RICHARD RESCHIKA
Und plรถtzlich ist Klarheit Christliche Erleuchtungserlebnisse von Paulus bis heute
Claudius Verlag
Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral
Bibliografische Informationen Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © Claudius Verlag München 2012 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Druck: CPI – Ebner/Spiegel, Ulm ISBN 978-3-532-62437-1
„Es gibt einen Geist, den der Mensch erlangt im Gang der Zeiten. Aber es gibt einen Geist, der über den Menschen kommt in großer Fülle, in großer Eile, schneller als ein Augenblick, denn er ist über der Zeit, und es bedarf keiner Zeit zu diesem Geist.“ Rabbi Nachman von Bratzlaw
Inhalt Einleitung: Mystische Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
I. Teil Göttlich, wahr und gut: Theologie und Spiritualität des Lichts im Juden-Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Das Gütesiegel des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Licht vom Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
II. Teil Wenn der Geist weht, wo er will: Christliche Erleuchtungserlebnisse aus zwei Jahrtausenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Ein Licht vom Himmel – Die Bekehrung des Paulus von Tarsus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aurelius Augustinus und das Licht der Gewissheit . . . . . . 3. Symeon der Neue Theologe und das wahrhaft seiende Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hildegard von Bingen und die Schau des lebendigen Lichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Von hellem Licht erleuchtet – Franz von Assisis Begegnung mit Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Alles, was ich geschrieben habe, scheint mir wie Stroh“ – Thomas von Aquins Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Was allen Zungen unaussprechlich ist – Heinrich Seuses Entrückung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Mit geistigem Gesichte – Sofia von Klingnaus Seelen- und Gottesschau . . . . . . . . . . .
34 40 45 50 56 59 63 66 7
9. Ein Geschenk des Himmels vom Vater der Lichter – Nikolaus von Kues’ Erleuchtung auf dem Meer . . . . . . . . 70 10. Wie neu geboren im Paradies – Martin Luthers Turmerlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 11. Die Öffnung der Augen des Verstandes – Ignatius von Loyolas Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 12. Der geistige Flug – Teresa von Ávilas Verzückung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 13. Beim Anblick eines zinnernen Gefäßes – Jakob Böhmes große Schau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 14. „Freude, Freude, Freude“ – Blaise Pascals Mémorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 15. Heilsames Licht – Hemme Hayens Zeit der Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . 96 16. Mit dem Herzen – Anna Katharina Emmerichs zweites Sehen . . . . . . . . . . . . 100 17. Paul Claudel und der Blitz Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 18. Eine wirklichere Gegenwart – Simone Weils unerwartete Berührungen mit Gott . . . . . . 107
III. Teil Jenseits eingefahrener Bahnen: Philosophische, psychologische und poetische Wege zum Verständnis christlicher Erleuchtungserlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Intuitive Erkenntnis – Vom unmittelbaren Schauen des Wesentlichen . . . . . . . . . 2. Die Illuminationsphilosophie – Vom Sehen des Lichts in allen Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hermetische Grunderfahrungen – Vom plötzlichen Aufscheinen neuer Welten . . . . . . . . . . . 4. Ozeanische Gefühle – Vom Verbundensein mit dem Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Grenz- und Gipfelerfahrungen – Von erhebenden Erlebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
116 123 131 136 140
6. Das Flow-Phänomen – Vom Im-Fluss-Sein . . . . . . . . . . . . 144 7. Taghelle Mystik – Vom anderen Zustand . . . . . . . . . . . . . . 149 Statt eines Schlusswortes: Eine Kerzenlicht-Meditation, ein Hymnus an das Heitere Licht und eine mystische Himmelslicht-Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Kerzenlicht-Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Heiteres Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Singendes Blau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
