, die paradoxerweise gerade aus dem Versuch resultieren, sich dessen vollständig zu bemächtigen, wovon Menschen leben, und damit die Grenzen des Geschöpflichen zu sprengen. Das sündersein des Menschen manifestiert sich in dem Versuch, das Leben aus eigener Macht zu meistern und zu sichern, und dabei eben das zu negieren, was Menschen selbst nicht hervorbringen können. Das wesen der sünde ist die Verleugnung der Geschöpflichkeit.

SÜNDIG?

1. Sammeln Sie Beispiele für die gegenwärtige Verwendung des Begriffs »Sünde«.

2. Nehmen Sie in dem Bild (oben) Platz und beschreiben Sie es aus dieser Perspektive! Deuten Sie es anschließend im Blick auf seinen Titel!

3. Arbeiten Sie aus dem Text sowie der Skizze theologische Deutungen von »Sünde« heraus.

4. Konkretisieren Sie den Gedanken, dass »Sünde« Opfer und Täter erfasst (vgl. S. 99, 100 f., 103, 104) anhand von Beispielen.

cher Schuld – und eben das meint die christliche Wirklichkeitsperspektive, wenn sie von Sünde spricht. Sünde erfasst von daher Opfer und Täter, insofern Leidende und Schädigende miteinander verstrickt sind und Menschen nicht wie Billardkugeln, durch rein mechanische, kausative Bewegungen in Bewegung gesetzt, miteinander leben. In dieser Verstrickung leben alle ihr Leben nicht vollständig authentisch – wir leben im Zwiespalt, sagt Dietrich Bonhoeffer*, in der Entfremdung und in der Zweideutigkeit des Lebens, meint Paul Tillich*. In der Gottesferne eines verkehrten Gottesverhältnisses, sagt die reformatorische Theologie und meint damit das Leben in Sünde schlechthin.

Authentisches Leben wäre ein Leben in der Ganzheit des Schalom, wie es sich in der Schöpfung vor dem Fall in einer ungetrübten Gottesbeziehung leben ließe. Liebe unter den Menschen wäre reine Liebe ohne Missbrauch, Missverständnisse, Ausbeutung. Die mythologische Geschichte vom Sündenfall meint genau dies: dass wir nicht authentisch leben können. Wenn man so will, ist das eine quasi-ontologische* Entschuldigung auch der Täter, denn auch sie leben in der Zerbrochenheit der Entzweiung, in der Sünde.

Gegen die Dominanz des ideals menschlicher selbstvervollkommnung steht das heilsame wissen um das sündersein des Menschen. Die aufgabe besteht geradezu darin, dass christen allererst lernen, sünder zu sein, weil dies eben kein wissen ist, das Menschen von Natur aus haben, und (weil es) auch nicht aus Erfahrungen unmittelbar abgeleitet werden kann. Dieses Lernen, ein sünder zu sein, führt aber gerade nicht zu der selbstverachtung, die die Folge des ständigen scheiterns am ideal der selbstvervollkommnung ist, sondern dazu, das sündersein nicht ernster zu nehmen als Gott es tut. Nicht das eigene Tun und scheitern definiert einen Menschen; es geht vielmehr darum, Gottes Urteil gelten zu lassen. an die stelle der Buchführung über das eigene Tun tritt das Bewusstsein, dass vor Gott kein Mensch gerecht ist, aber eben darum auch der rechtfertigung bedarf. Lernen sünder zu sein, ist ein Erlernen christlicher Freiheit. sie durchbricht die selbsttäuschung, dass Freiheit aus der Verdrängung von schuld und sünde bestehe. Das Bewusstsein von Verfehlungen, das Eingeständnis, hinter den eigenen Plänen und den Erwartungen anderer zurückzubleiben, kann geradezu als eine conditio humana bezeichnet werden. wer lernt, ein sünder zu sein, öffnet sich auf Gott hin, weil von sünde nur vor Gott die rede sein kann.

Ulrike Link-Wieczorek, Theologin

zwischen den menschen des menschen von sich selbst aller menschen vom urgrund des seins sünde = entfremdung

schicksal (ursünde) schuld (aktualsünde)

Paul Tillich beschreibt Sünde als mehrdimensionale Entfremdung, die sich in aktuellen Verfehlungen realisiert. 11

Paul Tillich beschreibt Sünde als mehrdimensionale Entfremdung, die sich in aktuellen Verfehlungen realisiert.

l Wiederholen Sie mithilfe des Schaubilds die theologische Bedeutung von Sünde ! l Nehmen Sie in dem Bild (oben) Platz – in Gedanken

104 KAPITEL 4
entfremdet
Siegfried Zademack, Entfremdung, 2004
11
Siegfried Zademack, Entfremdung, 2004
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Verkrümmt, verknotet, verknäult

MARTIN LUTHER: HOMO INCURVATUS IN SE IPSUM

Der Mensch ist ganz auf sich bezogen (incurvatus) durch die Sünde und hat das rechte Urteil verloren vor Gott und hat alle seine Dinge ganz verkehrt gegen den Willen und das Gesetz Gottes eingerichtet, und das alles, weil er ja nun nicht weiter Gott erkennt noch liebt, er flieht und fürchtet ihn und lässt ihn nicht Gott, d. h. barmherzig und gut sein; er hält ihn für einen Richter und Tyrannen. Aus diesem Verlust der Erkenntnis Gottes werden andere und unermessliche Sünden geboren.

WOLLKNÄUEL MENSCH

Martin Luther hat die anthropologische Grundsituation des Menschen im Anschluss an Augustin als »incurvatus in se ipsum« bezeichnet. Der Mensch als Sünder ist von Haus aus – wie Luther es an einer Stelle sagt –»auf sich selbst verkrümmt«. Dazu kommen einem schnell ein paar Assoziationen. Der Mensch als Sünder verbleibt in einer embryonalen Schlafhaltung. Der Mensch als Sünder ist der, der den aufrechten Gang nicht gelernt hat. Er bleibt sein Leben lang Baby oder ist früh vergreist, eines jedoch nicht: erwachsen. Ich stelle mir vor, der sündige Mensch ist in sich selbst verknäult. Der Mensch hat so sehr mit sich selbst zu tun, dass er sich in sich selbst verheddert und ein verknotetes, unentwirrbares Knäuel wird. Das Wollknäuel Mensch. In sich selbst verknäult hat der Mensch die Fäden nicht in der Hand. Das Wollknäuel ist nicht in der Lage, sich zu verströmen – es behält alles bei sich.

EINGESCHRÄNKTES BLICKFELD

1. Beschreiben und deuten Sie die Kunstwerke auf dieser Seite; beachten Sie dabei auch die angegebenen Titel.

2. Die Textauszüge von M. Luther und D. Kutting reflektieren Erfahrungen von Entfremdung, Zwiespältigkeit und Verstrickung. Beschreiben Sie, was die gewählten Sprachbilder über das Verhältnis des Menschen zu sich, zu Anderen und zu Gott aussagen. Stellen Sie – in Gruppen – den homo incurvatus bzw. das Wollknäuel Mensch nach und überprüfen Sie, inwiefern sich dadurch Ihr Blick auf die Texte noch einmal ändert.

3. Überlegen Sie, ob und gegebenenfalls wie dem »in sich verkrümmten« bzw. »verknäulten« Menschen in Ihren Standbildern geholfen werden könnte! Verallgemeinern Sie Ihre Ergebnisse und beziehen Sie sie auf verschiedene Lebenszusammenhänge!

4. »Das Wollknäuel Mensch ist nicht in der Lage sich zu verströmen…« – Überprüfen Sie anhand eigener Erfahrungen diese Aussage .

5. Die Kunstwerke wurden von den Urhebern nicht mit »Sünde« in Zusammenhang gebracht. Tauschen Sie sich darüber aus, inwiefern sich ein theologischer Sündenbegriff und die Kunstwerke gegenseitig erhellen können.

»One minute sculputure*« nach Erwin Wurm: »Throw yourself away«

BRUCHSTÜCK MENSCH 105
Alex Chinneck: »Birth, death and a midlife crisis«, Installation aus der Ausstellung »Knots« im Kornhaus in Kirchheim Tom Venning, Nuit
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»Schon wieder!

»Ein Teufelskreis

»Ich schaffe es einfach nicht. »Eigentlich weiß ich es besser.

Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz: Mir, der ich das Gute tun will, hängt das Böse an. Denn ich habe Freude an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

Röm 7,19–25 a

ZERRISSENHEIT DES MENSCHEN NACH PAULUS

In Röm 7,14–25a beschreibt Paulus – ein Motiv der antiken Tragödie aufgreifend – in sehr emotionaler Diktion den tiefen Konflikt zwischen Wollen und Tun. Dieser Konflikt enthält seine ganze Schärfe dadurch, dass das »Ich« das »Gesetz«, d. h. Gottes Weisung für ein gutes Leben, genau kennt. An diesem Gesetz scheitern alle guten Vorsätze immer wieder, doch das liegt nicht am Gesetz, sondern daran, dass der Mensch aus seiner Entfremdung von Gott und den Menschen, aus seiner Hybris und Eigenmächtigkeit (»Sünde«) nicht herauskommt – ein Teufelskreis, der nur durch Christus aufgebrochen werden kann (V. 25). Paulus spricht an anderen Stellen (z. B. Röm 8) vom »geistlichen« und vom »fleischlichen« Menschen und meint dabei nicht (im Sinne eines körperfeindlichen Dualismus) »Körper« und »Seele«, sondern die beiden widerstreitenden Seiten im Menschen: der Mensch, der Gott liebt, und der Mensch, der in seinem verkehrten Leben gefangen ist. Hier spielt Paulus wohl einerseits auf seine eigene Biographie an (vgl. Gal 1; Apg 9), andererseits macht er gr undsätzliche Aussagen über den Menschen.

ALLERGY, TEUFELSKREIS

Antoni Tàpies, Petjades sobre fons blanc (Abdrücke auf weißem Grund) copyrightedmaterial

Schnell und schneller drehst Du Dich / Im Kreis der Emotionen / Keiner trägt dafür die Schuld / Du hast Dich selbst betrogen / Viel zu lang im falschen Spiel / Dein Lachen ist erfror’n / Sahst wie der sich’re Sieger aus / Hoch gesetzt und doch verlor’n / Schenk Dir selbst die Freiheit / Gefangen bist Du nicht / Leb ein bess’res Leben / Bevor Dein Wille bricht / Auf zu neuen Ufern / Verlass Dein altes Bild / Und zeichne Dir ein Neues / Das Deine Sehnsucht stillt / Wieviele Runden willst Du noch / Auf alten Bahnen zieh’n / Start und Ziel, sie bleiben gleich / Musst aus dem Teufelskreis entflieh’n / Löse die Umklammerung / Und such nach neuen Wegen / Die Zeit ist längst schon reif dafür / Stemm’ Dich nicht dagegen Schenk Dir selbst die Freiheit …

IM KREIS

1. Sammeln Sie Situationen, die zu den Zitaten (links) passen.

2. Lesen Sie den gesamten Text Röm* 7,7–25a und schreiben Sie schwierige und Ihnen fremde Gedanken heraus; formulieren Sie Fragen.

3. Probieren Sie ein Texttheater* zu Röm 7 oder geben Sie den widerstreitenden Kräften im Menschen eine Stimme!

4. Interpretieren Sie das Bild und beziehen Sie es auf den Bibel- und den Liedtext.

5. Vergleichen Sie die Aussagen des Liedtextes mit denen des Paulus.

6. Lassen Sie sich durch Röm 7 zu einem eigenen Liedtext oder einem Kunstwerk inspirieren.

106 KAPITEL 4
Ausweglos INFO

BEWEGT

1. Untersuchen Sie die Beziehungen (ausgedrückt z. B. in Bewegungen und Linien, in Mimik und Gestik) in M. Slevogts Bild!

2. Stellen Sie das Bild nach und probieren Sie aus, wer sich als Erster bewegen könnte!

3. Assoziieren Sie Lebenssituationen, die zu dieser Situation passen!

4. Lesen Sie die Ihnen bekannte Erzählung Lk 15,11–32 noch einmal genau. Versetzen Sie sich in die unterschiedlichen Beteiligten und vergleichen Sie, wie deren jeweiligen Perspektiven im Text und Bild dargestellt werden. Lesen Sie anschließend den Interpretationsvorschlag und notieren Sie hiervon ausgehend, was das Gleichnis über »den Menschen« und über Gott aussagt.

INTERPRETATIONSVORSCHLAG ZU LK 15,11–32

• In einer Familiengeschichte zeichnet Jesus ein Bild davon, wie es bei Gott zugeht. Dieser Text steht, zusammen mit zwei weiteren Gleichnissen vom »Verlorenen« (Schaf und Münze) nur bei Lukas.

• Der jüngere Sohn hat nicht nur das Geld des Vaters verprasst, sondern den Kontakt zu ihm abgebrochen (vgl. die Vorstellung von Sünde als Entfremdung, S. 104 f.). Kehrt er zurück, weil er »bereut«? Oder ist er einfach nur »kaputt« und weiß nicht mehr weiter?

• Der ältere Sohn macht daheim seine Arbeit, teilt Freud und Leid mit dem Vater. Auch sein Lebenskonzept gerät in dieser Geschichte in die Krise.

• Die Rückkehr des Sohnes ist für den Vater »Auferstehung« (»Er war tot und ist wieder lebendig«.): Ein Wunder, dem nur durch ein großes Fest entsprochen werden kann. Bei so viel Freude bleibt kein Raum zum »Aufrechnen«, zum »Ja, aber« oder zu pädagogischen Erwägungen.

• Dabei droht ihm nun der ältere Sohn verloren zu gehen. Der Vater wirbt bei ihm darum, sich der gemeinsamen Freude nicht zu entziehen.

• Das Verhalten des Vaters spiegelt, was in der Bibel »Gnade« heißt: nicht Willkür, nicht von oben herab gewährte Gunst, sondern Treue, Beziehung, Liebe.

• Nicht nur der Sohn »bewegt sich«, sondern auch der Vater – und vielleicht sogar der Ältere (zumindest sind Krisen ein guter Ausgangspunkt für Bewegung).

Der Vater läuft auf seinen jüngeren Sohn zu – und lässt sich mit dem Älteren auf eine Diskussion ein.

• Menschen werden in diesem Gleichnis als veränderlich angesehen: Sie gehen Wege und Umwege, leben in und aus Beziehungen, können alte Wege verlassen und neue Wege gehen (»Umkehr«).

• Jesu Zuhörer / innen verstanden, dass es hier um den Gott Israels geht, der den Menschen verbunden ist und auf sie zugeht. Von da aus führt eine Spur zu dem, was dann in der christlichen Lehre als Trinität entfaltet wird (vgl. S. 38 f., 54).

• Das Gleichnis enthält Hinweise darauf, dass Jesus zugleich über sich selbst erzählt: über seinen Umgang mit Zöllnern, Sündern, Prostituierten, der ihm von vielen »anständigen« Leuten angekreidet wurde; über seine Gewohnheit, Feste zu feiern als Vorwegnahme des Reiches Gottes.

• Das Gleichnis lädt zur Identifikation ein. Sie wird denen, die sich als Sünder/innen verstehen, leichter fallen als denen, die mit sich rundum zufrieden sind. L etzteren gilt die Einladung, sich einfach mitzufreuen. Zwar sind sie frei, »nein« zu sagen – nur wer würde bei so einem Fest nicht mitfeiern wollen?

BRUCHSTÜCK MENSCH 107 Aufgerichtet
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Max Slevogt, Der verlorene Sohn (Ausschnitt)

OHNE DES GESETZES WERKE, ALLEIN DURCH DEN GLAUBEN

… SONDERN SCHLUG

AN SEINE BRUST UND SPRACH: GOTT SEI MIR SÜNDER GNÄDIG!

SIEHE, DIESER DEIN BRUDER WAR TOT UND IST WIEDER LEBENDIG …

… VERGEBUNG DER SÜNDEN UND DAS EWIGE LEBEN …

… UND VERGIB UNS UNSERE SCHULD …

SOLA GRATIA –SOLA FIDE – SOLO CHRISTO

EIN CHRISTENMENSCH IST EIN FREIER HERR

NUN FREUT EUCH, LIEBEN CHRISTEN G’MEIN …

SIMUL IUSTUS ET PECCATOR

RECHTFERTIGUNG UND GNADE

Es ist wahr, die Sprache, Bilder und Vorstellungen, mit denen die Rechtfertigungslehre das Evangelium formuliert, sind uns oft fremd. Was haben Rechtsgeschäfte mit dem persönlichen Verhältnis zu Gott zu tun? Und setzt uns die »Rechtfertigung des Gottlosen« nicht fortwährend auf die Anklagebank? Viele halten das für typisch protestantisch: Zerknirscht sein, sich kasteien – und lehnen es ab.

Zu Recht, wenn das wirklich die Absicht der Rechtfertigungsbotschaft wäre. Aber: Als er diese Botschaft verstanden hatte, hörte der Mönch Martin Luther gerade damit auf, sich zu kasteien, und pries stattdessen fröhlich die Freiheit eines Christenmenschen vom Gesetz des Gutseinmüssens. Und er folgte damit dem Apostel Paulus: Freiheit, Freude, ein »neues Leben«, weil seit Jesus Christus das Verhältnis zwischen Mensch und Gott nicht mehr von menschlichen Möglichkeiten bestimmt wird, sondern von Gott selbst. Denn Gott schenkt die »Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« (Röm 3,21) jedem Menschen, der sie nur haben will: »aus Gnade«, »im Glauben«. Umgekehrt besagt die Rechtfertigungsbotschaft das Ende jedes Leistungszwanges vor Gott! Die Rechtfertigungsbotschaft beantwortet letztlich die Frage: Wer bin ich? Und der rechtfertigende Glaube besteht darin, die Beantwortung dieser Frage in Gottes Hand zurückzulegen, weil Gott mir selber sagt: Du bist mir recht.

Wollen wir aber vom Prinzip »anzuerkennende Leistung« für uns selbst wirklich und endgültig Abschied nehmen? Können wir das willentlich wollen? Die Reformatoren waren da sehr realistisch. Luther sprach vom »unfreien Willen«, ja behauptete, auch der gerechtfertigte Christ sei in dieser Hinsicht zugleich noch Sünder. – Der Sachverhalt ist im Grunde einfach: Kann man beispielsweise Angst willentlich loswerden? Nein. Kann man sein Wollen nicht wollen? Natürlich nicht. Kann man auf sein Selbstkönnenwollen verzichten und es dann ein für allemal loshaben wollen? Auch das nicht. Jemand anderes als wir selbst müsste uns »ein neues Herz und einen neuen Geist« (Hes 36,26) schenken, das die verkrampfte Selbstwidersprüchlichkeit jenes Selbstseinwollens erkennt und vor sich selbst zugeben kann. Dann kann es sich in Loslassen verwandeln, in Seinlassen, in Sichverlassen auf Gott.

Walter Sparn, Theologe

108 KAPITEL 4
Rechtfertigung …
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DU BIST EIN GOTT, DER MICH SIEHT. Gen 16,13

GESCHENKTES LEBEN – VORGEFUNDENER SINN

Die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die im Zentrum christlich-protestantischer Glaubenslehre steht, formuliert die ethisch-religiöse Lebensposition des Christentums besonders trefflich. Und die Geschichten von und über Jesus zeigen, wie von ihr auf gewinnende Weise erzählt werden kann. Jesus hat vorgemacht, durch sein Auftreten, mit seinen Gleichnisgeschichten, wie eine sinngewisse Lebensansicht und Weltanschauung gewonnen werden kann. Er hat gezeigt, dass die Würde eines Menschen, der Grund dafür, dass er Anerkennung, Wertschätzung und Liebe verdient, nicht in dem besteht, was er hat und was er kann und wie er aussieht, sondern darin, dass er als Gottes Geschöpf und sein Ebenbild da ist. Vom Haben führt die christliche Lebenseinstellung zum Sein, vom Sinn, den einer sich selbst verschafft, zu dem, in dem er sich im Licht göttlicher Anerkennung vorfindet. Du darfst sein, der du bist. Mehr braucht es nicht. Dass der Mensch allein aus Glauben und nicht aufgrund seiner verdienstvollen Werke gerechtfertigt ist, meint diesen Blickwechsel. Ich schaue nicht darauf, was ich alles geleistet und in Szene gesetzt habe bzw. noch tun und in Szene setzen muss, um das Gefühl zu haben, mein Leben lohne sich, habe Sinn, sei ein erfülltes, gelingendes Leben. Ich schaue mich selbst so nicht mehr an und nicht die andern. Der Glaube, der rechtfertigt, ist der Glaube an den Gott im Menschen, in Jesus, in jedem Menschen. Es ist der Glaube an den unendlichen Wert jedes einzelnen, seine unverletzliche Würde. Dieser re-

ligiöse Glaube, der zugleich eine ethische Lebensform ist, führt dazu, dass ich mich selbst anerkannt wissen kann und andre anerkenne, unabhängig von meinem und ihrem Vermögen und meinen Leistungen, der Hautfarbe, des Geschlechts, der nationalen und auch religiösen Zugehörigkeiten. Der Glaube deutet das Leben als unverdientes Geschenk. Wer zu dieser Lebensdeutung findet, der kann unverkrampft zu sich selber stehen und offen auf andere zugehen. Der beste Beleg dafür ist der [ehemalige] Titelsong von Big Brother: »Zeig mir dein Gesicht. Zeig mir wer du wirklich bist.« Er formuliert die existentielle Wahrheit des Glaubens an die Rechtfertigung allein aus Gnade, des Glaubens also an vorbehaltlose Anerkennung – im säkularen* Gewand, ohne die biblische Vorgabe. Dann höre ich: Sei, der du bist. Der Christ kann die biblische Vorgabe hinzufügen und damit Auskunft geben über den transzendenten* Grund der Selbstgewissheit, die in ihm ist. Du bist unbedingt wichtig. Du bist von Grund auf frei. Tue, wozu du jetzt gebraucht wirst.

ANGESEHEN

1. Mit Rechtfertigung haben Sie sich in den vergangenen Jahren immer wieder beschäftigt. Erinnern Sie sich anhand der Satz- und Textfragmente auf S. 108 an bisherige Einsichten und schreiben Sie eine kurze Zusammenfassung!

2. Lesen Sie Röm 3,21–28 und markieren Sie Verständnis- und Zugangsschwierigkeiten!

3. W. Sparn und W. Gräb versuchen, die alten Begriffe und Bilder neu zu übersetzen. Entdecken Sie in ihren Texten die klassischen Topoi der Rechtfertigungslehre (Gesetz, Gnade, Sünde, »allein durch Christus« ...) und prüfen Sie, ob die Aktualisierung Sie überzeugt und heutige Lebenswirklichkeit trifft! Ergänzen oder korrigieren Sie ggf.!

4. Lesen Sie Gen 16,13 im Kontext und diskutieren Sie, ob das Bild (oben) den Titel »Rechtfertigung« tragen könnte.

BRUCHSTÜCK MENSCH 109 … als Blickwechsel
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Kunst des Goldflickens

Kintsugi Dimensionen

Darstellung zu einem Beitrag über »Kintsugi als Metapher für unser Leben« auf einer Homepage mit – durch japanische Philosophie inspirierten – Lebensberatungsangeboten

DIE SCHÖNHEIT DER »GOLDENEN NARBEN«

Der japanische Begriff kintsugi (auch bekannt als kintsukuroi) besteht aus den Wörtern für »Gold« (kin) und »wiedervereinigen, reparieren« (tsugi) und bedeutet »mit Gold reparieren«. Diese Praxis der japanischen Kunst besteht aus der Verwendung eines Edelmetalls (Gold, Silber oder Platin), um beschädigte Keramikgegenstände, vor allem Vasen, zu flicken. Das flüssige Metall wird in die Risse gegossen, sodass diese nicht verdeckt, sondern hervorgehoben werden, was ihnen als Teil der Geschichte des Gefäßes zusteht.

Die Ursprünge von Kintsugi reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Der Legende nach entstand die Technik durch den missglückten Versuch, ein Keramikgefäß zu reparieren: Shogun Ashikaga Yoshimasa soll seine Lieblingsteetasse zur Reparatur nach China geschickt haben. Mit dem Ergebnis war er dann allerdings gar nicht zufrieden, denn die Tasse war mit unansehnlichen Metallligaturen fixiert worden. Yoshimasa gab jedoch nicht auf und vertraute die Tasse einigen japanischen Künstlern an, die die Risse mit Lack und Goldstaub füllten und so das Kintsugi erfanden. Das neue Aussehen seiner Teetasse, die ihm nun wie ein Juwel erschien, stellte Yoshimasa voll und ganz zufrieden und die neue Technik wurde schon bald weit bekannt und geschätzt. Einige Sammler entschieden sich sogar dafür, einige Keramikobjekte absichtlich zu zerbrechen, um sie anschließend in der Kintsugi-Technik reparieren zu lassen.

Daniela Neri, Autorin

AUS: »DIE KUNST ZU KLEBEN«

»Es geht dabei nicht um die möglichst makellose Wiederherstellung von etwas Altem mit dem Kompromiss die Risse unsichtbar zu halten so gut es eben geht

Im Gegenteil

Ein Hoch auf das Unperfekte

Ein Hoch auf die Gebrauchsspuren des Alters

Ein Hoch auf den Weg, der Dich zeichnet

Ein Hoch zum Trotz auf die Schönheit, die war und die Schönheit, die geworden ist auf das Wunder

mitten im ungewollten Unveränderbaren

Hol das Goldpulver raus

Die Geschichte darf erzählt werden jeder Riss zeichnet sich ab jede Lücke hat ihren Platz und der strotzt vor Gold

Es ist sehr offensichtlich dass etwas nicht so ist wie es eigentlich gedacht war aber man hat sich nicht damit begnügt es einfach so zu lassen

verlorene Schönheit verlorene Bestimmung verlorener Wert verlorenes Ganzes als ob!

Man hat sich nicht damit begnügt ist damit nicht stehen geblieben hat versucht, den Blick zu heben

Man hat eins nicht aufgegeben und zwar dass wir am Leben sind

Hol das Goldpulver raus

Wir dürfen großzügig damit sein

JELENA HERDER

110 KAPITEL 4
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Im Zusammenhang

wiedergeben ++ beschreiben ++ wahrnehmen ++ deuten ++ reflektieren ++ urteilen ++ kommunizieren ++ sich ausdrücken

Beziehen Sie den Infotext, das Gedicht und das Meditationsbild zu »Kintsugi« auf wichtige Themen dieses Kapitels wie Phänomene von Perfektionsstreben und Optimierung, auf die Frage nach Identität und Identitätsentwicklung sowie auf die Frage nach dem Umgang mit Scheitern und Schuld.

Vergleichen Sie das abgebildete Gefäß mit dem auf

S. 93 und überlegen Sie, welches zu den Überlegungen von H. Luther besser passt.

Falls Sie Zeit haben: Malen, zeichnen oder gestalten Sie alternativ selbst ein Bild eines schönen Gefäßes mit Rissen und Sprüngen und fotografieren Sie es. Gestalten Sie – ausgehend von ausgewählten Doppelseiten dieses Kapitels – eine Serie zu Ihrem Gefäß, indem Sie ihm z. B. jeweils unterschiedliche Bildtitel geben, das Gefäß einer bestimmten Person oder Figur zuordnen, die Farbe verändern und die Risse und Sprünge jeweils spezifisch (z. B. farblich) bearbeiten, ggf. »füllen« und beschriften.

»Kintsugi« wird häufig auch im Kontext von Lebensphilosophie und -beratung zum Sinnbild: Wenn Sie mögen, können Sie die »Kintsugi-Dimensionen« des Bildes auf sich selbst beziehen und jeweils Aspekte notieren, die Ihnen dazu einfallen

Was haben Sie dazugelernt (vgl. S. 83)?

Was möchten Sie sich merken?

Welche Methoden bzw. Materialien haben Sie besonders angesprochen?

Was wird Sie weiter beschäftigen?

Welche Fragen bleiben offen?

Erläutern Sie ein theologisches Verständnis von Schuld, Sünde und Rechtfertigung sowohl mit Bezug auf das Sprachbild des Stückwerks als auch mit Bezug auf das Sprachbild des Blickfelds. Fertigen Sie hierzu auch Visualisierungen an.

Im Internet finden sich viele christliche Andachten, die sich auf »Kintsugi« beziehen. Gestalten Sie einzelne Elemente einer Andacht zum Thema (Bildimpuls, Gebet bzw. Einleitung einer Stillephase, kurze Bibelmeditation o. Ä.). Recherchieren Sie ggf. anschließend nach fertigen Entwürfen und vergleichen und bewerten Sie.

IM BLICKFELD 111
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Darf einem Politik egal sein?

Wie politisch bin ich?

Wie viel kann man bewirken?

Braucht Gesellschaft Kirche?

Müssen sich Christinnen und Christen engagieren?

Ist Reichtum unmoralisch?

Kann Armut beseitigt werden?

Lernbereich: »Mittendrin?! – Christsein in der Gesellschaft«

KAPITEL 5 112 KAPITEL 5 ?
GETEILTE FREIHEIT
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Alles im Zusammenhang

»Worauf kann ich mich letztlich verlassen?« – »Was ist der Mensch?« – »Wie können Menschen gut zusammenleben und welche Rolle spiele ich als Einzelperson dabei?« – Diese Fragen – in der wissenschaftlichen Theologie als »Gotteslehre«, »Anthropologie« und »(Sozial-)Ethik« bezeichnet –bilden die Grundlagen christlich-theologischen Nachdenkens. Dabei ist keine von der anderen zu trennen: Was bedeutet es z. B. für das Verständnis des Menschen, wenn Gott als Schöpfer geglaubt wird? Was bedeutet es für den Glauben an Gott, wenn der Mensch als fragmentarisch und erlösungsbedürftig gedacht wird? Wie gestaltet sich das Handeln in der Welt, wenn man sich gerechtfertigt und befreit wissen darf? Spüren Sie solche Bezüge in den Buchkapiteln auf und formulieren Sie Zusammenhänge. Sie werden dieses »Denken in Zusammenhängen« auch brauchen, wenn Sie Evangelische Religionslehre als Abiturfach wählen.

140 ALLES IM ZUSAMMENHANG
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ABIWERKSTATT

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ZUR ABIWERKSTATT

Das Operatorentraining soll Ihnen helfen, die unterschiedlichen Aufforderungen in Klausuren und Abituraufgaben (wie nennen, analysieren, erörtern …) richtig zu interpretieren – damit Sie wissen, was genau von Ihnen erwartet wird. Dazu gehört auch, dass Sie jeweils rasch erfassen, auf welchen Anforderungsbereich ein bestimmter Operator zielt.

Zu jedem der Buchkapitel bzw. Lernbereiche des Lehrplans finden Sie »Bausteine« (Kapitel 1 ist dabei in die anderen integriert). Diese Bausteine ermöglichen Ihnen, wichtige Aspekte aus dem entsprechenden Kapitel zu wiederholen und zu bündeln. Sie können (passend zum konkreten Unterricht) modifiziert oder ergänzt werden. Als »Bausteine« stehen sie nicht isoliert für sich, sondern laden zum »Basteln« ein: Sie sind untereinander vielfältig kombinierbar, sowohl innerhalb eines Lernbereichs als auch zwischen den verschiedenen Lernbereichen (vgl. »Alles im Zusammenhang , S. 140). Wichtig ist es, bei Klausur- oder Abituraufgaben rasch zu erkennen, welche Bausteine für die betreffende Aufgabe gebraucht werden. Achten Sie also beispielsweise darauf, ob nach einem biblischen Gottesverständnis gefragt wird (Baustein »Beziehung Gott–Mensch in der Bibel«), oder ob Gott als existenzielle Frage in den Blick gerät (Baustein »Die Frage nach Gott als existentielle Frage«) oder ob allgemein ein christliches Gottesverständnis gefordert ist, was die beiden vorherigen Aspekte sowie den Baustein »Trinität« umfassen würde.

Schließlich finden Sie in der Abiwerkstatt Beispielaufgaben. Jede dieser Beispielaufgaben bezieht sich schwerpunktmäßig auf einen Lernbereich; dabei werden alle in den EPA (Einheitlichen Prüfungsanforderungen) für das Fach Evangelische Religionslehre vorgesehenen Aufgabentypen berücksichtigt. Im Vergleich zum (umfangreicheren) »echten« Abitur, das unterschiedliche Lernbereiche miteinander verbindet, handelt es sich dabei jeweils nur um Teilaufgaben. Manchmal werden Ihnen auch Erweiterungsmöglichkeiten einzelner Beispielaufgaben angeboten.

I Was Sache ist – nicht mehr und nicht weniger: präzise reproduzieren (Operatoren der Anforderungsebene I)

Die präzise Reproduktion von Sachverhalten oder Texten ist Basis jeder Prüfungsleistung. Zwar bringt sie selbst noch keine hohe Zahl an Bewertungseinheiten, doch ist die Kenntnis von Fakten oder die genaue Wiedergabe eines Textes in der Regel die Voraussetzung für das Gelingen weiterer Schritte wie Transfer oder Problemlösung. Hauptfalle bei Reproduktionsfragen ist die Vermischung von Deutung und Wiedergabe. Jegliche Kommentare, Interpretationen oder gar Wertungen sind hier fehl am Platz.

Nennen / benennen: Hier sollen Sachverhalte, Begriffe, Namen o. Ä. nur einfach ohne Erläuterung aufgeführt werden, z. B. Nennen Sie einen Vertreter atheistischer Positionen (im schriftlichen Abitur eher selten, in Klausuren oder mündlichen Prüfungen hingegen denkbar).

Skizzieren: Vorsicht! Hier ist nicht etwa eine Zeichnung gemeint, sondern es soll ein Sachverhalt oder Gedankengang in seinen Grundzügen umrisshaft (mit Worten!) dargestellt werden. Z. B. könnte verlangt werden, ein sozialethisches Problemfeld zu skizzieren, bevor man es mit Hilfe philosophischer oder theologischer Kategorien gründlich bearbeitet.

Darstellen / wiedergeben / zusammenfassen:

a) Stellen Sie die atheistische Position Feuerbachs in ihren Grundzügen dar! bedeutet: Feuerbachs Theorie ist mit eigenen Worten, aber fachsprachlich präzise, ohne jede Deutung oder Wertung zu reproduzieren.

b) Geben Sie die Grundgedanken von Text A wieder (meist mit dem Zusatz: in einer bestimmten Anzahl von Sätzen / Thesen / Aussagen) beinhaltet die Aufgabe, die wichtigen Aussagen des Textes mit eigenen Worten zu formulieren, wobei manche fachsprachlichen Ausdrücke natürlich nicht ersetzt werden können.

c) Fassen Sie Text A in soundsoviel Thesen zusammen kommt dem »Wiedergeben« sehr nahe, betont aber copyrightedmaterial

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Operatorentraining

noch mehr die strukturierte und komprimierte Wiedergabe des gesamten Textes, wobei ggf. auch die Argumentationslogik sichtbar werden sollte.

Da Klausur- und Abiturtexte selbst mehr oder weniger strukturiert sind, je nach Textgattung (vom Gedicht über den feuilletonistischen Essay bis hin zum argumentativ ausgefeilten Sachtext), kann die Aufgabenstellung variieren zwischen einer weniger strukturierten Wiedergabe und einer strukturierten Zusammenfassung.

Falsch ist in jedem Fall das Deuten und Werten, aber auch umgekehrt: das zu nahe Klebenbleiben am Text bis hin zum Abschreiben ganzer Passagen. Die Komplexität einer solchen Aufgabe wird manchmal dadurch erhöht, dass die Darstellung ausgehend von z. B. einem Zitat aus dem Material erfolgen soll.

Aufzeigen / formulieren: Nicht immer kann man einen Text in Thesen zusammenfassen. Manchmal können Aufgaben sinnvoller sein wie: Formulieren Sie das Kernproblem des Textes; zeigen Sie den Argumentationsgang auf o Ä.; hier wird also nicht die Zusammenfassung des gesamten Textes verlangt, sondern die Fokussierung auf bestimmte Ausschnitte / Fragestellungen.

Beschreiben: In der Erweiterten Textaufgabe kann z B. ein Bild oder ein Comic-Auszug zu bearbeiten sein. In diesem Fall muss jeder Interpretation unbedingt die genaue Beschreibung (»Was sehe ich?«) des Bildes vorausgehen: Motiv, Form, Farben, Bildaufteilung etc. Bei der Beschreibung kann helfen, sich jemanden vorzustellen, der / die das Bild gerade nicht sehen kann (z. B. am Telefon). Dabei werden selbstverständlich keine speziellen Kunstkenntnisse verlangt, sondern einfach die Bereitschaft, genau hinzuschauen. Hat man eine Bilderfolge wie in einem Comic, ist es notwendig, sich auf eher übergreifende Zusammenhänge in der Darstellung zu konzentrieren (z. B. die Entwicklung eines Problems, das Verhältnis zwischen zwei Personen), da man unmöglich jedes Bild einzeln beschreiben kann. Hier gibt in der Regel die Aufgabenstellung einen Hinweis, worauf genau der Fokus gelegt werden sollte.

