SUZANNE ZUERCHER
Mein Leben verstehen Das Enneagramm als Wegbegleiter in der zweiten Lebenshälfte
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Ebert
CLAUDIUS
Titel der Originalausgabe: ENNEAGRAM AND AGING © 2012 by Suzanne Zuercher
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© Claudius Verlag München 2013 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths Foto Umschlag: © ivan_dzyuba/Fotolia.com Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62443-2
Inhalt
Vorbemerkung des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Teil 1 Die Geschichte unseres Weges als Menschen . . . . . . . . 17 Der Weg des Menschen: erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . Der Weg des Menschen: zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die Triade 8-9-1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die Triade 2-3-4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung für die Triade 5-6-7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg des Menschen: dritter Abschnitt . . . . . . . . . . . . .
19 24 30 34 36 42
Teil 2 Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 9: Hannes, Marie und Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 8: Erwin, Georg und Sabine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 1: Willi, Margarethe und Johanna . . . . . . . . . . . . . . . Raum 2: Emma, Frank und Natalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 3: Jonas, Philipp und Anne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 4: Emilia, Viktor und Alice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 5: Robert, Angela und Hans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 6: Kurt, Beate und Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum 7: Vera, Sandra und Wolfgang . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 55 60 64 69 74 80 86 92 97 5
Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
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Vorbemerkung des Übersetzers
Schwester Suzanne Zuercher, OSB, diese faszinierende und lebenskluge Ordensfrau aus Chicago, hat eine eigenständige Art, das Enneagramm zu sehen. Sie ist mir zur Seelenfreundin geworden und steht mir näher als alle anderen Enneagrammexperten. Deshalb freue ich mich, dass ihr neuestes Buch zum Thema zuerst in Deutschland publiziert wird. Wer mit dem Enneagramm noch nicht vertraut ist, dem empfehle ich, zunächst wenigstens eine knappe Einführung zu diesem Thema zu lesen. Im Internet finden sich zahlreiche Kurzbeschreibungen dieser tiefgründigen spirituellen Persönlichkeitstheorie, ein umfassender Artikel in Wikipedia und auch eine Reihe von Tests, die dazu beitragen können, das eigene Muster bzw. den „Enneagrammraum“ – so nennt es Suzanne Zuercher – etwas genauer zu erspüren. Das vorliegende Buch bietet einen knapp gehaltenen, aber profunden Einblick in den Sinn und die Entfaltung des menschlichen Daseins aus spiritueller Sicht. Der Schwerpunkt liegt auf den verbleibenden Aufgaben, wenn sich das Leben seinem Ende zuneigt. Es regt dazu an, das eigene Leben aufrichtig Revue passieren zu lassen, und ermutigt dazu, dem Ende des irdischen Daseins gelassener entgegenzusehen. Ich wünsche ihm aufmerksame Leserinnen und Leser und verspreche ihnen zahlreiche Wiedererkennungen, AhaErlebnisse und das, was man in der Sprache der Spiritualität Segen nennt. Andreas Ebert
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Einleitung