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Einleitung Mystische Momente „Am Lichtsinn errätst du die Seele.“ Paul Celan
In einem pathetischen Bekenntnis aus seiner 1888/89 verfassten Selbstbiografie Ecce Homo. Wie man wird, was man ist schildert Friedrich Nietzsche (1844–1900) eine Erfahrung, welche die normalen menschlichen Bewusstseinsgrenzen zu sprengen und – selbst für den erklärten Atheisten – an eine übernatürliche, göttliche Sphäre heranzureichen scheint. Die vom „Philosophen mit dem Hammer“ für die dichterische Eingebung seines zwischen 1883 und 1885 entstandenen Werkes Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen angeführten Wesensmerkmale erinnern dabei in frappanter Art und Weise an die Beschreibungen mystischer Offenbarungen, an Erleuchtungs- und Erweckungserlebnisse, wie sie uns gerade aus den Weltreligionen, einschließlich des Christentums, zuhauf überliefert sind: Einem Blitz gleich – nämlich genauso urplötzlich wie hell strahlend und dabei im wahrsten Sinne des Wortes „einleuchtend“ – bricht ein Gedanke, bricht eine Erkenntnis ins Bewusstsein des erlebenden Subjekts ein, die nicht nur von der intuitiven Gewissheit begleitet werden, etwas Großartiges, etwas Noch-nie-da-Gewesenes, gleichwohl etwas Authentisches wahrzunehmen, sondern auch ein ekstatisches Glücksgefühl auslöst, für das es zunächst keinerlei Worte und Begriffe gibt. Ob dichterische (allgemein künstlerische) Inspiration, philosophisches Erfassen bisher verhüllter Wahrheiten (Heureka – Ich hab’s gefunden!) oder religiös-mystische Erleuchtung – alle weisen ähnliche Strukturmerkmale auf. Gemeinsam ist ihnen vor allem ein irrationales, transzendentes Moment, welches kurze, aber tiefe Einblicke in bislang der Ratio und den Sinnen völlig verborgene Wirklichkeiten gewährt. Nietzsche schreibt: „Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. – ... Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, 12
– ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Außer-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine nothwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – ... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr; was Bild, was Gleichnis ist. Alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra’s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten ... Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf ‚es ist auch die meine‘.“1 Selbstredend übertreibt Nietzsche – wohl auch aus rein rhetorischen Gründen – mit seiner letzten Aussage, sind uns doch, wie bereits angedeutet, vergleichbare Dokumente reichlich überliefert. Ist von „Erleuchtung“ die Rede, dürften allerdings die meisten heutzutage eher an Okkultismus, New Age und Esoterik denken, allen-, bestenfalls noch an altehrwürdige fernöstliche Religionen wie den Hinduismus oder den (Zen-)Buddhismus. Vor allem im Buddhismus kommt dem Begriff „Erleuchtung“ (Sanskrit: bodhi) eine zentrale Bedeutung zu. Dieser findet sich unter anderem in Buddha – der Erleuchtete, eigentlich der Erwachte – und in Bodhisattva, dem Erleuchtungswesen, wieder. Das Wort Bodhi leitet sich von der Sanskrit-Wurzel budh ab, was soviel wie „aufwachen, erkennen, wahrnehmen“ bedeutet. Erleuchtung meint dabei einerseits die individuelle Befreiung (so im HinayanaBuddhismus, dem „Kleinen Fahrzeug“) bzw. die kollektive Befreiung (so im Mahayana-Buddhismus, dem „Großen Fahrzeug“) 13
aus dem Leidenskreislauf der Reinkarnationen (Samsara) und die Erlangung des Nirvana, des höchsten und letzten Endziels allen buddhistischen Strebens – eines Zustandes des Erlöstseins, in dem es überhaupt kein Leid mehr gibt. Die Anhänger des Mahayana-Buddhismus sind indes angehalten, den sogenannten Erleuchtungsgeist (bodhicitta) zu entwickeln und solange nicht ins Nirvana einzutreten, bis alle anderen fühlenden Wesen auch zur Erleuchtung gefunden haben. Eine höchst moralische Haltung, wie sie im Ideal des Bodhisattva verkörpert ist, dessen hervorragende Eigenschaft das Erbarmen ist. Von spontanen, blitzartigen Erleuchtungen hinsichtlich des universellen Wesens des Daseins, das auch als Urgrund oder Buddha-Natur