II Was man brauchen kann – Gelerntes mit Sinn und Verstand anwenden

(Operatoren der Anforderungsebene II)

Transferaufgaben bilden den Schwerpunkt jeder Prüfung. Sie beziehen Bekanntes auf Unbekanntes. Hier zeigt sich, ob man das Gelernte verstanden hat, ob man in veränderten Zusammenhängen darauf zugreifen kann – also letztlich: ob man »fürs Leben« gelernt hat! Fallen gibt es auch hier: zum Beispiel das Verharren in der Reproduktion von Auswendiggelerntem. Gefährlich ist auch das Bestreben, einfach »alles aufzuschreiben, was man weiß, irgendetwas wird schon brauchbar sein«; Transfer bedeutet auch, aus dem Gelernten sinnvoll auswählen zu können. Falsch wäre aber auch hier das vorschnelle Urteilen und Bewerten.

Einordnen / zuordnen: Etwas Unbekanntes wird in einen bekannten Zusammenhang eingeordnet. So könnte z. B. verlangt werden, ein unbekanntes Zitat einer (im Unterricht behandelten) philosophischen Position zuzuordnen.

Anwenden: Ein bekannter Sachverhalt oder eine bekannte Methode wird auf etwas Neues bezogen, z. B.: Wenden Sie Luthers Modell der Zwei Regimente auf die Diskussion um Waffenlieferungen in Kriegsgebiete an. Man kann hier entweder Luthers Denkmodell zunächst wiedergeben, um es dann anzuwenden (die einfachere, aber umfänglichere Lösung!) oder gleich Reproduktion und Transfer miteinander verschränken.

Belegen / nachweisen / begründen, z. B.:

a) Weisen Sie nach, dass XY sich in ihrem Text auf ein biblisches Gottesverständnis stützen kann.

b) Belegen Sie XYs Aussagen anhand biblischer Texte. Vorausgesetzt ist bei dieser Fragestellung, dass ein Belegen möglich ist (es ist also nicht nach Widersprüchen gefragt wie beim Operator »prüfen«, Ebene III). Es wird erwartet, dass die Belege nachvollziehbar erläutert und begründet werden; zu (a) würden die wesentlichen Aussagen biblischen Gottesverständnisses erwartet, bei (b) ist die Zahl der Texte (mindestens zwei!) offen.

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Der Operator »begründen« ist zu unterscheiden von »einen begründeten Standpunkt einnehmen« (III). Es geht um das Untermauern einer (unbekannten) Position mit Hilfe von (bekannten) Argumenten. Z. B.: Begründen Sie die in Text A vertretene Position mit Hilfe von Einsichten Martin Luthers.

Erläutern / erklären / entfalten: Hier geht es wie bei »darstellen / wiedergeben« um das Darlegen eines Sachverhalts / einer Position / eines Textes, doch es wird darüber hinaus erwartet, dass aus dem Schatz eigener Fachkenntnisse Erklärungen und Erläuterungen vorgenommen werden. (Wird z. B. nach einer Entfaltung des alttestamentlichen Gottesbildes gefragt, genügt keine Aufzählung von einschlägigen Stellen, sondern muss z. B. näher darauf eingegangen werden, was der Gottesname JHWH bedeutet, was es bedeutet, von Gott als Schöpfer zu sprechen, wie sich der Glaube an einen einzigen Gott entwickelt hat usw.).

Herausarbeiten: Über die bloße Wiedergabe eines Textes hinaus soll z. B. aus einem Text eine theologische oder philosophische Grundposition herausgearbeitet werden (so können z. B. aus einem psychologischen Text zur menschlichen Aggression Aspekte zur Willensfreiheit des Menschen herausgearbeitet werden). Dies ist zudem eine häufige Aufgabenstellung bei Interviews, die sich nicht einfach in Thesen zusammenfassen lassen.

Vergleichen / in Beziehung setzen: Verschiedene Texte oder Positionen werden einander gegenübergestellt. Das Vergleichen bedarf sowohl zweier Größen, die sich tatsächlich vergleichen lassen (nicht »Äpfel mit Birnen vergleichen«!), als auch klarer Kriterien und folgt gewöhnlich der Logik »Gemeinsamkeiten und Unterschiede«. »In Beziehung setzen« ist offener (etwa, wenn ein direkter Vergleich nicht möglich ist) und passt gut, um z. B. ein Bild und einen Text aufeinander zu beziehen.

Analysieren / untersuchen: Ein Text / ein Bild wird nach fachgerechten Methoden unter die Lupe genommen, z. B. kann ein Gleichnis mit Hilfe von textanalytischen Methoden unter Berücksichtigung einer historisch-kritischen Perspektive analysiert / unter-

sucht werden (Kontext, Struktur, Bild- und Sachebene, Sprache, Einordnung in die Botschaft Jesu).

III Was fraglich ist – überlegt urteilen (Operatoren der Anforderungsebene III)

»In Sachen Religion« Position zu beziehen ist eine anspruchsvolle Aufgabe – es verlangt begründetes, differenziertes Urteilen auf der Basis von Fachkenntnissen, dazu die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Daraus ergeben sich auch die häufigsten »Fallen« bei der Lösung von Aufgaben in diesem Bereich: etwa wenn man alle Fachkenntnisse oder gar alles in derselben Aufgabe zuvor Erarbeitete hinter sich lässt und mit einem schlichten »Ich finde / ich meine / ich bin dagegen« auftrumpft. Tabu ist auch das beliebte »Das muss jeder selbst entscheiden«. Denn gerade das ist ja gefragt: die Argumente bereitzustellen, damit dann auch jede/r selbst entscheiden kann!

Über das Urteilen hinaus geht es in diesem Anforderungsbereich außerdem um das lebensweltliche Verorten des im Religionsunterricht Gelernten, um das Bedenken von Konsequenzen, um das Umsetzen in unterschiedliche Sprachformen – also um »Mündigkeit« auch im Bereich der Religion.

Sich auseinandersetzen mit / beurteilen / bewerten / Stellung nehmen / einen begründeten Standpunkt einnehmen / erörtern: Alle diese Operatoren verlangen in verschiedener Akzentuierung, dass man sich mit einem theologischen oder ethischen Problem vertieft und differenziert argumentativ auseinandersetzen soll. Je nach Aufgabenstellung wird eher eine Positionierung verlangt (Stellung nehmen, beurteilen) oder ein Abwägen beider Seiten (sich auseinandersetzen mit, erörtern). Das Bedenken und Würdigen möglicher Gegenpositionen ist jedoch grundsätzlich immer notwendig, auch wenn es je nach Operator mehr oder weniger explizit geschieht. Die gründlichste Auseinandersetzung, die auch die Reflexion der Themenstellung, gg f. Begriffsklärungen und das sorgfältige Sondieren unterschiedlicher Meinungen beinhaltet, ist dabei mit

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dem Operator »erörtern« verbunden, auch wenn eine Erörterung im Fach Religion nicht mit den Maßstäben des Faches Deutsch gemessen werden kann (Umfang, Aufbau etc.).

Stellung nehmen aus der Sicht von: Hier ist dezidiert keine eigene Stellungnahme verlangt, sondern es soll die Perspektive einer (bekannten) Position eingenommen werden. So könnte man z. B. einen christlichtheologischen Text einmal aus der Perspektive von Feuerbachs Projektionstheorie ansehen: Man wird Gemeinsamkeiten und Widersprüche entdecken, ggf. wird man sehen, dass Begriffe unterschiedlich gebraucht werden, Fragestellungen aneinander vorbeigehen etc. – dies alles wäre differenziert darzustellen.

Prüfen / überprüfen: Wenn z. B. zu überprüfen ist, ob das in einem Text enthaltene Menschenbild biblischer Anthropologie entspricht, so wird man zunächst versuchen, Grundaussagen biblischer Anthropologie im Text wiederzufinden. Anders als beim Operator »belegen« (vgl. II) legt die Fragestellung jedoch nahe, dass dies nicht bruchlos möglich ist. Möglicherweise fehlen wichtige biblische Einsichten oder es gibt sogar Widersprüche zum biblischen Menschenbild, was begründet dargelegt werden müsste.

Konsequenzen aufzeigen / Perspektiven entwickeln: Z. B: Entwickeln Sie aus der Zwei-Regimenten-Lehre Perspektiven für das Engagement von Christinnen und Christen in der demokratischen Gesellschaft. Vorausgesetzt wird die Kenntnis von Luthers Denkmodell der »zwei Regimente«. In der Folge kann es aber nicht einfach um einfache Umsetzung des Lutherschen Modells gehen, sondern es müsste erörtert werden, welche Konsequenzen sich aus der veränderten Gesellschaftsordnung (Demokratie) ergeben, welche Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der / die Einzelne hat usw.

Interpretieren: Über die Analyse hinaus (vgl. II) geht es hier um eine vertiefte, begründete Gesamtdeutung eines Textes, besonders auch eines biblischen oder literarischen Textes oder eines Bildes.

Gestalten: Die Gestaltungsaufgabe nimmt die lebensweltliche Situation einer Äußerung und deren

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Sprachform in den Blick. Während bei den bisher zitierten Aufgabenstellungen gewöhnlich nicht klar ist, für wen man eigentlich schreibt (außer natürlich für die Lehrkraft!), werden hier Situationen vorgegeben, z. B.: Verfassen Sie einen Flyer, einen Leserbrief, Beitrag eines Audioguides usw.; dies bedeutet nicht, dass nun brillante Schreibfähigkeiten vonnöten wären. Verlangt ist jedoch, dass die Darstellung sich auf die (fiktiven) Adressaten und Adressatinnen bezieht und der Situation gerecht wird.

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Bausteine Kapitel 2 (Lernbereich 12.1)

Sinnfragen

• Alltagssituationen, in denen wir Sinn voraussetzen

• Unterschiedliche Antworten auf die Frage nach Sinn

• Sinnangebote in der gegenwärtigen Gesellschaft

• Die religiöse Dimension der Sinnsuche – Sinn ist immer »mehr«.

Die Frage nach Gott als existentielle Frage

• Martin Luther: »Worauf du dein Herz hängst […], das ist […] dein Gott.«

• Friedrich Schleiermacher: Religion als Gefühl »schlechthinniger Abhängigkeit«

• Paul Tillich: Gott als »Name für das, was den Menschen unbedingt angeht«.

• Das befreiende Potential eines solchen Gottesverständnisses

Beziehung Gott–Mensch in der Bibel

• Gott als Schöpfer (Gen 1 f.), Geist

• Die Namen und der Name Gottes: JHWH (Unverfügbarkeit und Ansprechbarkeit)

• Gott als geschichtsmächtiger Befreier (Exodus)

• Gott als der ganz Andere (Elia am Horeb)

• Gott, der als Mensch den Menschen nahe gekommen ist (Inkarnation)

• Gott, der in Jesus Christus Leid auf sich nimmt (Passion)

• Gott als Sieger über den Tod (Auferstehung)

Theodizee

Frage nach der Rechtfertigung eines allmächtigen, liebenden und gerechten Gottes angesichts des Bösen und des Übels in der Welt

Beiträge zur Theodizeefrage:

• G.W. Leibniz: Die Welt als die beste aller (möglichen) Welten

• Hiob: Klage/Anklage Gottes –Prozessforderung, Antwort aus dem »Wettersturm«

• Theologie nach Auschwitz: Klage und Protest; H. Jonas: Auschwitz als Scheitern des machtlosen Gottes, aber auch als Bewährung der Gerechten

Allmacht und Liebe Gottes? Theologische Ansätze zur Theodizeefrage

• Martin Luther: Gott zeigt sich »verborgen unter seinem Gegenteil«, in der Krippe und am Kreuz.

• Kreuzestheologie statt Theologie der Herrlichkeit

• Dorothee Sölle: drei Phasen ihres theologischen Denkens: (1) Orientierung an Liebe statt an Macht und Gewalt in der Nachfolge Jesu, (2) Gott als Mitleidender, nicht Leidverhänger, (3) Auferstehung als Partizipation an Gottes Lebensmacht

Trinität

• Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist

• Zu finden in neutestamentlichen und liturgischen Formeln; als Grundstruktur des Glaubensbekenntnisses

• Als Dogma* festgelegt in den altkirchlichen Konzilien*

• Mögliche Deutungen: Gott als »gesellige Gottheit« (K. Marti), als Liebe, die nicht bei sich bleibt, sondern auf andere zugeht, als Bewegung

• Trinität im Gespräch mit Judentum und Islam: Ablehnung und Berührungspunkte

Atheismus / Religionskritik

• Ludwig Feuerbach: Gott als Projektion des (unvollkommenen) Menschen; Forderung, sich von der Projektion zu befreien und selbst (als Gattung) frei und mächtig zu werden

• (ggf.) Karl Marx: Religion als »Opium des Volkes«, das sich auf ein besseres Jenseits vertrösten lässt, anstatt für eine gerechte Welt zu kämpfen

• Christliche Perspektive auf Religionskritik: (Selbst)kritische Rezeption religionskritischer Argumente seitens der evangelischen Theologie (z. B. D. Bonhoeffer).

Verbindungen zu anderen Kapiteln

• Der Mensch als Geschöpf Gottes und sein Ebenbild (3)

• Leben im Spannungsfeld zwischen begrenzter Erkenntnis und der Hoffnung, einst Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen (1 Kor 13) (1)

• Gott nimmt den Menschen ohne Vorleistung aus Liebe und Gnade an (Rechtfertigung). (4)

• Gesellschaftliches Handeln in Verantwortung vor Gott; Gott als Relativierung aller menschlichen Macht (5)

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M 2

GISELA MATTHIAE, CLOWNIN GOTT

Gisela Matthiae ist Theologin und Clownin. Sie tritt selbst als Clownin auf und bildet Clowns aus.

Clowns waren und sind Störenfriede, die sich nicht an Regeln oder Ordnungen halten, sondern flink mit ihrem feinen Gespür aufgeblähte Autoritäten entlarven und Machtspiele durchschauen – meist zur Erheiterung des Publikums, das sich wie in einem Spiegel mal mit der einen, mal mit der anderen Seite identifizieren kann. Sie tun das nicht aus Boshaftigkeit, vielmehr mit einer kindlichen Naivität, die noch nicht eingefangen ist in das Spiel der herrschenden Diskurse.

Auf die Art gelingt es ihnen, all das zu benennen und

zur Darstellung zu bringen, was üblicherweise ausgeblendet wird: Peinlichkeiten, menschliches und körperliches Ungenügen, Scheitern, ein niedriger sozialer Status, Ausgegrenztes und Verspottetes. Das Clownsspiel holt es zurück in die Mitte, das Ausgegrenzte und Entnannte, und stellt es so neu zur Verfügung. Es zeigt also nicht nur, wie die Machtverteilung funktioniert, es hebt sie auch auf und eröffnet so neue Möglichkeiten, sich selbst und die anderen wahrzunehmen – und all das auf humorvolle Art, die uns zum Lachen über das bringt, was uns so normal und richtig erscheint. Die biblischen Geschichten zeugen von den Erfahrungen der Menschen mit Gott. Doch entgegen unserer landläufigen Meinung, Gott erscheine immer als der allgewaltige, herrschende und mächtige Alleskönner, begegnet Gott in dem Menschen Jesus, der verkannt, verfolgt und verspottet wird und schließlich am Kreuz endet. Und Gott begegnet in seiner Geistkraft, die Leben und Atem schenkt und wie der Wind oder der Sturm alles durcheinanderwirbelt und für Verwirrung sorgt. Die biblischen Erzählungen lassen mehr Fragen offen, als sie beantworten, aber gerade so bringen sie uns zum Nach- und Umdenken.

Auch sie brechen mit der »herrschenden Ordnung der Diskurse« und fordern heraus, das Kleine, Unscheinbare, Unbedeutende wahrzunehmen und sich gerade daran ein Beispiel zu nehmen. Nicht selten erscheint das absurd und komisch, wie auch der Glaube selbst absurd ist, der an Verheißungen einer gerechten und friedvollen Welt festhält, obwohl die Realität dem völlig entgegensteht. Gott erweist sich mit diesen Erfahrungen als irritierende und erheiternde Kraft, die gerade so neue Erfahrungen und Erkenntnisse und heilsames Leben schafft, uns unabsehbar und unverfügbar aus der Ordnung holt und neue Lebensmöglichkeiten erschließt.

Aufgaben und Erläuterungen S. 148 f.

Beispielaufgabe zu Kapitel 2 ABIWERKSTATT 147
5 10 15 20 25 30 35 40 45 ERWEITERTE TEXTAUFGABE
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Roland Peter Litzenburger, Christus, der Narr –König der Juden (1973)
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Beispielaufgabe zu Kapitel

AUFGABEN UND ERLÄUTERUNGEN

AUFGABE 1

Fassen Sie den Text von G. Matthiae in vier Sätzen zusammen.

Zu empfehlen sind folgende Arbeitsschritte:

• Arbeiten Sie mit einer Kopie. Grenzen Sie vier Sinnabschnitte ab. Oft, aber nicht immer, helfen die Absätze im Text.

• Dann unterstreichen Sie, wie aus dem Deutschunterricht bekannt, die Kernaussagen jedes Sinnabschnittes und fassen sie in vier knappen, verständlichen Sätzen zusammen. Schreiben sie dabei nicht den Text ab; Ihr Ergebnis wird danach bewertet, ob der Inhalt des Textes a) richtig, b) in all seinen wichtigen Aussagen vollständig, c) komprimiert (Anzahl der Sätze / Thesen nicht überschreiten!) und d) in eigenständiger Sprache wiedergegeben wurde, wobei Fachbegriffe beibehalten werden können.

• Vergleichen und bewerten Sie zum Beispiel die folgenden drei Zusammenfassungen der Zeilen 10 – 21:

– Das Clownsspiel holt das Ausgegrenzte in die Mitte und eröffnet so neue Möglichkeiten, sich selbst und die anderen wahrzunehmen.

– Clowns machen sich über menschliche Schwächen lustig.

– Indem Clowns den Blick in humorvoller Weise auf das Ausgegrenzte lenken, stellen sie die herrschenden Machtverhältnisse auf den Kopf und ermöglichen so neue Perspektiven.

AUFGABE 2

Beschreiben Sie das Bild von R. P. Litzenburger und beziehen Sie es auf den Text von G. Matthiae.

• Zunächst sollen Sie das Bild einfach nur beschreiben, noch nicht deuten. D. h. Sie dürfen sich nicht vom Bildtitel verleiten lassen, das Bild vorschnell auf Jesus Christus zu beziehen. Stattdessen sollten Sie Bildaufbau und Farben beschreiben, z. B.:

– das Gesicht im Bildzentrum in Schwarz-Weiß mit roter Nase und rotem Mund

– die Zacken oben wie die einer gelb und grün gehaltenen Krone

– die Bildränder: rechts überwiegend Blau, links überwiegend ein Dunkelgrau, das mit den Schatten des Gesichts verschwimmt

– das purpurrote Gewand, das die Figur über der (etwas hochgezogenen) Schulter trägt und dessen Farbe sich in den roten Lippen wiederholt

– die Augen, die mit einem Schimmer türkis zart konturiert sind

– Auffällig ist, wie sehr die (stark kontrastierenden) Farben ineinanderfließen.

• Den Schlüssel zur Deutung gibt der Bildtitel: Der »Narr« wird mit Jesus Christus identifiziert; die Bezeichnung »König der Juden« stammt aus der Passionsgeschichte und erinnert an die Verspottung durch die Soldaten sowie die Aufschrift auf dem Kreuz.

• Wenn Sie Bezüge zum Text herstellen, können Sie sowohl vom Text als auch vom Bild ausgehen oder auch nach einzelnen Aspekten gliedern, wie im Folgenden vorgeschlagen:

– Indem das Bild Jesus in ungewöhnlicher Weise darstellt, hebt es gewohnte Ordnungen auf (Zeile 1 – 4; 34 f.) und lädt zu neuem Blickwinkel ein (Zeile 18 f.)

– Die Darstellung Jesu als Narr weist hin auf sein Leben und seine Botschaft, vor allem auf seine Passion (Zeile 25 – 27). Sein Leiden spiegelt sich in dem traurigen Gesichtsausdruck wider (die fließenden Farben erinnern an Tränen).

– Als Gottesbild interpretiert, zeigt das Bild einen Gott, der sich in der Schwäche und im Leiden offenbart, nicht in Macht und Stärke (Zeile 22 ff.). Darauf weisen die starken Kontraste hin (die Krone –das traurige Gesicht; die starken Farben – das Schwarz).

– Doch spricht G. Matthiae auch von der lebensspendenden »Geistkraft« Gottes (Zeile 28); man könnte sie in den starken Farben des Bildes entdecken.

– Insgesamt ein Bild, das in seiner Absurdität dem Wesen des Glaubens entspricht und zu neuen Sichtweisen einlädt (Zeile 37 – 45).

AUFGABE 3:

Erörtern Sie unter Einbezug eines theologischen Ansatzes, ob es angemessen ist, Jesus als Clown darzustellen.

• Der Operator »erörtern« verlangt eine differenzierte Würdigung unterschiedlicher Positionen, unabhängig von Ihrer persönlichen Meinung.

• Sie sollten also einerseits die Gründe für eine eventuelle Ablehnung des Bildes nachvollziehen, z. B.: Ver-

2
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letzung religiöser Gefühle, Lächerlichmachen Jesu –vor allem dann, wenn der »Narr« bzw. »Clown« in herkömmlicher Weise als nicht ernstzunehmende Figur bewertet wird.

• Andererseits stellt das Bild sehr präzise die von G. Matthiae aufgeführten Aspekte (Umkehrung herrschender Werte durch Jesus, Offenbarung Gottes in Leiden und Schwachheit) dar. Je nachdem, was Sie im Unterricht behandelt haben, können Sie hier nun eine theologische Position anführen, wie z. B. Martin Luthers Konzept der Kreuzestheologie oder Dorothee Sölles Gedanken zu Allmacht und Liebe. Sie könnten auch auf die Trinitätslehre eingehen (Menschwerdung Gottes; Gott als Geist).

• Der Schluss Ihrer Erörterung sollte nicht hinter das zuvor Erörterte zurückfallen, sondern ein ausgewogenes Urteil, vielleicht auch eine weiterführende Lösung oder eine offene Problemstellung formulieren.

Bewerten Sie dazu die folgenden Beispiele:

– Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich es geschmacklos finde, Jesus als Clown darzustellen.

– Wie man dieses Bild bewertet, kann nur jeder und jede für sich selbst entscheiden.

– Es handelt sich um ein theologisch präzises Bild, das aber Gefühle verletzen kann, daher muss man die Situation, in der man dieses Bild verwendet, berücksichtigen.

MÖGLICHE ERWEITERUNG:

Im Abitur gibt es in der Regel lernbereichsübergreifende Aufgaben, das könnte hier z. B. sein:

Gisela Matthaei schreibt an anderer Stelle: »Clowneske Identität ist eine fragmentarische Identität, die diese nicht als Mangel, sondern als produktiven Ausgangspunkt ständiger Erneuerung ansieht«. Entwickeln Sie unter Einbezug dieses Zitats aus M 2 Konsequenzen für ein christliches Menschenbild.

Hier könnten Sie Einsichten aus Kapitel 4 heranziehen (Fragmentarität statt Perfektion; christlicher Gedanke der Sünde; Rechtfertigung und »Freiheit eines Christenmenschen«).

Beispielaufgabe zu Kapitel 2
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Bausteine Kapitel 3 (Lernbereich 12.3)

Eigene Erfahrungen mit Aktivität, Kreativität und Leistung

• Aktivität, Leistung und Kreativität als Grundbedürfnisse des Menschen

• Passivität und Ruhe als nötige Gegenspieler zum Tätigsein

• Eigene Sichtweisen auf Beruf und berufliche Orientierung

• Leistungsdruck, Leistungszwang und Leistungsbereitschaft

Was ist der Mensch? – Überlegungen u. a. aus der philosophischen Anthropologie

• Der Mensch in Abgrenzung zu Maschinen und zu Tieren (z. B. Kommunikationsfähigkeit)

• Unmöglichkeit, den Menschen aus einer Außenperspektive zu bestimmen (M. Gabriel)

• Die exzentrische Positionalität des Menschen und Menschsein als Aufgabe (H. Plessner)

• Mensch als Mängelwesen, der seine unfertige biologische Ausstattung kompensieren muss (A. Gehlen)

Biblisch­christliches Menschenbild (1): Kreativität und Passivität

• Deutung des Herrschaftsauftrags (Gen 1,28): Auftrag zur (kreativen) Weltgestaltung und Verantwortung des Menschen für die Welt

• Der Sabbatgedanke (Gen 2,1f.; Ex 20,8–10): Unterbrechung von Weltgestaltung; Abstandnehmen zum eigenen Leben und Tätigsein; Erinnerung an Befreiung von der ägyptischen Sklaverei

Christliche Perspektiven in der sich wandelnden Arbeitswelt

• Frage nach dem Verhältnis von Freizeit und Arbeit in digitalen Kontexten

• Sabbatruhe und der Wert der Unterbrechung von Arbeit; ggf. dazu auch Gedanken zu Leistung und Freiheit (M. Luther)

• Frage nach einer gerechten Verteilung von Arbeit

• Impulse ausgehend von M. Luthers Berufsverständnis und der Wertschätzung jeglicher Form von Arbeit

Verständnisweisen von Arbeit und Beruf

• Objektivierung von Menschen in der Berufswelt

• Entfremdete Arbeit (K. Marx)

• Beruf als Berufung; Dienst am Nächsten; Würdigung aller Berufe (M. Luther)

Biblisch­christliches Menschenbild (2): Geschöpflichkeit und Ebenbild

Vgl. dazu auch M. Luthers Auslegung des 1. Glaubensartikels:

• Leben als Geschenk

• Mensch ist nicht Produkt seiner selbst

• Gefühl der Dankbarkeit (auch in seiner Ambivalenz) mit Blick auf das eigene geschenkte Leben

• Angewiesenheit und Bedürftigkeit als Grundmerkmale menschlicher Existenz

• Mensch ist nicht abschließend definierbar

• Würde des Menschen als unverdientes Geschenk

• Ebenbildlichkeit: als Auftrag zur Weltverantwortung

• Geschöpf unter Mitgeschöpfen, Ebenbild unter Ebenbildern – keine Höherstellung Einzelner

Biblisch­christliches Menschenbild (3): Leistung und Freiheit

• Freiheit von und für: reformatorischer Gedanke der »Freiheit eines Christenmenschen«

• Freiheit davon, sich über Leistung zu definieren; Freiheit zum Dienst am Nächsten

Verbindungen zu anderen Kapiteln

• Sozialethische Fragestellungen und die politische Verantwortung des Menschen (5)

• Gefühl der (schlechthinnigen) Abhängigkeit und Gott als Schöpfer des Menschen (2)

• Problematisches Wesen des Menschen (4)

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Beispielaufgabe zu Kapitel 3

M 1

Die Bundesagentur für Arbeit gibt das Magazin »abi« jährlich heraus. Es soll Jugendliche bei der Berufs- und Studienorientierung in der Schule unterstützen.

M 2

Auszug aus dem Leitbild des Evangelischen Studienwerks Villigst

Das Evangelische Studienwerk ist ein Begabtenförderungswerk beim Bundesministerium für Bildung und Forschung und gilt als eingetragener, gemeinnütziger Verein. Dieser vergibt unter anderem Stipendien für Studierende unterschiedlicher Fachrichtung mit besonderer Begabung. Folgender Textauszug stammt aus dem online veröffentlichten Leitbild des Studienwerks, in dem sich das Studienwerk vorstellt und in dem die Zielgruppe der Stipendiatinnen und Stipendiaten definiert wird:

Das Evangelische Studienwerk Villigst nimmt christliche Weltverantwortung im Bereich der Begabtenförderung wahr. Dabei geht das Evangelische Studienwerk davon aus, dass Begabung mit besonderen intellektuellen und kreativen Kompetenzen dazu verpflichtet, diese sozial, zukunftsorientiert und in offenen gemeinschaftlichen Bezügen einzusetzen. Unsere komplexe und widerspruchsreiche Gesellschaft braucht engagierte Intellektuelle und Entscheidungsträger, die fachliches, fachübergreifendes und politisches Urteilsvermögen verbinden. Individuelle Bildung und die Bereitschaft, sich mit den modernen gesellschaftlichen Fragestellungen und Wissensentwicklungen ethisch reflektiert auseinander zu setzen, sind dafür eine unverzichtbare Voraussetzung. Das Evangelische Studienwerk fördert junge Menschen, die bereit sind, sich im Geist protestantischer Tradition diesen Zukunftsherausforderungen auf allen gesellschaftlichen Gebieten zu stellen.

M 3

Auszug aus der Gründungserklärung des Evangelischen Studienwerks aus dem Jahr 1949

Evangelischer Glaube beschränkt sich darum nicht auf die Pflege frommer Innerlichkeit, sondern bewährt sich darin, dass er seine erneuernde und gestaltende Kraft im Staat, in der Wirtschaft, im Rechtsleben wie in der Wissenschaft und in der Kunst wirksam werden lässt. Die Kirche ist verpflichtet, ihre Glieder zu solchem verantwortlichen Dienst in der Welt aufzurufen und zuzurüsten. Sie hat sich insbesondere dafür einzusetzen, dass der jugendliche Nachwuchs eine Ausbildung erfährt, die ihn befähigt, die verliehenen Gaben und Kräfte am rechten Ort und in der rechten Weise zu betätigen.

Aufgaben und Erläuterungen S. 152 f.

GESTALTUNGSAUFGABE
5 10 15 5 10 ABIWERKSTATT 151 copyrightedmaterial

AUFGABEN UND ERLÄUTERUNGEN

AUFGABE 1

Analysieren Sie das Cover des Magazins »abi« mit Blick auf das darin vermittelte Menschenbild und die Auffassung von Beruf und Arbeit. Zu empfehlen sind folgende Arbeitsschritte:

• Bei der Analyse eines Covers ist zu beachten, dass Sie nicht nur die Bildebene, sondern auch die Textebene einbeziehen müssen. Auch wenn Ihnen ein (Werbe-) plakat präsentiert werden würde, wäre die Analyse unvollständig, wenn sie beispielsweise nur die bildliche Ausgestaltung in den Blick nähmen. Beziehen Sie in die ausführliche Beschreibung des Covers beide Ebenen mit ein.

• Für die schriftliche Präsentation genügt es allerdings nicht, wenn lediglich beschrieben wird. Die Aufgabenstellung fordert dazu auf, die Bild- und Textebene vor allem mit Blick auf das vermittelte Menschenbild und die Auffassung von Beruf und Arbeit auszuwerten. Auf eine genaue Beschreibung des Covers folgt der Kern der Aufgabenstellung, die Auswertung des Beschriebenen. Wählen Sie zwei bis drei Oberbegriffe, die Ihre Erkenntnisse zum vermittelten Menschenbild bzw. zum Verständnis von Beruf und Arbeit bündeln. Und entfalten Sie von diesen Oberbegriffen ausgehend Ihre Überlegungen. Hierbei können Sie auf Ihre Beschreibungen zurückgreifen, ohne sie noch einmal ausführlich wiederholen zu müssen. Folgende Formulierungen können für Rückbezüge in Analysen hilfreich sein:

Dieses Verständnis wird vor allem durch die Bildebene transportiert … / Besonders die Stilebene der Überschriften legt nahe, dass … / Die Headline sowie die Unterüberschriften stehen im Kontrast zueinander … ergänzen sich und vermitteln den Eindruck, dass …

AUFGABE 2

Fassen Sie die Texte des Studienwerks Villigst (M 2 und M 3) in zwei bis drei Thesen zusammen und arbeiten Sie Grundzüge eines christlichen Menschenbildes heraus.

• Die Vorgehensweise zum Zusammenfassen von Texten finden Sie in der Abituraufgabe zu Kapitel 2, Aufgabe 1 auf S. 148.

• Bewerten Sie zur Übung folgende drei Thesen und

schreiben Sie sich anschließend eine Merkliste für gelungene Thesen:

– Aus der intellektuellen und kreativen Begabung von Menschen resultiert aus Sicht des Studienwerks eine Pflicht, sich für eine offene, soziale und nachhaltige Gesellschaft einzusetzen.

– Für den Einsatz in einer komplexen Gesellschaft braucht es die individuelle Kompetenz, sich reflektiert mit der Welt auseinanderzusetzen, sowie die fachliche Vernetzung durch das Studienwerk.

– Das kirchliche Studienwerk sieht seine Aufgabe darin, Glaube nicht nur als inneres Geschehen zu vermitteln, sondern als Auftrag für verantwortungsvolles Handeln in der Welt, wozu junge Menschen gebildet und ausgebildet werden müssen.

• Vergegenwärtigen Sie sich, was mit dem Operator »herausarbeiten« (Anforderungsbereich II) gemeint ist: Sie können Ihr Wissen zu den Grundzügen eines christlichen Menschenbildes, wie in den Bausteinen »Biblisch-christliches Menschenbild (1) und (2)« angedeutet, gut gebrauchen. Sie sollen es allerdings nicht ohne Kontext wiedergeben, sondern in den Texten des Studienwerks wiederentdecken. Das kann zur Folge haben, dass Aspekte eines christlichen Menschenbildes, die Sie beim Lernen als Schwerpunkte ausgemacht haben, für die Bearbeitung der Aufgabe nur am Rande relevant werden.

AUFGABE 3:

Entwerfen Sie einen Beitrag zu dem oben abgedruckten Heft »abi« (M 1), in dem Sie das Thema Berufsorientierung aus christlicher Sicht reflektieren.

• Rufen Sie sich in Erinnerung, was der Operator »entwerfen« (so wie auch »gestalten«) im Sinne der Einheitlichen Prüfungsanforderungen impliziert, nämlich: sich »textbezogen mit einer Fragestellung kreativ auseinandersetzen«.

• Überlegen Sie, welche Anforderungen an die genannte Textform gestellt werden – in diesem Beispiel an einen »Artikel« in einem Magazin für berufliche Orientierung der Agentur für Arbeit. Hilfreich kann es sein, sich bereits vor der Prüfung kleine Listen mit »Anforderungsprofilen« der bei der Aufgabenform gängigen Textsorten (Leserbrief, Flyer, Plädoyer etc.) zu erstellen und zu merken. Machen Sie sich außerdem klar, was die Angaben im Aufgabentext über die

Kapitel 3
Beispielaufgabe zu
152 ABIWERKSTATT
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Adressaten des von Ihnen zu schreibenden Textes verraten (Fachpublikum? Sprachniveau? Religiös interessiert? Alter? Etc.). Das Heft richtet sich an alle Abiturienten. Ein hochtheologischer Einstieg wie »Der Mensch ist von Gott zu seinem Ebenbild geschaffen …/ Der Herrschaftsauftrag beinhaltet die Pflicht des Menschen« wäre daher fehl am Platze.

• Bei einer »echten« Abituraufgabe gibt normalerweise die Anzahl der Bewertungseinheiten einen Hinweis darauf, wie viel Zeit Sie anteilig für die Gestaltungsaufgabe aufbringen sollten – und hilft Ihnen damit bei Ihrem Zeitmanagement!

• Ein wichtiger Arbeitsschritt ist, die Themafrage, zu der etwas geschrieben werden soll, genau zu erfassen und das angebotene Material daraufhin durchzusehen. Um bei der Materialsichtung nicht zu viel Zeit zu verlieren, ist es sinnvoll, zunächst die Materialien zu überfliegen und dabei zu markieren, was man ggf. für die Aufgabe verwenden kann – z. B. als Argument, als interessante Einzelinformation oder als Zitat. In diesem Fall bietet es sich an, das Cover und den Titel »Ber ufsorientierung – gewusst wie« der Zeitung nochmal etwas genauer in den Blick zu nehmen. Ihr Beitrag in der Zeitung könnte an diesen anknüpfen, ihn reflektieren und sich zu diesem (auch kritisch) positionieren.

• Die Aufgabenstellung verlangt, das Thema Berufsorientierung aus christlicher Perspektive zu reflektieren. Hilfreich kann es dabei sein, gedanklich systematisch wichtige Aspekte bzw. »Bausteine« des betreffenden Themengebiets, aus dem die Aufgabenstellung stammt, durchzugehen und auf das Thema zu beziehen. Folgende Aspekte aus den Bausteinen zu Kapitel 3 »Geschaffen« können weiterführend sein:

– Eigene Erfahrungen mit Aktivität, Kreativität und Leistung

– Verständnisweisen von Arbeit und Beruf

– Biblisch-christliches Menschenbild: Leistung und Freiheit

• Ihr Ergebnis wird inhaltlich danach bewertet werden, wie differenziert und aspektreich Sie arbeiten. Gefragt ist bei dieser und bei ähnlichen Aufgaben nicht Ihre »persönliche Meinung« zum Thema »Berufsorientierung«, sondern das Einnehmen einer christlichen Perspektive, mit der Sie sich nicht oder nur teilweise zu identifizieren brauchen. Gleichzeitig schließt

die Formulierung »aus christlicher Sicht« selbstverständlich nicht eine kritische Auseinandersetzung aus, sondern fordert sie:

• Bei dieser Aufgabenstellung könnten Sie zum Beispiel mithilfe der Gedanken zu Leistung und Freiheit problematisieren, dass Berufsorientierung durch Magazine wie das vorliegende einen zu hohen Stellenwert in der Pr üfungsvorbereitung von Abiturientinnen und Abiturienten einnehmen kann. Die Entscheidung über den Beruf kann damit Ängste schüren, die existenziell werden und ungesunden Leistungsdruck erzeugen. Luthers Gedanke, an diesen Ängsten nicht zerbrechen zu müssen, die biblisch-christliche Vorstellung vom Menschen, die ihm unabhängig von seinem Beruf eine Wertigkeit und Würde zuspricht, könnten beispielsweise zu einer kritischen Reflexion von Berufsorientierung anregen und in Ihren Artikel Eingang finden.