Die Auseinandersetzung mit dem Enneagramm nimmt für mich anscheinend nie ein Ende. Als ich mein viertes Buch dazu veröffentlicht hatte (Ankommen im Einssein. Beten mit dem Enneagramm), meinte ich, mehr hätte ich zu diesem System nun wirklich nicht zu sagen. Über 35 Jahre hatte mir das Enneagramm gleich einem unaufhörlich sprudelnden Brunnen stets neue Einsichten vermittelt. Aber dieser Quell war schließlich versiegt – so dachte ich jedenfalls. Vor etlichen Monaten wandte ich mich schriftstellerisch anderen Themen zu, um nie wieder zum Enneagramm zurückzukehren – so sagte ich mir. Doch dann wurde ich für einen Artikel im U.S. Catholic Magazine zum Thema „Spiritualität des Alterns“ interviewt. Als ich die Fragen des Interviewers beantwortete, fiel mir auf, dass ich darüber, wie Menschen mit ihren späten Lebensjahren umgehen, sehr generalisierend sprach. Im Nachhinein spürte ich ein gewisses Missbehagen über die Bruchstückhaftigkeit meiner Auslassungen. Ich ging diesem Gefühl nach und kam zu dem Schluss: Wie in allen anderen Lebensbereichen stellt sich auch der Prozess des Alterns unterschiedlich dar, und zwar in enger Verknüpfung mit dem jeweils spezifischen Enneagrammraum, in dem Menschen zu Hause sind. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser Erkenntnis und ein Versuch, einige dieser Unterschiede zu formulieren. Durch die Fragestellung, wie Menschen ihren späten Jahren begegnen, wurde mir klar, dass ich meine neueren Ansichten darüber, wie das Enneagramm ein hilfreicher Führer zum Selbstverstehen und zur Gottesbeziehung werden kann, 9
nie veröffentlicht habe. Jahrelang hatte ich die Präsentationen zu diesem Thema in meinen Workshops verfeinert und präzisiert, um mein eigenes Denken zu klären und um den Teilnehmenden exaktere Informationen zu vermitteln. Die Ergebnisse hatte ich jedoch bisher nicht aufgeschrieben. Ich möchte dies im vorliegenden Buch nachholen. Ein Großteil meines neueren Denkens bzw. meiner ursprünglichen Gedanken in neuen Formulierungen gründet auf den Veröffentlichungen des aus Kuwait stammenden westlich orientierten Sufis Ali Hameed Almaas und der Enneagrammlehrerin und Autorin Sandra Maitri (siehe Literaturangaben am Ende des Buches). Diese Autoren harmonieren mit meinen eigenen Überzeugungen im Blick auf das Enneagramm und seine Bedeutung auf dem spirituellen Weg. Ihre Ideen und meine stimmen überein und ich fühlte mich bestätigt. Wir haben viel gemein im Blick auf die Frage, was das Enneagramm für die Lebensreise bedeuten kann. Deshalb bemühe ich mich in diesem Buch noch einmal darum, meine Ansichten über die Bedeutung und Verortung des Enneagramms auf dem spirituellen Weg darzulegen. Zusätzlich biete ich einige meiner Überlegungen darüber an, mit welchen Themen ein Mensch in der Spätphase seines Lebens konfrontiert wird und wie der Umgang damit der Abrundung der eigenen Geschichte und der Vollendung des eigenen Lebens dienen kann. Die Enneagrammtheorie entwickelt sich fortwährend weiter, besonders durch mündliche Traditionen, die im Rahmen von Workshops weitergegeben werden. In diesem Buch stelle ich die Erfahrungen zahlreicher Menschen dar, die in einem solchen Setting beschrieben haben, wie es sich mit ihrem Leben verhält. Ich danke ihnen für die Bereitschaft, über ihr Leben zu sprechen, und hoffe, dass ich diese mündlich mitgeteilten Erfahrungen zuverlässig verschriftlicht habe. 10
Dieses Buch soll nicht in erster Linie theoretische Informationen vermitteln, sondern will mit einer eher kontemplativen Haltung gelesen werden. Ich hoffe, dass Sie langsam lesen und innehalten, wenn Sie etwas berührt – was, so hoffe ich, gelegentlich geschehen wird –, und dass Sie dem nachlauschen und nachspüren, was sich mit Ihrer eigenen Lebenserfahrung deckt. Ordensleute würde so etwas „heilige Lesung“ nennen. Das Buch bietet die Möglichkeit, das Enneagramm vertieft als Werkzeug für Ihr eigenes spirituelles Wachstum zu nutzen.