bezeichnet wird – die Japaner sprechen diesbezüglich von Satori (Verstehen) bzw. Kenshō (Erschauen des eigenen Wesens, Natur erkennen) –, ist vorzugsweise im Zen-Buddhismus die Rede. Diese Begriffe bezeichnen jedoch keine „Erkenntnis“ im gewöhnlichen oder philosophischen Sinn, da es in der begrifflich nicht fassbaren Erleuchtungserfahrung gar keine Unterscheidung von Erkennendem und Erkannten mehr gibt. (Trotz der heute vorherrschenden Lehrmeinung, dass Satori bzw. Kenshō gänzlich unerwartet auftritt, geht diesen in der Regel eine jahrelange Vorbereitungspraxis in Gestalt der meditativen Zazen-Praxis voraus.) In den religiösen Bewegungen des Hinduismus werden mit „Erleuchtung“ im Großen und Ganzen drei Sanskrit-Begriffe verknüpft: In der nondualen Advaita-Philosophie steht Jñā na für die spirituelle Weisheit, das heißt die Erkenntnis der letzten Wirklichkeit und die transzendente Verwirklichung, dass Ātman – das wirkliche, unsterbliche Selbst des Menschen, das der Westen als Seele bezeichnet – und Brahman – das ewige, unvergängliche Absolute – eins sind. Im Raja- bzw. Königsyoga wird als höchste Stufe Samadhi angestrebt, die völlige Ruhe des Geistes. Ziel der dualistischen Samkhya-Philosophie wiederum ist Buddhi, die Erkenntnis des Unterschieds zwischen Purusha, dem absoluten Geist, und Prakriti, der Urmaterie. Doch auch aus der Geschichte des Christentums – und zwar nicht nur aus dem Kontext orthodoxer Spiritualität (Stichwort 14
„Taborlicht“) – sind durchaus vergleichbare Phänomene überliefert. Selbst in unserer Zeit berichten Menschen von oftmals spontanen und zuweilen als überwältigendes Gnadengeschenk empfundenen Erleuchtungs- und Bekehrungserlebnissen, von denen gleichsam ein mystisches „Licht der Gewissheit“ ausgeht, wie es Aurelius Augustinus (354–430) einmal nannte, das über alle rationalen Zweifel erhaben zu sein scheint (entgegen der Ansicht gewisser rationalistischer Theologen, die die Existenz mystischer Phänomene überhaupt leugnen und darin nur Betrug oder Hysterie sehen – und dies ungeachtet des reichen Tatsachenmaterials). Gerade am Beginn großer christlicher Karrieren standen und stehen – das wird nur allzu gerne marginalisiert – keineswegs nur eine starke Glaubensüberzeugung und/oder eine vermeintlich gottgefällige, fromm-asketische Lebensweise. Vielmehr waren und sind es oft veritable mystische Erleuchtungs- und Bekehrungserlebnisse, die – wenn nicht in inhaltlicher, so doch in struktureller Hinsicht – durchaus mit jenen fernöstlicher Religionen, vor allem Mystiken zu vergleichen sind. Geht es doch dabei, wie der amerikanische Religionspsychologe William James (1842–1910) trefflich formuliert hat, um die „Überwindung aller gewöhnlichen Barrieren zwischen dem Einzelnen und dem Absoluten“2, und zwar bei gleichzeitiger Bewusstwerdung dieses Einsseins: „Dies ist die immerwährende Siegesbotschaft der Mystik, die von regionalen oder glaubensbedingten Differenzen beinah unberührt ist. Ob im Hinduismus, im Neuplatonismus, im Sufismus, in der christlichen Mystik oder im Whitmanismus: überall finden wir dasselbe wiederkehrende Motiv, sodass in mystischen Äußerungen aller Zeiten eine Einmütigkeit herrscht, die einen Kritiker innehalten lassen und nachdenklich machen sollte und die dazu führte, dass man von den klassischen Mystikern gesagt hat, sie hätten weder einen Geburtstag noch ein Heimatland. Da sie immer nur von der Einheit des Menschen mit Gott sprechen, ist ihre Rede ursprünglicher als jede historische Sprache, und deshalb altern sie nie.“3 Diese mystischen Erfahrungen gewähren „Einsichten in Tiefen der Wahrheit“, wie James weiter schreibt, „die vom diskursiven 15