• Auch beim Schluss Ihres Artikels dürfen Sie den Adressatenbezug nicht vergessen, der sich auf den sprachlichen Stil Ihres Artikels auswirken wird. Vielleicht bietet es sich an, Ihre Gedanken in einer knappen Forderung zusammenzufassen. In diesem Fall könnten Sie zum Beispiel mit »Top-5-Tipps in Sachen Berufsorientierung« abschließen, in denen Sie zentrale Aspekte, die Sie im Artikel entfaltet und reflektiert haben, zu Empfehlungen für die Berufsorientierung bündeln.

Diese könnten je nach Hauptteil zum Beispiel wie folgt lauten:

– Talent verpflichet. Überlege, wofür du deine Fähigkeiten in der Welt einsetzen möchtest.

– Leistung ist nicht alles. Deine Berufswahl darf sich auch als falsch erweisen.

MÖGLICHE ERWEITERUNG:

Lernbereichsübergreifende Frage zum Lernbereich

»Christsein in der Gesellschaft«: Das Studienwerk spricht in etlichen Passagen von Verantwortung in vielen gesellschaftlichen Bereichen und der Bereitschaft Einzelner, sich mit Fragestellungen einer modernen Gesellschaft reflektiert auseinanderzusetzen. Diese Passagen böten Anknüpfungspunkte, um von diesen ausgehend politische Modelle zu referieren.

Beispielaufgabe zu Kapitel 3
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Bausteine Kapitel 4 (Lernbereich 12.2)

Platons Höhlengleichnis

• Ausdruck seiner Ideenlehre; dualistische Weltsicht

• Sichtbare Wirklichkeit als Schein

• Relativierung alles Weltlichen als Abbilder der Ideen; Wahrheit ist aber prinzipiell erkennbar

Kants Transzendentalphilosophie

• Revolutionäre Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis

• Zeigt konkret auf, wovon menschliche Erkenntnis abhängt und wie weit diese reicht

• Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis

Sünder und Gerechtfertigter zugleich

• Deutungen des problematischen Wesens des Menschen nach Gen 1–11

• Theologischer Begriff der Sünde, Deutungen wie Entfremdung (Tillich), In-Sich Verkrümmt-Sein (Luther)

• Die Rechtfertigung des Sünders (u. a. nach Röm 7,7–25; Röm 3,21–28; Lk 15)

• Deutungsversuche im Kontext der Gegenwart (u. a. Rechtfertigungsglaube als Loslassen vom Zwang der Selbstverwirklichung; als neue Sicht auf den Menschen)

• Befreit zum Handeln für den Mitmenschen (Luthers Rede von der »Freiheit eines Christenmenschen«)

• Simul iustus et peccator: die doppelte Existenz des Menschen

• Deutungen wie »Sein wollen wie Gott« (nach Gen 3), Entfremdung (Tillich), In-Sich-Verkrümmt-Sein (Luther)

Christliches Wahrheitsverständnis

• Bruchstückhaftigkeit und Vorläufigkeit jeder menschlichen Erkenntnis nach 1 Kor 13; vollendete Erkenntnis (und Identität) erst bei Gott (im Reich Gottes)

• Glaube, Liebe und Hoffnung als Modi christlicher Existenz

Perfektionsstreben

Identität

• Identitätsfrage als Frage nach der Wahrnehmung und Herstellung von Kohärenz sowie der Konstruktion von Sinn

• Bedeutung des Erzählens

• Unterschiedliche Identitätsbilder und ihre Implikationen (z. B. Ideal einer abgerundeten Identität, »Patchwork«, »fluide Identität«)

• Frage nach der Entwicklung von Identität (Erikson)

• Prägung der Identität z. B. durch Familie, Kultur, Religion, genetische Anlage, Sozialisation

Fragmentarität menschlichen Lebens

• Brüche, Grenzen, Scheitern und Schuld als Aspekte menschlichen Lebens nach Henning Luther:

• Identität als Fragment: »Fragment aus Vergangenheit« – »Fragment aus Zukunft«

• Christlicher Glaube: als Fragment leben können; Vollendung nicht selbst erreichen können

• Kritik an einer Vorstellung einer »ganzen« und »dauerhaften« Identität

Nichttheologische Erklärungen für aggressives Verhalten

• Verhaltensforschung: Lebensnotwendige Aggression

• Frustrations-Aggressions-Theorie: Aggression als Folge von Frustration

• Lerntheorie: Lernen aggressiven Verhaltens durch Belohnung bzw. Vorbild

• Deindividuationstheorie: Aggression in Situationen herabgesetzter Individualität

• Ambivalenz menschlicher Optimierungsversuche (z. B. Streben nach Schönheit und Fitness, einer moralisch »besseren Version« seiner selbst, technologischen Verbesserung von Menschen)

• Mögliche Gründe für Perfektionsstreben (wie z. B. zugrundeliegendes Menschenbild, mediale Idealbilder und digitale Kommunikation)

Verbindungen zu anderen Kapiteln

• Zusammenhang von Bruchstückhaftigkeit des Menschen, Sinnfragen und Frage nach Gott (2)

• Die Beziehung Gottes zu den Menschen (2)

• Biblische und reformatorische Sicht des Menschen und die Frage nach Leistung (3)

• Wechselseitiges AufeinanderEinwirken von Individuen und Gesellschaft (5)

• Menschenbild bei Th. Hobbes und N. Machiavelli (5)

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TEXTAUFGABE

AUS EINEM INTERVIEW MIT DEM THEOLOGEN

INGOLF U. DALFERTH

Ingolf U. Dalferth veröffentlichte 2020 das Buch »Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit«. Auf diese Publikation bezieht sich der folgende Interviewausschnitt.

Sie sagen, wer von Sünde redet, lebt menschlicher?

Ich sage, wenn man Sünde ausblendet und das ganze damit verbundene Problemfeld ausblendet, hat man etwas nicht ernstgenommen, was das menschliche Leben wesentlich bestimmt, nämlich, dass wir nicht Herren unserer selbst sind, dass wir nicht die Kontrolle über unser Leben in dem Sinne haben, dass wir zum Beispiel im moralischen Kontext das Gute, das wir anstreben, auch tatsächlich garantieren können, dass das herauskommt aus unserem Tun.

Oder dass wir nicht in der Lage sind, unser Dasein auf eigene Entscheidungen zurückzuführen. Wir sind eingebunden in Vorgänge, Abhängigkeiten und Entscheidungen, die andere zu verantworten haben, mit denen wir aber nun positiv umgehen müssen.

Also, wenn der Mensch nicht Herr oder Frau seiner selbst ist und das nicht erkennt, dann besteht aus Ihrer Sicht sozusagen die Gefahr, in die Diktatur einer Selbsterlösungsideologie abzurutschen?

Was immer wir tun, wir müssen fragen, im Blick auf die Vernunft, im Blick auf die Freiheit, im Blick auf das Gute, das wir anstreben: Wo sind die Grenzen dessen, was wir hier versuchen? Wenn wir die Grenzproblematik nicht in den Blick nehmen, dann überschreiten wir oft bestimmte Punkte, in denen das, was wir positiv wollen, eigentlich in das Gegenteil umschlägt. Das ist eine alte Erfahrung und dafür gibt es auch viele Belege. Wenn ich also die Vernunft nicht sich selbst überlassen will und ein Mittel, was die Vernunft ja ist, zum eigentlichen Ziel mache, das sich selber nicht mehr korrigieren kann, dann wird die Vernunft problematisch. Das ist seit Kant sozusagen eine Grundeinsicht. Und die Frage ist dann: Wie kann die Vernunft sich selbst Grenzen setzen?

Genau in diesem Zusammenhang würde ich auch das Sündenproblem ansiedeln: Wie kann man so von Sünde reden, dass deutlich wird, dass das eine Fragestellung ist, die auf wichtige und für uns besser zu beachtende Grenzen unseres Lebens hinweist?

Zum Schluss unseres Gesprächs zitiere ich Ihren Schlusssatz in Ihrem Buch. Der besteht aus fünf Wörtern: »Wir stehen bestenfalls am Anfang.« Haben Sie diesen Satz um der schönen Pointe willen geschrieben, dass das letzte Wort »Anfang« lautet? Oder was ist gemeint?

Die zentrale Frage scheint mir zu sein: Was ist es, was ein menschliches Leben auszeichnet oder auszeichnen sollte? Was also ist Menschlichkeit? Menschlichkeit ist etwas, was sich nicht von selbst einstellt, sondern das muss erarbeitet und errungen werden.

Ich zeichne die Sündenthematik insgesamt in dieses Menschlichkeitsprojekt ein. Die Frage danach, was Menschen menschlich macht.

Meine Antwort ist: Ernstnehmen unserer Grenzen und ein Ernstnehmen dessen, dass wir faktisch uns dazu immer verhalten. Aber wie das im jeweiligen Fall konkretisiert werden muss, das ist das Projekt. Und das sagt der Schlusssatz, den Sie zitiert haben, bei dem wir allenfalls am Anfang stehen, das gemeinsam auszuformulieren. Nur, wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, dann versäumen wir den Punkt, auf den die ganze Rede von Sünde und Geschöpf in der christlichen Tradition hingewiesen hat. Wir werden erst dann Mensch werden und menschlich leben können, wenn wir uns in rechter Weise von den Dingen unterscheiden, über die wir keine Kontrolle haben.

Aufgaben und Erläuterungen S. 156 f.

Beispielaufgabe zu Kapitel 4
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Beispielaufgabe zu Kapitel

AUFGABEN UND ERLÄUTERUNGEN

AUFGABE 1

Fassen Sie die Grundgedanken des Interviews in fünf Thesen zusammen.

Hier können Sie vorgehen, wie für die Beispielaufgabe zu Kapitel 2 (Aufgabe 1) empfohlen ( S. 148): D. h., Sie grenzen also zunächst fünf Sinnabschnitte ab, unterstreichen dann die Kernaussagen und fassen diese klar, präzise und – abgesehen von notwendigen Fachbegriffen – mit eigenen Formulierungen zusammen. Dabei versuchen Sie, den Inhalt korrekt, bezüglich der Grundgedanken vollständig, aber doch auch deutlich verknappt darzustellen.

In Interviews und anderen, eher narrativen Sachtexten empfiehlt es sich, den Autor bzw. die Autorin bei der Zusammenfassung ihrer Überlegungen bzw. Thesen zu nennen (»I. Dalfert geht davon aus …«; »Der Theologe plädiert …«). Bei Texten, die keine deutlichen Positionierungen enthalten, lassen sich Thesen besser ohne Nennung des Autors bzw. der Autorin formulieren (»Der theologische Begriff der Sünde …«).

• Vergleichen und bewerten Sie zur Übung folgende Thesen zum Beginn des Interviews mit Ihrem Versuch:

– Menschliche Existenz ist grundlegend dadurch charakterisiert, dass Menschen das eigene Leben nicht vollständig in der Hand haben, weshalb man nach I. Dalferth nicht auf den Sündenbegriff verzichten darf. – Als Menschen fehlt uns die Kontrolle über unsere Leben, sodass wir nicht garantieren können, ob wir das, was wir wollen, auch erreichen können.

– Aus Sicht von I. Dalferth ist es wichtig, das, was mit Sünde gemeint ist, ernst zu nehmen.

AUFGABE 2

Begründen Sie Dalferths Überlegungen zu »Sünde« mithilfe ausgewählter biblischer Texte.

• Die Aufgabenstellung erfordert es, dass Sie sich zunächst darüber klar werden, welche der grundlegenden »Bausteine« zum Themenbereich »Der im-perfekte Mensch« Sie benötigen, um die Aufgabenstellung umfassend bzw. aspektreich beantworten zu können. Dies wären insbesondere folgende »Bausteine«: – Deutungen des problematischen Wesens des Menschen in Gen 1–11

– Die Rechtfertigung des Sünders nach Paulus (Röm 7,7–25; Röm 3,21–28) sowie bei Lukas (Lk 15).

• Selbstverständlich können (und sollen) Sie auch Einsichten aus anderen bisher behandelten Themenbereichen heranziehen. Mit dem Thema Geschöpflichkeit des Menschen (vgl. z. B. Z . 61) ergeben sich Verbindungen zum »Baustein« Gott als Schöpfer (Kapitel 2) sowie zum »Baustein« Biblisch-christliches Menschenbild (Kapitel 3).

• Für die Bearbeitung dieser Aufgaben ist es ferner wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, was mit dem verwendeten Operator gemeint ist: Der Begriff »begründen« signalisiert bereits, dass davon ausgegangen wird, dass hier der Autor des Textes an die biblische Tradition der Rede von Sünde anknüpft und dass Sie diesen Zusammenhang explizieren sollen.

• Im Hinblick auf die inhaltliche Argumentation bietet es sich an, die Aussage I. Dalferths, dass »wir nicht Herren unserer selbst sind« (Z. 5 f.) auf Röm 7,19–25 und den dort beschriebenen Konflikt zwischen Wollen und Tun zu beziehen, der nach Paulus darin gründet, dass der Mensch aufgrund seiner Entfremdung von Gott immer wieder am Tun des Guten scheitert.

• Bezüglich des pointierten Herausstellens der Grenzen und Begrenzungen des Menschen durch den Autor (vgl. z. B. Z . 22 f., 53 – 55) lassen sich gut Linien ziehen zu den Deutungen des Menschen als problematisches Wesen in Gen 1–11. Der Interviewausschnitt legt nahe, dabei wichtige Aspekte dieser Tradition unter der Perspektive der Verletzung von Grenzen durch den Menschen (z. B. Essen der verbotenen Frucht, der »erste Mord«, Turmbau zu Babel) zu interpretieren.

• An mehreren Stellen klingen im Interview Bezüge zum biblischen Schöpfungsglauben u. a. nach Gen 1 und 2 an (vgl. Z. 11 f.; Z . 59 – 62), nach dem dem Menschen zwar eine ganz besondere Würde zukommt, aufgrund seiner Ebenbildlichkeit und seiner ihm möglichen Beziehung zu Gott er dabei aber als Geschöpf auf Gott angewiesen bleibt.

AUFGABE 3

»Die Frage danach, was Menschen menschlich macht. Meine Antwort ist: Ernstnehmen unserer Grenzen und ein Ernstnehmen dessen, dass wir faktisch uns dazu immer verhalten.« (Z. 51 – 55) Erörtern Sie diese Sicht unter Einbezug von Gen 2 und 3.

4
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• Der Operator »erörtern« verlangt – anders als der Operator in Aufgabe 2 – ein Abwägen der Argumente für und gegen eine These oder eine pointiert formulierte Position.

• Bezüglich der zu berücksichtigenden inhaltlichen »Bausteine« liegt es nahe, neben den biblischen Bezügen zur Urgeschichte insbesondere auch den folgenden aufzugreifen: Christlicher Glauben – nach H. Luther – : als Fragment leben können; Vollendung nicht selbst erreichen können.

• Bei dieser Aufgabenstellung wäre es elegant, zunächst den gesellschaftlichen Horizont zu skizzieren, der hier offensichtlich als Folie eines Plädoyers für ein Ernstnehmen der Fragmentarität bzw. der »Bruchstückhaftigkeit« und Begrenztheit dient: ein auf verschiedenen Ebenen zu beobachtendes Perfektionsstreben, wie es etwa auch in der Ausstellung »Der (im)perfekte Mensch« in den »Altären der Vollkommenheit« kritisch zum Ausdruck gebracht wird ( S. 84 f.). Konkret könnte auf die utopistischen Vorstellungen des sog. Transhumanismus ( S. 89) verwiesen werden.

• Eine Auseinandersetzung mit Aspekten biblischer Anthropologie, wie sie in Gen 2 f. deutlich werden, kann stark am biblischen Text orientiert sein und von hier aus Anfragen an das Zitat stellen: Ein »Ernstnehmen von Grenzen« ist erst nach dem Biss von der Frucht vom Baum der Erkenntnis möglich, sodass diese Form der Grenzüberschreitung im Paradies paradoxerweise als Voraussetzung für Grenzbewusstsein und Menschlichkeit erscheint. Deutet man Gen 2 f. klassisch als ein Streben danach, wie Gott sein zu wollen, und somit als Perfektionsbestrebungen des Menschen, wäre die Bibelstelle ein exemplarisches Beispiel für ein bewusstes Grenzüberschreiten. Die negativen Folgen (vgl. Z. 23 – 27) sind dann z. B. darin zu sehen, dass Adam und Eva eine Verantwortlichkeit weiterschieben. Die Ambivalenz der Bibelstelle ergibt sich auch aus der genaueren Lektüre der Deutung von Gen 3 durch R. Safranski als »Geburt des Nein« – mit Freiheitsgewinnen für den Menschen und den daraus resultierenden Gefährdungen für sich selbst und andere ( S. 100).

MÖGLICHE ERWEITERUNGEN:

Sie können das vorliegende Material auch dazu verwenden, um eine Erweiterte Textaufgabe zu üben: Denkbar wäre die Aufgabenstellung, dass Sie nach einer genauen Bildbeschreibung überprüfen, ob bzw. inwiefern das Cover der EKD-Schrift zu »Sünde, Schuld und Vergebung« auch zum Buch von I. Dalferth passen würde.

Beispielaufgabe zu Kapitel 4
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Bausteine Kapitel 5 (Lernbereich 12.4)

Individuum und Gesellschaft

• Beispiele für das Aufeinandereinwirken von Individuum und Gesellschaft

• Der Mensch – ein zoon politikon? Theorien zum Menschen als politisches Wesen von z. B.:

• Aristoteles: nur in Gemeinschaft kann der Mensch gemäß seiner Natur als zoon politikon nach Glück und Weisheit streben

• N. Machiavelli: Politik als eine Kunst weniger, die je nach Notwendigkeit auch unmoralisch handeln müssen

• Th. Hobbes: das Konfliktwesen Mensch braucht einen angsteinflößenden Souverän, um eigene Ziele in der Gemeinschaft zu verwirklichen

• G. Simmel: Der Mensch kann als homo duplex seine Individualität nur in und mit der Gesellschaft, aber nicht allein durch die Gesellschaft entfalten.

• H. Arendt: Gutes Leben und verantwortliches Handeln realisieren sich nur im gemeinsamen Zusammenwirken im öffentlichen Raum; somit entsteht Politik zwischen den Menschen.

• Spielräume für Individualität und Mündigkeit in diesen Theorien

Rolle von Kirche in der Gesellschaft

• Kontexte, in denen »Kirche« von der Gesellschaft in Gebrauch genommen wird, und damit verbundene Erwartungen

• Relevanz von »Kirche« in der Gesellschaft als Frage nach Mitgliederzahlen und messbarem Engagement oder als sinnstiftendes Potential (z. B. Böckenförde-Diktum) und kritische politische Stimme

• Kirchliche Hochschätzung der Demokratie

• Unterschiede im Selbstverständnis der Kirchen mit Blick auf das Amtsverständnis; Bemühungen um Vorstellungen angemessenen Umgangs in der Ökumene.

• konziliarer Prozess als gemeinsame Anstrengung der Kirchen für die Welt hin zu »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung«

Christliche Perspektiven zu sozialer Ungleichheit

• Frage nach christlichem Handeln in der Gesellschaft: unterschiedliche Begründungen bei M. Luther (»zwei Regimente Gottes«) und K. Barth (»Königsherrschaft Christi«)

• Vorrangige Option für die Armen und Benachteiligten (Lukasevangelium, Befreiungstheologie)

• Reichtum als mögliche Gefahr für das Individuum

• Armut als fehlende Teilhabe; Betonung von Teilhabeund Beteiligungsgerechtigkeit (EKD 2006)

Sozialethik

• Sozialethik als Frage nach gerechten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen unter Einbezug z. B. politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Aspekte

• Klärung des jeweiligen Problems und der sozialethischen Zusammenhänge und Hintergründe

• Diskussion möglicher Änderungen von Strukturen und deren Folgen

• Kriterien für die Bewertung wie Würde, Freiheit, Fairness, Gerechtigkeit

• Christliche Perspektiven

Einkommens­ und Vermögensungleichheit als sozialethische Herausforderungen

• Armuts- und Reichtumsbegriff

• Beispiele für Ungleichheit, dazu (Hinter-) Gründe und Folgen für die Individuen und die Gesellschaft

• Bewertung der Zusammenhänge und mögliche Lösungen

Verbindungen zu anderen Kapiteln

• Gesellschaftliches Handeln in Verantwortung vor Gott; Gott als Relativierung aller menschlichen Macht (2)

• Sünde als Beziehungsstörung und Entfremdung (4)

• Würde des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes (3)

• Theorien und Vorstellungen zu Arbeit und Beruf (3)

• Beispiele aus der sich wandelnden Arbeitswelt als mögliche sozialethische Themen (3)

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ALLGEMEIN ZUM KOLLOQUIUM

Die Referatsthemen im Kolloquium bestehen in der Regel aus einer Aufgabenstellung zu einem ein- oder mehrteiligen Material wie Bilder, Statistiken und / oder (kürzere) Texte. Sie werden sich vor dem Kolloquium sicher mit Ihrem Religionslehrer / Ihrer Religionslehrerin absprechen, welche Arten von Fragen bzw. Aufgaben er bzw. sie normalerweise stellt und was er / sie von Ihnen erwartet.

Wichtig ist grundsätzlich, dass Sie in dem thematischen Schwerpunkt, den Sie ausgewählt haben, Ihre »Bausteine« parat haben. Sie sollten sich schon in der Vorbereitung Mindmaps bzw. Cluster o. Ä. erstellen, bei denen Sie überlegen, wie Sie die unterschiedlichen Aspekte anordnen und sinnvoll aufeinander beziehen können.

Tipp: Üben Sie an einem oder mehreren Beispielen, mögliche Themen zu gliedern.

Zum Aufbau des Referats

• Ziel der Einleitung ist es, das Thema deutlich zu machen, und im Idealfall auch die Hörerinnen und Hörer für dieses zu interessieren. Sie könnten z. B. einen Bezug zu einem aktuellen Ereignis oder einer aktuellen Diskussion herstellen, der die Relevanz des Themas deutlich macht. Oder Sie beginnen mit einem Zitat, einer Frage oder einem konkreten Beispiel. Achten Sie aber darauf, hierfür nicht zu viel Zeit zu investieren, sofern ein solcher Einstieg überhaupt erwünscht ist. Normalerweise wird erwartet, dass Sie hier – bevor Sie in den Hauptteil einsteigen – den Aufbau des Referates skizzieren.

• Bei manchen Themen bietet es sich an, zunächst das Gelernte zu reproduzieren und dann entsprechend der Aufgabe auf die Themenstellung oder das Material zu beziehen. In anderen Fällen liegt es näher, sich zuerst mit dem Material zu befassen und dieses mit dem Themenbereich in Verbindung zu bringen. Es kann aber auch sein, dass man abschnittsweise (z. B. zu einzelnen Aspekten des Themas) sowohl das Material als auch den Stoff verknüpft. Ein solches Vorgehen erfordert allerdings eine besonders gute Übersicht und ein sehr gutes Zeitmanagement.

• Zum Schluss sollten Sie Ihren Beitrag mit einer abschließenden Bewertung bzw. Ihrem persönlichen Fa-

zit abrunden. Besonders elegant ist es, wenn Sie sich auf einen Aspekt Ihres Referats beziehen, mit dem Sie Ihre Ausführungen begonnen haben.

• Es ist hilfreich, die Prüfungssituation im Kolloquium zuvor zu trainieren, da sich das Referat hier von Referaten, die Sie in Ihrer Schullaufbahn normalerweise gehalten haben, allein schon durch die Situation unterscheidet. Eventuell bietet Ihr Lehrer bzw. Ihre Lehrerin Ihnen sogar ein solches exemplarisches Kolloquiums-Training im Rahmen des Unterrichts z. B. zu einem nicht prüfungsrelevanten Stoff an, sonst können Sie auch mit Mitschülern / Mitschülerinnen die Prüfungssituation nachstellen: An einem Tisch sitzen sich Prüfende und Prüfling gegenüber. Sie können dann zum Beispiel als Prüfling über Ihr Fachgebiet referieren oder Ihr »Prüfer« hat sich vorher Fragen zur Thematik überlegt und stellt sie Ihnen.

• Sie können sich auch ein oder mehrere mögliche Referatsthemen zu Ihrem Schwerpunkt überlegen und zu diesen dann mögliche Einleitungen formulieren, die jeweils zeigen, dass Sie die Themenstellung erfasst haben und Ihr Wissen auf sie beziehen können.

• Da bei Ihrer Darstellung auch die Art der Präsentation mit bewertet wird, üben Sie zudem – allein oder noch besser mit anderen zusammen, z. B. in der eben skizzierten Übungs-Prüfungssituation –, über Ihren Themenbereich frei und flüssig zu sprechen: Verwenden Sie dabei kurze, prägnante Sätze und eine klare Sprache. Fachbegriffe sollten Sie sachgerecht verwenden, sodass klar wird, dass Sie sich in Ihrem Themenbereich gut auskennen. Schauen Sie während des Referats möglichst Ihr Gegenüber an und blicken Sie nur kurz auf Ihre Stichpunkte.

• Um den Zeitraum von zehn Minuten abschätzen und einhalten zu können, empfiehlt sich das Aufstellen eines (Digital-)Weckers (auch im Kolloquium selbst).

Beispielaufgabe zu Kapitel 5
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M 1

Auszug aus einem Interview der Zeitschrift zeitzeichen mit dem Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf von 2013

zeitzeichen: Herr Professor Graf, dürfen oder sollen sich Vertreter der evangelischen Kirche, Synoden und Bischöfe, in die Politik einmischen?

F. W. Graf: Das Wort »einmischen« finde ich nicht angemessen. »Wir mischen uns ein«, das ist kirchlicher Jargon. Die Kirchen sind in einer pluralistischen, demokratisch verfassten Gesellschaft nichts anderes als große Verbände. Wie viele andere Verbände können auch sie sich zu politischen Fragen äußern. Allerdings haben Bischöfe und Synoden kein allgemeinpolitisches Mandat. Für Politik sind in unserer Gesellschaft in erster Linie die politischen Parteien zuständig, und das klügste politische Engagement von Christen besteht darin, in eine Partei einzutreten und in ihr aktiv zu sein.

Aber grundsätzlich gibt es schon politische Fragen, zu denen sich Synoden und Bischöfe äußern und zu deren Lösung sie Vorschläge machen dürfen, oder?

Es kommt einerseits darauf an, wie man sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligt. Die Kirchen sollten nicht einfach steile moralische Forderungen erheben, sondern mit für ein gesellschaftliches Klima sorgen, in dem solche Fragen sachlich diskutiert werden können. Und noch besser ist es, wenn die Kirchen für die eigenen Positionen praktisch einstehen.

Es kommt andererseits auf die Themen an. So erwartet die Gesellschaft, dass sich die Kirchen zu Fragen der Biopolitik äußern. Ich fände es albern, wenn die Kirchen sich zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen äußern würden, denn gerade bei einer solchen Frage kann man als Christ und Staatsbürger sehr unterschiedlicher Meinung sein.

Wenn sich ein Bischof öffentlich äußert, lassen sich Privatund Amtsperson doch nicht so einfach trennen, oder?

Aber evangelische Bischöfe tun gut daran, wenn sie immer wieder bedenken und gelegentlich darauf hinweisen, dass zum Wesen des Protestantismus die Vielfalt gehört und es nur auf wenige politische Fragen ethisch eindeutige Antworten gibt.

Gibt es eine christliche Politik?

Nein, es gibt keine christliche Politik. Jedenfalls stellt sich bei einem Großteil der politischen Probleme nicht die Frage: christlich oder nichtchristlich? Über die Lösung der meisten politischen Probleme können sich vernünftige Menschen vielmehr unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit leicht verständigen.

M 2

Beschluss der EKD­ Synode zu Tempolimit in der evangelischen Kirche (09. November 2022) […] Um dem Auftrag der Kirche für die Bewahrung der Schöpfung gerecht zu werden, hält es die Synode für geboten, bei allen PKW-Fahrten im kirchlichen Kontext [die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Rad möglich sind] ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen einzuhalten, um Treibhausgas-Emissionen spürbar zu reduzieren.

Sie bittet das Kirchenamt, eine öffentlichkeitswirksame Kampagne für eine entsprechende Selbstverpflichtung zu initiieren. Zudem unterstützt die Synode politische Bemühungen um ein zeitnahes allgemeines Tempolimit von höchstens 120 km/h.

AUFGABE:

Geben Sie die Position von Friedrich Wilhelm Graf wieder und diskutieren Sie sie aus Sicht christlicher Sozialethik. Ziehen Sie dazu auch die Modelle von Barth und Luther heran und beziehen Sie M 2 in Ihr Referat ein.

Hinweis: M 1 ist mit anderem Zuschnitt schon in einem schriftlichen Abitur verwendet worden. M 1 dürfte somit nicht in einem echten Kolloquium verwendet werden. Das Material ist außerdem etwas umfangreicher als meist im Kolloquium üblich. Für Übungszwecke ist dies jedoch kein Hindernis.

Beispielaufgabe
Kapitel 5 160 ABIWERKSTATT KOLLOQUIUMSAUFGABE
zu
5 10 15 20 25 30 35 40 45 copyrightedmaterial

Zu empfehlen sind gemäß den allgemeinen Überlegungen auf S. 159 folgende Arbeitsschritte:

Vorüberlegungen, Aufbau und Einleitung:

• Klären Sie die Aufgabenstellung und entwickeln Sie nach der Lektüre von M 1 und M 2 einen sinnvollen Aufbau. Dabei ist u. a. zu bedenken:

• Das eigentliche Thema wird nicht durch die Aufgabenstellung vorgegeben, sondern ergibt sich aus der ersten Frage des Interviews: Es geht um die Rolle von Kirche in der Gesellschaft bzw. noch konkreter um die Frage, ob bzw. wie weit sich Kirche zu politischen Fragen äußern soll.

• M 1 stammt von 2013, M 2 von 2022, was bei der Diskussion ggf. relevant sein kann.

• Sachlich überschneiden sich M 1 und 2 konkret im Punkt des Tempolimits.

• Allerdings handelt es sich beim Beschluss der Synode (M 2) primär um eine Selbstverpflichtung der Kirche, auch wenn man sich um ein allgemeines Tempolimit bemühen möchte.

• Es ist offen, wie M 2 einbezogen werden soll – dies könnte z. B. in der Einleitung (aktuelles Ereignis zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Buches) oder / und auch im Hauptteil geschehen.

• Die Aufgabenstellung legt für den Hauptteil einen zweigliedrigen Aufbau nahe: Wiedergabe der Position F. W. Grafs und deren Diskussion aus Sicht christlicher Sozialethik.

• Verknüpfen Sie Ihre Einleitung und den Hauptteil und achten Sie dabei darauf, dass das Thema deutlich wird. Dies könnte z. B. nach einer Darstellung von M 2 so erfolgen:

Was ich eben ausgeführt habe, stellt eine kirchliche Stellungnahme in unserer Demokratie dar. Die Frage ist allerdings, ob bzw. inwieweit es angemessen ist, wenn »Kirche« sich öffentlich zu Wort meldet. Hierzu gebe ich die Position von einem Theologieprofessor aus dem Jahr 2013 wieder und bewerte diese anschließend aus der Sicht christlicher Sozialethik

Zum Hauptteil:

• Bei der Wiedergabe der Position F. W. Grafs ist zu beachten, dass dieser den Begriff des Einmischens aus

sprach-ästhetischen Gründen ablehnt und sich in der Sache nicht generell gegen kirchliche Stellungnahmen wendet. Es muss also darum gehen, seine Position angemessen differenziert darzulegen. Hilfreich hierfür kann sein, dass Sie selbst darauf hinweisen, wie sehr der Interviewte ein »Es-kommt-darauf-an« betont bzw. in seiner Denkbewegung pendelt, um Extreme zu vermeiden.

• Als Bezugsgrößen für die Diskussion aus Sicht christlicher Sozialethik bieten sich Luthers Denkmodell von den zwei Regimenten und Barths Theorie der Königsherrschaft Christi an, zumal diese mit einzubeziehen sind. Würde ein solcher Hinweis fehlen, wäre es alternativ denkbar, einzelne Aussagen Grafs mit Blick auf eine inhaltliche Zuspitzung (Tempolimit angesichts der Klimakrise oder andere Aspekte zur Frage nach sozialer Gerechtigkeit) zu diskutieren.

• Mit Blick auf Luthers Unterscheidung könnte beispielsweise darauf hingewiesen werden, dass Luther wie Graf eine Unterscheidung von Staat und Kirche wichtig ist und diese zwei Bereiche nicht ohne Weiteres vermischt werden sollten. Jedoch grenzt sich Graf implizit klar von Luthers Vorstellung ab, dass der Staat eine der beiden »Regierweisen Gottes« ist, die zum Wohl der Bevölkerung zusammenwirken, und betont vielmehr die demokratische Verfasstheit des Staates (heute). Dass sich der einzelne Mensch engagiert, befürworten Graf wie Luther, allerdings liegt der Schwerpunkt des Interviews auf der Institution Kirche. In Bezug auf Barths Modell ergeben sich vergleichbare Übereinstimmungen und Unterschiede.

• Mit Blick auf M 2 müsste bedacht werden, dass sich F. W. Graf zwar in M 1 sehr abschätzig zu einem solchen Vorhaben des Tempolimits geäußert hat – allerdings 2013. Seitdem ist das Bewusstsein mit Blick auf die drohende Dramatik der Klimakrise deutlich gewachsen. Des Weiteren entspricht die Kirche hier sogar seiner Forderung für die eigenen Positionen »praktisch ein[zu]stehen« (M 1, Z. 25) und vor diesem Hintergrund für ein allgemeines Tempolimit zu werben, anstatt bloß »steile moralische Forderungen« (M 1, Z. 21) zu erheben. Und es handelt sich um eine in der Vielstimmigkeit der Synode ausgehandelte und verabschiedete Position und nicht um die Meinung z. B. eines Bischofs oder einer einzelnen Bischöfin.

• Der Position in M 1, dass es keine christliche Politik

ERLÄUTERUNGEN ZUR KOLLOQUIUMSAUFGABE
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gibt, kann man mit Blick auf das Tempolimit sowohl zustimmend (Vernunft reicht für die Beurteilung aus) als auch ablehnend gegenüberstehen (der Fokus auf Gerechtigkeit, die sog. Bewahrung der Schöpfung und die »vorrangige Option für die Armen« erfordern einen solchen kirchlichen Schritt aus christlicher Sicht).

Zum Schlussteil:

• Hier dür fte Ihr persönliches Fazit zur Abrundung erwartet werden. Dieses sollte nicht hinter das bisherige Argumentationsniveau zurückfallen, sondern idealerweise auf diesem aufbauen.

Als Hilfsmittel im Abitur wie in anderen Leistungsnachweisen ist im Fach Evangelische Religionslehre die Bibel zugelassen. Die Hilfsmittel dürfen Hervorhebungen und Verweisungen, jedoch keine Kommentierungen enthalten (KWMBl 2011, S. 129).

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Agnostizismus (von griech. agnoein: nicht wissen) nennt man die Auffassung, dass man über die Existenz Gottes bzw. einer höheren Wirklichkeit nichts wissen und darum keine zuverlässigen Aussagen machen kann.

Anselm von Canterbury (1033–1109) war ein bedeutender Theologe des Mittelalters. Sein berühmtes Zitat »Fides quaerens intellectum« (Glaube, der nach Einsicht bzw. Verstehen sucht) fasst zusammen, dass Glaubensinhalte mithilfe der Vernunft so dargelegt werden sollen und können, dass sie Gläubigen wie Nicht-Gläubigen ein vertieftes Verständnis ermöglichen. Auch der von ihm entwickelte Gottesbeweis diente diesem Zweck.

Anthropologie, philosophische ist ein Teilbereich der Anthropologie. Sie stellt, abgeleitet von griech. anthropos (der Mensch) und logos (die Rede, die Lehre, das Wissen), die Wissenschaft vom Menschen dar. Anthropologische Studien können in vielen Fachbereichen stattfinden. Dazu gehören sowohl naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Menschen als auch philosophische oder sozial- und kulturwissenschaftliche. In der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts wird der Mensch vor allem aus seinem leiblichen, beobachtbaren Verhalten bestimmt und dieses auf die Frage nach seiner Sonderstellung zugespitzt. Ver treter dieser Anthropologie sind Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen.