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Vorbemerkungen
Das Enneagramm war für mich immer viel mehr als eine Persönlichkeitstheorie. Als ich im Gespräch mit dem spirituellen Meister David Steindl-Rast vor langer Zeit einmal nach Worten suchte, um das zu beschreiben, sagte er: „Das Enneagramm ist ein spiritueller Weg!“ Der Ursprung dieses Systems liegt im Nebel einer fernen Vergangenheit. Man hat ihm okkulte Wurzeln unterstellt, doch woher das System eigentlich stammt, lässt sich bis heute nicht eindeutig belegen. Seit es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, hat man es bisweilen mit dem Etikett „New Age“ versehen. Als Folge dieser Etikettierung werden dem Enneagramm kryptische und suspekte Ursprünge zugeschrieben und unterstellt, es basiere auf der Voraussetzung, wir hätten in uns selbst die Macht zur Selbsterlösung. Bei meinen Enneagrammstudien hat sich keines dieser Vorurteile bestätigt. Im Gegenteil: Das Enneagramm bestätigt die menschliche Begrenztheit und die Notwendigkeit göttlicher Erlösung. Selbstverständlich ist menschliche Mitwirkung nötig, damit wir zur Erfüllung des Daseins gelangen, aber es ist Mit- Wirkung. Der Gott, der menschliche Begrenzungen transzendiert, und wir, die Begrenzten, arbeiten zusammen im Bemühen, auf unserer Lebensreise zur Vollendung zu gelangen. Gott und wir sind gemeinsam damit befasst, unsere individuelle Bestimmung zu erfüllen. Durch diesen wundersamen Austausch machen das Göttliche und das Menschliche uns gemeinsam zu Werkzeugen, um Einheit und Liebe in diese geschaffene Welt bringen. Manchen Menschen ist dieser Vorgang bewusst, anderen nicht. Dennoch geschieht er. 13
Im Folgenden möchte ich einige meiner Bilder vom Ennea gramm vorstellen, die dieser – bewussten oder unbewussten – Sicht der Dinge entsprechen. Wenn ich die neun Persönlichkeiten in diesem System beschreibe, verwende ich niemals das Wort „Typ“. Dieser Begriff impliziert das bloße Zusammentreffen von bestimmten Gedanken, Reaktions- und Verhaltensweisen. Dafür steht für mich der Begriff „Typologie“. Das Enneagramm ist jedoch viel mehr – wie hilfreich solche Beschreibungen auch immer sein mögen, wenn jemand die eigene Persönlichkeit entdecken will. Für mich drückt das Enneagramm vielmehr jene Haltung aus, die ein Mensch der Schöpfung gegenüber einnimmt, die Art und Weise, wie jeder konkrete Mensch einen bestimmten Aspekt des Göttlichen verkörpert. Selbstverständlich tut dies jeder Mensch auf einzigartige Weise, weil er einzigartig geschaffen ist. Dennoch gibt es neun Gruppen, denen der Enneagrammtheorie zufolge Menschen zugehören. Diese Positionen verkörpern für mich unterschiedliche Beziehungen zu dieser Welt aus Zeit, Raum und Materie. Von diesen Standorten aus blicken die Menschen, die sie einnehmen, auf unterschiedliche Weise auf die Welt, ihre Mitmenschen und Gott. Jeder dieser Standpunkte hat eine partielle Lebenssicht; jeder betont bestimmte Aspekte des Lebens und ignoriert andere, bisweilen bewusst, bisweilen unbewusst. Was immer dieser Standort ist: Jede Person nimmt – abhängig von ihrer Wahrnehmung der Dinge – gegenüber der Welt eine spezifische Haltung ein und reagiert aufgrund der eigenen speziellen Auffassung vom Göttlichen und von der Schöpfung. Anders ausgedrückt: Unsere Sicht der Realität ist gerade deshalb begrenzt, weil wir Geschöpfe sind. Wir sind nicht allmächtig; allmächtig ist nur Gott. Dennoch haben wir am Leben Gottes Anteil und spiegeln Gott wider, und zwar nicht 14