Verstand nicht ausgelotet werden. Es handelt sich um Erleuchtungen, Offenbarungen, die bedeutungsvoll und wichtig erscheinen, so unartikuliert sie im Ganzen bleiben; und in der Regel haben sie einen merkwürdigen Nachgeschmack von besonderer Autorität.“4 Die mystische Wahrheit kann sich also für die Menschen, denen sie widerfährt, als derart evident erweisen, dass alle rationalen Argumente sie nicht davon abzubringen vermögen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an eine Stelle aus dem Hauptwerk der spanischen Mystikerin Teresa von Ávila (1515– 1582), Die innere Burg: „Wenn aber Gott durch eine volle und wahre Vision etwas offenbart, dann prägt Er Sich Selbst dem Innersten der Seele so tief ein, dass, wenn sie hernach wieder zu sich selbst kommt, sie in keiner Weise Zweifel hegen mag, sie sei in Gott und Gott in ihr gewesen, und die Wahrheit dieser Überzeugung haftet so fest in ihr, dass sie doch nimmer der empfangenen Gnade vergessen könnte, auch wenn Gott hernach Jahre hindurch die nur einmal gewährte Gnade nicht mehr wiederholen würde.“5 Als Grundmerkmale dieser Schlüsselerlebnisse, die einer regelrechten Initialzündung auf dem Glaubensweg vieler Christinnen und Christen gleichkommen, haben sich dabei – schlagwortartig aufgezählt – folgende herauskristallisiert: (1) die Unaussprechlichkeit des offenbarten Inhalts der Erfahrungen; (2) die besondere Autorität und Gewissheit, die von diesen jenseits des diskursiven, logischen und argumentativen Denkens liegenden Erkenntniszuständen ausgeht; (3) die Flüchtigkeit der Erlebnisse sowie (4) das untrügliche Gefühl, von diesen geradezu überwältigt zu werden, sie weder willentlich herbeiführen, noch sie festhalten zu können – auch wenn Gebet und Kontemplation solche erfahrungsgemäß zu begünstigen scheinen. Zu den bekanntesten christlichen Erleuchtungserlebnissen zählen die Bekehrung des Paulus von Tarsus (10 n.Chr.–58/59) durch eine Erscheinung Jesu – das sogenannte Damaskuserlebnis –, die Conversio des Aurelius Augustinus (354–430) durch das Lesen einer Stelle aus dem Römerbrief, die Bekehrung Franz von Assisis (1181/82–1226), als „das Bild des gekreuzigten Christus (zu ihm sprach), wobei sich die Lippen auf dem Bilde bewegten“, 16
das „Turmerlebnis“ Martin Luthers (1483–1546), Ignatius von Loyolas (1491–1556) Beschreibung dessen, wie die Augen seines Verstandes geöffnet wurden, die „Erleuchtung“ Jakob Böhmes (1575–1624) beim Anblick eines blank geputzten, glänzenden Zinngefäßes sowie Blaise Pascals (1623–1662) in seinem Mémorial (Erinnerungsblatt) festgehaltene Bekehrung, die der Mathematiker und Philosoph auf Pergament geschrieben und in seine Kleider eingenäht hatte: „Im Jahre des Heils 1654, Montag, 23. November ... Seit ungefähr halb elf Uhr abends bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht Feuer ... Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede ... Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein ... Ewige Freude für einen Tag der Mühe auf Erden ...“6 Ein besonders eindrucksvolles Bekehrungserlebnis hat der junge ungläubige Dichter Paul Claudel (1868–1955) überliefert. Auch Mystiker/innen des 20. Jahrhunderts wie etwa Simone Weil (1909–1943) berichten von ähnlich überwältigenden Erfahrungen, die ihr Leben komplett umwandeln sollten. Ausgehend von sorgfältig recherchierten, kommentierten und interpretierten Dokumenten aus zwei Jahrtausenden zum Thema Christliche Erleuchtungserlebnisse aus zwei Jahrtausenden, werden nach einem Einleitungskapitel über die Theologie und Spiritualität des Lichts im Juden-Christentum im zweiten Hauptteil des vorliegenden Buches unter anderem folgende Fragenkomplexe im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen: Lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten bei den christlichmystischen Erleuchtungserlebnissen erkennen? Wie steht es um die Plausibilität dieser von Christinnen und Christen artikulierten mystischen Momente, die vorgeben, Gott bzw. das Absolute jenseits kritisch-rationaler Erkenntnis erfahren zu haben? Handelt es sich dabei wirklich um „Fenster“, „durch die der menschliche Geist auf eine größere und umfassendere Welt“ (William James) hinauszuschauen vermag, oder vielleicht doch nur um – pathologisch bedingte und psychologisch erklärbare – Autosuggestionen, Täuschungen und Fehldeutungen? Was ist an diesen Erzählungen Legende und was ist nach den Maßstäben, die historischer Forschung zugrunde liegen, glaubwürdig bezeugt? Gibt es vielleicht 17