Anthropozän bezeichnet die geologische Epoche, in der menschliches Wirken besonders großen Einfluss auf die Erde als System nimmt. Der Begriff regt damit auch dazu an, über die Verantwortung des Menschen gegenüber der Umwelt angesichts begrenzter Ressourcen nachzudenken.

Apostolisches Amt bezeichnet eine theologische Konzeption, die sich auf eine ursprüngliche Rolle der Apostel in der frühen Kirche bezieht. Die Bedeutung dieser Konzeption für das Kirchenverständnis ist in den christlichen Konfessionen umstritten. In evangelischen Kirchen gilt ein allgemeines Priestertum [8], wonach alle Getauften bzw. Glaubenden in Sachen des göttlichen Heils keine Hilfe bzw. Vermittlung durch

Geistliche benötigen. Die römisch-katholische Kirche geht dagegen von einer unterbrochenen direkten Weitergabe des Bischofsamtes seit den Aposteln, der sog. A postolischen Sukzession, aus, wonach der Papst als Nachfolger des Petrus gilt. Durch das Handauflegen in der Weihe wird dieses Amt von einem Bischof auf den nächsten übertragen und hat ein untilgbares geistliches Prägemal (Character indelebilis) zur Folge, das die geweihte Person Christus gleichförmig macht, so dass sie stellvertretend für ihn handeln kann. Nach diesem Verständnis können christliche Gemeinschaften, bei denen die Apostolische Sukzession unterbrochen wurde, nicht als (vollwertige) »Kirchen« anerkannt werden.

Arendt, Hannah (* 1906 bei Hannover, † 1975 in New York) war eine jüdische deutsch-amerikanische politische Theoretikerin, Dozentin für Philosophie und Publizistin. Nach ihrer Emigration aus Nazideutschland erhielt sie 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Sie veröffentlichte zahlreiche philosophische und politikwissenschaftliche Werke; besonders bekannt und umstritten sind ihre Aufzeichnungen anlässlich des Prozesses gegen Eichmann 1961 (»Eichmann in Jerusalem«), an dem sie als Berichterstatterin teilnahm. Hier bildete sie ihre Theorie von der »Banalität des Bösen«.

Aristoteles (384–322 v.Chr.) gilt neben Sokrates und Platon als bedeutendster Philosoph der griechischen Antike und als Begründer der abendländischen Wissenschaft. Er beschäftigte sich u. a. mit Fragen der Ethik, der Politik, der Logik, der Dichtung, der Naturwissenschaft sowie der Metaphysik und war Erzieher von Alexander dem Großen. In einem seiner Hauptwerke, der Nikomachischen Ethik, vertritt er die Sicht, dass das Ziel des Menschen Eudämonia, d. h. ein glückliches, gelingendes bzw. erfülltes Leben, sei (Eudämonismus). Dieses ist nach Aristoteles möglich, wenn der Mensch seiner Wesensbestimmung gemäß lebt, also als Vernunfts- und Gemeinschaftswesen. Deshalb muss er seine Verstandestugenden und ethischen Tugenden dauerhaft ausbilden und gebrauchen.

Atheismus (von griech. theos: Gott) nennt man die Leugnung eines höchsten Wesens. Zu unterscheiden

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ist der theoretische Atheismus, z. B. bei Feuerbach, Nietzsche, Marx, Freud) vom unreflektierten sog. Alltagsatheismus, der oft mit Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage einhergeht.

Baal (Herr, Gott) ist eine altorientalische Regen- und Fruchtbarkeitsgottheit, die in Kanaan vor der Einwanderung der Israeliten verehrt wurde. Auch später war der Baalskult für die Israeliten immer wieder attraktiv, was die Propheten aufs Schärfste kritisierten. Das Symbol für Baal ist der Stier; auch in der Geschichte vom Goldenen »Kalb« spiegelt sich die Auseinandersetzung mit der Baalsverehrung.

Barth, Karl (1886–1968) war ein Schweizer evangelisch-reformierter Theologe. Als Vertreter der »dialektischen Theologie« betonte er die grundlegende Differenz zwischen Gott und Mensch und machte den Glauben an Jesus Christus kritisch gegen Kultur, Staat und auch gegen »Religion« geltend. Er war Hauptverfasser der Barmer Theologischen Erklärung (1934) und Mitbegründer der Bekennenden Kirche

Befreiungstheologie, entstanden in Lateinamerika in den Jahren 1960–1970, fragt aus der Perspektive von unterdrückten bzw. unterprivilegierten Gruppen, Völkern und Ethnien nach dem Befreiungspotential der christlichen Botschaft. Sie ist stark eschatologisch geprägt. Dabei wird auch an apokalyptische Traditionen positiv angeknüpft. Darüber hinaus werden in Aufnahme prophetischer Kritik bestehende Unrechtsverhältnisse und Ursachen für Armut und Ungerechtigkeit angeprangert. Sie fordert eine Kirche der Armen, in der schon jetzt darum gerungen wird, wie sich Kennzeichen des Reiches Gottes wie Friede und Gerechtigkeit ver wirklichen lassen.

bioethisch / Bioethik: Der Begriff kann einerseits für eine Ethik der sog. Biowissenschaften stehen und umfasst dann die Medizin-, die Tier- und die Umweltethik. Andererseits kann er auch spezieller verwendet werden für das ethische Nachdenken über die sog. »Biomedizin«, also medizinische Verfahren, die auf moderner Biotechnologie beruhen, wie z. B. die Reproduktionsmedizin oder die Verfahren der sog. »Synthetischen Biologie«, bei der es um die Entwicklung biologischer

Systeme geht, die so in der Natur nicht vorkommen (z. B. Umprogrammierung von Bakterien).

Böckenförde, Ernst­Wolfgang (1930–2019) war ein deutscher Jurist und Rechtsphilosoph sowie Richter des Bundesverfassungsgerichts. Von ihm stammt das Diktum: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«

Bonhoeffer, Dietrich (1906–1945) war ein evangelischer Theologe, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus aktiv am Widerstand gegen Adolf Hitler und dessen Diktatur beteiligte. Am 5. April 1943 wurde er deshalb verhaftet und kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Viele Menschen kennen sein Gedicht »Von guten Mächten wunderbar geborgen« (EG 65 und 637), das er im Gefängnis für seine Verlobte schrieb. Eines seiner bedeutendsten Werke ist die »Ethik«, 1939 begonnen und mit seinem Tod abgebrochen.

Brecht, Bertolt (1898–1956) war ein deutscher Schriftsteller, der besonders für seine kritischen Theaterstücke und Gedichte bekannt ist.

BTE, Abkürzung für Barmer Theologische Erklärung: Die Erklärung der Synodalversammlung in Barmen vom 31. Mai 1934 (»Bekenntnissynode«) ist die zentrale theologische Äußerung der Bekennenden Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1933–1945. Sie richtete sich gegen die Theologie und das Kirchenregime der sog. Deutschen Christen, welche die evangelische Kirche der Diktatur Adolf Hitlers anzugleichen versuchten. Die EKD bestätigt in Artikel 1 (3) ihrer Grundordnung mit ihren Gliedkirchen die von dieser Bekenntnissynode getroffenen Entscheidungen. Auch die Gliedkirchen der EKD betrachten die BTE als wegweisendes Lehr- und Glaubenszeugnis der Kirche.

Bundesverdienstkreuz ist eine Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland für zum Beispiel besondere ehrenamtliche, politische oder kulturelle Leistungen.

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Cancel­Culture: Dieser Begriff wird z. B. verwendet, wenn Auftritte von Kunstschaffenden, öffentliche Vorträge oder Lesungen abgesagt oder Veröffentlichungen zur ückgezogen werden, nachdem dies nach Vorwürfen von (vermeintlich) beleidigenden oder diskriminierenden Äußerungen von betroffenen Gruppen gefordert wurde. Auf der einen Seite sehen z. B. einzelne Initiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durch »cancel-culture« die Debattenkultur und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft dadurch in Gefahr, dass öffentliche Empörung das rationale Argument ersetzt. Auf der anderen Seite wird z. T. auch kritisiert, dass dieser Begriff zu vage sei und als ideologisches Kampfmittel missbraucht werde.

Chagall, Marc (1887–1985) war ein Maler russischjüdischer Herkunft. Geboren als Moische Chazkelewitsch Schagal bei Witebsk (heute Belarus) erlebte er schon als Kind antisemitische Diskriminierung im zaristischen Russland. Als Erwachsener emigrierte er nach Aufenthalten u. a. in Paris (1910) und Berlin (1922) 1941 in die USA, um sich und seine Familie vor der NS-Verfolgung zu retten. 1948 kehrte er nach Frankreich zurück. Als Maler verarbeitete er neben Kindheitserinnerungen und Alltagseindrücken oft auch biblische Themen des Alten und Neuen Testaments.

Deus ex Machina: Wenn menschliche Lösungen nicht mehr ausreichten, erschien in der antiken Tragödie manchmal unerwartet der deus ex machina, der »Gott aus der Maschine«, so genannt, weil er mit einem Bühnenkran auf die Bühne herabgelassen wurde. Heute gebraucht man diesen Begriff auch, wenn z. B. in Filmen oder Romanen durch einen überraschenden Umstand oder eine plötzlich auftauchende Person ein Konflikt gelöst wird.

Dogma (griech.: Lehre): Dogmen sind Sätze, in denen verbindlich zusammengefasst wird, was Christen und Christinnen glauben. Im engeren Sinne bezeichnen Dogmen die altkirchlichen Konzilsentscheidungen, wie z. B. das Trinitätsdogma oder das christologische Dogma (Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott) sowie einige spätere dogmatische Festlegungen der katholischen Kirche (z. B. die Unfehlbarkeit des

Papstes in Glaubensentscheidungen, 1870, oder die Himmelfahrt Marias, 1950). Im allgemeineren Sinn bedeuten Dogmen Glaubensgrundlagen. In der evangelischen Kirche wurden keine neuen Dogmen mehr formuliert; hier sprach und spricht man lieber von Bekenntnissen. Dogmen und Bekenntnisse sind nach evangelischem Verständnis immer abgeleitete Wahrheiten; maßgeblich ist die Orientierung am Evangelium. Als solche abgeleitete Wahrheiten können Dogmen / Bekenntnissätze es leisten, eine Glaubensgemeinschaft zusammenzuhalten. Sie eröffnen einen Spielraum für Deutung, Kommunikation, Auseinandersetzung und persönliche Aneignung, aber sie stecken auch Grenzen ab gegen einen willkürlichen Umgang mit Glaubenstraditionen.

dualistisch nennt man eine Religion oder Weltanschauung, die von zwei einander entgegengesetzten Mächten ausgeht, welche sich im Kampf gegeneinander befinden oder auch komplementär aufeinander bezogen sind (wie z. B. Yin und Yang). Der persische Zoroastrismus ist ein Beispiel für eine dualistische Religion. In der Philosophie vertrat Platon einen Dualismus zwischen Körper und Seele, der das Christentum und seine Vorstellung vom Menschen stark beeinflusst hat.

Elia ist einer der frühesten und wichtigsten Propheten der Hebräischen Bibel. In 1 Kön 17–2 Kön 2 wird berichtet, wie er Widerstand gegen die Verehrung fremder Götter leistet und den Machtmissbrauch der Königsfamilie kritisiert, die ihn darum verfolgt. Wie Mose erlebt auch Elia eine Gotteserscheinung am Horeb. Am Ende seines Lebens fährt Elia im feurigen Wagen in den Himmel auf – von dort soll er (nach Mal 3,23 f.) als Vorbote des Messias wiederkommen. Am Pessachfest wird für ihn ein überzähliges Gedeck aufgelegt und die Tür einen Spalt offengelassen – ein Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Welt!

ELKB ist die Abkürzung für Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern. Die ELKB ist eine von 20 Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Empowerment, psychologisches (engl. Selbstbefähigung, Ermächtigung) hat zum Ziel, Menschen dazu zu befähigen, das eigene Leben selbst zu gestalten und

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sich dabei kompetent und selbstsicher zu fühlen. Der Begriff wird im betrieblichen Personalwesen verwendet, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschreiben, die ihre Arbeit als sinnvoll und sich selbst dabei als selbstbestimmt und kompetent erleben.

Ethikrat: Der Deutsche Ethikrat ist ein aus 26 Mitglieder bestehender unabhängiger Sachverständigenrat, der sich monatlich trifft und mit Stellungnahmen und Empfehlungen zu großen Fragen des Lebens Orientierung für die Gesellschaft und die Politik geben soll. Die Mitglieder werden von Bundesregierung und Bundestag vorgeschlagen.

EU­Charta für Gleichstellung auf kommunaler und regionaler Ebene beinhaltet einen Ziel- und Maßnahmenkatalog, der allen Menschen die gleiche Teilhabe an den Ressourcen einer Gesellschaft bieten soll. Im Zuge dieser Charta wurden verschiedene Aktionspläne vereinbart, die die Gleichstellung von Männern und Frauen ermöglichen sollen.

Exil, babylonisches (auch: babylonische Gefangenschaft) bezeichnet die Zeit des Aufenthalts der judäischen Oberschicht in Babylon nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar II. Die Zeitspanne umfasst vermutlich die Jahre 587 bis 537 v. Chr. Die Rückkehr nach Jerusalem erfolgte mit der Erlaubnis des gegen die Babylonier siegreichen Perserkönigs Kyros II. Die Exilszeit war für Israel eine Zeit intensiver kritischer Selbstbesinnung und Reflexion der eigenen Gottesbeziehung. In dieser Zeit wurden die großen Geschichtswerke des Alten Testaments zusammengestellt und wurde der Monotheismus als Grundlage des Judentums ausgebildet.

Feuerbach, Ludwig Andreas (1804–1874) war ein deutscher Philosoph. Er studierte zunächst evangelische Theologie, dann Philosophie und wurde ein Schüler Hegels. Nach seiner Habilitation (1928) wurde ihm an der Universität Erlangen wegen religionskritischer Thesen die Lehrerlaubnis entzogen und er arbeitete als freier Dozent und Schriftsteller. Feuerbach gehörte zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten Hegelschen Linken, die an die Stelle von Hegels Philosophie des Geistes einen konsequenten Materialismus setzte.

Frankl, Viktor Emil (1905–1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. In seinem Buch »Trotzdem Ja zum Leben sagen.« (1946) erzählt er von seinen Erfahrungen in vier verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, und stellt dar, wie auch unter inhumansten Bedingungen Sinn im Leben gefunden werden kann.

Freud, Sigmund (1856–1939) war als Neurologe, Tiefenpsychologe, Kulturtheoretiker v. a. in Wien tätig; bekannt wurde er vor allem durch seine Studien zum Unbewussten und als Begründer der Psychoanalyse. Wichtig für den theologischen Diskurs sind auch seine religionskritischen Schriften. Er bezeichnet den Glauben an einen Gott als Ausdruck infantiler Vatersehnsucht und fordert stattdessen eine erwachsene Haltung zum L eben.

Friedrich, Caspar David (1774–1840) war einer der bedeutendsten Maler der deutschen Frühromantik.

Gehlen, Arnold (1904–1976) war deutscher Philosoph und Soziologe. Er zählt neben Helmuth Plessner und Max Scheler zu den Begründern der philosophischen Anthropologie.

Gender Care Gap beschreibt den prozentualen Unterschied, den Männer und Frauen für unbezahlte Sorgearbeit aufwenden. Dieser Prozentsatz wird u. a. als Indikator für die Gleichstellung von Frauen und Männern verwendet.

genome editing: Mit Hilfe von genome editing-Technologien wird in die DNA von Organismen – Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren oder auch Menschen – eingegriffen, um das Erbgut gezielt zu verändern. Zu diesen Technologien gehört auch die sog. »Gen-Schere«, die es erlaubt, präzise Gene aus den DNA-Strängen auszuschneiden und sie an anderer Stelle wieder einzufügen.

Gerechtigkeit bezeichnet allgemein einen Maßstab zur Beurteilung individuellen Handelns, zwischenmenschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Regelsysteme. Der Begriff zeigt an, worauf Menschen ein Recht haben bzw. was angemessen oder fair wäre. Wel-

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cher Maßstab bzw. welche Perspektive konkret angewendet werden soll, ist umstritten: Geht es zum Beispiel um das, was Menschen zum guten Leben benötigen (Bedarfsgerechtigkeit) bzw. was sie dazu befähigt (Befähigungs- oder Teilhabegerechtigkeit)? Geht es um das, was ihnen gemäß ihrer Leistung zusteht (Leistungsgerechtigkeit)? Sollen alle die gleichen (Start-) Chancen haben (Chancengleichheit) und deshalb auch zukünftige Generation nicht benachteiligt werden (Generationengerechtigkeit)? Gelten für alle die Gesetze gleichermaßen (Regel- oder Verfahrensgerechtigkeit)? In theologischer Hinsicht verweist Gerechtigkeit durch den Einbezug von Gottes Perspektive vor allem darauf, die Lage von Unterdrückten und Unterprivilegierten wahrzunehmen, mit ihnen solidarisch zu sein und sich im Sinne einer Teilhabegerechtigkeit für sie einzusetzen. Eine vollkommene Gerechtigkeit ergibt sich aber erst im Horizont des Reiches Gottes.

Geschichte Israels in biblischer Zeit (Auswahl): 1550–1150 Spätbronzezeit; Ägypten herrscht über die Gebiete Kanaans; kanaanäische Stadtstaaten. Auf diese Zeit beziehen sich die biblischen Erinnerungen an Ägypten und Exodus.

1200–1000 Israel als Stämmegesellschaft

1000–931 Königtum Davids und Salomos

931–722 Nordreich Israel (Samaria) bis zur Eroberung durch die Assyrer

931–586 Südreich Juda bis zur Eroberung durch die Babylonier

586–538 Babylonische Herrschaft, Exil der Oberschicht in Babylon

538–332 Persische Herrschaft, Rückkehr nach Jerusalem

332–301 Griechische Herrschaft; Hellenismus

301–229 Ptolemäische und seleukidische Herrschaft

167–164 Befreiungskampf der Makkabäer;

164 Einweihung des Tempels

129–63 Her rschaft der Hasmonäer

63 v. C hr.–324 Römerherrschaft;

ca. 7 / 6 v. Chr. Geburt Jesu

66–70 Jüdischer Aufstand gegen die Römer, endet mit der Zerstörung Jerusalems.

Gesellschaftsvertrag meint in der politischen Philosophie ein gedankliches Konstrukt zur rationalen Bestimmung legitimer Herrschaft. In diesem wird begründet, zu welchem Zweck sich die Individuen zu einer Gesellschaft bzw. zu einem Staat zusammenschließen. Bei Thomas Hobbes etwa garantiert der Souverän (Leviathan) die Sicherheit der Individuen durch das Durchsetzen einer Rechtsordnung auf Grundlage seines Gewaltmonopols, weshalb die Menschen auf Rechte und Freiheiten verzichten und diese an den Staat abtreten.

Godesberger Erklärung: Der Reichskirchenminister in Deutschland, Hanns Kerrl, unternahm 1939 den Versuch, alle kirchlichen Gruppierungen innerhalb der Evangelischen Kirche auf der Basis von gemeinsamen Grundsätzen zu vereinigen. Die Godesberger Erklärung ist die erste Fassung dieser Grundsätze, die eine Vermischung von Christentum und nationalsozialistischer Weltanschauung erkennen lässt und sich gleichermaßen gegen das Judentum und die Ökumene ausspricht.

Grundeinkommen, bedingungsloses, (BGE) meint Vorstellungen zu einer regelmäßigen finanziellen Zuwendung, die allen Einzelpersonen einer Gesellschaft unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage und Bedürftigkeit zusteht. Das BGE soll deren Grundversorgung sichern, ihnen ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Freiheit geben und (auch versteckte) Armut verhindern. Im Gegensatz zu Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld gilt das BGE bedingungslos und muss nicht zurückgezahlt werden. Die Idee wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Befürworter sehen es z. B. als Mittel zur Bekämpfung von Armut und zur Förderung von Chancengleichheit – Gegner als Einladung zur Arbeitsverweigerung, als Form der Ungerechtigkeit oder als unfinanzierbare Utopie.

Häresie (griech. hairesis: Wahl) bezeichnet eine von der herrschenden Lehre abweichende Glaubensposition bzw. »Irrlehre«. In den ersten Jahrhunderten der Kirche waren es oft häretische Positionen, die den Anstoß gaben, die kirchliche Lehre neu zu verhandeln (z. B. auf Konzilien) und in Gestalt von Dogmen zu präzisieren. Im Mittelalter wurden Häresien hart be-

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straft, oft mit Folter und Tod. Im christlichen Kontext wird dieser Begriff gegenwärtig kaum noch verwendet. Im übertragenen Sinn kann der Begriff auch für Positionen in nichtreligiösen Kontexten stehen, die sich von der Mehrheitsmeinung unterscheiden.

Häretiker Häresie

Hobbes, Thomas (1588–1679), englischer Philosoph, Staatstheoretiker und Mathematiker, verfasste in seinem bekanntesten Werk »Leviathan« (benannt nach dem biblischen Meerungeheuer) eine theoretische Begründung des Absolutismus; angesichts des unsicheren Naturzustands der Menschen, deren Zusammenleben durch Egoismus, Gewalt und den Kampf aller gegen alle charakterisiert ist, sieht er die Notwendigkeit der Übertragung aller Macht auf den Souverän.

homo homini lupus, lateinisch für: Der Mensch (ist) dem Menschen ein Wolf. Die berühmte, aus der Antike (vom römischen Komödiendichter Plautus) stammende Sentenz bringt die pessimistische anthropologische Gr undannahme von Thomas Hobbes auf den Punkt, dass der Mensch eine sehr große Gefahr für seine Mitmenschen darstelle. Er sei von Grund auf ( Naturzustand) egoistisch und habe ein natürliches Recht auf alles, was zu einem Krieg aller gegen alle führen würde. Allerdings stellt eine solche existenzgefährdende Konkurrenzsituation ein hohes Risiko für das Erreichen seiner egoistischen Ziele dar. Deshalb delegiert er dank vernünftiger moralischer Einsicht seine Macht freiwillig an einen Souverän, der über ein Gewaltmonopol den Schutz der Einzelperson und die langfristige Einhaltung dieses Gesellschaftsvertrags garantiert.

Huizinga, Johan (1872–1945) war niederländischer Kulturhistoriker. In seinem bekanntesten Werk »Herbst des Mittelalters« befasst er sich mit Geistesund Lebensformen im spätmittelalterlichen Europa. In seiner Arbeit »homo ludens« (1938) vertritt er eine Sichtweise vom Menschen, die das Tätigsein des Menschen mit dessen Spieltrieb begründet. Damit grenzt er sich von der philosophischen Anthropologie ( Plessner, Gehlen) ab, die den Begriff des »homo faber« (der tätige, arbeitende Mensch) prägte.

Ideenlehre: Platon unterschied die körperliche sinnlich-materielle Welt von der Welt der »Ideen«, die nicht mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Der Begriff »Ideen« (griech. eidos / idea: das Gesehene) ist dabei nicht im Sinne von »Einfälle, Gedanken« zu verstehen (wie es alltagssprachlich üblich ist). Vielmehr bezeichnet Platon damit eigenständige Wesenheiten, die den sichtbaren Erscheinungen vor- und übergeordnet sind. So ist ein konkreter materieller Tisch nur eine vergängliche Erscheinungsform der unvergänglichen Idee des Tisches. Solche Ideen gibt es auch für immaterielle Phänomene. So spricht Platon z. B. von der Idee der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Besonnenheit usw. Die höchste Idee ist die Idee des Guten. Nach Platons dualistischem Welt- und Menschenbild stammt die Seele aus dem Reich der Ideen und ist im Körper des Menschen gefangen. Doch obwohl der Mensch keinen unmittelbaren Zugang mehr zu den Ideen hat, kann er sich in seinem Denken daran erinnern und sich bemühen, sein Leben danach auszurichten. Die letzte Befreiung von den Fesseln des Leibes geschieht im Tod.

Job Sharing bezeichnet ein Modell von Teilzeitarbeit. Im Job Sharing teilen sich zwei oder mehr Arbeitnehmerinnen bzw. Arbeitnehmer eine Vollzeitstelle.

JR (*1993) ist ein französischer Fotograf und StreetartKünstler, der mit seinen Projekten die Welt verändern will. Er möchte durch sie Grenzen überwinden und Brücken zwischen Menschen bauen. Die Inside OutProjekte sollen Privatpersonen und Institutionen darin unterstützen, ihren Anliegen mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu verschaffen, bspw. für Themen wie Black Lives Matter, die Not von Geflüchteten oder die Rechte der LGBTQIA+-Community.

Jüngel, Eberhard (1934–2021) war Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie sowie Direktor des Instituts für Hermeneutik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. In seinem zentralen Werk »Gott als Geheimnis der Welt« (1973) entfaltet er ein trinitarisches Gottesverständnis aus dem Grundgedanken der Liebe Gottes.

Kant, Immanuel (1724–1804), deutscher Philosoph, gilt als einer der bedeutendsten Denker der Neuzeit.

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Seine berühmte Aussage, »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, wurde zum Wahlspruch der Epoche der Aufklärung. Er war davon überzeugt, dass mit den Mitteln der Vernunft alte Vorstellungen und Vorurteile über die Welt durch kritische Prüfung überwunden werden können und der Mensch sich so zum Positiven weiterentwickeln wird. Sein Denken stellt einen Wendepunkt der Philosophiegeschichte dar. Er hat sich u. a. intensiv mit der Frage nach den Grenzen unserer Erkenntnis (»Was kann ich wissen?«) und mit Fragen der Ethik (»Was soll ich tun«?) befasst. Daraus erwuchsen die beiden Werke »Kritik der reinen Vernunft« (1781, 1787) und »Kritik der praktischen Vernunft« (1788).

Katechismus nennt man eine Darstellung und Erklärung der christlichen Glaubensinhalte, vor allem zum Zweck der Lehre. Katechismen haben ihren Ursprung in der mündlichen Unterweisung der Taufbewerber. Bekannt wurden vor allem die beiden Katechismen Martin Luthers von 1529. Der Kleine Katechismus sollte ursprünglich der Weitergabe des Glaubens innerhalb der Familie dienen. In Form von Fragen und Antworten erläutert er die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis (Credo), das Vaterunser, die Taufe und das Abendmahl. Er ist im Evangelischen Gesangbuch (EG) abgedruckt. Der Große Katechismus richtete sich an Pfarrer. Beide Katechismen Luthers gehören zu den lutherischen Bekenntnisschriften. Der wichtigste Katechismus der reformierten Kirche ist der Heidelberger Katechismus (1563).

Keller, Gottfried (1819–1890) war ein Schweizer Dichter und Politiker. Er gilt als ein bedeutender Vertreter des bürgerlichen Realismus; bekannt sind u. a. sein Novellenzyklus »Die Leute von Seldwyla« und sein Roman »Der grüne Heinrich«.

Kiddusch (von hebr. kaddosch, heilig) heißt der jüdische Segensspruch, der zu Beginn des Schabbats und anderer Feiertage über einem Glas Wein gesprochen wird.

Kleist, Heinrich von (1777–1811) gilt heute als einer der bedeutendsten deutschen Literaten, dessen Werk zwischen der Klassik und der Romantik angesiedelt

wird. Das Jahr 1801 gilt als Umbruchsituation in Kleists Leben, die mit der Bezeichnung »Kantkrise« in die Forschung eingegangen ist. Heute ist umstritten, ob die Lektüre Kants Ursache oder Auslöser von Kleist Lebenskrise war.

Knigge spielt auf den Urheber des berühmten Buches »Vom Umgang mit Menschen« (1788), Adolph Freiherr von Knigge, an. Während dieser darin Ratschläge gibt, wie man »glücklich und vergnügt« mit unterschiedlichen Menschen zusammenleben kann, wird der Begriff »Knigge« heute meist als Synonym für alle Formen von sog. Benimmbüchern verwendet.

Konzil (lat. Versammlung) nennt man in der Alten Kirche und nach der Reformation in der katholischen Kirche eine Bischofskonferenz, die über Fragen des Glaubens und der Lehre berät und verbindliche Entscheidungen trifft. Wichtige Konzilien der Alten Kirche, die von den damaligen Kaisern einberufen wurden, waren diejenigen von Nizäa und Konstantinopel (325 und 381), in denen Fragen der Trinität Gottes entschieden wurden, sowie das Konzil von Chalcedon (451), bei dem es um die doppelte Natur Jesu Christi als Mensch und Gott ging.

konziliarer Prozess: Darunter wird der Versuch gesehen, das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kirchen auf der Gr undlage des gemeinsamen christlichen Glaubens zu fördern und zu stärken. Auf der ökumenischen Weltversammlung in Seoul 1990 wurden Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als die zentralen sozialethischen Problemfelder benannt, in denen sich die Kirchen für die Zukunft in der Welt engagieren müssen.

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ebenskoffer-Projekte (z. B. von Bildungseinrichtungen oder Gemeinden) laden Menschen dazu ein, dass sie ihren individuellen Lebens-Koffer (z. B. mit Erinnerungs- oder mit Symbolgegenständen) packen und gestalten, um ihre bisherige Lebensreise zu reflektieren und / oder darüber nachzudenken, welche Wünsche sie für ihren weiteren Weg haben und was sie dafür brauchen.

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Lehmann, Karl (1936–2018) war ein deutscher römisch-katholischer Theologe und als Kardinal von 1983 bis 2016 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) war ein bedeutender deutscher Philosoph in der Zeit der Aufklärung; zugleich war er Mathematiker, Diplomat, Physiker, Historiker, Politiker, Bibliothekar und Jurist. Für die Theologie ist vor allem sein Beitrag zur Theodizeefrage (»Essai de Théodicée«, 1710) mit der berühmten These von der Welt als »bester aller möglichen Welten« wichtig geworden.

Lévinas, Emmanuel (1906–1995) war ein französisch-jüdischer Philosoph und Schriftsteller. Als Professor für Philosophie lehrte er in Nanterre und an der Pariser Sorbonne. Er vertrat – in der Tradition des Judentums stehend – eine »Ethik des Anderen«, die eine bemerkenswerte Sicht auf das biblische Liebesgebot ermöglicht und die in unserer Zeit v. a. im Hinblick auf den Umgang mit Fremden diskutiert wird.

Machiavelli, Niccolò (1469–1527), italienischer Staatsmann, Philosoph und Geschichtsschreiber, gilt als bedeutender politischer Denker, dessen Analysen von Herrschaftsmacht mit der Forderung einer notwendigen Trennung von Politik und Moral bis in die Gegenwart kontrovers diskutiert werden.

manichäisch (zum Manichäismus gehörend bzw. diesen betreffend): Der Manichäismus war eine synkretistische (von vielen anderen Religionen beeinflusste) Religion der Spätantike mit einer ausgeprägt dualistischen Weltanschauung. In den Sozialwissenschaften wird der Begriff »manichäisch« z. T. zur Charakterisierung von Weltanschauungen und Weltbildern verwendet, die von einem starken Dualismus zwischen »gut« und »böse« geprägt sind.

Marx, Karl (1818–1883) wirkte als Philosoph, Gesellschaftstheoretiker und Ökonom. Vielen Menschen heute ist er vor allem als einer der bedeutendsten Religionskritiker der Moderne und einflussreichster Theoretiker des Kommunismus und Sozialismus bekannt. In seinem dreibändigen Hauptwerk »Das Kapital« (1. Bd. 1867 ver-

öffentlicht; Bde. 2 und 3 posthum durch Friedrich Engels herausgegeben) übt er grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, indem er auf die Ausbeutung der Arbeiter ver weist, die Unversöhnlichkeit der Interessen von »Proletariern« (Arbeitern) und der »Bourgeoisie« (Kapitalisten, Arbeitgeber) betont und die Arbeit im Kapitalismus als »entfremdete« Arbeit bezeichnet, die dadurch charakterisiert ist, dass sie nur noch auf das Erzielen von Tauschwerten ausgerichtet sei – statt Ausdruck freier, schöpferischer Tätigkeit zu sein oder sich zumindest an dem Gebrauchswert von Arbeit auszurichten.

Meta­Erzählungen werden Erzählzusammenhänge bzw. »große Erzählungen« aus Mythos, Religion und Philosophie genannt, die tief in einer Kultur verwurzelt sind und die gemeinschafts-, sinn- und orientierungsstiftend wirken.

Metaphysik (griech.: nach, jenseits oder hinter der Physik) wird als Begriff meist von der Anordnung des Gesamtwerks Aristoteles’ durch einen Herausgeber abgeleitet: Hinter den naturwissenschaftlichen Schriften wurden die philosophischen Bücher sortiert, die sich mit dem beschäftigen, was die Welt der physischen Erscheinungen übersteigt bzw. ihr zugrunde liegt. Allgemein bezeichnet Metaphysik deshalb die Lehre von den letzten Gründen und Zusammenhängen der Welt, also dem, was hinter dem sinnlich Erfahrbaren liegt. Aristoteles selbst verwendete dafür die Bezeichnung: »erste Philosophie« von den Prinzipien und Ursachen des Seienden.

Moral (von lat. mos, moris: Sitte) bezeichnet die sittlichen Regeln und Verhaltensweisen, die in einer Gemeinschaft als verbindlich gelten und deren Nichtbeachtung sanktioniert werden kann. Jede Moral ist historisch bedingt, d. h. zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation entstanden, und hat insofern stets nur begrenzte Gültigkeit. Innerhalb einer Gemeinschaft können auch unterschiedliche, ggf. miteinander konkurrierende Moralsysteme existieren.

Moralismus bezeichnet (abwertend) einen als übertrieben wahrgenommenen Bezug auf Moral bei Fragen des menschlichen Zusammenlebens; z. T. verbindet sich der Begriff mit dem Vorwurf, dass moralische

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Prinzipien zu rigoros oder zu starr angewendet werden, dass Sachlagen unangemessen vereinfacht würden und sich diejenigen, die andere im Hinblick auf ihr moralisches Tun kritisierten, in erster Linie sich selbst in ein gutes Licht stellen wollten. Umgekehrt kann der Moralismus-Vorwurf auch dazu verwendet werden, berechtigte Anliegen zu diskreditieren.

Multiple Sklerose ist eine chronische neurologische Krankheit, die in der Regel zum ersten Mal im jungen Erwachsenenalter auftritt und bei schwerem Verlauf u. a. zu Sehstörungen oder Gehbehinderungen führen kann.

Mystik (von griech. myein: Mund und Augen schließen): In vielen Religionen gibt es Strömungen, die ganz auf das religiöse Erleben ausgerichtet sind. Als Wege zur Erfahrung der Vereinigung mit dem Göttlichen oder dem Urgrund gelten die Askese, die Meditation und die Hingabe. Wichtige christliche Mystiker / innen des Mittelalters waren z. B. Hildegard von Bingen (1098–1176) und Meister Eckhart (ca. 1260–1328).

Naturzustand meint die philosophische Annahme, dass es einen natürlichen, vorgesellschaftlichen und somit rechtsfreien Zustand des menschlichen Zusammenlebens gab, der der Natur des Menschen entspricht. Dieser kann – je nach Menschenbild – unterschiedlich positiv oder negativ gedacht werden. Einer solchen Annahme wird häufig vorgeworfen, dass sie reine Fiktion sei, die dazu dient, eine darauf aufbauende politische Theorie zu legitimieren.

New Work beschreibt eine Konzeption von Arbeit des Sozialphilosophen Frithjof Bergmann aus den 1980er Jahren, in der es ihm darum ging, dass Menschen nur der Arbeit nachgehen sollen, der sie tatsächlich nachgehen wollen. Sein Ansatz entsteht im Zusammenhang mit dem Einbruch der Autoindustrie in Michigan, wodurch er ganz grundlegend über die Neugestaltung von Arbeit nachdenkt. Angesichts einer wachsenden Digitalisierung, Technisierung und Globalisierung ist die Arbeitswelt einem starken Wandel ausgesetzt, der die Fragen nach würdevoller und sinnvoller Arbeit befeuert. Die Fragen nach »New Work« werden vor diesem Hintergrund wieder neu gestellt.

Nietzsche, Friedrich (1844–1900) war ein deutscher Philosoph und Schriftsteller. Als scharfer Kritiker von Religion, Moral und Philosophie der europäisch-abendländischen Tradition setzte er sich insbesondere mit dem C hristentum und seiner »Sklavenmoral« des Mitleids auseinander, gipfelnd in der Aussage: »Gott ist tot«. An seine Stelle sollen der »Übermensch«, die »Umwertung aller Werte«, der »Wille zur Macht«, und die »ewige Wiederkehr des Gleichen« treten.

Nihilismus (von lat. nihil: nichts) heißt ein philosophisches Konzept, das jede Möglichkeit objektiver Wahrheit und damit jede bestimmte Ordnung der Welt, Wer teordnung oder Sinnhaftigkeit des Seins ablehnt.

Nolle, Jana Sophia (*1986) ist eine deutsche Fotografin, die sich soziopolitischen Themen widmet. Für ihr Projekt »Living Room« (San Francisco und Berlin 2017–2020) bat sie Hausbesitzer und Obdachlose um Zugang zu deren privaten Räumen und darum, die improvisierten Obdachlosenbehausungen temporär in den gutsituierten Wohnzimmern nachzubauen.