nur als einzigartige Individuen, sondern auch als Gruppen von Menschen mit ähnlichen Begabungen, ähnlicher Dynamik und ähnlichen Lebensthemen. Gemeinsam bringen wir vielfältige Aspekte Gottes in unsere Welt und gemeinsam manifestieren wir Gott beim Bau der Schöpfung. Das Enneagramm trägt zu der Sicht bei, dass wir Werkzeuge in der Schöpfung sind und dass wir unterschiedliche Beiträge mitbringen für die Präsenz des Göttlichen in unserer Welt. Das Wort „Typ“ scheint mir zu klein, um all das abzudecken, was zu unserer wundervollen Inkarnation gehört. Wir alle sind auf dieser Welt, um etwas von der Gottheit zu manifestieren. Je mehr wir uns selbst als Teil dieser Manifestation verstehen können und je mehr wir sehen, wie wir als Menschen, die sich entscheiden können, diese Berufung verdunkelt haben, desto deutlicher kann unsere wahre Gabe zum Wohl aller freigesetzt werden. Die Werkzeuge für diese Erkenntnis sind – auf der Grundlage der Enneagrammtheorie – Selbstbeobachtung, Erinnerung und das tiefere Verstehen des eigenen Selbst. Manche bezeichnen diesen Prozess als Bekehrung oder Transformation, andere sprechen von Individuation oder von der Rückkehr zum wahren Selbst, zu jener Gabe, die wir zur Schöpfung beitragen können und sollen. Wie auch immer: Dieser Prozess beinhaltet, dass wir der Tatsache unserer Begrenztheit und Kreatürlichkeit demütig ins Auge blicken und sie annehmen. Für eine solche Konfrontation ist ein Mensch erst dann bereit, wenn sein Ego mit seinen Abwehrstrategien gut entwickelt ist. Erst dann wagen wir zu realisieren, wie wir uns bisher selbst erschaffen und inszeniert haben, und können uns schließlich in unser wahres Selbst fallen lassen und in ihm ausruhen. Damit ist jene Person gemeint, die Gott erschaffen hat, die einen Aspekt des Göttlichen spiegelt, die Person, die wir von klein auf für ungenügend gehalten haben 15
und die versucht hat, Gottes Geschöpf in jemanden umzuformen, der akzeptabler zu sein schien – für sich selbst und für andere. Die folgende Beschreibung der Geschichte des Menschen ist in drei Kapitel eingeteilt. Das erste Kapitel beschreibt unsere ursprüngliche Inkarnation und Begabung. Das zweite erzählt, wie wir dazu kommen, uns selbst inakzeptabel zu finden und wie wir aus Angst versuchen, uns selbst neu zu erschaffen, um dazuzugehören. Das dritte Kapitel führt in unsere späteren Jahre und stellt unsere Versöhnung mit der Wirklichkeit dar. Es beschreibt, wie wir diese Angst erkennen, die uns dazu gebracht hat, die Rolle des Selbst-Schöpfers einzunehmen, den Erschaffer unseres Egos. Wir alle sind auf diesem Weg, aber wir beschreiten ihn auf neun spezifische Weisen – abhängig davon, wie wir persönlich Gestalt angenommen haben. Im zweiten Teil dieses Buchs sind Beispiele für diesen Prozess und die Erkenntnisse einiger Menschen dokumentiert, die für diesen Weg offen waren und zur Weisheit der späten Jahre gelangt sind. Durch Versuch und Irrtum, Hinfallen und immer wieder Aufstehen wissen sie aus Erfahrung, wer sie einst waren und was aus ihnen geworden ist. Sie gelangen in ihren späteren Jahren zu jener Erfüllung, die unsere menschliche Bestimmung ist. Sie kommen wieder in Berührung mit dem Schatz, den sie schon frühzeitig verleugnet haben, und sie werden immer freier und erlauben ihrer ursprünglichen Gabe immer mehr, an der Schöpfung mitzubauen. Sie blicken nicht mehr voller Angst auf die eigene begrenzte Kreatürlichkeit, sondern schenken sich und was sie sind mit ständig wachsender Grazie und Leichtigkeit her.