so etwas wie einen „Lackmustest“ dafür, dass wir es wirklich mit Gott, mit einer höheren Macht zu tun haben? Auf welchen Beweisgründen beruhen eigentlich die Überzeugungen der Mystiker und worin unterscheiden sich diese von unseren eigenen Evidenzen? Sind wir verpflichtet, mystischen Zuständen eine höhere Autorität zuzuerkennen als nicht-mystischen Zuständen? Wo positionieren wir uns selbst zwischen den Extremen „einer blinden frommen Gläubigkeit und einer rationalistischen, rein negativen Einstellung“7? Und – last, but not least – was unterscheidet die christlich-mystischen Erleuchtungserlebnisse in West und Ost? Doch selbst wenn man diesen mystischen Erleuchtungserlebnissen eine gewisse Plausibilität, ja sogar Authentizität zubilligen wollte, stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser historischen Zeugnisse heute. Mit anderen Worten: Wie können wir als Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts, denen diese außergewöhnlichen, oftmals überaus befremdlich wirkenden, „abgehobenen“ Erleuchtungs- und Bekehrungserlebnisse nicht zuteilwurden, denen diese göttlichen Gnadengeschenke – zumindest bislang – nicht gemacht wurden, wie können wir diese mit unserem eigenen Leben, unserem persönlichen Glauben in Verbindung bringen? Diesen Fragen widmet sich der dritte und letzte Hauptteil des Buches unter dem Titel Philosophische, psychologische und poetische Wege zum Verständnis christlicher Erleuchtungserlebnisse. Zugänge zeigt die Philosophie auf: die lange Tradition abendländischer Intuitionsphilosophie (von Platon bis Edmund Husserl), die im 12. Jahrhundert in Persien entstandene mystische Illuminationsphilosophie eines Schihâbaddîn as-Suhrawardî (1154/1155) und ihre neueren Vertreter – Henry Corbin (1903– 1973) und Mahdî Hâ’irî Yazdî (1923–1999) – sowie Heinrich Rombachs (1923–2004) moderne „philosophische Hermetik“, in deren Mittelpunkt die sogenannte „hermetische Grunderfahrung“ steht, die zumindest ein „Vorschein von Erleuchtung“ sein kann. Neben den philosophischen Zugängen weist auch die moderne Psychologie nicht minder überraschend neue und dabei unvermutet „bodenständige“, weil wissenschaftlich fundierte und gut erforschte Wege zum Verständnis christlicher Erleuchtungs- und 18
Bekehrungserlebnisse. Es geht einerseits um das ans Religiöse grenzende „ozeanische Gefühl“ im Sinne einer Allverbundenheit mit dem Ganzen (Romain Rolland, 1866–1944) und andererseits um die sogenannten Grenz- und Gipfelerfahrungen (Abraham Maslow, 1908–1970) sowie das Flow-Phänomen (Mihaly Csikszentmihalyi, geboren 1934), die alle drei gleichermaßen als Phänomene einer „Alltagsmystik“ gelten können und die jede/r von uns in der einen oder anderen Form in seinem Leben bereits gemacht hat, mitunter immer wieder macht – vielleicht ohne sich dessen überhaupt richtig bewusst (geworden) zu sein. Dichterinnen und Dichter haben spätestens seit der Romantik immer wieder versucht, sich auf poetischem Wege dem Phänomen (christlich) mystischer Erleuchtung anzunähern. Im 20. Jahrhundert hat sich in herausragender Art und Weise der Österreicher Robert Musil (1880–1942) in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften – einem Schlüsselwerk der Moderne – auf die Suche nach dem „anderen Zustand“ einer „taghellen Mystik“ gemacht. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel, das den theoretischen und religionshistorischen Part des Buches (Teil I und II) praktisch ergänzt, und zwar in Gestalt einer Kerzenlicht-Meditation, eines frühchristlichen Gebetshymnus an das Heitere Licht (Phos hilaron) und in einer mystisch-poetischen HimmelslichtMeditation unter dem Titel Singendes Blau von Hans (Jean) Arp. Adressaten des Buches sind alle an christlicher Religion und Mystik Interessierte, die sich über ein bislang viel zu wenig beachtetes, aber zentrales Phänomen informieren wollen: das mystische Erleuchtungserlebnis als Initialzündung auf dem Glaubensweg vieler Christinnen und Christen. Die vorliegende Textsammlung dient damit zugleich als ein – für Laien wie für Theologen wertvoller – Quellenfundus, wie es ihn – vielleicht mit Ausnahme der von Martin Buber auch aus anderen Weltreligionen gesammelten Ekstatischen Konfessionen (1909) – in dieser Form und Gestalt bislang noch nicht gibt. Nicht zuletzt möchte das Buch die Leserinnen und Leser für außergewöhnliche, ans Religiös-Mystische grenzende Erfahrungen, gleichsam die „kleinen Erleuchtungen“, in ihrem eigenen Lebensalltag sensibilisieren. 19