One Minute Sculpture nennt der Künstler Erwin Wurm (*1954) seine – oftmals nur mit großer Anstrengung umsetzbaren – Handlungsanweisungen, wie Menschen für die Dauer von 60 Sekunden selbst zu einem Kunstwerk werden können.

ontologisch: Dieser Begriff aus der philosophischen Erkenntnistheorie bedeutet: die Ontologie – also die Lehre vom Sein – betreffend.

Osterlachen: Besonders seit dem Spätmittelalter gab es den Brauch, im Ostergottesdienst die Gemeinde durch Witze oder derbe Geschichten zum Lachen zu bringen. Dadurch sollte die Osterfreude ausgedrückt werden, der Sieg des Lebens über den Tod. Im katholischen Bayern gab es diesen Brauch bis ins 19. Jh. hinein. Heute wird er in manchen Gemeinden neu belebt.

Oxfam ist eine 1942 in Oxford gegründete weltweit agierende Nothilfe- und Entwicklungsorganisation mit ca. 3.000 Partnerorganisationen. Sie unterstützt Menschen dabei, Armut und soziale Ungerechtigkeit zu über winden.

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atchwork: Der Begriff geht auf engl. patch (Flicken) zurück und bezeichnet die Technik, aus Stoffresten oder anderen Textilstücken unterschiedlicher Farbe und Musterung z. B. Kissen, Decken, Taschen oder Kleidung herzustellen.

Platon (427–347 v. Chr.) war Schüler des Sokrates und Lehrer von Aristoteles und gilt neben den beiden anderen als wichtigster Philosoph der Antike. 387 gründete er in Athen die sog. Akademie, eine Philosophenschule. Fast alle seine Werke sind dialogisch verfasst und lassen meist Sokrates als Hauptperson auftreten. Aus ihnen lässt sich keine völlig einheitliche Lehre ableiten. Als grundlegend wird aber sein Gegensatz zu den relativistischen Positionen der Sophisten, wie z. B. Gorgias, gesehen. Er versucht ihnen gegenüber nachzuweisen, dass jede relativistische Leugnung von Wahrheit selbst eine bestimmte Vorstellung von Wahrheit voraussetzt und somit in sich widersprüchlich und unredlich ist. Wahrheit und Erkenntnis lassen sich dabei nicht an der vorfindlichen Welt festmachen, sondern verweisen auf eine geistig-ideelle Wirklichkeit hinter den Dingen, wie sie Platon in seiner Ideenlehre ausführt.

Plessner, Helmuth (1904–1976) war deutscher Philosoph und Soziologe. Er zählt neben Helmuth Gehlen und Max Scheler zu den Begründern der philosophischen Anthropologie.

Politeia ( griech.: der Staat) ist ein Werk Platons. In einem fiktiven Dialog, geleitet von Platons Lehrer Sokrates, wird darin über Gerechtigkeit philosophiert und eine Vision eines idealen Staates entworfen. Besonders bekannt ist das sog. Höhlengleichnis.

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eligionskritik: Während die verschiedenen Formen des Atheismus die Existenz eines göttlichen Wesens ablehnen, bezieht sich Religionskritik auf Religion und Religionen allgemein, auf ihre Glaubensaussagen, Praktiken, Institutionen.

resonanztheoretisch: Der Soziologe Hartmut Rosa entwickelt in seinem Buch »Resonanz« (2016) seine vielbeachtete Resonanztheorie. Sie besagt, dass »gutes Leben« auf Resonanz angewiesen ist, auf Beziehung, auf gegenseitiges Berührtwerden – im Gegensatz zum

entfremdeten Lebensmodell des »Schneller-weiter-höher«, das die moderne Gesellschaft beherrscht.

Römerbrief: Den Brief an die (ihm persönlich nicht bekannte) Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen in Rom schrieb Paulus vermutlich ca. 55/56 n. Chr., vor seiner letzten Reise nach Jerusalem. Von all den Paulusbriefen hat dieser die protestantische Theologie wegen der darin behandelten zentralen Glaubensthemen besonders geprägt. Martin Luther gewann in Auseinandersetzung mit dem Römerbrief seine Einsicht über die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben; ferner denkt Paulus hier z. B. über Taufe und neues Leben nach (Röm 6), über die Freiheit der Kinder Gottes und das Leben im Geist (7 f.), über das Verhältnis von Juden und Christen (9–11) und über das Verhältnis der Christen zur staatlichen Obrigkeit (13).

säkular / säkularisiert: (lat.: weltlich, profan – im Unterschied zu »geistlich«): Historisch bezeichnet man mit Säkularisierung die Aneignung kirchlicher Güter durch den Staat; gegenwärtig beschreibt man mit Säkularisierung einen Prozess zunehmender Entkirchlichung. Ob damit auch ein Rückgang der Religion einhergeht, ist umstritten. Viele Theologen und Religionswissenschaftler sprechen eher von einem Religionswandel bzw. einer veränderten Religiosität, die auch außerhalb der Kirche in vielfältigen Phänomenen sichtbar wird.

Sartre, Jean­Paul (1905–1980) war französischer Philosoph und Schriftsteller und bedeutender Denker des 20. Jahrhunderts. Der philosophischen Strömung des Existenzialismus angehörend geht er davon aus, dass der Mensch erst von seiner konkreten individuellen Existenz und seinen Erfahrungen her bestimmt werden kann.

Schabbat schalom ist eine Grußformel, die sich Jüdinnen und Juden am Schabbat (auch: Sabbat), zusprechen. Der hebräische Begriff schalom bedeutet dabei Friede in einem ganz umfassenden Sinn als gutes und gelingendes Leben.

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) war protestantischer Theologe, Altphilologe,

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Philosoph, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker und Pädagoge. Nach seinem Verständnis gründet Religion auf dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Indem er die christliche Glaubenslehre aus dem Selbstbewusstsein des Menschen begründet, verbindet er Religion und Kultur miteinander. Schleiermacher wird als »Kirchenvater des 19. Jahrhunderts« und als Begründer der modernen Theologie gesehen. Wichtige Werke sind: »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« und seine »Glaubenslehre«.

Schnädelbach, Herbert (*1936) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrte in Frankfurt, Hamburg und Berlin. Mit einem religionskritischen Artikel in der ZEIT löste er 2000 eine öffentliche Diskussion über das Christentum aus.

schwarzes Feuer auf weißem Feuer: In der jüdischen Hermeneutik werden die Buchstaben der Tora metaphorisch als »schwarzes Feuer« gedeutet und die vielfältig zu füllenden Leerstellen, die Zwischenräume auf dem Pergament zwischen diesen Schriftzeichen als »weißes Feuer«, das mindestens so hell lodert und ebenso bedeutsam ist wie das, das geschrieben steht.

Selbstkonzept: Dieser Begriff wird z. T. synonym zum Begriff Selbstwertgefühl verwendet. Präzise verwendet beschreibt Selbstkonzept die eigene Selbstwahrnehmung von Personen sowie das reflexive Wissen über sich selbst (z. B. über Interessen, Neigungen und typische Verhaltensweisen), während sich Selbstwertgefühl primär auf die Bewertung dieses Wissens bezieht.

Sieben Wochen ohne heißt eine Fastenaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland, die jedes Jahr in der Passionszeit stattfindet. Das Fasten bezieht sich dabei nicht auf Essen und Trinken, sondern es werden jedes Jahr mithilfe von Bild- und Textimpulsen Anregungen gegeben, wie man auf schädliche Gewohnheiten oder eingefahrene Verhaltensweisen verzichten könnte. Jedes Jahr steht ein bestimmtes Motto im Mittelpunkt.

Simmel, Georg (1858–1918) war ein deutscher Soziologe und Philosoph, der als einer der Gründer der modernen Soziologie gilt. In besonderem Maße hat er die

Bedingungen moderner Individualität erschlossen: Was befähigt den Menschen zu Individualität? Wie ist diese beschaffen? Und wie kann sie realisiert werden, wenn der Mensch in einer modernen Gesellschaft zwar scheinbar die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit hat, dem jedoch vielerlei Zwänge und Strukturen (wie Arbeitsbedingungen, Hierarchien), aber auch eine oberflächliche Orientierung an rasch wechselnden Angeboten an Lebensstilen im »Tumult der Großstadt« entgegenstehen?

Sölle, Dorothee (1929–2003) war eine Theologin und Literaturwissenschaftlerin, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einsetzte und u. a. 1968 das Politische Nachtgebet in Köln mitbegründete.

Sorgearbeit ist die Bezeichnung für fürsorgende Tätigkeiten zum Beispiel in der Altenpflege, in der Kinderbetreuung oder im Freundeskreis. Bisher werden diese Arbeiten meist von Frauen als Teil unbezahlter Hausarbeit verrichtet.

Sprechmotette ist eine Methode zur kreativen Auseinandersetzung mit Texten, bei der aus dem vorgegebenen Wort- und Satzmaterial ein neuer – mehrstimmiger – Sprech-»Text« gestaltet wird. Durch diese Methode kann man z. B. auf Typisches oder Widersprüchliches oder auf versteckte Zusammenhänge im Text aufmerksam werden bzw. eigene Verstehensmöglichkeiten zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zum vorab geplanten und ausgearbeiteten Texttheater wird die Sprechmotette mehr oder weniger spontan gestaltet.

Stanfordexperiment: Bei diesem Experiment an der Stanford-Universität (1971), das auch durch den Spielfilm »Das Experiment« bekannt geworden ist, wurde eine Gruppe von Probanden nach dem Zufallsprinzip in Wärter und Gefangene aufgeteilt und einer simulierten Gefängnissituation ausgesetzt. Binnen kürzester Zeit passten sich beide Gruppen ihrer Rolle an. Die Wärtergruppe entwickelte autoritäre und sadistische Verhaltensweisen und die Situation eskalierte derart, dass das Experiment abgebrochen werden musste. Das Experiment ist inzwischen nicht nur in ethischer

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Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die Wissenschaftlichkeit seiner Methodik umstritten, da möglicherweise Einfluss auf die Wärter genommen wurde und Zimbardo selbst als Versuchsleiter die Rolle des Gefängnisdirektors übernommen hatte.

Texttheater Sprechmotette

Theismus (griech. theos: Gott) ist die Überzeugung, dass es ein höchstes, allmächtiges Wesen gibt.

Theologie der Befreiung Befreiungstheologie

Tillich, Paul (1886–1965) war protestantischer Theologe und Religionsphilosoph. Als Vertreter des religiösen Sozialismus musste er 1933 aus Deutschland emigrieren. Er lehrte in New York, Harvard und schließlich Chicago. Berühmt wurde sein weiteres Verständnis von Religion als dem, »was uns unbedingt angeht«. Sein Denken war von dem Bestreben geprägt, die christliche Religion und ihren Schatz an Symbolen unter den Bedingungen der Moderne wieder neu zu erschließen. Religion und Kultur bezog er produktiv aufeinander.

Thomas von Aquin (1225–1274) war ein bedeutender Theologe des Mittelalters. Mit seinen von ihm so bezeichneten »Fünf Wegen« zu Gott, die später als »Gottesbeweise« bezeichnet wurden, versucht er aufzuzeigen, dass der Glaube an die Existenz Gottes nicht vernunftwidrig ist, sich also Glaube und Vernunft nicht widersprechen.

transzendent (lat. transcendere: überschreiten) bedeutet jenseitig, die sinnlichen Erfahrungen sowie die Grenzen menschlicher Vernunft und menschlichen Bewusstseins übersteigend.

Västerås­Methode: Dabei handelt es sich um ein einfaches, vierschrittiges Verfahren, das dazu dient, die Lektüre eines Textes zu verlangsamen und in einer Gruppe darüber ins Gespräch zu kommen. Zunächst wird der Text laut gelesen, sodann in Einzelarbeit mit Symbolen versehen, z. B.: ? = verstehe ich nicht; ! = wichtig!; -> = berührt mich; = ärgert mich; + = freut mich. Bewährt haben sich ca. drei Symbole. Danach werden die Markierungen gemeinsam Satz für Satz be-

sprochen, bevor der Text am Ende noch einmal laut gelesen wird.

Vision Board bezeichnet ein visuelles Hilfsmittel zur Darstellung eigener Ziele. Es wird als Collage aus z. B. Fotos, Skizzen, Sprüchen, Stichworten, Zeichnungen etc. erarbeitet. Die Visualisierung soll helfen, gewünschte Ziele zu erreichen.

Wiesel, Elie (1928–2016) war ein US-amerikanischer jüdischer Schriftsteller, der Auschwitz überlebte und seine schriftstellerische Tätigkeit in den Dienst der Erinnerungsarbeit stellte. Er war Träger des Friedensnobelpreises.

Wormser Edikt: Das Wormser Edikt bezeichnet den Erlass Kaiser Karls V., in dem kurz nach Martin Luthers Verhör vor dem Reichstag in Worms 1521 über Martin Luther die Reichsacht verhängt und das Lesen und die Verbreitung seiner Schriften verboten wurde. Jeder war verpflichtet, ihn an Rom auszuliefern, und es war verboten, ihn bei sich aufzunehmen.

Zweites Vatikanisches Konzil, auch Vaticanum II, ist die Bezeichnung für eine 2850 Würdenträger umfassende Versammlung der römisch-katholischen Weltkirche, die von 1962 bis 1965 stattfand und weitreichende Beschlüsse zur Folge hatte: Diese betreffen die Erneuerung der Liturgie (z. B. Volkssprache statt Latein), die Förderung der Ökumene, die Anerkennung der Religionsfreiheit und die Veränderungen in der Beziehung zwischen Laien und Klerus. Das Konzil gilt als Meilenstein für die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und der modernen Welt.

Zwei­Reiche­Lehre ist ein gängiger, wenn auch problematischer Ausdruck für Luthers Unterscheidung von den zwei Regierweisen Gottes, da Luther in seinen Schriften keine Lehre im Sinne einer systematischen Theorie zum Verhältnis von Kirche bzw. Religion und Staat entwirft. Einzelne Aussagen Luthers werden vielmehr im 19. und 20. Jahrhundert mitunter so akzentuiert und interpretiert, dass sich die Kirche aus staatlichen Angelegenheiten entweder herauszuhalten oder sich umgekehrt zum Erfüllungsgehilfen des Staats zu machen habe, da dieser von Gott legitimiert ist.

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Aggression 83, 96, 97, 98, 101, 102, 144, 154

Allmacht 21, 47, 52, 146, 149

Arbeit 26, 27, 33, 58, 59, 62, 64, 67, 68, 69, 74, 75, 76, 77, 78. 79, 80, 107, 116, 124, 134, 150, 151, 152, 153, 158

Armut 113, 115, 133, 134, 135, 136, 137, 158

Atheismus 35, 36, 37, 48, 146

Auferstehung 47, 53, 69, 107, 146

Beruf 33, 58, 59, 62, 69, 74, 76. 77, 79, 91, 120, 131, 136, 150, 151, 151, 153, 158

Bildung 76, 91, 92, 125, 133, 137, 151

Blickfeld 4, 8, 9, 12, 15, 16, 17, 36, 54, 117

Böse(s) 24, 49, 51, 53, 82, 97, 98, 99, 102, 106, 120, 128, 138, 146

Bruchstück 8, 16, 17, 82, 83, 94, 154, 157

Ebenbild 7, 71, 109, 146, 150, 153, 156, 158

Entfremdung 75, 80, 100, 104, 105, 106, 107, 154, 156

Freiheit 7, 15, 29, 39, 47, 49, 58, 61, 63, 73, 75, 76, 77, 78, 96, 98, 99, 100, 103, 104, 106, 108, 112, 113, 117, 123, 128, 131, 135, 144, 149, 150, 153, 154, 155, 157, 158

Frieden 7, 56, 103, 121, 127, 128, 130, 158

Gerechtigkeit 7, 13, 33, 42, 49, 69, 108, 113, 121, 123, 127, 131, 135, 136, 137, 138, 158, 161, 162

Gesellschaft 4, 5, 14, 72, 75, 77, 88, 98, 103, 112, 113, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 135, 136, 137, 138, 145, 146, 151, 152, 153, 154, 158, 160

Gewalt 11, 30, 45, 96, 99, 121, 128, 129, 130, 131, 135, 137, 146

Glück 6, 7, 27, 36, 50, 63, 102, 119, 120, 123, 135, 137, 158

Heiliger Geist 24, 27, 30, 38, 39, 40, 41, 45, 108, 127, 128, 146, 147, 148, 149

Identität 83, 87, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 111, 149, 154

Kirche 5, 7, 37, 39, 47, 56, 67, 71, 73, 88, 112, 113, 121, 124, 125, 126, 127, 130, 137, 138, 139, 151, 158, 160, 161

Körper 7, 13, 24, 83, 85, 86, 87, 89, 102, 103, 106, 116

Kreativität 4, 7, 59, 81, 150, 153

Kreuz 24, 46, 47, 51, 53, 146, 147, 148, 149

Kultur 16, 64, 65, 66, 72, 78, 87, 91, 93, 120, 129, 132, 154

Künstliche Intelligenz 64, 89, 138

Leistung 7, 58, 59, 64, 72, 73, 77, 81, 85, 86, 97, 108, 109, 115, 122, 135, 146, 150, 152, 153, 154

Liebe 16, 27, 31, 34, 37, 39, 47, 52, 53, 64, 73, 77, 94, 103, 104, 107, 109, 126, 146, 149, 154

Politik 36, 67, 103, 112, 118, 120, 121, 123, 125, 158, 160, 161

Rechtfertigung 7, 45, 49, 83, 94, 108, 109, 111, 130, 146, 149, 154, 156

Reformation 7, 73, 126, 130

Religionskritik 21, 35, 36, 37, 45, 146

Sabbat 52, 59, 69, 78, 150

Schöpfung 7, 27, 40, 41, 48, 52, 55, 68, 69, 71, 100, 104, 127, 156, 158, 160, 162

Schuld 31, 48, 51, 83, 93, 94, 96, 102, 103, 104, 106, 108, 111, 154, 157

Sinn 4, 6, 7, 8, 17, 20, 21, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 21, 36, 40, 41, 42, 44, 47, 62, 64, 66, 72, 91, 92, 99, 103, 109, 123, 125, 126, 146, 154, 156

Sünde 7, 24, 50, 62, 63, 94, 102, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 111, 128, 149, 154, 155, 156, 157, 158

Theodizee 7, 21, 48, 49, 50, 51, 52, 146

Trinität 38, 39, 54, 55, 107, 142, 146, 149

Wahrheit 8, 9, 11, 13, 15, 16, 25, 32, 35, 47, 50, 51, 109, 127, 154

Register 176 REGISTER
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BILDER

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S. 9, S. 18 o., S. 140: Fujiko Nakaya. Nebel Leben, Installationsansicht / Installation view, Haus der Kunst, 2022, Foto: Andrea Rossetti, Mailand

S. 10: Francis Zeischegg, Blickwinkel, 2011, Wandgraphik, tapeziert, Pigmentdruck auf Papierbahnen, 320 x 365,6 cm, Aufl. 30. Mit freundlicher Genehmigung von Galerie Judith Andreae, Foto: Oliver Schuh, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 11: Francis Zeischegg, Kleine Neugierde II, 2013, Holzgestell, Weidengeflecht, 50 x 60 cm. Mit freundlicher Genehmigung von Galerie Judith Andreae, Foto: Oliver Schuh, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 12 l.: andre Werbung Rhein-Main GmbH, Suhl, r.: Illustration Mann: © upklyak/freepik.com, Gestaltung: Cordula Schaaf, München

S. 13: Milos Bicanski/Getty Images

S. 14: aus dem Film: Kant für Anfänger Folge 2, Kopernikanische Wende. © ARD alpha 2004 in Lizenz der BRmedia Service GmbH

S. 15: Richard Osborne, Philosophie. Eine Bildergeschichte für Einsteiger, S. 110, illustriert von Ralph Edney. Rechte: Ralph Edney, London

S. 16: Geflickte Gefässe. Ausstellung »Stückwerk: Geflickte Krüge, Patchwork, Kraftfiguren« (29. 4. 2022 – 22. 1. 2023) im Museum der Kulturen Basel © Museum der Kulturen Basel, Foto: Omar Lemke, 2022

S. 17: Quint Buchholz, Am Wasser. Mit Texten von Johanna und Martin Walser. © 2000 Carl Hanser Verlag GmbH & Co, KG, München, in: Die Bibel in Bildern von Quint Buchholz. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010. Als Bild zu 1 Kor 13,12 verwendet.

S. 18: Fujiko Nakaya. Nebel Leben, Installationsansicht / Installation view, Haus der Kunst, 2022, Fotos o.: Andrea Rossetti, Mailand, u.: Cordula Schaaf, München

S. 21, S. 38 o., S. 140: Anna und Maria Obernosterer, beiderart, A-9300 St. Veit/Glan

S. 22 o.: Wolfgang Bruchhagen, Berlin, u.: spreadshirt, Leipzig

S. 23 aus: Anders Nilsen, Große Fragen. Atrium Verlag, Hamburg 2012, S. 13 f., Originalausgabe: Big Questions. Copyright Anders Nilsen. Mit freundlicher Genehmigung von Drawn & Quarterly, Montreal, Kanada

S. 24: cess609/iStock.com

S. 25 l.: Jan Tomaschoff/, https://de.toonpool.com/, r.: Alexander Brückner, Berlin, https://islieb.de/

S. 26 l.: Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel, r.o.: ÖBB-Holding AG, Wien, r.u.: Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken e.V., Berlin

S. 29: bpk/Nationalgalerie, SMB/Andres Kilger

S. 30 Foto: Anna Thut/Edition Chrismon

S. 31: Glaubwürdig von Gott reden. Im Gespräch mit Paul Tillich. Hrsg. von Werner Zager. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2012

S. 32: Aktion »Mein Gottesbild« an Schulen der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2003/2004

S. 33: etsy.com

S. 34: Helmut Walther, Ludwig-Feuerbach-Gesellschaft Nürnberg e.V.

S. 35: Thomas Plaßmann, Essen

S. 36: 621513/Adobe Stock.com

S. 37: topz/Alamy Stock Photo

S. 38 o.: Anna und Maria Obernosterer, beiderart, A-9300 St. Veit/Glan, u.: Didgeman/pixabay.com

S. 39: Dreieinigkeitsfresko aus St. Jakob Urschalling, © P. Thomas Heck, München

S. 40 o.: Johann Ludwig Gottfried/Matthäus Merian, Historische Chronica. Oder Beschreibung der Fürnemsten Geschichten, so sich von Anfang der Welt, biß auff das Jahr Christi 1619 zugetragen. https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11196866?page=84,85, S. 84. Bayerische Staatsbibliothek, München

S. 41: Thomas Zacharias, Aussendung des Geistes. © VG BildKunst, Bonn 2024

S. 42: Chagall, Mose und der brennende Dornbusch, Lithografie, 1966. © VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Bildvorlage: akgimages

S. 43 o.: © Vectors Market/Adobe Stock.com, u.: Herbert Liebhart, Studio Liebhart + Verlag, München

S. 44: akg-images/Pirozzi

S. 45: Peter Horree/Alamy Stock Photo

S. 46 o.r.: Ferdinand Kreuzer, »Kreuzkrippe«, Installation 2006, Material: Holz, Tücher, Fotografie, Rechte beim Künstler

S. 47: Marc Chagall, Der Gekreuzigte. Bildvorlage: Orell Füssli Verlag, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 48: Rolf Zoellner/epd-bild

S. 49: Joel Kauffmann, Rechte bei den Erben

S. 50: The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo

S. 51 aus: Hans Fronius, Das Buch Hiob. Verlag Österreichisches Katholisches Bibelwerk, Kloster Neuburg 1980

S. 52: Ilana Lewitan, München, https://www.ilana-lewitan.de/ de/installationen/adam-wo-bist-du-berlin/

S. 53: GFreihalter/Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/ Harbaville-Triptychon (mittlere Tafel)

S. 54: S. KULTUMdepot Graz, aus: 1+1+1=1 Trinität. © Oswald Putzer, Wien

S. 59, S. 62, S. 140: © Robert Kneschke/Adobe Stock.com

S. 60 Fotos: Benjamin Rückert, München

S. 61: Thomas Barwick/Getty Images

S. 62: © Robert Kneschke/Adobe Stock.com

Quellenverzeichnis QUELLENVERZEICHNIS 177
copyrightedmaterial

Quellenverzeichnis

S. 63: Getty Images/7 Wochen ohne 2021/Edition Chrismon

S. 64 Foto: Bundesregierung/Bergmann

S. 65: © Watterson/Distr. Andrew McMeel Syndicate/Distr. Bulls

S. 66 Foto: Neumann und Rodtmann GbR, Berlin

S. 67: Philipp Blom, Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur. © 2022 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

S. 68 o.: Aike Arndt, Berlin, u.: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover

S. 69 Gestaltung: Cordula Schaaf, München

S. 70 o.: Marie Hudelot, Paris

S. 71: Brot für die Welt, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., Berlin

S. 72 v. o. n. u.: Claus Schunk/Süddeutsche Zeitung Photo, sampics/Stefan Matzke, nikolayloo/iStock.com, © Bayerisches Jugendrotkreuz/C. Geier

S. 73: Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart, Bild: © manun/photocase.de

S. 74: © Opus Bou/Methode Film

S. 75: picture alliance/NurPhoto/Artur Widak

S. 76 o.: Kampagne des Handwerks, Deutscher Handwerkskammertag (DHKT) e. V., Berlin, u.: Bertelsmann Stiftung

S. 77: Johann Mayr, München

S. 78: Traum-Ferienwohnungen

S. 79 Copyright: Stabsstelle Gleichstellung und Antidiskriminierung, Stadt Wuppertal, Grafik: www.sonneborndesign.de

S. 80: Andreas Kuhnlein, Unterwössen

S. 83, S. 92, S. 140: Canadian Museum of History, D-10755, CD1994-0686-017

S. 84/85 Foto: David-Brandt.de

S. 86 o.: Bernd Weil, u.: https://www.meinherzschlag.de/tasche-ich-bin-nicht-perfekt, exilbayer GmbH, Schenefeld

S. 87: picture alliance/Oliver Killig/dpa-Zentralbild/dpa/Oliver Killig

S. 88 l.: https://www.deutsches-museum-shop.com/tech-fun/ fuer-den-alltag/4399/30-tage-challenge-nachhaltigkeit, Deutsches Museum SHOP GmbH, München, M.: https:// www.discounto.de/Angebot/IDEENWELT-30-Tage-Challenge-Box-Achtsamkeit-3908476/DISCOUNTO Produktinformationsgesellschaft mbH, Berlin, r.: Designscape Creative GmbH, Merchweiler

S. 89: Josep Lago/AFP

S. 90 Foto: © Engin Korkmaz/Dreamstime.com

S. 91: Gemeinsam leben und lernen in Europa e.V., Passau. Lebenskoffer-Projekte wie das von »Gemeinsam leben & lernen in Europa« ermuntern dazu, sich sich kreativ mit der eigenen Lebensgeschichte, der eigenen Identität und damit auch mit eigenen Sinn- und Wertorientierungen auseinanderzusetzen und sich mit anderen darüber auszutauschen.

S. 92: Canadian Museum of History, D–10755, CD1994-0686017

S. 93 o.: Theater Vorpommern © Peter van Heesen (Philipp Staschull, Hauke Petersen), M. Bild: Ingrid Grill-Ahollinger, München, u.: Rahmbecken Gebse; Toggenburg, St. Gallen, Schweiz; Durchmesser 53 cm, Höhe 13 cm, Holz, Metall, Farbe © Museum der Kulturen Basel, VI 70518.02; Nachlass Emanuel Grossmann; Fotograf: Omar Lemke, 2022

S. 94: https://www.multiple-box.de/produkt/001-nam-junepaik-when-too-perfect/, Multiple Box, Siegfried Sander, Hamburg

S. 95 o.: bpk/Staatsbibliothek zu Berlin, u.: © Verlag am Birnbach, Bildmotiv: Stefanie Bahlinger, Mössingen

S. 96: © UNICEF/UNI394313/Kelly

S. 97 l.: Deutscher Verkehrssicherheitsrat (DVR), Bonn, r.: Rob Lewine/Getty Images

S. 98 l.: Le Jeu De La Mort/Christophe Nick/France2, r.: https://truecrimedaily.com/pages/podcasts/, Telepictures Productions Inc.

S. 100: akg-images André Held

S. 101: László Hegedűs, Kain und Abel, 1899. Museum of Fine Arts – Hungarian National Gallery, Budapest

S. 102 Foto: Jan von Holleben/Edition Chrismon

S. 103: Der Stuhl wurde in der Malschule Hammerhof erstellt. Die Künstler Rose-Marie Rychner und Albrecht Kunkel assistierten den Künstlern mit Behinderung Hugo Ambrosi, Regina Berta und Karl-Heinz Henn

S. 104 o.: Siegfried Zademack, Bremen

S. 105 l.: Tom Venning, Wien, M.: Alex Chinneck, Foto: Charles Emerson, r.: Erwin Wurm, Throw Yourself Away, 2004. © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 106: Antoni Tàpies i Puig, Petjades. © Fondation Antoni Tàpies, Barcelona/© VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 107: Max Slevogt, der Verlorene Sohn

S. 109: © Ratz Attila/Dreamstime.com

S. 110: Lumen Gmbh, Hannover

S. 113, S. 136, S. 140: Willard Wigan, Vierzehn Kamele. www.willardwiganmbe.com, Foto: Paul Ward, https://paulward.net

S. 114: Dirk Purz, Bielefeld

S. 115: © Canetti/iStock.com

S. 116: Horatio Gollin, Rheinfelden

S. 117 o.: © BMBF, Bundesministerium für Bildung und Forschung Referat 331 Lebensbegleitendes Lernen; Allgemeine Weiterbildung, Berlin, u.: Heidi Wessely-Scholz/Wolfgang Scholz, Schattenmenschen. Fotos: Dieter Tretow, Texte auf den Figuren: Gianmaria Testa (CD: Da Questa Parte Del Mare; Seminatori del Grano)

S. 118: Wuppertal Initiative für Demokratie und Toleranz, 2014

S. 120: Harm Bengen/https://de.toonpool.com/

178 QUELLENVERZEICHNIS
copyrightedmaterial

S. 121: Wikipedia, Thomas Hobbes, 1651

S. 123: Mit freundlicher Genehmigung der Nordwest-Zeitung, Foto: Martin Remmers

S. 124 o.: Bundesregierung/Thomas Lohnes, M.: Deutscher Ethikrat/Foto: Reiner Zensen, u.: Wikipedia/Entwurf: Fiedler nach Idee von Köhler

S. 125: IMAGO/ecomedia/robert fishman

S. 126 o.: picture alliance/dpa/dpa-Zemtralbild/Sebastian Willnow, u.: Berliner Stadtmission

S. 127: Arbeitskreis Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Hannover

S. 129: bpk/Deutsches Historisches Museum/Arne Psille

S. 130 Graphik: Schmitz/Wikipedia

S. 131: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover

S. 132/133 Geodaten: Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG), Leipzig

S. 134 o.: #1 Berlin 2020/2022, Living Room © Jana Sophia Nolle, Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 138: Heiko Kuschel, Gochsheim

S. 140 Hände (Hintergrund): picture alliance/JOKER/Marcus Gloger

S. 141: © Oleksandr/Adobe Stock.com

S. 147: Roland Peter Litzenburger, Christus der Narr – König der Juden, 1973. © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

S. 151: Abi. Berufsorientierung – gewusst, wie! Bundesagentur für Arbeit, https://abi.de/cdn/0b/54/ABI-Kompakt-BF0b54f571f765ec3a2973aad1739a26d42310b92d.pdf

S. 157: Sünde, Schuld und Vergebung aus Sicht evangelischer Anthropologie, https://www.ekd.de/grundlagentext-sundeschuld-und-vergebung-60853.htm, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2020

S. 162: Benjamin Rückert, München

S. 163: sankphotoo/Adobe.Stock.com

TEXTE

S. 10 Text zur Ausstellung: https://galerie-andreae.pixobytes. de/ausstellungen/field-of-vision-installation-und-zeichnung/, Galerie Judith Andreae, Bonn

S. 11: Platon, Politeia (Der Staat), 7. Buch, 514a–517a, Übersetzt von Karl Vretska, Reclam Verlag, Stuttgart 1985, gekürzt, Lexikon Optik: https://www.spektrum.de/lexikon/ optik/blickfeld/437, https://www.spektrum.de/lexikon/optik/gesichtsfeld/1153

S. 12: Anne Honer, Verordnete Augen-Blicke, in: Kleine Leiblichkeiten, Erkundungen in Lebenswelten. Springer VS Verlag, Wiesbaden 2011, S. 251–261, 255 f., gekürzt, Lexikon Optik: https://www.spektrum.de/lexikon/optik/blickfeld/437, https://www.spektrum.de/lexikon/optik/gesichtsfeld/1153

S. 13: Thomas Assheuer, Die Unmündigkeit des Meinens,

https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2021/02/wahrheitmeinung-platon-hoehlengleichnis-juergen-habermasphilosphie?utm_, gekürzt. ZEIT ONLINE GmbH, Hamburg

S. 14 aus dem Film: Kant für Anfänger Folge 2, Kopernikanische Wende.

© ARD alpha 2004 in Lizenz der BRmedia Service GmbH

S. 16: Martin Walraff, »Wissen ist Stückwerk«, Predigt zu 1 Kor 13 im Universitätsgottesdienst der Evangelisch-Theologischen Fakultät München, 8. 5. 2022, gekürzt

S. 17: Ulrich J. Körtner, Stückweise. Fragmentarische Reflexionen über den Sinn des Lebens. Evangelischer Presseverband in Österreich, Wien 1995, gekürzt

S. 24 Bertolt Brecht, Ausgewählte Gedichte, edition suhrkamp 86, 8. Aufl. 1974, S. 79. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., Dietrich Korsch in: Dietrich Korsch/Lars Charbonnier (Hrsg.), Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2008, S. 41–46, S. 41 f., gekürzt, Martin Luther, Morgensegen. Zitiert nach: Evangelisches Gesangbuch, Nr. 841, S. 1441. Evangelischer Presseverband für Bayern e.V., München

S. 25 aus: https://www.mdr.de/wissen/der-sinn-des-lebens-100.html, Rundfunksendung des MDR vom 25.3.2021, MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK, Leipzig, Victor Frankl, Ärztliche Seelsorge, 1942

S. 26: Interview mit Tatjana Schnell, gekürzt: https://www. meinekirchenzeitung.at/wien-noe-ost-der-sonntag/c-gesellschaft-soziales/auf-der-suche-nach-dem-lebenssinn_a8378 , Der Sonntag, Wien, 5. 8. 2020

S. 27: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-06/lebenssinnleserstimmen-erfahrungsberichte-glauben-arbeit-familie, ZEIT ONLINE GmbH, Hamburg, 28. 6. 2021

S. 28: Wilhelm Gräb, Sinnsuche. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur. Publikationen der Universität Tübingen, 2011, S. 11–13, gekürzt, https://publikationen. uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/95350

S. 29: Wilhelm Gräb, Geschmack am Unendlichen. Von Schleiermacher zur heutigen Religiosität. Publikation der Universität Tübingen, 2006, S. 53 f., gekürzt, http://dx.doi. org/10.15496/publikation-36782, Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Lutz Käppel, Andreas Arndt, Jörg Dierken, André Munzinger und Notger Slenczka, I/13,1, § 4, 32. Walter de Gruyter GmbH, Berlin 1984

S. 30: Martin Luther, Großer Katechismus, zitiert nach https://www.ekd.de/Grosser_Katechismus-Erste-Gebot-13480.htm, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover

S. 31 l.o: Paul Tillich: Der Mut zum Sein. Zwei bisher unveröffentlichte Vorträge aus dem Jahr 1951, hrsg. von Erdmann Sturm, S. 283, in: International Yearbook for Tillich

Quellenverzeichnis QUELLENVERZEICHNIS 179
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Quellenverzeichnis

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S. 32 l. aus: Dominik Schenker, Jugendliche als Seismografen, in: Ansichten vom Göttlichen, Salis Verlag, Zürich 2009, S. 192–197, 192 f., gekürzt, r.: Schülerzitate: ebd. S. 19, 42, 50, 170

S. 33 Interview: Das Gespräch führte Ingrid Grill-Ahollinger mit Peter Samhammer

S. 34: Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Reclam Verlag, Stuttgart 1969, S. 80, 134, 400 f., gekürzt S. 35: Ludger Lütkehaus, aus: Die ZEIT, 31.12.2004 https:// www.zeit.de/2005/01/ST-Feuerbach, gekürzt. ZEIT ONLINE GmbH, Hamburg, Manfred Lütz, Gott, eine kleine Geschichte des Größten. Droemer Knaur Verlag, München 2007, S. 28

S. 36: Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008, gekürzt, zitiert nach: https://docplayer. org/21347862-Texte-zur-religionskritik. html, Auszüge aus Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844, MEW, S. 378–385), http://www.mlwerke. de/me/me01/me01_378.htm

S. 37: Dietrich Bonhoeffer, Auszug aus einem Brief an Eberhard Bethge vom 30.4.44, in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 8: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998, S. 401–408, Friedrich Wilhelm Graf, aus: Focus Nr. 51, 20. 12. 2010, S. 58, F OCUS Magazin Verlag GmbH, München, gekürzt

S. 39 Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. RADIUSVerlag, Stuttgart 1993, S. 77, gekürzt

S. 40 Jörg Lauster, Der Heilige Geist. Eine Biographie, S. 20 ff., gekürzt. C.H. Beck Verlag, München 2021

S. 41: Kurt Marti, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs. RADIUS-Verlag, Stuttgart 1993, S. 7 f., gekürzt

S. 43 Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2020, S. 67 f., gekürzt, Reiner Preul, Die Anrede Gottes im Gebet, in: Personalität Gottes. Marburger Jahrbuch Theologie, Band 19, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2007, S. 99–122, S. 101–104, gekürzt und für didaktische Zwecke bearbeitet

S. 44: Erich Zenger, Eigenart und Bedeutung der Geschichtserzählungen Israels, in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das

Alte Testament. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1988, S. 177–180, S. 179, gekürzt

S. 45: Melitta Müller-Hansen, Der Prophet Elia in der Bibel (Predigt vom 12. 1. 2020). https://www.sonntagsblatt.de/ artikel/glaube/predigt-der-prophet-elia-der-bibel, Evangelischer Presseverband für Bayern e.V., München, gekürzt

S. 46: Martin Luther zitiert nach Gerhard Ebeling, Luther, S. 270 f., Anmerkung 28

S. 47: Eberhard Jüngel in: Berliner Zeitung vom 14. 4. 2001. Berliner Verlag GmbH, Berlin, gekürzt

S. 48 Zitat von Paula aus: Karina Möller, Persönliche Gottesvorstellungen junger Erwachsener. Empirische Erkundungen in der Sekundarstufe II im Großraum Kassel. Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie. Hrsg. von Prof. Dr. Petra Freudenberger-Lötz. University Press, Kassel 2010, S. 64 (Name geändert), Georg Büchner, Dantons Tod, III, 1, zitiert aus: Georg Büchner, Dantons Tod. Hrsg. von Dietrich Steinbach, Klett Verlag, Stuttgart 1989, Bernd Beuscher, Tacheles glauben. Christliche Klischees auf dem Prüfstand. Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 79 f., gekürzt

S. 49: Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodicee, Absatz 134 in einer vereinfachten Übersetzung nach https://www.aphorismen.de/zitat/125678

S. 50: Melanie Köhlmoos, Gottes Nähe, ein Glück?

https://www.evangelisch.de/inhalte/91425/14-01-2014/ gottes-naehe-ein-glueck, Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) gGmbH, Frankfurt, 14.1.2014, gekürzt

S. 51 Zeitungsartikel: Die WELT 23.9.2007, https://www.welt. de/wams_print/article1206075/Der-Mann-der-Gott-verklagt.html, gekürzt und bearbeitet. Axel Springer, Berlin, Das Interview von Dominic Klenk mit Robert Spaemann wurde am 31.3.2011 in der ZEIT veröffentlicht. Nachzulesen ist es unter https://www.theology.de/themen/wo-wargott-in-japan.php, Die ZEIT, Hamburg, gekürzt

S. 52: Birte Petersen, Theologie nach Auschwitz? Institut Kirche und Judentum, Berlin 1998, S. 101, gekürzt, Elie Wiesel, Nacht, in: Die Nacht zu begraben. Elischa. Verlag Langen-Müller, Frankfurt M. 1988, S. 95

S. 53 Auszug aus: Dorothee Sölle, Gott denken. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 1997, S. 243–250, gekürzt

S. 55 Pinchas Lapide, Jüdischer Monotheismus aus: Pinchas Lapide/Jürgen Moltmann, Jüdischer Monotheismus –christliche Trinitätslehre. Ein Gespräch, Christian Kaiser Verlag, München 1979, S. 9–31., S. 14, Michelle Berger, Artikel Schechina: https://www.juedische-allgemeine.de/ glossar/schechina/, Jüdische Allgemeine, Frankfurt, 22.10.2013, Jürgen Moltmann, Auszug aus: https://zeitzeichen.net/archiv/2017_Juni_leben-in-der-trinitaet, zeitzeicopyrightedmaterial

180 QUELLENVERZEICHNIS

chen, Berlin 2017, Cehmil Sahinöz, Trinitätslehre im Verständnis des Islam, in: Trinität – Anstoß für das islamischchristliche Gespräch, Hrsg. von Muna Tatri und Klaus von Stosch, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013, S. 231–235, S. 234, gekürzt, Hureyre Kam, Gott als Leben denken? Kritischer Kommentar zu Thomas Schärtl aus muslimischer Sicht, in: Trinität – Anstoß für das islamischchristliche Gespräch. Hrsg. von Muna Tatri und Klaus von Stosch. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013, S. 69–85, S. 84 f., gekürzt

S. 57: Alle Materialien aus https://www.pruefungssegen.de/

S. 61 Jean Paul Sartre, zitiert nach: Petra Dais, Der Mensch im Spielen. Magazin für Theologie und Ästhetik – Heft 24 – Petra Dais: Einführung in die Theologie des Spiels (theomag.de)

S. 62 Sabine Oelzle, Der Do-It-Yourself-Trend | Kultur | DW | 07.01.2013, Deutsche Welle, Bonn, Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Übersetzt von Käte Hügel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1973, S. 102 f.