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Teil 1 Die Geschichte unseres Weges als Menschen
Der Weg des Menschen: erster Abschnitt
Im Folgenden geht es um die Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Es ist sinnvoll, bei der Lektüre im Gedächtnis zu behalten, dass wir uns alle – unabhängig von unserer Verortung im Enneagramm – in dem hier beschriebenen Rahmen, dem Weg des Menschen, entwickeln. Er zeigt unseren Platz in der Schöpfung, den Standort unseres Lebens und unsere Gestalt und Haltung in der Welt. Weiter unten werden die je spezifische Dynamik und die Themen der neun Räume benannt, aus denen heraus wir unseren einzigartigen und individuellen Umgang mit dieser Dynamik und diesen Themen gestalten. Damit wird unser Weg zur Ganzheit oder „Heiligkeit“ beschrieben. Diese Reise dauert ein ganzes Leben, wie lang auch immer unser Lebenspfad ist. Wir Menschen sind die einzigen Geschöpfe, zumindest soweit wir zu diesem Zeitpunkt der wissenschaftlichen Entwicklung sagen können, die sich selbst reflektieren können. Wir wissen, dass wir wissen. Deshalb können wir in dieser Beschreibung den eigenen Weg erkennen, feststellen, wie er sich in unserem eigenen Dasein vollzogen hat, und unsere persönliche Geschichte reflektieren, die uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Wir alle beginnen diesen Weg mit der Erfahrung von Urvertrauen. Dieses Vertrauen ist wesentlich für unser Werden und Wachsen. Ohne ein gewisses Maß davon könnten wir nicht überleben. Unser physisches Selbst würde dahinwelken wie vertrocknende Blätter an einem unbewässerten Weinstock. Unser Geist und unsere Seele würden verkrüppeln 19
durch lähmende Leblosigkeit. Es wäre unmöglich für uns zu gedeihen. Nicht jede und jeder hat eine lange oder reiche Erfahrung dieses Vertrauens, aber wir alle brauchen ein Mindestmaß davon, um überhaupt leben zu können. Die Tatsache, dass wir bis heute überlebt haben, bezeugt, dass wir zumindest über eine gewisse Erfahrung dieses wesentlichen Bewusstseins verfügen. Solch ein Vertrauen hängt von dem Grundgefühl des Gehaltenseins ab. Die Verknüpfung von Vertrauen und Gehaltenwerden bildet den Hintergrund des ersten Abschnitts des Menschenwegs. Die Grundlage besteht in einem körperlichen Gehaltenwerden, sei es durch ein Elternteil oder durch jemanden, der die Elternstelle einnimmt. Wohl alle können sich an den Anblick eines in den Armen eines Erwachsenen liegenden Babys und an das Empfinden erinnern, dass das Kind und der Erwachsene fast eins zu sein scheinen. Vermutlich haben wir aber auch schon gesehen, wie jemand ein Kind ungeschickt hochhebt oder auf Armlänge von sich fernhält. Die Folge sind oft Verkrampfungen im Körper des Kindes und Tränen des Nichtgeborgenseins. Wenn Kinder den Zustand der Sicherheit kennen, erleben sie die Umwelt als bergend. Man kann der Natur trauen, die Umstände des Lebens sind vertrauenswürdig, die Realität ist gut. Nicht nur das, was uns umgibt, ist liebenswert; gut sind auch wir selbst. Wir öffnen uns für das, was wir wirklich sind, und entfalten dieses Selbst und alles andere in einer Einheitserfahrung des Wohlergehens. Der Trappistenmönch und geistliche Dichter Thomas Merton hat das so ausgedrückt: „Die Liebe ist meine wahre Identität ... Liebe ist mein wahrer Charakter.“ Weil nichts von dieser Liebe getrennt ist, antworten wir mit Liebe. Wir lassen uns entspannt ins Leben fallen, in eine Umwelt, die wir als schützend, zärtlich, unterstützend und verständnisvoll empfinden. Unsere Körper öffnen sich für alles, 20
was uns umgibt – ohne Zurückhaltung oder die Furcht vor Störung. Die Realität ist einfach da und wir nehmen sie einfach auf, so wie sie ist, ohne irgendwelche Barrieren. Zwei Bilder zu dieser Erfahrung kommen mir in den Sinn. Ich denke an ein Baby, das schlafend in der Wiege liegt und ganz natürlich aus dem Sonnengeflecht heraus atmet, dem Zentrum direkt unter dem Zwerchfell. Das sanfte Kommen und Gehen des Atems ist Ausdruck von Entspannung und Vertrauen und völliger Hingabe an die Umgebung. Das zweite Bild entstammt einem Gedicht des englischen Dichters D.H. Lawrence. Es beschreibt eine Katze, die zusammengerollt in einem bequemen Sessel liegt. Das Gedicht spricht von Vertrauen wie von einer „Katze, schlafend im Sessel, daheim bei dem Hausherrn, daheim bei der Hausfrau, zu Hause“. Es ist ein Bild äußerster Wehrlosigkeit. Die Katze muss sich nicht verteidigen; in allem, was sie vom Leben kennt, ist nichts als Geborgenheit. Schon die Erwähnung dieses Vertrauens und des Gefühls, gehalten zu werden, führt zu physischen Empfindungen der Entspannung, zumindest bei mir. Ich stelle mir ausgebreitete und empfangsbereite Arme vor, lockere Schultern, ein weiches Zwerchfell. Kein Schutzschild ist nötig. Zwischen mir und anderen oder der eigenen Umgebung bestehen keine Barrieren. Es gibt auch keine inneren Abspaltungen und deshalb ist es unnötig, Teile meines Selbst zu verbergen. Ich kann offen sein und innerlich aufrichtig; die Energie meines Organismus kann mit Leichtigkeit durch meinen Körper fließen. Niemand kann kontinuierlich in dieser Haltung verweilen. Die meisten Menschen haben jedoch manchmal eine flüchtige Ahnung und Erfahrung davon. Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow nennt solche Augenblicke „Gipfel erlebnisse“, in denen die Zeit stillzustehen scheint und ein umfassendes Gefühl des Wohlbefindens sich einstellt. Solche 21
Augenblicke ereignen sich häufig in der Natur, und zwar dann, wenn die Abwehrhaltungen eines Menschen zur Ruhe kommen können. Manchmal finden sie sich auch im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung zu einem Freund, einem geliebten Menschen, einem Kind oder einem Haustier. Häufig sind solche Momente, wenn jemand allein ist und ausruhen kann und frei von Stress oder Verantwortung ist. Solche Zeiten sind immer eine Quelle von Energie, innerer Einsicht und Frieden. Man kann solche Momente nicht selbst herstellen; sie sind immer Überraschungsgeschenke. Die Enneagrammtheorie geht davon aus, dass diese offene und empfängliche Haltung gegenüber der gesamten Wirklichkeit neun Formen annehmen kann. Diese neun Formen hängen davon ab, wer wir sind, welche Perspektive wir einnehmen, wie wir unseren Platz in der Schöpfung ausfüllen, wie unser momentaner Blickwinkel aussieht oder was sonst unser Menschsein ausmacht. Jede der neun Formen öffnet uns auf besondere Weise für das Leben selbst und für unsere eigene Sicht dieses Lebens. Jede dieser Perspektiven ist natürlich begrenzt, weil wir Geschöpfe sind, die die gesamte Wirklichkeit nur partiell aufnehmen können. Wenn wir aber diese aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln stammenden Erkenntnisse zusammenbringen, entsteht ein reiches Kaleidoskop der wunderbaren Schöpfung und ihres Schöpfers, die auf vielfache Weisen erlebt und wertgeschätzt werden können. Alle Menschen, die in jenen neun Räumen leben, tragen eine tiefe Sehnsucht in sich, mit ihrem tiefsten und wahrhaftigsten Selbst in Kontakt zu kommen. An diesem wesentlichen Punkt können wir als Individuen im Austausch mit anderen, die im selben Enneagrammraum beheimatet sind, zu wesentlichen Einsichten über unser wahres Wesen gelangen. Noch wichtiger aber ist, dass wir in diesem Akt der Selbstbegegnung immer auch dem „Größer-als-wir-selbst“ 22
begegnen. Das widerfährt uns zwar als Individuen, aber auf eine Weise, die der Weise anderer ähnelt, die mit einer derselben von neun GrundmÜglichkeiten der menschlichen Wirklichkeit begabt sind wie wir. Diese neun Wesenskerne und Perspektiven bezeugen gemeinsam die Vielfalt und das Geheimnis des Gottes, den sie widerspiegeln.
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