S. 63: Petra Dais, Der Mensch im Spielen. Magazin für Theologie und Ästhetik – Heft 24 – Petra Dais: Einführung in die Theologie des Spiels (theomag.de), Rechte bei der Autorin, gekürzt, Johan Huizinga: Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, rororo Enzyklopädie Band 55435, S. 14. Rowohlt Verlag, Reinbek 1981

S. 64 Interview mit Angela Merkel: Morals & Machines 2018 – Angela Merkel trifft auf Roboter Sophia – YouTube, Transkript, Interview mit Sophia: Roboter: Wie menschlich sollen sie wirken? | MDR.DE, MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK, Leipzig

S. 65: Markus Gabriel: Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen. Ullstein Buchverlage, Berlin 2022, S. 14–17 gekürzt

S. 66: Aus der Sendung Gert Scobel: Was ist der Mensch? – Im Gespräch mit Hans Lenk, Folge 82, Deutsche TV-Premiere, Do 12.05.2011, 3sat, Neue Medien 3sat, Mainz

S. 67 o.: Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung –EKD, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover, gekürzt, u.: Die Unterwerfung – Literaturhaus München (literaturhaus-muenchen.de), Stiftung Buch-, Medien-und Literaturhaus München, 2022

S. 68: Dorothee Sölle zitiert nach: der andere adventskalender 2009/2010, 30.11. Andere Zeiten e.V. Hamburg 2009, © Rechtsnachfolge der Autorin

S. 70: Wolfgang Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019, gekürzt, Martin Luther, zitiert nach: Irene Dingel (Hrsg.): Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollständige Neuedition. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, S. 852–911

S. 71: Wolfgang Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darm-

stadt 2019, 2. Auflage, S. 116, gekürzt, Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, BA 77

S. 72: Interview mit Hartmut Rosa veröffentlich auf: (90) Hartmut Rosa: Kinder im Leistungszwang – YouTube

S. 73: Thies Grundlach, Freier Knecht – Freiheit aus protestantischer Sicht, Fluter 2005. Der freie Knecht: Freiheit aus protestantischer Sicht (fluter.de), fluter – Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, gekürzt, Martin Luther, zitiert nach: https://www.luther2017.de/martin-luther/texte-quellen/lutherschrift-von-der-freiheit-eines-christenmenschen/index.html, Stiftung der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherstadt Wittenberg

S. 74: Josef Büscher, aus einem Aufsatz von Walter Köpping: Die Arbeitswelt als Thema moderner Lyrik, S. 416. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

S. 75 1. Zitat aus: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke in 36 Bänden, Berlin 1961 f., Ergänzungsband 1, 511, 2. Zitat aus: Karl Marx, Kapital I, MEW 23, 599, 3. Zitat aus Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke in 36 Bänden, Berlin 1961 f., Ergänzungsband 1, 514

S. 76 r.: LehrplanPLUS – Gymnasium – Berufliche Orientierung – Fachprofile (bayern.de), Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB), München

S. 77: Martin Luther, 1. Zitat: WA 52, 471, 2. Zitat: De libertate christiana: 30 Thesen gegen die päpstliche Bannandrohungsbulle; aus der 27. These: zitiert nach Lutherschrift

»Von der Freiheit eines Christenmenschen«: Luther 2017, 3. Zitat aus: Martin Luther, Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund (1535), WA 38, 358, 4. Zitat: Wanderzitat, das Luther zugeschrieben wird

S. 78 l.: Aus einer Fernsehreportage (ZDF) zum Phänomen New Work von Freya Engels, Oliver Koytek, New Work –Zukunft der Arbeit: Neues Level für die Arbeitswelt - ZDFmediathek, Zweites Deutsches Fernsehen, Mainz, r.: Aus einem Onlineartikel (Tagesschau) zum Phänomen »New Work« von Martina Senghas und Vera Kern, ARD

S. 79 l.: BMFSFJ – Kinder, Haushalt, Pflege – wer kümmert sich?, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2023, gekürzt, r.: Jobsharing – Zusammen sind wir besser als allein | Beiersdorf, Beiersdorf AG, Hamburg 2021

S. 80: https://www.stmwk.bayern.de/pressemitteilung/12557/bundesverdienstkreuz-fuer-frueheren-hochschulvizepraesidenten-prof-dr-thomas-doy-bildhauer-andreas-kuhnlein-sowie-musiker-und-musikwissenschaftlerprof-kolja-lessing.html, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, München 2022

S. 86: Nils Spitzer, Perfektionismus überwinden. Müßiggang statt Selbstoptimierung. Springer Verlag GmbH, Heidelberg 2017, S. 22, gekürzt

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Quellenverzeichnis

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S. 89 Sascha Dickel, Der Neue Mensch – ein (technik)utopisches Upgrade. Der Traum vom Human Enhancement, in: APuZ 37–38. Der neue Mensch, 2016, S. 16–21, hier: S. 17–19, online unter: https://www.bpb.de/ shop/zeitschriften/apuz/233472/der-neue-mensch/, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, gekürzt

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S. 119 Aristoteles Zitate aus, Politik I,2 (1253a) und III,6. – 1. Zitat u. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_griechischer_Phrasen/Zeta, angelehnt an die Übersetzung von Olof Gigon, dtv 1973, S. 49; 2. Zitat Übersetzung nach Rolf Geiger und Christof Rapp, in, Ch. Rapp, Der Staat existiert von Natur aus, in: Höfele, Andreas; Kellner, Beate (Hrsg.): Menschennatur und politische Ordnung. Paderborn, 2016, S. 71; 3. Zitat und alle weiteren übers. von H. Schmidinger, in: Heinrich Schmidinger, Der Mensch ist ein politisches Lebewesen – Erinnerungen an die Geschichte einer Definition; in: Heinrich Schmidinger/Clemens Sedmak, Der Mensch –ein »zôon politikón«? Gemeinschaft – Öffentlichkeit –Macht, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, S. 7 f., Ludger Jansen, Stadt-Staat: Was ist eine Polis bei Aristoteles? Ringvorlesung im WS 2006/7, Rostock, 26.10.2006, https://www.ruhr-uni-bochum.de/phth/jansen/Texte/ids-polis.pdf, Universität Bochum S. 120 l.: Umfrage zu Jugend und Politik 2022, www.vodafone-stiftung.de/jugendstudie-2022/, Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH, Düsseldorf, r.: Niccolò Machiavelli, Il Principe /Der Fürst. Übers. von Philipp Rippel. Reclam Verlag, Stuttgart 1986, S. 119

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ell-hannah-arendt/, Institut für Sozialstrategie, Bad Wimpfen, 24. 9. 2021, Kur t Sontheimer, Vorwort zu: Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Hrsg. von Ursula Ludz, S. II–IV. Piper Verlag, München 1993, gekürzt

S. 124: Aleny Buyx im Interview mit Renardo Schlegelmilch vom 22.6.2022, www.katholisch.de/artikel/39778-ethikratvorsitzende-theologie-hat-in-ethik-fragen-grosse-expertise, Internetportal katholisch.de

S. 125: Uwe Kai Jacobs, Muss Religion nützlich sein? Ein Beitrag zur Relevanzdebatte, in: evangelische aspekte, 31/H3, August 2021, www.evangelische-aspekte.de/muss-religionnuetzlich-sein/, gekürzt, Evangelische Akademikerschaft in Deutschland e.V.

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S. 127: Kilian Martin, Die eine, vielfältige Kirche, 10. 12. 2015; in: www.katholisch.de/artikel/7245-die-eine-vielfaeltigekirche#7245-0a51c, Internetportal katholisch.de, Selbstverständnis der ELKB, https://landeskirche.bayern-evangelisch.de/selbstverstaendnis.php, Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, München 2013, Sechste Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Daressalam 1977, S. 205, Karl Kardinal Lehmann, Zum Selbstverständnis des Katholischen. Zur theologischen Rede von Kirche. Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 28. 09. 2007, www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/Themen/ Lehmann_Selbstverstaendnis_des _Katholischen_DBK_ Herbst_2007.pdf

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S. 135, S. 137: Christian Neuhäuser, im Interview mit Dominik Erhard; in: Philosophie Magazin vom 22. 02. 2021, www. philomag.de/artikel/christian-neuhaeuser-wenn-wir-extremen-reichtum-verbieten-steigern-wir-das, Philosophie Magazin, Hamburg, gekürzt

S. 136: Gerechte Teilhabe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD

zur Armut in Deutschland, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2016, gekürzt, Torsten Meireis, Ethik des Sozialen, in: von Wolfgang Huber, Torsten Meireis, Hans-Richard Reuter (Hgg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, C. H. Beck Verlag, München 2015, S. 313 f., gekürzt

S. 137: Christian Neuhäuser, im Interview mit Dominik Erhard; in: Philosophie Magazin vom 22.02.2021, www.philomag.de/artikel/christian-neuhaeuser-wenn-wir-extremenreichtum-verbieten-steigern-wir-das, Philosophie Magazin, Hamburg, Agenda Austria vom 16.01.2017, www.agendaaustria.at/oxfam-irrt-das-problem-ist-armut-nicht-reichtum/, Agenda Austria, Wien

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S. 147: Gisela Matthiae, 1. Teil des Textes aus ihrer Internetpräsenz www.clownin.de, 2. Teil aus: Gisela Matthiae, Clownin Gott, eine feministische Dekonstruktion des Göttlichen. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1999, S. 296

S. 151: Aus dem Leitbild des Evangelischen Studienwerks: Evangelisches Studienwerk (evstudienwerk.de), gekürzt

S. 155: Ingolf U. Dalferth, https://www.deutschlandfunk.de/ religionsphilosoph-ingolf-dalferth-ueber-suende-blindheit-100.html, Deutschlandradio, Köln, gekürzt

LIEDER

S. 65 Text: Herbert Grönemeyer, Rechte: Grönland Musikverlag, Berlin

S. 66 Text: Wolfgang Franke/Astrid Lindgren, Rechte: Filmkunst Musikverlag, München

S. 106 Text: Dirk Merzbach, Rechte beim Autor

Quellenverzeichnis 184 QUELLENVERZEICHNIS
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Als Teil der Gesellschaft beschreiben

Sie Situationen, in denen Individuen und die Gesellschaft aufeinander einwirken. Sie lernen Theorien kennen, die den Menschen als ein politisches Wesen ansehen.

Im Zusammenhang mit einer sozialethischen Problemstellung beschreiben Sie Muster gesellschaftlicher Ungleichheit und geben biblische Bezüge zum Thema soziale Gerechtigkeit wieder.

Sie nehmen wahr, wann Sie gern Aufmerksamkeit erhalten wollen und wann nicht, und vergleichen dies mit Menschen in prekären Lebenslagen. Sie analysieren und deuten die Rolle von Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft. Als sozialethische Fragestellung erschließen Sie das Verhältnis von Armut und Reichtum als eine Frage nach sozialer Gerechtigkeit und deuten dazu passende Bibelstellen.

Sie reflektieren, welche Konsequenzen sich aus den verschiedenen Theorien vom Menschen als politischem Lebewesen für Ihr Verständnis von Individualität und Freiheit ergeben. Probleme sozialer Ungleichheit erörtern Sie unter Einbezug eigener Recherchen sowie christlicher Perspektiven und beurteilen eigene wie fremde Vorschläge, wie man die Welt sozial gerechter machen kann. urteilen

Sie diskutieren, welche Rolle die Kirchen in der gegenwärtigen Gesellschaft spielen und wie diese agieren sollten. Sie tauschen sich über Armut und Reichtum aus und fertigen Grafiken zu theologischen Modellen an, die sich mit dem Verhältnis zum Staat und der Rolle von Christinnen und Christen in ihm beschäftigen.

EXTRATOUR

SOZIALE UNGLEICHHEIT IN NACHRICHTEN UND ZEITUNGSBERICHTEN Recherchieren Sie aktuelle Nachrichten und Zeitungsartikel, die Armut, Reichtum und / oder soziale Ungleichheit in regionalen oder globalen Zusammenhängen thematisieren. Untersuchen Sie, inwieweit die Artikel Vorstellungen vom Menschen als politischem Wesen transportieren und welche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit darin aufscheinen. Prüfen Sie, inwieweit diese mit christlichen Positionen vereinbar sind und ob sich in ihnen Bezüge zur Rolle der Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben.

GETEILTE FREIHEIT 113
wiedergeben
beschreiben
reflektieren wahrnehmen deuten
kommunizieren
sich ausdrücken
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114 KAPITEL 5
All Eyes on me!
Dirk Putz, my standing (2018) copyrightedmaterial

OBDACHLOSE FRAUEN

»Dein Name ist Mensch« heißt das Café, die Gäste sind Obdachlose. An einem der kleinen, runden Tische sitzt

Susanne, Mitte 50. Sie trägt eine hellrosa Jacke, gepflegtes Äußeres, die Haare ein klein wenig zerzaust. Sie ist häufig hier. Seit dem vergangenen Winter fast täglich, erzählt sie.

Als die Corona-Pandemie begann, habe sie ihre Wohnung verloren. »Die Armutsschiene ist dann relativ schnell da, weil ich gezwungen war, Fahrräder, Gepäckstücke immer wieder nachzukaufen.« Der Verschleiß sei ungemein. Susanne wollte eigentlich umziehen, hatte ihre alte Wohnung gekündigt und die neue dann doch nicht bekommen. Es sei alles kompliziert, mehr möchte sie über sich nicht erzählen. Sie spricht lieber generell über das Leben als Frau auf der Straße. »Es gibt auch welche, die ziehen erst einmal zu Freunden oder Freundinnen. Die Verwandtschaft wird ab und an mal in Anspruch genommen. Aber das sind halt alles nur Notlösungen.«

In dieser versteckten Obdachlosigkeit leben in Deutschland schätzungsweise 400.000 Menschen, etwa ein Viertel davon sind Frauen. Hinzu kommt die offene Wohnungslosigkeit – wenn Menschen permanent auf der Straße leben und nachts in Notunterkünften Schutz suchen. Das sind in Deutschland schätzungsweise knapp 50.000 Menschen, darunter wohl mehr als 10.000 Frauen. Genauere Zahlen gibt es nicht, erst in diesem Jahr [2022] soll eine offizielle Wohnungslosenstatistik erscheinen, darauf hatte sich der Bundestag im vergangenen Jahr geeinigt. Frauen sind auf der Straße besonders schutzlos und versuchen deshalb noch stärker als obdachlose Männer, bloß nicht aufzufallen. In Düsseldorf hat jetzt ein Haus für sie eröffnet, eine Notunterkunft nur für Frauen. Auf acht Stockwerken werden mehrere, bisher über die Innenstadt verteilte Unterkünfte zusammengefasst – darunter auch das Obdach für Frauen mit Kindern. »Das ist quasi ausgerichtet für Frauen mit x Kindern«, sagt Miriam Korkmaz von der Diakonie Düs-

seldorf. Sie betreut den Bereich. »Die können sich den ganzen Tag hier aufhalten und da sind Kinder, die müssen in den Kindergarten oder in die Schule. Die können dann von hier aus entspannt starten.«

Julia von Lindern von der Düsseldorfer Obdachlosenhilfe »Fifty Fifty« blickt mit Sorge auf die Auswirkungen der Pandemie. Aufgrund prekärer Beschäftigung hätten die Betroffenen ihre Wohnungen verloren, sagt sie. Die Sozialarbeiterin versucht, Obdachlosen über das Projekt »Housing First« eine Wohnung zu verschaffen. Nach diesem sozialpolitischen Ansatz erhalten Wohnungslose direkt eine eigene Wohnung, ohne sich vorher durch bestimmte Leistungen, zum Beispiel Entzug oder den regelmäßigen Gang zum Amt, für eine Wohnung zu qualifizieren. »Zunächst einmal klingt es so einfach, dass man sagt: Wie kann man Obdachlosigkeit beenden? Ja, tatsächlich durch eine Wohnung.« Julia von Lindern kennt allerdings auch die Vorbehalte gegen das Konzept: Schafft er das wirklich? Sie trinkt ja ganz viel ... Das seien gängige Bilder, die wir haben. »Im Umkehrschluss lernt man Fahrradfahren auf dem Fahrrad und Schwimmen im Wasser. Wohnen lernst du dann in der Wohnung und nicht in irgendwelchen Notunterkünften.« Die Erfolgsquote ist hoch: Rund 90 Prozent der Obdachlosen, darunter viele Frauen, sind über das Projekt dauerhaft von der Straße weggekommen.

Vivien Leue (Deutschlandfunk)

»Bloß nicht auffallen.« GETEILTE FREIHEIT 115
Zelte von Menschen ohne feste Wohnung
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Gern im Mittelpunkt?

EIN PSYCHOLOGE ZUM EINFLUSS SOZIALER REGELN

Wie sehr ist unser tägliches Verhalten davon beeinflusst, zu gefallen oder nicht negativ aufzufallen?

Stefan Bender: Es ist sehr davon beeinflusst. Es fängt ja schon damit an, dass man sich morgens im Bad fertig macht und nett und angepasst aussehen will. Dass man bei der Arbeit nicht negativ auffallen will, sich an die Regeln hält. Der ganze Tagesablauf ist durch soziale Regeln beeinflusst und dadurch mitbestimmt, dass man anderen gefallen will. Soziale Regeln wahrzunehmen und sich daran anzupassen, das ist wichtig und hilfreich. Lampenfieber aber sollte auf Ausnahmesituationen begrenzt bleiben, zum Beispiel wenn man vor Menschen sprechen muss. Hält eine Angst oder Nervosität dauerhaft an, bedeutet das zu viel Stress, der den Körper kaputt macht.

ICH IN DER ÖFFENTLICHKEIT

1. Formulieren Sie Gedanken der Menschen auf dem Foto ( S. 114) und analysieren Sie diese: Welche Rolle spielen darin Aspekte, wie z. B. die Kleidung, das Geschlecht, das Alter, der öffentliche Rahmen, die Deutung der Situation?

2. Tauschen Sie sich über Situationen aus, in denen Sie gezielt im Mittelpunkt standen und dies genossen haben.

3. Suchen Sie nach Erklärungen, warum Menschen gern im Mittelpunkt stehen, und beziehen Sie dabei das Foto (oben rechts) und das darunter stehende Interview mit N. Bolz mit ein.

4. Im Mittelpunkt stehen kann ambivalent oder unangenehm sein. Vergleichen Sie ausgehend von der Umfrage und den Zitaten (beide rechts) solche Situationen und deren Rahmenbedingungen mit denen von Aufgabe 2.

5. Öffentlichkeit bezeichnet alle gesellschaftlichen Bereiche, die für die Allgemeinheit in der Regel bzw. prinzipiell offen und zugänglich sind. Notieren Sie zehn Situationen des letzten Werktags und sortieren Sie sie danach, welche Sie als öffentlich einschätzen oder nicht. Beziehen Sie Aussagen von S. Bender (oben) auf Ihre Liste.

EIN MEDIENWISSENSCHAFTLER ZU INDIVIDUALITÄT

Bedeutet Individualität, dass man ein Alleinstellungsmerkmal sucht, um sich abzugrenzen?

Norbert Bolz: Ja, das wäre der Traum. Das Interessante ist, dass der Begriff von Individualität heute das Gegenteil dessen markiert, was man Anfang des 19. Jahrhunderts darunter verstand. Damals war die Vorstellung, dass der Mensch das gesellschaftlich Allgemeine in seiner Individualität spiegelt. Heute will jeder sein, wie kein anderer ist, etwas haben, was kein anderer hat. Warum ist das so?

Ich halte Langeweile für den ausschlaggebenden Faktor. Man kommt gar nicht auf solche Gedanken, wenn man zu tun hat und von seiner Arbeit absorbiert ist. In Amerika ist der Satz »I want to make a difference« sehr populär. Aber da bedeutet er: Ich tue etwas, ich greife irgendwo ein, ich engagiere mich. In Deutschland suchen wir den Unterschied darin, uns voneinander unterscheiden zu wollen.

»Frau Müller bitte zum Zugführer in Abteil drei.

»Bitte laut und deutlich.

»Ich brauche mal schnell drei Freiwillige.

EINE UMFRAGE ZUM (NICHT) AUFFALLENWOLLEN

Mehr als jeder zweite Deutsche (56 %) meidet zu viel Aufmerksamkeit und bemüht sich, in der Öffentlichkeit nicht zu sehr aufzufallen. 49 % der Deutschen fühlen sich nicht wohl, wenn sie Ansprachen im Familien- oder Freundeskreis halten sollen. Ebenso viele vermeiden es, es anderen zu zeigen, wenn sie gekränkt oder verärgert sind. Mehr als jeder vierte Deutsche (28 %) leidet an unbekannten Orten unter einem Gefühl der Unsicherheit.

Aus einer Umfrage von 2010

116 KAPITEL 5
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Abiturfeier an einem deutschen Gymnasium

Studie

LEO –Leben mit geringer

»EINE ART KNIGGE* FÜR UNAUFFÄLLIGKEIT«

Die Verfasserin beschreibt das Leben von Menschen, die ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben. Sie gehen arbeiten, zum Arzt oder zur Schule. Ohne Papiere, ohne Krankenschein, ohne Rechte. Ihre Existenz spielt sich in jener Grauzone ab, die definiert ist dadurch, dass die Menschenrechte an der Schranke der Bürgerrechte enden. Solange die Einklagung von Menschenrechten an die Bürgerrechte irgendeines Staates gebunden ist, ist die fortwährende Produktion Rechtloser garantiert [wie es die Philosophin Hannah Arendt* beschreibt]. Die Überlebenstechniken von solchen »Schattenmenschen«, von denen oft schon die zweite Generation heranwächst, drehen sich um eine Art Knigge für Unauffälligkeit im Straßenalltag – aussehen wie ein Angestellter statt wie ein Bauarbeiter, denn viele Illegale arbeiten für Hungerlöhne im Bausektor – und um elementare Menschenrechte: wohnen, arbeiten, in die Schule gehen, ärztlich versorgt werden. Ohne Billigjobs, von denen ganze Branchen profitierten, ohne Hilfe von Sympathisanten, ohne die Bereitschaft von Ärzten, notfalls auch gratis zu behandeln, ohne schulische Institutionen, die Kinder auch ohne gültige Papiere aufnehmen, ohne Zivilcourage, zur Not die Grenzen der Legalität zu überschreiten, sind »Existenzen im Untergrund« nicht denkbar.

Elisabeth Blum, Architektin

»Schattenmenschen« – ein Kunstprojekt von Wolfgang Scholz und Heidi Wessely-Scholz. Als Erläuterung wird auf einen rbb-Beitrag vom März 2014 verwiesen: »Bloß nicht auffallen, bloß nicht sichtbar werden in der Öffentlichkeit: Schätzungsweise 80.000–300.000 Menschen leben illegal in Deutschland – in einem rechtsfreien Raum und in permanenter Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden.«

(ÜBER)LEBENSSTRATEGIEN

1. Tauschen Sie sich über die (Un-)Sichtbarkeit von Obdachlosigkeit ( S. 115) und die Situation Betroffener sowie die skizzierten Hilfsangebote aus.

2. »Und man sieht nur die im Lichte.« Diskutieren Sie diese Sicht anhand der Materialien der Seite. Problematisieren Sie dabei den Begriff »Schattenmensch«.

3. Entwerfen Sie mithilfe von Seite 115 und 117 weitere Schattenrisse oder andere Kunstwerke für die Ausstellung »Schattenmenschen«.

4. Wählen Sie in Gruppen ein Bild- oder Text-Material aus den Doppelseiten 114 – 117 aus (auch zwei gegensätzliche Materialien sind möglich). Untersuchen Sie das Material unter den Aspekten »Individuum und Gemeinschaft« sowie »Freiheit und Abhängigkeit«. Gestalten Sie dazu z. B. Standbilder oder Zeichnungen.

Denn die einen sind im Dunkeln Und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht.

BERTOLT BRECHT*,

DIE DREIGROSCHENOPER

GETEILTE FREIHEIT 117
Blickfeld
Aus dem
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Literalität 2018

Die sog. Inside Out-Projekte von JR* gehören zu den größten Kunst-Gemeinschaftsprojekten der Welt. Das obige Beispiel wurde von der »Wuppertaler Initiative für Demokratie und Toleranz« 2014 initiiert und trägt den Titel »Different faces – different views«. Die großformatigen Schwarz-Weiß-Porträts von Freiwilligen werden vor Ort von diesen eigeninitiativ aufgenommen und ausgedruckt.

AUS EINEM POLITIKLEXIKON

Allgemein bezeichnet Politik jegliche Art der Einflussnahme und Gestaltung sowie die Durchsetzung von Forderungen und Zielen.

Im Speziellen bezeichnet Politik 1. im klassischen Sinne die Staatskunst, das Öffentliche bzw. das, was alle Bürgerinnen und Bürger betrifft und verpflichtet.

2. die aktive Teilnahme an der Gestaltung und Regelung menschlicher Gemeinwesen.

3. bezogen auf moderne Staatswesen ein aktives Handeln, das a) auf die Beeinflussung staatlicher Macht, b) den Erwerb von Führungspositionen und c) die Ausübung von Regierungsverantwortung zielt.

BEGRIFFSKLÄRUNGEN

1. Notieren Sie fünf Begriffe, die Sie mit »politisch« oder »Politik« verbinden. Suchen Sie nach unterschiedlichen Kontexten, in denen man von »politisch« oder »Politik« spricht und beziehen Sie dabei die Zitate (oben rechts) mit ein.

2. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit dem antiken Verständnis (rechts) und den Erläuterungen des Lexikons (oben).

3. Deuten Sie das obige Inside Out-Projekt und diskutieren Sie, ob es sich um politische Kunst handelt.

»Da sollten wir politisch Druck machen.

»Ich bin ein ganz und gar unpolitischer Mensch.

»Das ist doch die Aufgabe der Politik.

»Politisch verfolgte Menschen benötigen Schutz.

»Deine Art von Firmenpolitik finde ich seltsam.

DAS POLITISCHE IN DER GRIECHISCHEN ANTIKE

Das Politische ist bei den Griechen primär nicht das, was sich auf ein gemeinschaftliches Gebilde wie eine Stadt (polis) spezifischer Organisation und Verfassung bezieht, als vielmehr das Gemeinschaftliche bzw. Bürgerliche als solches. Das Politische ist somit das, was alle gleichermaßen angeht, was im Sinne des Ganzen geboten ist, das Öffentliche im Unterschied zum Privaten (der Familie, dem Häuslichen), das Gerechte für alle in Differenz zum Interesse Einzelner, das Demokratische im Unterschied zum Oligarchischen (der Angelegenheit weniger). In diesem Sinne wird es von den Griechen auch umfassender empfunden als von Menschen späterer Zeitalter. Für sie gibt es eine Differenz zum Religiösen, Ethischen, Kulturellen oder gar zum Staat noch nicht. All dies ist gleichermaßen Sache aller (Männer), die weder Sklaven noch Unfreie, sondern Unabhängige und Freie sind, und steht im gemeinsamen Interesse.

Heinrich Schmidinger, Theologe und Philosoph

118 KAPITEL 5
Politisch …
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ARISTOTELES* ÜBER DEN MENSCHEN IM STAAT

»Es ist offensichtlich, dass der Staat [polis] ein Werk der Natur ist und der Mensch von Natur aus ein staatenbildendes Lebewesen [politikon zoon].«

Alternative Übersetzungen:

»Hieraus ist nun klar, dass die Polis zu den Dingen gehört, die von Natur aus bestehen, und dass der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen ist.«

»Es liegt nun aber zu Tage, dass das Gemeinwesen zu dem gehört, was von Natur ist, und dass der Mensch von Natur das im Gemeinwesen lebende Wesen ist.«

»Dass der Mensch mehr als jede Biene und jedes Haustier ein politisches Lebewesen ist, ist deutlich.«

»Wie im Samen der ganze Baum veranlagt ist, so ist im Menschen der Staat (polis) veranlagt.«

»Deshalb streben die Menschen, auch wenn sie keiner gegenseitigen Hilfe bedürfen, zum Zusammenleben. Zwar führt auch der gemeinsame Nutzen zusammen, soweit er für jeden Einzelnen einen Beitrag zum guten Leben leistet (denn das ist das Ziel, gemeinsam für alle und auch getrennt). Aber nichtsdestoweniger kommen die Menschen auch um des bloßen Lebens willen zusammen und bilden eine politische Gemeinschaft.«

»MEHR ALS JEDE BIENE«

1. Der Begriff zoon politikon geht auf Aristoteles* zurück. Deuten Sie Unterschiede in den Übersetzungen des berühmten Zitats (ganz oben) mithilfe von S. 118.

2. Wenn der Mensch »von Natur aus« ein politisches Wesen ist, dann heißt das für mich persönlich … Probieren Sie mögliche Folgerungen aus.

3. Erschließen Sie mithilfe der Erläuterungen von H. Schmidinger und L. Jansen alle obigen Aristoteles-Zitate. Machen Sie deutlich, inwiefern dieser den Menschen als mündig und frei ansieht

4. Im letzten Jahr haben Sie sich mit dem Gedanken der Mündigkeit [11] beschäftigt. Prüfen Sie, welche Spielräume für die Mündigkeit des einzelnen Menschen Aristoteles’ Sicht eröffnet.

5. Vergleichen Sie Aristoteles’* Bestimmungen des Menschen mit Positionen der philosophischen Anthropologie* ( S. 65).

ZU ARISTOTELES* BESTIMMUNG DES MENSCHEN

Der Mensch strebt wie die Tiere nach Gemeinschaft. Freilich kommt bei ihm etwas dazu, das bei Bienen nicht zu finden ist: die Reflexion des Nutzens der Gemeinschaft. Dieser ergibt sich für Aristoteles aus dem Wesen des Menschen, nicht allein zoon politikon, sondern zuvor schon zoon logon echon, ein mit Vernunft und Sprache begabtes Lebewesen zu sein. Liegt demnach der Nutzen eines Zusammenlebens grundsätzlich im »guten Leben«, so impliziert dieses nicht nur Überlebenschance, Fortbestand, Sicherheit und Ähnliches, sondern prinzipieller die Erfüllung dessen, wonach alle Menschen von Natur aus streben: nach Glück und nach Weisheit. Diese beiden um ihrer selbst willen angestrebten Güter finden somit ihre Realisierung im gemeinschaftlichen Leben – in der polis. Was bedeutet: zoon logon echon vermag der Mensch nur als zoon politikon zu sein. Beides gehört gleichursprünglich zusammen. Es bedingt sich auch gegenseitig: Auf der einen Seite ermöglicht und garantiert das Leben in Gemeinschaft die Verwirklichung des menschlichen Wesens, auf der anderen Seite entsteht und besteht menschliche Gemeinschaft nur in dem Maße, in dem der Mensch sich seinem Wesen gemäß verhält.

Heinrich Schmidinger

MERKwürdig: Bienen sind keine Individualisten.

ZUM BEGRIFF DER POLIS BEI ARISTOTELES*

Dass wir Menschen kulturelle Wesen sind, gehört einfach zu unserer Natur. Deswegen kann für Aristoteles auch die Organisation unseres Zusammenlebens zu unserer Natur gehören, wie es ja auch zur Natur des Wolfes gehört, in Rudeln zu jagen. Wenn Aristoteles sagt, dass die Polis von Natur aus existiert, dürfen wir nicht allzu sehr an die reale Polis des antiken Griechenlandes denken, denn er bezieht auch die Lebensweisen der »Barbaren« in seine Darstellung ein. »Polis« meint daher möglicherweise etwas viel Allgemeineres als die für das antike Griechenland typische Siedlungsform. Denn wenn Aristoteles Recht hat, dann leben wir heute immer noch in dem, was er mit »Polis« gemeint hat. Ludger Jansen, Philosoph

GETEILTE FREIHEIT 119
… von Natur aus?
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Unter Verdacht?

ZUR VERÄNDERUNG DES POLITIKBEGRIFFS

• Anders als in der Antike mit ihrer Vorstellung vom zoon politikon entwickelt sich im Abendland eine eher ambivalente Haltung gegenüber dem »Politischen«. Grundlegend für das heutige Verständnis ist zunächst, dass das Politische als ein gesellschaftlicher Teilbereich angesehen wird – neben anderen Teilbereichen wie Moral*, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft – und nicht mehr als die Gesamtheit des öffentlichen Lebens. Allerdings wird für Probleme in verschiedenen Teilbereichen häufig »die Politik« verantwortlich gemacht. Es finden sich auch Skepsis gegenüber dem Beruf der Politikerin / des Politikers oder auch Politikverdrossenheit.

• Zur zwiespältigen Sicht auf »Politik« hat vor allem die Trennung von Politik und Moral beigetragen. Diese wird besonders eindrücklich und wirkmächtig von Niccolò Machiavelli* (1469–1527) in seinem Werk »Il Principe« (Der Fürst) von 1530 herausgestellt: Zum einen wird Politik als die Kunst von wenigen gesehen, die in dieser Kunst geschult werden müssen, um einen Staat erfolgreich zu gestalten. Zum anderen verlange es diese Kunst, sich im Bereich des Zweifelhaften, ggf. Unmoralischen zu bewegen, wenn es erforderlich ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Machiavelli als Erster Grundsätze einer ggf. als notwendig anzusehenden Staatsräson durchdenkt und von den Herrschern durchaus auch die Einhaltung von Geboten gefordert hat, anders als es der später geprägte Begriff des Machiavellismus unterstellt, wonach zur Durchsetzung von Machtinteressen jedes Mittel erlaubt sei.

Menschen in meinem Alter wollen politisch etwas verändern.

19 47

Ich kann die Politik beeinflussen.

EIN AMIBIVALENTER BEGRIFF

1. Deuten und diskutieren Sie die Karikatur.

2. Suchen Sie – auch mithilfe der Info – nach Gründen für die Umfrageergebnisse (unten links).

3. »Il Principe« hat Zeitgenossen schockiert. Arbeiten Sie Anstößiges aus den Zitaten (unten) heraus. Diskutieren Sie deren Aktualität.

4. Aristoteles* ( S. 119), Machiavelli und Hobbes ( S. 121) beziehen sich auf Tiere. Erstellen Sie eine kleine politische Tierkunde und deuten Sie die Funktion der Vergleiche.

AUS MACHIAVELLIS »DER FÜRST« (IL PRINCIPE)

»Du sollst dich nicht an den Gütern deiner Untertanen gütlich tun; du sollst dich nicht an ihren Frauen vergreifen; du sollst nicht einfach aus Spaß töten.«

»So soll ein Fürst nur siegen und den Staat erhalten; seine Methoden werden […] gelobt werden. Denn das gemeine Volk lässt sich vom Schein und vom Erfolg leiten. Und die Welt besteht nur aus gemeinem Volk, die wenigen Einsichtigen kommen dagegen nicht an.«

27 4

524 46 21

Es ändert sich eh nichts, egal wer regiert.

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Stimme voll und ganz zu

29 9 36

Stimme gar nicht zu

Repräsentative Jugendstudie (2022, 2124 Befragte, 14–24 Jahre), Werte in Prozent: stimme voll und ganz zu – stimme eher zu – stimme eher nicht zu – stimme gar nicht zu; fehlend zu 100: weiß nicht

»Man muss nämlich einsehen, dass ein Fürst […] oft gezwungen ist […] gegen die Treue, die Barmherzigkeit, die Menschlichkeit und die Religion zu verstoßen. Daher muss er eine Gesinnung haben, aufgrund deren er bereit ist, sich nach dem Wind des Glücks und dem Wechsel der Umstände zu drehen und vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist.«

»Und weil denn ein Fürst imstande sein soll, die Bestie zu spielen, so muss er von diesen den Fuchs und den Löwen annehmen; denn der Löwe entgeht den Schlingen nicht, und der Fuchs kann dem Wolf nicht entgehen. Er muss also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken.«

120 KAPITEL 5
INFO
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AUS »LEVIATHAN« VON THOMAS HOBBES*

So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen [diffidence], drittens Ruhmsucht. […] Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg aller gegen alle. [...] Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. [...] So viel über den elenden Zustand, in den der Mensch durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird. […] Der alleinige Weg zur Errichtung einer […] allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelstimmen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. […] Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser [...] jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. [...] Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan.

DIE IDEE DES GESELLSCHAFTSVERTRAGS

1. Th. Hobbes Begründung des Staats wird mit den Schlagworten homo homini lupus*, Naturzustand* und Gesellschaftsvertrag* umrissen. Erarbeiten Sie Zusammenhänge anhand des Textauszugs (links).

2. Schildern Sie einen Zustand ganz ohne Gesetze.

3. Deuten Sie das Titelbild (unten) und stellen Sie Anfragen an die Konzeption von Souverän, Volk, Landschaft und Stadt

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4. Prüfen Sie die These von S. Puntscher Riekmann (unten) anhand der vorherigen Seiten.

AnMERKung: Mit der Natur wird viel begründet.

EIN ZOON POLITIKON AUCH BEI HOBBES?

Der Mensch braucht die Gesellschaft der anderen. Das ist die Annahme, aus der Aristoteles* die Notwendigkeit des Politischen folgert. Trotz aller autoritären Entwicklungen und dunklen Zeitalter kehrt in Europa die Vorstellung des Einzelnen als freier Rechts- und Handlungsträger immer wieder zurück. Nicht einmal Machiavelli hat sie ernsthaft in Frage gestellt. Hobbes hat allerdings scharf dagegengehalten und den Menschen als Konfliktwesen konzipiert. Aber ließe sich das Hobbes’sche Konzept nicht auch als ein aristotelisches mit umgekehrten Vorzeichen dekonstruieren? Der homo homini lupus wäre demnach noch immer ein soziales Wesen, das den Anderen braucht, um dessen Feind zu sein. Jedenfalls muss er sich mit dem Anderen arrangieren, um durch Vertrag den artifiziellen Gott namens Leviathan zu konstruieren.

Sonja Puntscher Riekmann, Politikwissenschaftlerin

Oberer Teil des Titelbilds der Originalausgabe von »Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens« von Th. Hobbes 1651. Auf den Straßen befinden sich Soldaten, vor der Kirche zwei Seuchenärzte mit Pest-Schnabelmasken. Das Zitat findet sich in Hiob 41,25(!). Der Souverän hält Schwert und Krummstab in Händen.

GETEILTE FREIHEIT 121
homini lupus?
Homo

Spielräume für mich …

»Wir haben nach jeder Richtung eine Grenze, und wir haben nach keiner Richtung hin eine Grenze.

GEORG SIMMEL*: HOMO DUPLEX

G. Simmel (1858–1918) hat – wie der Soziologe Hans-Peter Müller ausführt – u. a. wichtige Beiträge zum Verständnis des modernen Individualismus geleistet: Nach Simmels Auffassung wird der Mensch in zweifacher Hinsicht konstituiert: durch seine Eigenschaft als Grenzwesen und durch seine Natur als homo duplex »Wir orientieren uns dauernd an einem Über-uns und einem Unter-uns, einem Rechts und Links, einem Mehr oder Minder, einem Fester oder Lockerer, einem Besser oder Schlechter.« Dies macht den Menschen zum Grenzwesen par excellence. Aber keine Grenze ist unveränderlich. Im Gegenteil: Grenzen im Leben sind dazu da , überschritten zu werden. Der Mensch ist also nicht nur Grenzwesen, sondern auch Grenzüberschreiter und -verschieber.

Dieser Grenzcharakter des menschlichen Wesens kehrt auch in Simmels Vorstellung vom Individuum als homo duplex wieder, die er zur Beantwortung der Frage: »Wie ist Gesellschaft möglich?« diskutiert. Zunächst geht er davon aus, dass jeder Mensch in sich einen tiefsten Individualitätspunkt trägt, den weder andere noch das betreffende Individuum selbst vollständig nachempfinden können. Aber wie erkennt man einen Menschen als Individuum? Stets nur fragmentarisch und unsicher. Denn unsere Wahrnehmung des Anderen schwankt zwischen den allgemeinen Zügen der menschlichen Natur und der Idee der »individuellen Persönlichkeit«. Die Folge: »Wir alle sind Fragmente, nicht nur des all-

gemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst.« Im Alltag behelfen wir uns mit dem Verstehen des Anderen, indem wir die empirisch erkennbaren Fragmente zu einem vollständigen Bild in unserer Wahrnehmung zusammensetzen, gleichgültig, ob diese Ergänzung richtig oder falsch ist.

Sodann fügt Simmel der Dialektik von Allgemeinheit und Individualität das Prinzip des »Außerdem« hinzu. Der Mensch ist nicht nur ein Gesellschaftswesen, sondern »außerdem« noch etwas. Jeder Mensch ist mit einem Bein, dem Standbein, Mitglied der Gesellschaft, mit dem anderen Bein hingegen, dem Spielbein, markiert er eine individuelle Persönlichkeit. Simmels homo duplex trennt also strikt zwischen sozialer und personaler Existenz. »Der ganze Verkehr der Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Kategorien wäre ein anderer, wenn ein jeder dem anderen nur als das gegenüberträte, was er in seiner jeweiligen Kategorie, als Träger der ihm gerade jetzt zufallenden sozialen Rolle ist.«

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INDIVIDUALITÄT IST MÖGLICH

1. Fassen Sie den Text in fünf Thesen zusammen.

2. Vergleichen Sie G. Simmels Vorstellungen mit der von Aristoteles* ( S. 119) und deuten Sie G. Simmels Interesse an Individualitätsfragen vor dem Hintergrund seiner Zeit

3. Stellen Sie G. Simmels Vorstellung vom Menschen als homo duplex grafisch dar und prüfen Sie sie anhand eigener Erfahrungen und Sichtweisen.

Die Dialektik von Individuum und Gesellschaft, von Innen und Außen, bringt zwar Mensch und Gesellschaft in einen Gegensatz. So fühlt sich der Mensch, der sein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will, durch die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Anforderungen der Gesellschaft beeinträchtigt oder gar »entfremdet«. Er lebt nicht, sondern wird »gelebt«. Aber Simmel beharrt darauf, dass diese Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft ganz im Einklang mit seiner Bestimmung des Menschen als Grenzwesen steht. Der Mensch als Teil ist zwar auch Produkt und Glied der Gesellschaft, aber auch als Ganzes ein eigenes Sinnund Gestaltungszentrum.

Simmel lehnt somit jeglichen Soziologismus ab, wonach die Gesellschaft den Menschen macht. Vielmehr sind Gesellschaft wie soziale Kreise Arena und Schauplatz, auf denen der Mensch seine individuelle Persönlichkeit entwickeln kann. Das wesentliche Erfordernis, damit aus der Potentialität auch die Realität von Individualität werden kann, besteht darin, dass jeder einen seinen Neigungen und seinem Leistungsvermögen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden vermag. Insofern ist auch für Simmel der Mensch ein genuin soziales Wesen, als die Selbstentfaltung nur in und mit der Gesellschaft, wenn auch nicht allein durch die Gesellschaft erfolgen kann.

122 KAPITEL 5

HANNAH ARENDTS* POLITISCHE VISION

Alle großen Revolutionen der Geschichte begannen auf der Straße. Seit Jahren nimmt die Zahl der Demonstrationen zu – weltweit. Zivilgesellschaften kämpfen überall gegen den menschengemachten Klimawandel, gegen Rassismus, für Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Das Internet hat die Proteste, aber auch den Charakter der Ö ffentlichkeit verändert. Erst versammelt man sich online, dann in Räumen und schließlich auf den Straßen und Plätzen. Für Hannah Arendt besteht genau darin der Sinn von Politik, im spontanen Schritt zu den anderen, hin zu einem »Wir«, dem Zusammenhandeln in einem gemeinsam geschaffenen öffentlichen Raum. So kann politische Macht entstehen. Die Macht der vielen zeigt sich im gemeinsamen Handlungsvollzug als weltverändernde Praxis: Aktionen sind politisch, wenn sie die Welt verändern. Diesen Schritt kann man nicht von oben delegieren, man muss ihn persönlich machen. Dort, wo Menschen zu Hause bleiben und alles den Parteien überlassen, kann man nach Arendt nicht von politischer Freiheit sprechen. Für Arendt ist der Sinn der Politik Freiheit. Nicht allein Freiheit von Unterdrückung und Zwang. Ihr geht es um die »Freiheit zu«, um die »positive Freiheit«, um »moralische Freiheit«, um die Freiheit, die Welt zu verändern. Diese Art Freiheit, also »ein politisches Leben zu führen«, realisiert sich beim Zusammenwirken von Freien und Gleichen im politischen Raum, wo man um die richtige Form des Zusammenlebens streitet. Diese Freiheit setzt aber die Befreiung der Individuen von Zwang und Not schon voraus. Worum es Arendt als Ziel der Politik geht, ist nicht nur Überleben, sondern ein »gutes Leben« und die Übernahme von Verantwortung für die Welt.

Bruno Heidlberger, Politikwissenschaftler

ZU WUNDERN BEGABT

1. Entdecken Sie Aspekte von H. Arendts* Freiheitsverständnis [11] in den Texten der Seite.

2. Vergleichen Sie H. Arendts* Vorstellung vom Menschen mit derjenigen der vorherigen Seiten.

3. Sammeln Sie Beispiele für zivilgesellschaftliche Proteste (vgl. unten links) und diskutieren Sie H. Arendts* Vorstellungen vom Politischen. Tauschen Sie sich darüber aus, für welche Themen Sie demonstrieren gehen (würden).

Hannah Arendt MERKt an: Politik beruht auf der Pluralität der Menschen und Freiheit gibt es nur gemeinsam.

ZU DEN WURZELN UND DARÜBER HINAUS

In Abhebung von der Interpretation des Menschen als eines »zoon politikon«, der zufolge das Politische im Menschen selbst angelegt sei, betont H. Arendt*, dass Politik nicht im Menschen, sondern zwischen den Menschen entsteht. Trotz der Unheil-Erfahrungen, die der moderne Mensch mit dem Politischen gemacht hat, glaubt H. Arendt daran, dass »der Mensch selbst offenbar auf eine höchst wunderbare und geheimnisvolle Weise dazu begabt ist, Wunder zu tun«, nämlich: Er kann handeln, Initiativen ergreifen, »einen neuen Anfang« setzen. »Das Wunder der Freiheit liegt in diesem Anfangen-Können beschlossen, das seinerseits wiederum in dem Faktum beschlossen liegt, dass jeder Mensch, sofern er durch Geburt in die Welt gekommen ist, die vor ihm da war und nach ihm weitergeht, selber ein neuer Anfang ist.«

Politik in diesem wahren Sinne ist historisch selten anzutreffen, sie erscheint »in wenigen großen Glücksfällen der Geschichte«, die aber deshalb entscheidend sind, weil in ihnen der Sinn von Politik voll in Erscheinung tritt und in der Geschichte fortwirkt. Auch die heutige Politik ist auf diese Erinnerung und Vergegenwärtigung ihres wahren Sinnes angewiesen, wenn sie frei und menschlich bleiben soll.

Kurt Sontheimer, Politikwissenschaftler

GETEILTE FREIHEIT 123
und für Veränderung
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Demonstration in Oldenburg für die Aufnahme von Flüchtlingen 2021

Kirche: Für die Gesellschaft …

ALENA BUYX ZUR ARBEIT IM ETHIKRAT*

Wir sind gar nicht so viele Ethikerinnen und Ethiker, sondern auch juristische Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler und noch viele andere Disziplinen. Deswegen müssen wir die ganze Zeit einen interdisziplinären Diskurs führen, auch zwischen den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen der Ethik. Was bringen da die kirchlichen Stimmen ein?

Ich werde das viel gefragt, insbesondere aus den Naturwissenschaften und aus der Medizin: Warum ist die Theologie denn da eigentlich so stark vertreten? Das eine ist, dass man sich bei der Gründung des Rates überlegt hat, aus bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen Menschen in den Ethikrat zu ber ufen. Aber der andere Aspekt ist der Expertise geschuldet. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Theologie können auf eine sehr intensive und wirklich auch sehr qualitätsvolle Diskussion zu diesen Fragen innerhalb ihrer Fächer und Gebiete zurückgreifen. Es ist natürlich wichtig, dass immer die Fähigkeit da ist zu einem offenen, interdisziplinären und pluralen Diskurs. Aber das ist eine wirklich sehr beglückende berufliche Erfahrung, die ich in beiden Ratsperioden gemacht habe, dass das sehr, sehr gut funktioniert und man da auch einfach in einem gemeinsamen Lernprozess steckt. Es [bestehen] keine Blockbildungen oder Konfliktlinien zwischen den religiösen Mitgliedern oder denen, die eine bestimmte Religion mit vertreten oder nicht. Es mischt sich alles immer wieder neu. Es ist tatsächlich immer wieder das gemeinsame Ringen um das beste Argument und die beste Begründung. Und ich hoffe, dass man das den Texten auch ansieht.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier liest jährlich die biblische Weihnachtserzählung im Rahmen einer Fernsehsendung, hier 2021 in der Pfarrkirche St. Peter und Paul, Dieburg.

Präsentation einer Veröffentlichung des Deutschen Ethikrats* von 2019 mit der Medizinethikerin Alena Buyx (ab 2020 Vorsitzende), dem katholischen Theologen Andreas Lob-Hüdepohl (l.) und dem damaligen Vorsitzenden, dem evangelischen Theologen Peter Dabrock (r.)

IN ANSPRUCH GENOMMEN

1. Tauschen Sie sich über eigene Erfahrungen mit »Kirche« [10] und Erwartungen an sie aus.

2. Diskutieren Sie anhand der Beispiele der Seite, inwiefern, wie und warum hier »Kirche« gesellschaftlich in Anspruch genommen wird.

3. Sammeln Sie weitere Beispiele, wo und wie »Kirche« für die gegenwärtige Gesellschaft eine Rolle spielt oder gespielt hat.

124 KAPITEL 5
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ZUR DEBATTE UM DIE RELEVANZ VON »KIRCHE«

Wenn die Relevanzfrage in den Medien gestellt wird, rückt sie meistens die Mitgliederzahlen von Organisationen und ihr messbares Engagement in Bereichen wie Bildung, Ausbildung, Erziehung, Kranken- und Altenpflege in den Blick. Sie begreift Relevanz also vor allem institutionell und als empirisch fassbare Größe in Tabellen und Diagrammen. Ist das eine angemessene Herangehensweise?

Zunächst geht das Verfassungsrecht schlichtweg davon aus, dass die Kirchen Sinnstifter sind. Es erkennt die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Vermittlung grundlegender Werte der Gesellschaft an. Nach dem bekannten Böckenförde*-Diktum »lebt der Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren«, also nicht generieren kann. Der Staat bedarf derer, die ethische Werte verfechten und vorleben, sei es als Einzelne, sei es als zu einer Gemeinschaft Verbundene. In diesem Sinne bedarf der Staat ganz elementar der Religionsgemeinschaften. Und sinkenden Mitgliederzahlen zum Trotz sind die Kirchen keineswegs »unvermögend«, der Allgemeinheit Orientierung zu geben. Bildungs- und Akademiearbeit, christliche Publizistik, Kirchentage mögen als Stichworte genügen.

Wie steht es aber um Kritik an der Politik, um das »Wächteramt« der Kirchen? Unbequem, aber »nützlich«? Widerspruch aus Loyalität, nämlich zu den Werten des Grundgesetzes? Schon an diesen Fragestellungen zeigt sich, dass Religion u. U. sperrig sein, ja ganz anders als gewohnt in Erscheinung treten kann, gerade nicht als fünfte Kolonne des Staates, die seine Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- oder Integrationspolitik unterstützt und ihr zur Wirkung verhilft.

Um nicht missverstanden zu werden: Um ihres Menschenbildes willen sind die Kirchen wie auch andere Religionsgemeinschaften zu vielerlei Unterstützung der Politik im demokratischen Rechtsstaat aufgerufen. Aber Religion ist nicht einem bestimmten Politikverständnis geschuldet, sondern zunächst und v. a. demjenigen, das zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser

Das Restaurant »Glück und Seligkeit« wurde 2005 in der früheren Bielefelder Martinikirche eröffnet.

»Für meinen Glauben brauche ich keine Kirche.

»Einfach zu viele Skandale und Privilegien.

»Für Kirche bin ich nicht naiv genug.

»Kirche hat sich da rauszuhalten.

»Das Geld nutze ich lieber anders.

»Werte bekomme ich auch woanders.

IN ANSPRUCH GENOMMEN

1. Recherchieren Sie weitere Beispiele für Umwidmungen (oben) bzw. Erweiterungen ( S. 126) von Kirchengebäuden. Tauschen Sie sich über Gründe aus, diese als Architektur zu erhalten, und darüber, ob die neue Funktion auch etwas mit »Kirche« zu tun hat.

2. Positionieren Sie sich zu den Zitaten (oben). Bringen Sie sie mit den Überlegungen U. K. Jacobs’ ins Gespräch.

Welt ist. Deshalb entzieht sich Religion einer vordergründigen »Nützlichkeit«. Die Relevanzdebatte unserer Tage geht am Kern von Religion vorbei. Wie das göttliche Wesen unsichtbar und unverfügbar ist, so ist Religion als Antwort auf dieses Wesen immer mehr und zugleich auch anders als die beste Politik. Stellt sich aber die Politik »der Verantwortung vor Gott und den Menschen«, woran die Präambel des Grundgesetzes erinnert, dann weiß die Politik darum, dass die Religionsgemeinschaften in einer sehr multidimensionalen Perspektive »nützlich« sind. Sie zeigen, dass sich der Staat nicht aus sich selbst erklärt oder sich selbst genügt. Der Beziehungsrahmen von Mensch, Staat und Gesellschaft ist größer als der Normumfang des Grundgesetzes. Daran zu erinnern, dies zu konkretisieren und vorzuleben, sind die Religionsgemeinschaften aufgefordert. Dann werden sie, ohne es zu müssen, der Er wartung gerecht, dann sind sie »relevant«. Uwe Kai Jacobs, Theologe

GETEILTE FREIHEIT 125
relevant?
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Veränderungsbedarf …

INTERVIEW MIT DEM THEOLOGEN JÖRG LAUSTER

In welche Richtung müssten sich Kirchen heute reformieren, wenn Reformation nie aufhört?

J. L auster: Wir haben hervorragend ausgebildete Pfarrerinnen und Pfarrer. Wir haben einen immer noch großen Kreis von Menschen, die für die Fragen des Daseins ein Interesse haben, und diese beiden Gruppen muss man zusammenbringen. Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer Menschen zu Taufen, Beerdigungen, Hochzeiten besuchen, gibt es wunderbare Gelegenheiten. Da müssen wir neugieriger und auch erfinderischer werden, wie wir dieses Interesse befriedigen können, das in den Menschen besteht. Das läuft mit der klassischen Form des Gottesdienstes – alle schlafen, einer spricht – nicht in der Art und Weise, wie das allein zeitgemäß sein sollte. Ich sage nicht, Gottesdienste abschaffen, aber sich darüber hinaus ausdenken, wie wir mehr mit den Menschen in ein persönliches Gespräch kommen können.

Was könnte aus Ihrer Sicht das sein, was das Christentum modernen Gesellschaften zu bieten hat?

Wenn wir uns anschauen, von was unsere Gesellschaften innerlich leben, dann stellen wir fest, da gibt es so etwas wie verborgene Ideen. Wir haben den Traum, solidarisch miteinander umzugehen. Wir erziehen unsere Kinder zu Anerkennung und Respekt. Wir pflegen Authentizität als Ideal. Solidarität, Anerkennung und Authentizität – zu all diesen dreien hat das Christentum grandiose Angebote zu machen, wie wir diese inhaltlich besetzen können. Das ist einmal die Vorstellung der Nächstenliebe. Das ist bei der Anerkennung die Gnade. Und das ist bei der Authentizität die Erlösung (vgl. S. 104). Ich sage nicht, dass wir für alles die ultimative Antwort haben. Aber das Christentum ist reich an Ideen, die sich sehr eng mit den Fragen berühren, die die Menschen heute umtreiben.

Die Axiener Dorfkirche mit Nutzungserweiterung als Büchertauschbörse

WIE MUSS KIRCHE NEU GEDACHT WERDEN?

1. Stellen Sie eigene Überlegungen dazu an, inwiefern sich Kirche verändern sollte, und diskutieren Sie die Vorschläge, die sich aus den Materialien dieser Seite ergeben.

2. Interviewen Sie Personen aus Kirchengemeinden zu den Fragen des Interviews (links).

WAS DIE BEIDEN KIRCHEN TUN SOLLTEN

Vieles weist darauf hin, dass im immer größer werdenden Feld der Religionslosigkeit eine neue, religionslose Religiosität wächst. Nicht die Suche der Menschen nach Sinn und Orientierung hat aufgehört. Sie landet nur nicht bei den klassischen Religionen. Mir scheinen in dieser Situation zwei Dinge wichtig zu sein: Zum einen der Vorrang des Hörens vor dem Reden, um ins Gespräch zu kommen. Zum anderen: Wo das Evangelium so radikal in die Krise der Nicht-Notwendigkeit geraten ist, kann es gerade wieder das Differenzangebot sein, dass den Glauben attraktiver macht.

Klaus Mertes, Theologe

»Eine Chance zum Gesundschrumpfen!

»Die Kirchen sollen sich darum kümmern, Gottes Wort zu verkündigen, nicht um die eigene Existenz.

»Letztlich haben es die Kirchen nicht in der Hand.

»Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN.«

Jeremia 29,7

Für Berlin seit 1877

»Wir begegnen Menschen und nehmen wahr, was sie brauchen.«

»Wir laden Menschen ein und begleiten sie in konkreten Lebenssituationen.«

»Wir geben Menschen Heimat und leben Gemeinschaft.«

126 KAPITEL 5
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DIE KATHOLISCHE KIRCHE UND DIE ÖKUMENE

Im Zweiten Vatikanischen Konzil* formulierten die Konzilsväter: Die Kirche Christi, »in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche«. Der lateinische Originaltext spricht von »Subsistenz«, was die Erklärung »Dominus Iesus« so erläutert: Die eine Kirche Christi besteht »trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiter«, zugleich sind aber auch »außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden«, nämlich in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. In solchen Äußerungen zeigt sich das Bemühen der katholischen Kirche um einen würdigenden Umgang mit den nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.

Kilian Martin, Theologe für katholisch.de

AUS DEM SELBSTVERSTÄNDNIS

DER ELKB*

Wir sind als evangelisch‐lutherische Kirche Teil der weltweiten Kirche Jesu Christi, die ihr Selbstverständnis aus dem Evangelium von Jesus Christus gewinnt. […] Wir stehen in der reformatorischen Tradition, die sich in dem vierfachen »allein« [8] […] verdichtet. Als Landeskirche stehen wir an unserem jeweiligen Ort mitten in der Gesellschaft.

Im Glaubensbekenntnis bekennen wir die »eine heilige christliche Kirche«. Sie ist Kirche durch Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Auch unsere Kirche ist Teil der weltweiten Christenheit, was das Wort »katholisch« ursprünglich bedeutet. Somit ist sie anderen Kirchen ökumenisch verbunden. Sie versammelt sich um Wort und Sakrament.

DIE KIRCHEN UND DIE EINE KIRCHE

1. Tauschen Sie sich darüber aus, wann für Sie Konfession [8] eine Rolle gespielt hat, spielt oder spielen könnte.

2. Zeigen Sie anhand dieser Seite auf, worin kirchlicherseits das Interesse an Ökumene [8] einerseits besteht und welche Herausforderungen es andererseits gibt.

3. Deuten Sie die Gestaltung des Logos (unten links). Recherchieren Sie Beispiele für ein gemeinsames Engagement im konziliaren Prozess* [10]. Diskutieren Sie, ob ein verstärktes gemeinsames Engagement die Wahrnehmung von Kirche ( S. 124 – 126) ändern könnte.

EINHEIT IN »VERSÖHNTER VERSCHIEDENHEIT«?

Das Modell [der Einheit in versöhnter Verschiedenheit] soll zum Ausdruck bringen, dass die konfessionellen Ausprägungen des christlichen Glaubens in ihrer Verschiedenheit einen bleibenden Wert besitzen; dass diese Verschiedenheiten aber, wenn sie gemeinsam auf die Mitte der Heilsbotschaft und des christlichen Glaubens bezogen sind und diese Mitte nicht in Frage stellen, ihren trennenden Charakter verlieren und miteinander versöhnt werden können zu einer ver pflichtenden ökumenischen Gemeinschaft, die in sich auch konfessionelle Gliederung bewahrt.

6. Versammlung des Lutherischer Weltbunds 1977

Die Formulierung [im Zweiten Vatikanischen Konzil] ist eine bleibende Norm, aber keine abschließende Endstation, sondern eher verheißungsvoller Anfang. Das Modell »Versöhnte Verschiedenheit« ist in den letzten Jahren [zwar] eine in hohem Maß akzeptierte Einheitsvorstellung geworden. Dieses lutherisch orientierte Modell setzt aber letztlich [ein] Verständnis voraus, das das Apostolische Amt* als Kriterium – wie immer dies genauer verstanden wird – ausklammert. Wenn »Versöhnte Verschiedenheit« die Frage nach der Struktur des Amtes unter den Kriterien der Konstituierung von Kirche ausklammert, ist sie für die katholische Kirche nach meinem Urteil kein geeigneter Weg für das weitere ökumenische Gespräch.

Karl Kardinal Lehmann*, Theologe, aus dem Eröffnungsreferat auf der Deutschen Bischofskonferenz 2007

GETEILTE FREIHEIT 127 … gemeinsam?
Logo des Arbeitskreises Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der Tradition des konziliaren Prozesses
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»Keines ohne das andere«

INFO

Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Joh 18,36

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. [...] Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst.

Röm 13,1.4a

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Apg 5,29b

So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!

Lk 20,25

Selig sind die Sanftmütigen.

AUS: VON WELTLICHER OBRIGKEIT, WIEWEIT

MAN IHR GEHORSAM SCHULDIG SEI (1523)

Darum muss man diese beiden Regimente sorgfältig unterscheiden und beide in Kraft bleiben lassen: das eine, das rechtschaffen macht, das andre, das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken wehrt. Keines genügt in der Welt ohne das andere. [...] Wo nun weltliches Regiment oder Gesetz allein regiert, da muss es lauter Heuchelei geben, auch wenn es Gottes Gebote selber wären. Denn ohne den Heiligen Geist im Herzen wird niemand wirklich rechtschaffen, mag er so feine Werke tun, als er kann. Wo aber das geistliche Regiment allein über Land und Leute regiert, da wird der Schlechtigkeit der Zaum gelöst und aller Büberei Raum gegeben.

Martin Luther

MARTIN LUTHER: VON DEN ZWEI REGIERWEISEN GOTTES

• Die Obrigkeitsschrift von 1523 ist eine Reaktion auf eine historische Situation und keine abstrakte Lehre: Einige Landesfürsten hatten nach dem Wormser Edikt* die Übersetzung des Neuen Testaments verboten und deren Herausgabe von den Untertanen gefordert. Luther will klären, »wieweit man« als Christenmensch der Obrigkeit zu gehorchen hat und worin die eigene gesellschaftliche Verantwortung bzw. worin die des Staates besteht. Dabei setzt er voraus, dass die Obrigkeit eine von Gott eingesetzte Macht ist.

Mt 5,5a copyrightedmaterial

• Aufgrund gegensätzlicher Bibelstellen unterscheidet er zwei Regierweisen Gottes: Während Gott mit dem weltlichen Regiment das Ziel verfolgt, durch das Recht und die Androhung und Ausübung von Gewalt das Böse und das Chaos im Zaum zu halten, dient das geistliche Regiment der Erlösung des Menschen mithilfe von Gottes Wort und Geist. Da Verkündigung nur mit friedlichen Mitteln zum Glauben führen kann, darf in Glaubensund Gewissensdingen nie Gewalt ausgeübt werden; täte dies der Staat, würde er sich auf »Gottes Thron« setzen und die ihm zugedachte Aufgabe, für Sicherheit und Recht zu sorgen, verfehlen. Würden sich alle am Evangelium ausrichten, wäre die weltliche Regierweise unnötig. Aufgrund der Realität der Sünde ist sie aber notwendig.

GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTLICHKEIT

1. Beziehen Sie die Bibelstellen auf aktuelle Konflikte und bringen Sie sie miteinander ins Gespräch.

2. Entwickeln Sie mithilfe der Seite eine Grafik zu Luthers Vorstellung von den zwei Regimenten.

3. Vergleichen Sie Luthers Sicht auf Mensch und Gesellschaft mit den Ansätzen von Seite 119 – 123.

• Gegen Vorstellungen, dass christliche Freiheit eine Freiheit von jeder Rechtsordnung sei, hält Luther an einer Verantwortung aus Nächstenliebe fest: In Bezug auf die eigene Person soll man sich am Evangelium orientieren, auf Gewalt und Rechtsmittel verzichten und dadurch ein Vorbild sein. Für die Mitmenschen muss man aber alles unternehmen, was zu deren Schutz notwendig ist. Damit kann das eigene Amt im Staat (z. B. auch als Henker) eine Form des Gottesdienstes sein ( S. 131). Luther sieht so die Widersprüche zwischen einzelnen Schriftaussagen aufgehoben: Sie beziehen sich auf die eine oder andere Regierweise Gottes. Für Christinnen und Christen ergeben sich daraus Spannungen, die im Gewissen – im Vertrauen auf Vergebung – auszuhalten sind.

128 KAPITEL 5

Postkarte von 1915

DER STAAT UND DER PROTESTANTISMUS

Bestimmte Denkfiguren in den lutherischen Kirchen ließen eine Mentalität entstehen, die sie anfällig machten für den Nationalsozialismus. Im Führerprinzip sah man die Rückkehr zum Idealbild der sittlich verantwortlichen Obrigkeit, die die Herrschaft der Masse und damit den Widerstand gegen die gottgegebene Ordnung beendet.

Dennoch wäre es verkürzt, den Beitrag des Protestantismus zur politischen Kultur in Deutschland auf diese dunkle Seite mit ihren fürchterlichen Folgen zu beschränken. Denn gleichzeitig trug er dazu bei, eine moderne, an den Partizipationsrechten des Einzelnen orientierte Staatsform zu fördern. Die Skepsis gegenüber Hierarchien und Autoritäten, die Hochschätzung des Gemeindeideals, die Betonung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen sowie der unterschiedslosen Sündhaftigkeit aller leisteten wichtige Beiträge für die Heraufkunft des modernen politischen Bewusstseins. Die Grundrechte, der Verfassungsgedanke, die weltanschauliche Neutralität des Staates und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit lassen sich auch als – vielfach transformierte – Folgerungen reformatorischer Überzeugungen lesen: Jedem Menschen kommt von Gott gleiche Würde zu. Zwischen geistlicher und weltlicher Macht ist strikt zu unterscheiden. Es bedurfte erst des Zusammenbruchs von 1945, damit in Deutschland diese Elemente größere Wirkkraft entfalteten. Reiner Anselm, Theologe

Aus der Godesberger* Erklärung vom 26. März 1939

ZITATE AUS LUTHERS OBRIGKEITSSCHRIFT

Fürs Erste müssen wir das weltliche Recht und Schwert gut begründen, damit niemand dran zweifle, dass es durch Gottes Willen und Anordnung in der Welt ist. [...] Christus sagt nicht so: »Du sollst der Amtsgewalt nicht dienen und untertan sein«; sondern: »Du sollst dem Übel nicht widerstreben«. Das ist, als wollte er sagen: »Verhalte dich so, dass du alles duldest; denn du sollst die Amtsgewalt nicht dazu brauchen, dass sie dir helfe und diene, nützlich oder notwendig sei, sondern du sollst umgekehrt ihr helfen, dienen, nützlich und notwendig sein. [...]« [...] Denn jedes Reich muss seine eignen Gesetze und Rechte haben [...].

Gott der Allmächtige hat unsere Fürsten toll gemacht, dass sie nicht anders meinen, als sie könnten ihren Untertanen tun und gebieten, was sie nur wollen; und auch die Untertanen irren, wenn sie meinen, sie seien verpflichtet, dem allem so ganz und gar zu folgen. [...] Wenn nun dein [...] weltlicher Herr dir gebietet, zum Papst zu halten, so oder so zu glauben, oder wenn er dir gebietet, Bücher herauszugeben, so sollst du so sagen: »[...] da seid Ihr ein Tyrann und greift zu hoch.« [Das] sei die Regel eines [christlichen] Fürsten: Wenn er ein Unrecht nicht strafen kann, ohne ein größeres Unrecht zu verursachen, so lasse er sein Recht fahren [...]. Denn auf seinen Schaden soll er nicht achten, sondern auf das Unrecht, das die andern leiden müssen, wenn er die Strafe vollzöge. Denn was haben so viel Weiber und Kinder verschuldet, dass sie Witwen und Waisen werden sollen, nur damit du dich rächen kannst?

EINE PROBLEMATISCHE WIRKUNGSGESCHICHTE

1. Obwohl Luther selbst den Obrigkeiten mutig Widerstand geleistet hat, hat doch seine Obrigkeitsschrift Begründungen geliefert, dass Religion Privatsache sei oder eine Verschränkung von »Thron und Altar« legitim wäre. – Prüfen Sie, wie weit sich die obigen Passagen zur Begründung dieser Positionen, der Postkarte oder der Godesberger* Erklärung eignen.

2. Erläutern Sie die Überlegungen von R. Anselm und diskutieren Sie seine Einschätzung [8, 9, 11]

GETEILTE FREIHEIT 129
Auslegungen
Fragliche
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KARL BARTH* ÜBER DAS LUTHERTUM

»Das Luthertum hat dem deutschen Heidentum gewissermaßen Luft verschafft, ihm [...] so etwas wie einen eigenen sakralen Raum zugewiesen. Der deutsche Heide kann die lutherische Lehre von der Autorität des Staates als christliche Rechtfertigung des Nationalsozialismus gebrauchen, und der christliche Deutsche kann sich durch die gleiche Lehre zur Anerkennung des Nationalsozialismus eingeladen fühlen.« (1940)

»[D]ie Evangelische Kirche in Deutschland [müsste] entweder zu einem neuen kritischeren Verhältnis zu ihrem Reformator Luther oder […] zu einem anderen besseren Verständnis seiner Lehre vordringen.« (1946)

INFO

KÖNIGSHERRSCHAFT CHRISTI

Karl Barth* entwickelt schon sehr früh ein Modell politischer Verantwortung, das den Totalitätsanspruch des NS-Staats aus christlicher Sicht zurückweist, dem eine dualistische* Auslegung von Luthers Unterscheidungen (als sog. Zwei-ReicheLehre*) nichts entgegenzusetzen hatte. Seine Überlegungen finden Niederschlag in der Barmer Theologischen Erklärung (BTE*) [9] von 1934. Ihr Ansatzpunkt ist Gottes Heilshandeln in Jesus Christus als dem »eine[n] Wort Gottes« (1. These BTE). Neben dem »Zuspruch« der Sündenvergebung erhebt es zugleich einen »Anspruch auf unser ganzes Leben«, an dem sich alles zu messen hat (2. These BTE). Barth verwirft dabei nicht Luthers Unterscheidung der Regimente an sich, sondern klärt ihre Verhältnisbestimmung neu, so dass das Verhältnis von »Christengemeinde und Bürgergemeinde« vom Glauben an Jesus Christus neu bestimmt wird: Politisches Handeln ist darauf zu prüfen, inwieweit es Gottes Willen entspricht (5. These BTE). Ist dies nicht der Fall, sind Einspruch und Widerstand notwendig. Ansonsten hat der Christ / die Christin die Aufgabe zur konstruktiven politischen Mitgestaltung.

AUSZÜGE AUS DER BARMER ERKLÄRUNG (1934)

II. [...] Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären [...].

V. Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt [...] nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. [...]

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.

ZUR GÜLTIGKEIT DER BARMER ERKLÄRUNG

Luther formulierte die Lehre von den zwei Regierweisen Gottes, als er die Gefahr sah, dass die Anliegen seiner Reformation missbraucht werden. Barmen nahm Stellung, als die Kirche gleichgeschaltet und Menschen verfolgt wurden. Barmen hielt den bis heute gültigen Grundsatz fest: Weder darf die Kirche zu einem Organ des Staates werden, noch darf der Staat die einzige Ordnung menschlichen Lebens sein.

Nikolaus Schneider, Theologe

EINSPRUCH UND WIDERSTAND

1. »Zuspruch« und »Anspruch« – erläutern Sie – unter Einbezug der Briefmarke – welche Bedeutung beides für politisches Engagement bei K. Barth* hat Stellen Sie seine Überlegungen [9] grafisch dar.

2. Vergleichen Sie Barths Modell mit dem Luthers.

3. »Weder darf die Kirche …, noch darf der Staat ...« – Diskutieren Sie das Fazit N. Schneiders.

Gegen staatliches Unrecht
130 KAPITEL 5 copyrightedmaterial

Für die Demokratie

AUSZÜGE AUS DER DEMOKRATIEDENKSCHRIFT

[Wir] stimmen der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Gr undlage anerkennt und achtet. Den demokratischen Staat begreifen wir als Angebot und Aufgabe für die politische Verantwortung [...] auch für evangelische Christen. In der Demokratie haben sie den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag […] zu gestalten.

Grundelemente des freiheitlichen demokratischen Staates sind Achtung der Würde des Menschen, Anerkennung der Freiheit und der Gleichheit. Daraus folgt das Gebot politischer und sozialer Gerechtigkeit. Die Zustimmung zur Demokratie schließt evangelische Selbstkritik ein an solchen theologischen Überzeugungen, die sich der Forderung nach politischer Selbständigkeit der Bürger in den Weg gestellt haben. Diese Korrektur ruft zugleich dazu auf, unsere eigene evangelische Tradition neu zu verstehen. Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers »Beruf« aller Bürger in der Demokratie.

WAS IST EINE DENKSCHRIFT?

Eine Denkschrift ist ein Orientierungspapier, keine Lehre. Es werden unterschiedliche Positionen zusammengeführt. Ziel ist es, gemeinsam einen Konsens zu erarbeiten, der sowohl wissenschaftlich solide ist, der sachlich-fachlich auf der Höhe der Zeit argumentiert, der dann aber vor dem Hintergrund der christlichen Tradition eine Orientierung gibt, die eine Verbindung unterschiedlicher Positionen ermöglicht.

Traugott Jähnichen, Theologe

»ANGEBOT UND AUFGABE«

1. Die Denkschrift sieht mit Blick auf die eigene Tradition »Kontinuität und Korrektur«. Verdeutlichen Sie beides mithilfe dieser Seite.

2 Diskutieren Sie, inwiefern sich die beschriebene Neuausrichtung in Beiträgen auf S. 125 f. spiegelt.

3. Begründen Sie die christliche Bejahung der demokratischen Grundelemente mithilfe eines christlichen Gottes- und Menschenverständnisses ( Kap. 2 bis 4).

4. Recherchieren Sie Denkschriften und deuten Sie die Auswahl der behandelten Themen.

ZUR DEMOKRATIEDENKSCHRIFT

VON 1985

Mit der Demokratiedenk schrift vollzieht sich im politisch-ethischen Denken des Protestantismus ein Wandel: Die Begründung des Staates verläuft nicht mehr über den Verweis auf dessen metaphysische Grundlagen [als göttliche Ordnung], sondern der Staat bildet die Lebensform der Bürgerinnen und Bürger, die sich zu dieser Gemeinschaft zusammenschließen und so von der gegenseitigen Unterstützung profitieren können. Der demokratische Staat wird somit von seiner Funktion für die Entfaltung der Einzelnen bestimmt, er hat sicherzustellen, dass die Aufgaben, die für ein gemeinsames Zusammenleben notwendig sind, wahrgenommen werden und die »Menschen als Bürger gleichberechtigt und gleichermaßen gefordert an der Gestaltung des politischen Zusammenlebens« teilhaben können. Partizipation der Bürger als legitimierende Grundlage des Staates schließt dann ein, dass die staatlichen Instanzen nicht nur für den Schutz des Lebens und die Zurückweisung von Gewalt zuständig sind, sondern sich auch dafür einsetzen, dass durch die Korrektur sozialer Ungerechtigkeiten eine umfassende Teilnahme am öffentlichen Leben sichergestellt und ein eigener Lebensentwurf verfolgt werden kann. Da die Legitimation des Staates auf der Zustimmung der Bürger beruht, muss dieser im Interesse seiner eigenen Fundierung sich dafür einsetzen, dass seine Struktur als eine dem Wohl aller dienliche begriffen und erlebt werden kann.

Mit der Hochschätzung des Einzelnen, der seinen Lebensentwurf durch die Einbettung in die politische Ordnung am besten realisieren kann, erweist sich die Demokratie als eine Staatsform, die der christlichen Überzeugung von der Würde, der Freiheit und der Gleichheit der Menschen genauer als andere Staatsformen zu entsprechen vermag.

Reiner Anselm, Theologe

GETEILTE FREIHEIT 131
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Muster …

Barmbek-Süd

BernauerStraße

St. Georg

Neustadt

Hafencity

Hamburg, Innenstadt. Geringes Einkommen •••••• Hohes Einkommen. Ein Punkt entspricht einem Haushalt. Je mehr Haushalte, desto stärker ist der Farbton. Geringverdienend • bedeutet: ein Nettohaushaltseinkommen bis 1.000 Euro. Gutverdienend • bedeutet: ein Nettohaushaltseinkommen ab 5.000 Euro.

EINKOMMENSVERTEILUNG IN GROSSSTÄDTEN

Jede Stadt beherbergt Arme und Reiche. Oft leben sie nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Manchmal trennt die einkommensschwachen und einkommensstarken Haushalte ein Fluss, manchmal ein Bahnhof, manchmal nur eine Straße. Oft verteilen sich die Klassen nach Mustern, die über Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte gewachsen sind.

Wenn Einkommensklassen weitgehend unter sich bleiben, heißt das »Segregation«. Es gibt Städte, die wie Mosaike aussehen, die scheinbar keinem Muster folgen. Und es gibt Städte, in denen soziale Kanten das Stadtbild durchziehen: Straßen, Schienen oder Flüsse. ZEIT Online vom 30.01.2023

ZUR GESCHICHTE HAMBURGS

Hamburgs Lage bot ideale Voraussetzungen für Handelsbeziehungen. Um diese auszubauen, wurde der Hafen im fr ühen 13. Jh. an den Hauptarm der Alster verlegt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer der Alster bot die seit dem Jahr 1188 angelegte Neustadt [zwischen Elbe und Binnenalster]

Platz für viele Kaufleute (und ihre Schiffe), deren Ansiedlung durch Privilegien er-

Ein MERKwürdiger Blickwinkel auf Städte

Berlin, Bernauer Straße im Bezirk Berlin-Mitte

leichtert worden war. Hier konnte sich bald der Handel mit Metallen, Tuchen und Holz etablieren, für den Hamburg durch seine Lage etwa mittig zwischen Nordund Ostsee sowie weiter im Binnenland gelegenen Gegenden zu einer wichtigen Zwischenstation wurde.

Dominik Kloss, Geschichtswissenschaftler

Richtig in Schwung kam die Neustadt im Jahr 1189 durch einen Freibrief von Kaiser Friedrich Barbarossa, der der neuen Siedlung umfangreiche Handelsprivilegien zuwies. Das Schriftstück gilt als die Geburtsstunde des Hafens und damit des größten hamburgischen Wir tschaftsmotors. Im Jahr 1907 stellte sich heraus, dass der Freibrief eigentlich eine Fälschung war. Sven Goergens, Thilo Hopert für hamburg.de

Kaum vorstellbar, dass sich Ende des 19. Jh.s in der kleinen Neustadt über 90.000 Menschen aneinander drängten. Heute wohnen auf den 2,3 Quadratkilometern lediglich um die 12.000 Hamburger.

Sven Goergens, Thilo Hopert für hamburg.de

Im barocken Hamburg, in dem die wohlhabenden Bürger große Gärten anlegten und ihre Mußestunden in möglichst angenehmer Umgebung verbringen wollten, rückte der Freizeitwert der Alster sehr viel stärker als jemals zuvor in den Fokus. So wurde der Alstersee zunehmend zu einem besonders prägenden Element der Stadtinszenierung.

Matthias Gretzschel, Kulturredakteur und Theologe

132 KAPITEL 5
Elbe Außenalster
Hamm Harvestehude Binnenalster
auerpark Mitte Park am Nordbahnhof ehemaliger Mauerstreifen
Gesundbrunnen M
Mundsburg Eilbek ehem. Hafen
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… der Einkommensverteilung INFO

VERSCHIEDENE LEBENSWELTEN?

1. Betrachten Sie die drei Städtekarten S. 132 f. (ggf. in Vergrößerung) und stellen Sie Vermutungen zur Verteilung der Einkommen an. Halten Sie die verschiedenen Gründe für Ihre Einschätzungen fest.

2. Erschließen Sie, wie sich das Hamburger »Muster« entwickelt haben dürfte: Beziehen Sie dabei die Texte auf S. 132 sowie eigene Recherchen zu z. B. Historie, Geografie, Infrastruktur und Architektur ein.

3. Analysieren Sie die beiden anderen Karten. Recherchieren Sie auch hier entsprechende Hintergründe und Zusammenhänge, die als Erklärung der jeweiligen Muster dienen können.

4. Definieren Sie, wann ein Mensch arm und wann reich ist. Diskutieren Sie Ihre Versuche sowie die der Info.

5. Laut Untersuchungen nehmen viele Menschen ihre eigene Situation anders wahr, als es die auf der Doppelseite verwendeten Definitionen von arm und reich tun. Deuten Sie dieses Phänomen.

6. Spielen Sie eine Redaktionskonferenz einer überregionalen Zeitung, auf der darüber debattiert wird, ob es sinnvoll und verantwortbar ist, die Einkommensverteilung von deutschen Städten optisch abzubilden und zu veröffentlichen. Beziehen Sie das Merke S. 132 ein.

BEGRIFFLICHE BESTIMMUNGSVERSUCHE ZUM WIRTSCHAFTLICHEN VERMÖGEN

• Die Bestimmung der Kategorien arm und reich sind umstritten und zum Teil umkämpft, weil mit ihnen politische Forderungen (z. B. nach Umverteilung) oder soziale Abwertung verbunden sein können. Meist werden folgende Unterscheidungen vorgenommen:

• Als absolute Armut bezeichnet man, wenn sich ein Mensch die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nicht leisten kann, wie z. B. Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Versorgung oder Bildung. In Deutschland soll dies das Sozialsystem verhindern.

• Von relativer Armut ist die Rede, wenn das Einkommen deutlich unter dem nationalen Durchschnittseinkommen (sog. Median) liegt. Konkret wird dieser Wert in Deutschland meist bei unter 50 Prozent des Medians gesehen, bei weniger als 60 Prozent gilt ein Haushalt als armutsgefährdet. Bei relativer Armut ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sehr eingeschränkt möglich, da alles Geld für die Deckung der Grundbedürfnisse benötigt wird. Allerdings sind dabei immer auch die regionalen, sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede und Umstände zu beachten, z. B. Großstadt vs. Land, kurzfristige Übergangssituation (Ausbildung oder Studium) oder längerer Zustand, Größe des Haushalts, mögliche Einschränkungen durch Gesundheit, Behinderung etc.

• Noch deutlich schwieriger und strittiger ist die Bestimmung von Reichtum, da es noch weniger klare Indikatoren gibt, ab wann jemand als reich anzusehen ist, zumal neben dem Nettoeinkommen z. B. auch das Nettovermögen (also der Wert des Vermögens abzüglich aller Verbindlichkeiten) zu berücksichtigen ist. Als einkommensreich wird wissenschaftlich oft ein Mensch angesehen, dessen Verdienst mehr als das Doppelte oder auch Dreifache des Medians beträgt.

• Hinsichtlich des Nettovermögens galt in Deutschland gemäß dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2017 ein Wert von über 500.000 Euro als Reichtum. Individuelle Einschätzungen weichen hiervon oft ab.

GETEILTE FREIHEIT 133
Halle (an der Saale), Gesamtansicht
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Ungleichheit …

SOZIALE UNGLEICHHEIT WELTWEIT

Seit 1995 hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung fast 20-mal mehr Vermögen angehäuft als die ärmsten 50 Prozent der Menschheit zusammen.

3,2 Milliarden Menschen leben in Armut, das heißt von weniger als 5,50 Dollar am Tag. Drei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und drei Viertel aller Arbeitenden keinen Zugang zu sozialer Sicherung. Gleichzeitig bringen die Krisen auch einige wenige Gewinner hervor. Konzerne machen Rekordgewinne und die reichsten Menschen werden noch reicher.

Hilfswerk Oxfam* im Januar 2023

Vermögensverteilung der Privathaushalte (Deutschland)

bis 50 Prozent

Die Segmente enthalten die private Vermögensverteilung in Prozent (groß) im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil in Prozent (Stand 2019)

Die reichsten zehn Prozent besitzen 67,3 Prozent des Privatvermögens.

GESELLSCHAFTLICHE SCHIEFLAGEN

1. Informieren Sie sich über das Fotoprojekt Living Room. Deuten und diskutieren Sie das Kunstwerk.

2. Erläutern Sie die Statistiken dieser Seite und prüfen Sie deren Aussagewert und ihre Aktualität. Recherchieren Sie weitere Statistiken zum Thema soziale Gleichheit/Ungleichheit in nationaler und weltweiter Perspektive.

3. Entwickeln Sie zu Ihren Ergebnissen (Aufgabe 2) kreative Gestaltungsmöglichkeiten wie z. B. Karikaturen. Vergleichen Sie, welche Rolle darin der einzelne Mensch spielt

Jana

Nolle*,

Künstlerin

Obdachlosenbehausungen in Rücksprache mit den darin Wohnenden in Wohnräumen nach und fotografiert sie.

ANHEBUNG DES MINDESTLOHNS IN DEUTSCHLAND

Im Vergleich zur Einführung im Jahr 2015 (8,50 Euro) ist der gesetzliche Mindestlohn seit Oktober 2022 um 22,9 Prozent (12,00 Euro) gestiegen. nach destatis.de (2023)

Materielle Unterversorgung von Familien (SGB II-Leistungsbezug: Arbeitslosengeld II / Sozialgeld)

Haushalte mit Kindern unter 15 Jahren nach Lietzmann/Wenzig (2020)

134 KAPITEL 5
Sophia Living Room Berlin. Die baut
0
1,3 0,1 Prozent 20,4 50 bis 90 Prozent 31,4 99,0 bis 99,9 Prozent 14,9 90 bis 99 Prozent 32,0
© DIW Berlin 2021
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»Reichtum macht unsolidarisch.

»Ungleichheit bedroht Demokratie.

»Wer Geld hat, hat Macht.

»Mein Eigentum habe ich mir hart erarbeitet.

»Ohne Reichtum keine Anreize für Innovationen.

»Jeder Mensch ist selbst seines Glückes Schmied.

»Ohne Glück zu haben, wird niemand reich.

»Erst das System macht die Reichen superreich.

»Zu erben ist nichts Unmoralisches.

»Reiche belasten die Umwelt viel stärker.

INFO

WAS IST SOZIALETHIK?

• Fragen nach richtigem Handeln und gutem Leben können individualethisch ausgerichtet sein, also eher den einzelnen Menschen und seinen Umgang mit sich und den Mitmenschen betreffen. Sie können aber auch sozialethisch sein, also den Blick v. a. auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Grundstrukturen richten. Man analysiert und beurteilt dann, welche Bedeutung Bedingungen und Str ukturen für die Individuen haben und inwiefern sie als gerecht anzusehen sind. Sozialethik umfasst somit immer auch politische, rechtliche und / oder wirtschaftliche Aspekte. Es geht z. B. um Fragen von Teilnahme- und Teilhabechancen, von gerechten Strukturen oder darum, wie materielle Güter ver teilt und Leistungen anerkannt werden sollten [8, 10]. Bei Versuchen, sozialethische Fragen zu klären, müssen somit solche Verflechtungen – oft auch unter globaler Perspektive – mitberücksichtigt werden, um nicht zu vorschnellen Urteilen zu kommen. Hilfreich können hierfür folgende Bausteine und Fragen sein [10]:

• Genaue Klärung des Problems bzw. der Fragestellung: Was macht etwas zu einem sozialethischen Problem? Welche Dimensionen von Gerechtigkeit* [10] sind hier betroffen? Welche politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt und / oder geprüft werden? Welche Güter bzw. Ressourcen stehen z. B. zur Verfügung? Wo und wie wird über diese entschieden und wem sollen sie zugutekommen? Was haben mögliche Änderungen der sozialen Strukturen für mögliche Folgen und wie wären diese zu bewerten? Inwiefern betreffen oder ermöglichen sie z. B. menschliche Würde, Freiheit und Gerechtigkeit?

»Würde man etwas ändern wollen, wenn man selbst reich wäre?

»Reichtum bedeutet immer auch Ausbeutung.

»Auch die Armen sind reicher geworden.

BEDINGUNGEN FÜR GUTES ZUSAMMENLEBEN

Wer die Idee einer liberalen Gesellschaft ernst nimmt, dem kann nicht nur daran gelegen sein, dass Menschen ihr Leben frei im Sinne einer rein individualistischen Freiheit gestalten können, sondern der muss auch anstreben, dass sie in Würde leben können. Neben der Wahr ung der individuellen Personenrechte impliziert das, dass Menschen Achtung vor sich selbst und vor anderen als gleichrangiges Gesellschaftsmitglied besitzen. Nur wenn Grundstrukturen einer Gesellschaft so sind, dass Menschen in Selbstachtung leben, ist ein gutes Zusammenleben möglich.

Chr istian Neuhäuser, Philosoph

ARMUT BEDEUTET FÜR KINDER UND

JUGENDLICHE

… sie schlagen Einladungen zum Geburtstag aus, weil sie kein Geschenk haben oder ihn selbst nicht feiern, sie müssen Anträge für Klassenfahrten, Freizeitangebote o. Ä. stellen,

… sie werden eher ausgegrenzt und erleben Gewalt,

… sie ziehen sich eher von ehrenamtlichen und politischen Aktivitäten zurück, sie sind häufiger von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen,

… sie erhalten bei gleichen Leistungen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium.

Bertelsmann Stiftung (2020)

ZIEMLICH KOMPLEX

1. Positionieren Sie sich zu den Zitaten oben und ergänzen Sie diese durch weitere. Recherchieren Sie ggf. Hintergründe. Beziehen Sie die Zitate auf die anderen Materialien der Seite.

2. Erarbeiten Sie, welche sozialethischen Fragestellungen mit gesellschaftlicher Ungleichheit verbunden sind. Gehen Sie dabei von der Info aus. Diskutieren Sie ein mögliches Ranking der Fragestellungen.

GETEILTE FREIHEIT 135
… als ethisches Problem?
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Option für die Armen

Willard Wigan, Vierzehn Kamele. Wigans

Mikro-Skulpturen (hier zu Lk 18,25) müssen durch Mikroskope betrachtet werden.

AUS DER EKD-DENKSCHRIFT »GERECHTE

TEILHABE« (2006)

Seit ihren Anfängen steht die christliche Kirche an der Seite der Armen. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie* hat diesen biblisch begründeten Auftrag als »vorrangige Option für die Armen« überzeugend charakterisiert: Armut muss, wo möglich, vermieden und dort, wo es sie dennoch gibt, gelindert werden. [Dabei kann] »Armut« nicht ohne »Reichtum« und »Armut in Deutschland« nicht ohne »Armut weltweit« diskutiert werden.

In der Sozialethik hat sich als Grundlage [für soziale Gerechtigkeit*] das Konzept der Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit [8, 10] entwickelt. Es zielt wesentlich auf eine möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsglieder. Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung, ausgeschlossen werden. Armut ist fehlende Teilhabe. Die Option für die Armen ist keine paternalistische [entmündigende] Option. Sie hat vielmehr zum Ziel, die Armen so weit wie möglich zu befähigen, dass Marginalisierungstendenzen überwunden werden. Sie impliziert deswegen einen aktivierenden Sozialstaat, der über die Sicherung materieller Teilhabe hinaus die Chancen der Armen verbessert, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken.

BERUF ZUM GUTEN

Irdischer Wohlstand oder Reichtum ist für sich genommen noch nicht bedenklich, kann allerdings zum Problem werden, wenn das Streben nach materiellen Gütern die Liebe zu Gott und dem Nächsten verdunkelt. Armut ist nicht nur problematisch, weil sie in Not treibt, sondern auch dann, wenn sie den Dienst am Nächsten verunmöglicht. Sofern jeder Christin und jedem Christen nach evangelischer Auffassung durch Gott ein auch auf das Handeln im Dienst am Nächsten zielender Beruf (M. Luther) zukommt, gehört diejenige Grundausstattung mit Gütern, die solchen Dienst nach menschlicher Einsicht ermöglicht, zum guten christlichen Leben hinzu.

Torsten Meireis, Theologe

INFO

ARM UND REICH IM LUKASEVANGELIUM

Lukas hat sich wie kein zweiter Evangelist mit unterprivilegierten, insbesondere armen Menschen befasst, für deren Belange er Gott bzw. Jesus klar Partei ergreifen lässt. Man hat Lukas deshalb als »Evangelisten der Armen« bezeichnet. Bereits zu Beginn wird z. B. den armen Hirten als Ersten die Geburt des Heilands verheißen (Lk 2,8–20). In Jesu erster Predigt (Lk 4,18–21) richtet sich das Evangelium ausdrücklich an Arme, wobei Lukas die jüdische Tradition aufgreift (vgl. Jes 61,1 f.). Zu dieser gehört auch, dass arme Menschen der Gemeinschaft würdig sind (Lk 14,15–24) und von Gott mit Macht ausgestattet werden sollen (Lk 6,20). Jesus konfrontiert die Jünger umgekehrt mit Forderungen nach strikter Armut (Lk 9,3). Parallel dazu finden zahlreiche Auseinandersetzungen mit Reichtum bzw. Reichen statt.

»VORRANGIGE OPTION FÜR DIE ARMEN«

1. Finden Sie biblische Belege für eine »vorrangige Option für die Armen«, wie die Teilhabe-Denkschrift (oben links) sie fordert.

2. Prüfen Sie, ob sich aus M. Luthers und K. Barths Vorstellungen ( S. 128 – 130) eine Option für die Armen ableiten lässt. Beziehen Sie den Beitrag von T. Meireis (links) ein.

3. Erarbeiten Sie das Verhältnis von Arm und Reich im Lukasevangelium, z. B. anhand folgender Stellen: Lk 1,52 f.; 2,8–20; 4,18–21; 6,20 f.24 f.; 9,1–6; 12,13–15.16–21.22-34; 14,15–24; 16,19–31; 18,18–27; 19,1–10.

4. Deuten Sie die obige Skulptur W. Wigans.

5. Immer wieder gibt es Diskussionen um ein sog. bedingungsloses Grundeinkommen*. Wägen Sie ab, ob sich aus dem Reich-Gottes-Gleichnis Mt 20,1–15 Positionen zu dieser Frage ergeben.

136 KAPITEL 5
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Was heißt das konkret?

IST REICHTUM ZU BEGRENZEN? EIN INTERVIEW MIT DEM PHILOSOPHEN CHRISTIAN NEUHÄUSER

Als Philosoph plädieren Sie für eine Abschaffung von Reichtum.

Christian Neuhäuser: Es gibt einen Unterschied zwischen Menschen, die wohlhabend sind, und anderen, die illegitim reich sind, also z. B. über eine Million Euro im Jahr an Einkommen oder 30 Millionen an Vermögen besitzen. Nicht zu reden von absurd reichen Menschen, wie den 62 Milliardären, die so viel Kaufkraft besitzen, wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Hier brauchen wir Umverteilungsmechanismen. Und zwar v. a. beim Vermögen, weil wir dort die größten Ungleichheiten haben.

Welche Mechanismen wären das?

Sehr effiziente Mittel sind solche Steuern, die tatsächlich Vermögen umverteilen und nicht in erster Linie mehr Einnahmen für den Fiskus bedeuten. Wenn diese Umverteilung stattgefunden hat, braucht es dann noch weitere Eingriffe, um ein Zurückschwingen des Pendels zu vermeiden. Letztlich argumentiere ich also für eine Demokratisierung von Unternehmen, weil nur diese dafür sorgt, dass Unternehmen nicht von wenigen Personen genutzt werden können, um extrem viel Macht auszuüben und sich entsprechend zu bereichern. Aber auch ein bedingungsloses Grundeinkommen* sollte man in Erwägung ziehen, wenn man ausgehend von der Würde über Reichtum nachdenkt.

Könnten dann Reiche nicht auch sagen, dass ein Privatjet für sie Bestandteil eines würdevollen Lebens ist?

Sehr reiche Menschen haben sich ihren Reichtum nicht ausgesucht, sondern dieser ist ihnen gewissermaßen zugestoßen, nachdem sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort eine Geschäftsidee hatten, die zu einem Monopol geführt hat. Da spielt enorm viel Glück mit. Dennoch besitzen sie dieses enorme Vermögen nun mal und werden das ungern hergeben. Umverteilung kann deshalb auch nicht von heute auf morgen passieren, sondern muss auch die Würde dieser Personen wahren. Es müsste ihnen also die Möglichkeit gegeben werden, ihre Vorstellung vom guten Leben anzupassen. Allerdings kann man das durchaus erwarten, da ihre aktuelle Vorstellung auf Ungerechtigkeit beruht.

Worin liegen Gefahren der Ungleichheiten?

Der Grund, warum wir so schlecht darin sind, dem Klimawandel zu begegnen, ist der, dass immer die Frage

auf kommt, wer dafür aufkommt: Warum wir so viel und die anderen so wenig? Wären die Ungleichheiten kleiner, wäre hingegen von vornherein klar, dass die Kosten solidarisch getragen werden. Der zweite Punkt ist: Bei sehr großer sozio-ökonomischer Ungleichheit sehen viele Menschen die eigene Würde bedroht. Sie fühlen sich nicht als gleichrangige Gesellschaftsmitglieder anerkannt und sind empfänglicher für radikale Ideen. Das zerstört die Handlungsfähigkeit liberaler Staaten und erhöht die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen.

DAS PROBLEM IST ARMUT, NICHT REICHTUM

Das Rezept gegen Vermögensungleichheit besteht in mehr Handel, Bildung und erleichtertem Vermögensaufbau. Höhere Vermögenssteuern und alles werde gut? Länder mit hohen Steuern und Abgaben weisen meist eine hohe Vermögensungleichheit auf. Die schon hohe Umverteilung führt also nicht dazu, dass Vermögen breiter verteilt ist. Es muss vielmehr darum gehen, Vermögensaufbau zu erleichtern. In Österreich leben vergleichsweise viele Menschen in Miete, was zu einer ungleichen Vermögensverteilung führt. Eine zielführende Gegenmaßnahme wäre, öffentliche Wohnungen den Mietern nach zehn Jahren günstig zum Kauf anzubieten. Viel würde zudem erreicht, wenn in mehr Ländern der Erde mehr Menschen, v. a. Mädchen, mehr Bildung erhielten oder wenn es ein verlässliches Rechtssystem gäbe. Denn dies ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, unternehmerisch tätig zu sein oder sparen zu können. Agenda Austria, eine wirtschaftsliberale Denkfabrik

WIE IST SOZIALE GERECHTIGKEIT MÖGLICH?

1. Diskutieren Sie die Beiträge dieser Seite aus christlicher Perspektive.

2. Recherchieren Sie konkrete Vorschläge, wie man mit sozialer Ungleichheit umgehen soll, in aktuellen Beiträgen der Kirchen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse.

3. Gestalten Sie zu einem dieser konkreten Vorschläge (Aufgabe 2) einen Dialog zwischen einem reichen und einem armen Menschen.

GETEILTE FREIHEIT 137
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Predigt eines Chatbots

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ ALS KONKURRENZ

AUF DER KANZEL?

Das Schreiben von Predigten ist für Priester und Pfarrer oft eine Herausforderung. Es gilt, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu fesseln und spirituelle Botschaften auf eine lebendige und relevante Weise zu vermitteln. Doch was, wenn es ein Werkzeug gäbe, das Priestern und Pfarrern dabei helfen könnte, ihre Gedanken besser zu organisieren und zu strukturieren, sowie passende Bibelzitate und andere spirituelle Ressourcen aufzuspüren? Dieses Werkzeug gibt es in Form von auf künstlicher Intelligenz basierenden Schreibassistenten. Aus einem Artikel des christlichen Magazins Publik-Forum (01 / 2023)

EIN SELBSTVERSUCH MIT EINEN CHATBOT

Verfasse eine Predigt zum Verhältnis von Kirche und Staat. Liebe Gemeinde, heute möchte ich mit Ihnen über das Verhältnis von Kirche und Staat sprechen. Ein Verhältnis, das oft von Diskussionen und Spannungen begleitet ist, aber auch ein Verhältnis, das für uns als Christen von großer Bedeutung ist.

Als C hristen leben wir in zwei Welten, der Welt des Glaubens und der Welt des Staates. Beide Welten sind wichtig, aber sie haben auch unterschiedliche Aufgaben und Ziele. Die Kirche hat die Aufgabe, den Glauben zu verkünden und die Menschen auf ihrem Weg zu Gott zu begleiten. Der Staat hat die Aufgabe, für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen und das Zusammenleben in der Gesellschaft zu regeln.

Doch wie soll das Verhältnis zwischen Kirche und Staat aussehen? In der Bibel finden wir dazu verschiedene Aussagen. Jesus sagt in Markus 12,17: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Mit diesem Satz fordert Jesus uns auf, unsere Verantwortung gegenüber Gott und unserem Staat wahrzunehmen. Wir sollen uns nicht von weltlichen Dingen ablenken lassen, aber auch nicht die Augen vor den Problemen unserer Gesellschaft verschließen.

Bildaufmacher zum Artikel (s. o.) mit dem Hinweis, dass dieses Bild ebenfalls von der KI erstellt ist, also nicht von Menschenhand gestaltet wurde.

Auch der Apostel Paulus schreibt in Römer 13,1–7 über das Verhältnis von Christen zum Staat. Er betont, dass der Staat von Gott eingesetzt wurde, um das Gute zu tun und das Böse zu bestrafen. Als Christen sollen wir uns also an die Gesetze halten und für das Wohl unserer Mitmenschen einsetzen.

Doch was bedeutet das für uns heute? Ich glaube, dass wir als Christen eine Verantwortung haben, uns für das Wohl unserer Mitmenschen einzusetzen. Das bedeutet, dass wir uns für Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft einsetzen sollten. Die Kirche hat dabei eine wichtige Rolle als Stimme der Schwachen und Benachteiligten. Wir dürfen nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht, sondern müssen uns für diejenigen einsetzen, die keine Stimme haben.

Gleichzeitig sollten wir aber auch darauf achten, dass wir als Christen uns nicht von politischen Parteien und Interessengruppen vereinnahmen lassen. Wir müssen uns immer an den Werten und Prinzipien unseres Glaubens orientieren und uns für das Wohl aller Menschen einsetzen.

Ich lade Sie ein, sich gemeinsam mit mir für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft einzusetzen. Lassen Sie uns unsere Stimmen erheben für diejenigen, die keine Stimme haben, und uns für eine Welt einsetzen, in der jeder Mensch in Würde leben kann. Amen.

138 KAPITEL 5
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Im Zusammenhang

wiedergeben ++ beschreiben ++ wahrnehmen ++

Beschreiben und deuten Sie den von der KI erstellten Bildaufmacher. Gehen Sie dabei darauf ein, auf welche inhaltlichen und / oder medialen Vorbilder der Algorithmus zurückgegriffen haben könnte bzw. dürfte [8]

Analysieren Sie den Versuch des Chatbots vor dem Hintergrund von Predigten, die Sie schon gehört haben: Welche Elemente hat der Algorithmus als für eine Predigt typisch identifiziert und wie hat er diese umgesetzt? Gehen Sie auf Aufbau und Sprache ein und beurteilen Sie das Ergebnis.

Diskutieren Sie alternative Bilderaufmacher zur Fragestellung des Magazins.

Prüfen Sie, ob sich alle thematischen Schwerpunkte des Kapitels auf den Inhalt der Predigt beziehen lassen. Identifizieren Sie diese ggf. konkret mithilfe einer entsprechenden Übersicht.

Was haben Sie dazugelernt (vgl. S. 113)?

Was möchten Sie sich merken?

Welche Methoden bzw. Materialien haben Sie besonders angesprochen?

Was wird Sie weiter beschäftigen?

Welche Fragen bleiben offen?

Tauschen Sie sich über eigene Erfahrungen mit Chatbots und ihrer Funktionsweise aus und beziehen Sie dabei den Artikelauszug aus dem Magazin mit ein.

Beurteilen Sie die Predigt inhaltlich aus christlicher Perspektive.

Stellen Sie ggf. selbst Fragen an oder erstellen Sie Aufgaben für einen Chatbot zu den Themen dieses Kapitels. Diskutieren Sie die durch die KI vorgenommenen Einschätzungen, wie verbindlich oder allgemeingültig die jeweilige Antwort einzuschätzen ist. Beurteilen Sie dabei die von der KI in Gebrauch genommenen Ansichten von z. B. Mensch, Staat, Kirche, Glaube sowie mögliche sozialethische Einschätzungen.

Formulieren Sie selbst eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat oder verfassen Sie eine eigene Predigt für Jugendliche.

Sammeln und/oder recherchieren Sie kritische Stimmen zu Chatbots und vergleichen Sie diese mit Ihren Erkenntnissen.

GETEILTE FREIHEIT 139
deuten ++ reflektieren ++ urteilen ++ kommunizieren ++
ausdrücken
sich
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www.claudius.de

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